Die Stille von Chagos. Roman - Shenaz  Patel - E-Book

Die Stille von Chagos. Roman E-Book

Shenaz Patel

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Beschreibung

Shenaz Patels Roman zeichnet das Schicksal der Chagossianer nach, einer Volksgruppe, die auf den Inseln des Chagos-Archipels im Indischen Ozean lebte, bis sie ab Mitte der 1960er Jahre von dort vertrieben wurde. Die Chagos-Inseln gehören noch zum britischen Territorium und wurden für 50 Jahre an die USA verpachtet, die dort eine Militärbasis errichtet haben. Von hier wurden und werden Luftangriffe auf den Irak und Afghanistan geflogen. Die Inselbewohner hat man zwangsumgesiedelt – die meisten landeten in Slums in der mauritischen Hauptstadt Port Louis. Die Vertriebenen kämpfen bis heute vor Gericht vergeblich um ihre Rückkehr. Der Roman zeigt aus verschiedenen Perspektiven die Schicksale mehrerer Chagossianer. Da ist Charlesia, die mit ihrer Familie nach Mauritius fährt, da ihr Mann im Krankenhaus behandelt werden muß, und plötzlich und ohne jede Information nicht mehr auf ihre geliebte Insel Diego Garcia zurückkehren kann. Da ist Tony, ein Hafenarbeiter auf Mauritius, der Charlesia immer wieder am Kai stehen sieht, sehnsüchtig aufs Meer starrend. Da ist Désiré, der nach der Verschleppung seiner Mutter auf der Schiffsreise nach Mauritius geboren wird und sich zwischen den Welten fühlt. Und da ist der Schiffskapitän, der Gewissensbisse hat, weil er die Inselbewohner gegen deren Willen wegbrachte, nachdem er jahrelang mit Lebensmittellieferungen zu der isolierten und weitgehend unberührten Insel gekommen war. Die Frage, was es bedeutet, heimatlos und entwurzelt zu sein, ist heute aktueller denn je. Der Roman spürt sensibel den verschiedenen Varianten des Unrechts nach, das den Chagossianern vor rund 50 Jahren widerfahren ist. Frankreich war der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2017

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Die französische Ausgabe,

»Le silence des Chagos«, erschien 2005.

© Éditions de l’Olivier, 2005.

Das Nachwort der Autorin wurde eigens

für die deutsche Ausgabe verfaßt.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2017

Lektorat: Stefan Weidle

Korrektur: Kim Keller

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: Oktober 2017

ISBN 978-3-95988-097-8

Über das Buch

Shenaz Patels Roman zeichnet das Schicksal der Chagossianer nach, einer Volksgruppe, die auf den Inseln des Chagos-Archipels im Indischen Ozean lebte, bis sie ab Mitte der 1960er Jahre von dort vertrieben wurde. Die Chagos-Inseln gehören noch zum britischen Territorium und wurden für 50 Jahre an die USA verpachtet, die dort eine Militärbasis errichtet haben. Von hier wurden und werden Luftangriffe auf den Irak und Afghanistan geflogen. Die Inselbewohner hat man zwangsumgesiedelt – die meisten landeten in Slums in der mauritischen Hauptstadt Port Louis. Die Vertriebenen kämpfen bis heute vor Gericht vergeblich um ihre Rückkehr.

Der Roman zeigt aus verschiedenen Perspektiven die Schicksale mehrerer Chagossianer. Da ist Charlesia, die mit ihrer Familie nach Mauritius fährt, da ihr Mann im Krankenhaus behandelt werden muß, und plötzlich und ohne jede Information nicht mehr auf ihre geliebte Insel Diego Garcia zurückkehren kann. Da ist Tony, ein Hafenarbeiter auf Mauritius, der Charlesia immer wieder am Kai stehen sieht, sehnsüchtig aufs Meer starrend. Da ist Désiré, der nach der Verschleppung seiner Mutter auf der Schiffsreise nach Mauritius geboren wird und sich zwischen den Welten fühlt. Und da ist der Schiffskapitän, der Gewissensbisse hat, weil er die Inselbewohner gegen deren Willen wegbrachte, nachdem er jahrelang mit Lebensmittellieferungen zu der isolierten und weitgehend unberührten Insel gekommen war.

Erzählt wird vom Leben auf Diego Garcia, von den Festen, dem Essen und dem Alltag, und vom Leben auf Mauritius, das in starkem Kontrast zum paradiesischen Inselleben steht. Die chagos-kreolischen Einschübe in Dialogen und Liedern bringen die fernen Inseln sprachlich näher.

Die Frage, was es bedeutet, heimatlos und entwurzelt zu sein, ist heute aktueller denn je. Der Roman spürt sensibel den verschiedenen Varianten des Unrechts nach, das den Chagossianern vor rund 50 Jahren widerfahren ist. Der Pachtvertrag mit den USA sollte eigentlich im Jahr 2016 auslaufen, jedoch wird sich die Nutzung voraussichtlich bis 2036 verlängern.

Shenaz Patel verfaßte für die deutsche Ausgabe ein Nachwort, das die politischen Entwicklungen der letzten Jahre nachzeichnet.

Über den Autor

Shenaz Patel (1966 geboren) ist Roman- und Theaterautorin und Journalistin. Sie wurde auf Mauritius geboren und schreibt sowohl auf Französisch als auch auf Morisyen (Mauritius-Kreolisch). Sie engagiert sich für die Mauritius-kreolische Sprache und übersetzt in das Kreolische – z. B. Tim und Struppi oder Warten auf Godot.

Le silence des Chagos

Shenaz Patel

Die Stille von Chagos

Roman

Für Charlesia, Raymonde und Désiré, die mir ihre Geschichte anvertraut haben. Für alle Chagossianer, die zum

Das Meer ist mit Inseln gesprenkelt, die von weißem Sand gesäumt sind. Ein Streumuster wie milchige Tröpfchen. Es sieht aus, als wären sie aus dem schlaffen Euter der Großen Halbinsel gefallen, mit den Malediven im Schlepptau.

Die Chagos-Inseln. Ein Archipel in labilem Gleichgewicht, mitten im Indischen Ozean, auf der geschwungenen Linie des Zentralindischen Rückens. Auf dem Lakka­diven-Chagos-Rücken aus dem Meer herausragend, bilden etwa sechzig kleine Inseln die vier Atolle. Peros Banhos, Salomon, Egmont, Diego. Diego Garcia.

Sie sind Zeugen früherer Brüche, von Aufwölbungen des Ozeans, gewaltigen Vulkanausbrüchen, von Erschütterungen der Erde, die das hypothetische Gondwana brutal auseinandergerissen haben – jenen urzeitlichen großen Kontinent, der sich wohl zwischen dem Indischen Ozean und dem Pazifik erstreckte und aus dem das mythische Lemuria entstand. Zerbrochen, zerrissen, überflutet, bleiben nichts als verstreute Spuren von ihm übrig, einige Inseln, die aus dem Meer ragen.

Haben die Chagos-Inseln diesem Mythos beigewohnt? Bewahren sie in ihrem Sockel unter ihrer Korallenkrone die Erinnerung an diese Wehen der Erde, dieses urzeitliche Zerreißen?

Der Chagos-Archipel. Ein Name so seidenweich wie ein Streicheln, so brennend wie die Sehnsucht, so hart wie der Tod ...

Kilometerweit entfernt, beinahe in einer geraden Linie Richtung Norden, heben sich andere Landmassen ab. Bergig, schroff, mit zischendem Namen. Afghanistan. Ein Kind hebt den Blick. Ein heißer Luftstrom läßt es das Gesicht verziehen. Über ihm ist nichts mehr. Nichts als eine weißglühende Wölbung, die Funken und brennende Klumpen spuckt. Neben ihm liegt seine Mutter, die großen, erstaunten Augen blicken auf ihre ausgestreckten Beine, die Füße nach innen gedreht, zwei Meter von ihrem Körper entfernt. Hoch am Himmel zwei dunkle, bedrohliche Formen. Eine letzte Runde über den brennenden Ruinen, dann, um das Gewicht seiner Bomben erleichtert, dreht die B-52 Richtung Indischer Ozean ab, wo sie sich in nur wenigen Minuten wieder auf ihrer Basis mitten im Chagos-Archipel, auf Diego Garcia, einfinden wird.

Weiter im Südwesten klammert sich ein anderes Kind an die Hand seiner Mutter, drückt sich an das Geländer, welches das gefangene Wasser des Hafens einrahmt. Hinter ihnen bleiben Touristen in mit bunten Hibiskusblüten gemusterten Bermudashorts stehen, um eine Karte auf einer großen Tafel zu entziffern, die in roten Buchstaben verkündet: Port Louis welcomes you, Bienvenue à l’île Maurice.

Das Kind nimmt den milden Geruch von Pizza wahr, ein Tourist trägt einen flachen Pappkarton, auf dem sich ein Pirat mit Messer und Gabel zum Entern wappnet. Auch der kleine Junge hat Hunger. Er zupft am Rock seiner Mutter. Sie schaut nicht zu ihm herunter. Ihr Blick ist gedankenverloren auf den kaum wahrnehmbaren Spalt gerichtet, wo der blaue Himmel in das blaue Meer fließt.

Er weiß, daß sich heute abend, wenn sie mit ihm sprechen wird, alles um dieselben Worte drehen wird: Chagos. Diego. Zwangsumsiedlung. Erzwungenes Exil. Militärbasis. Schneidende und beeindruckende Wörter, Wörter, die ihm Angst einjagen, ohne daß er wüßte, was sie bedeuten, denn durch sie entfernt sie sich von ihm, sie zerreißen sie und lassen sie manchmal stumme Tränen weinen, die in den bitteren Falten, die ihren Mund einrahmen, über ihr Gesicht laufen.

Er hat Hunger, er ist müde. Das bewirken die Stunden, die sie dort verbracht haben, und es gibt nichts zu sehen für ihn, nichts außer dieser gleichmäßigen, glatten Wasserfläche, ohne die Boote, die der Ausbau des Hafens verdrängt hat, weit fort, viel zu weit, als daß man sie sehen könnte. Beharrlich zupft das Kind am Rock seiner Mutter. Endlich beugt sie sich zu ihm herunter. Ein seltsamer Nebel liegt auf ihren Pupillen. Langsam erkennt er darin einen Umriß, der sich mit zuerst unsicheren Schritten vorwärtsbewegt, näherkommt. Die Silhouette eines Jungen, immer klarer, er trägt die gleichen Shorts wie er, und er hat seinen Kopf, er ist es, er ist dort, in den Augen seiner Mutter, aber nicht hier, nicht auf diesem grauen Kai, der eingekesselt ist von Gebäuden, die sich in den Himmel recken. Er geht weiter, und unter seinen Füßen ist Sand, weißer Sand, die Spuren seiner Zehen sind kaum sichtbar, und hinter ihm wogen träge grüne Palmen. Er geht weiter, er streckt die Hand aus, er spürt, daß er lächeln wird. Ein Regenvorhang wischt ihn weg. Seine Mutter schließt die Augen. Er weiß nicht, woher dieser Bruch in seinem Körper kommt, er verläuft von der Brust bis zum Magen und ist erfüllt von einem Echo, das von weither stammt. Aus den Eingeweiden des Indischen Ozeans.

Létan mo ti viv dan Diégo

Mo ti kuoma payanké dan lézer

Dépi mo apé viv dan Moris

Mo amenn lavi kotomidor

Quand je vivais à Diego

J'étais comme un paille-en-queue dans les cieux

Depuis que je vis à Maurice

Je mène une vie de bâton de chaise

Als ich auf Diego lebte

War ich wie ein Tropikvogel am Himmel

Seit ich auf Mauritius lebe

führe ich ein Lotterleben

Strophe aus dem Lied Pays natal,

Mauritius, 1968

Der Himmel hat an jenem Tag gezittert. Wie ein Trommelfell, das eine unsichtbare starke Hand von innen schlägt. Die Luft war trotzdem rein, nur ein paar Wolken waren auf die unendlich blaue Leinwand gemalt. Doch Charlesia war bereit, an Donner zu glauben. Hier ergab nichts einen Sinn. Alles war so anders als dort. Selbst die Sonne schien nicht mehr an ihrem Platz zu sein. Sie tauchte immer mit Verspätung über dieser Linie von Dächern auf und verschwand bereits zu Beginn des Nachmittags wieder hinter dem Gebirge, wobei sie wie ein geflüstertes Gerücht den Schatten der Erde aufsteigen ließ, der das Licht betäubte. Man vergaß sie, noch bevor sie untergegangen war. Seitdem Charlesia dort war, hatte sie mitten am Tag ständig den Eindruck, es dämmerte. Nur diese Hitze, die ihr den Atem raubte, erinnerte sie daran, daß es Tag war.

»Hört mal! Hört mal! Kanonenschüsse!«

Die umliegende Stadt war plötzlich mit einer deutlich gespannteren Intensität als gewöhnlich von einem Raunen erfüllt. Mit ihrem Helm aus blauen und rosa Lockenwicklern auf dem Kopf, ihrem Kleid aus verblichenem Stoff, dessen Knöpfe an der Brust unentwegt abzuspringen drohten, war Miselaine auf ihrer Türschwelle erschienen.

»Ou tandé, ounn tandé Charlesia? Kanon lindépandans ...«

Ja, Charlesia hatte die Kanone gehört. Und was jetzt?

Auf dem trockenen, staubigen Hof riefen die Kinder im Sprechchor wie die Eisvögel ihr immer gleich schrilles:

»Mauritius, Un-ab-häng-ig-keit!

Mauritius, Un-ab-häng-ig-keit!«

Unmöglich, dem Lärm zu entfliehen. Hier hat man sowieso niemals seine Ruhe. Was für eine Idee, eine Stadt direkt am Fuße des Gebirges zu planen! Der kompakte Basalt bündelt alles und wirft es zurück, die grelle Sonne dieses heißen Mittags, die fortwährenden Schreie der Kinder, die dumpfen Kanonenschläge, die in der unbewegten Luft bedrohlich klingen.

Charlesia setzt sich auf einen flachen Stein vor der Tür ihrer Hütte und zieht ihr Kleid zwischen die Knie. Unter ihren ausgestreckten Beinen zeichnet die Erde Ströme von wechselndem Braun. Gestern nachmittag hat es eine Zeitlang geregnet. Sie hört noch den schwerfälligen Rhythmus des Wassers, das zwischen den losen Platten des Dachs in die Batterie von verbeulten Kochtöpfen tropfte, die sie hastig aufgestellt hatte, um zu verhindern, daß ihre Sachen naß wurden. Das Wasser war den Berg heruntergeströmt, unter das Blech gelaufen und in ihre Hütte geflossen. Charlesia hatte mit ihren Kindern auf dem Tisch gesessen und den tanzenden Töpfen zugeschaut. Zuerst hatten diese sich um das Bett herum gedrängt, bevor sie unter den Tisch getrieben waren, um dann am Schrank anzulegen, und schließlich waren sie wieder zurück zum Bett geschaukelt. Die schwarzen Ränder klirrten gegen die Eisenpfosten. Dann hörte der Regen auf, und sie kehrten das Wasser mit dem Kokosbesen hinaus, doch es ist immer noch klamm drinnen, der Geruch nach nassem Hund wird sich noch tagelang halten und die Kinder im Schlaf aufstöhnen lassen.

Durch diesen Schwarm von Heuschrecken mit den mageren Beinen, die wieder hin und her laufen und die kleinen rot-blau-gelb-grünen Fahnen schwenken, hält sie nach ihnen Ausschau. Marco und Kolo sind da, sie schreien wie die anderen, sogar ein bißchen lauter, und schleudern die Kieselsteine mit voller Wucht gegen die rostigen Bleche, die die letzten Häuschen von dem schlammigen Kanal trennen, der aus dem Gebirge herunterschießt.

Mimose sitzt ein wenig abseits, lehnt gegen eine Wand. Das Trommeln der Kieselsteine muß ihr mit seinem metallischen Echo durch Mark und Bein gehen. Aber sie rührt sich nicht. Sie läßt den Kopf hängen, die Stirn trotzig in Falten gelegt, und schaut von unten hoch. Ihre schwarzen Augen funkeln streng, herausfordernd und vorwurfsvoll. So ist sie, seit sie dort sind. Und niemandem gelingt es, sie aufzuheitern.

Vielleicht vermißt sie ihr Flugzeug. Dort war sie nach der Schule immer als erstes hingegangen.

»Catalina! Catalina!«

Das war ihr Schlachtruf gewesen. Sie war plötzlich zum Strand gerannt, in eine fröhliche Menge hinein, um das zweimotorige Flugzeug zu erstürmen, das auf dem Strand abgestürzt war. Sie war die Lebhafteste gewesen, diejenige, die das Startsignal gab, die Rollen verteilte und die Welt dieses lauten Lachens regierte, eine Generalin mit ihrer Armee von Dreikäsehochs.

Hier war sie mit einemmal verloschen, wie die Petroleumlampe, deren Flamme durch ein kurzes Drehen der Dochtschraube erstickt. Sie blieb abweisend in ihrer Ecke, und Charlesia konnte ihr noch so sehr den Rücken reiben, wie sie es dort mit den störrischen Schildkröten getan hatten, nichts konnte sie dazu bewegen, den Kopf zu heben, den sie stur zwischen die Schultern zog. Sie beobachtete die anderen aus der Ferne, nicht einmal gleichgültig, sondern im Gegenteil mit einer beinahe unerträglichen Aufmerksamkeit, die sie im Rücken spürten, ein Bohrer, der ihnen die Haut durchstach und ein Unbehagen heraussickern ließ, was sie ihr nachtrugen und daher noch mehr Abstand hielten.

Charlesia beobachtet sie. Sie ahnt, daß sich hinter ihrem abschätzigen Blick Erinnerungen in ihren kleinen Kopf schleichen. Man müßte sie überreden zu essen, sie ist ziemlich dünn geworden, doch was soll man ihr geben? Die Hitze hat das Frikassee mit dicken Bohnen von vorgestern im Topf zu gelblichem Auswurf gerinnen lassen. Das würden selbst die Hunde nicht fressen. Auch sie selbst hätte nichts mehr davon essen sollen. Seitdem versucht sie nämlich mühsam, den sauren Geschmack zu vertreiben, der ihr in übelriechenden Wellen den Hals hochsteigt. Dort hatten sie frische Lebensmittel in Hülle und Fülle gehabt, hatten niemals zwei Tage hintereinander das gleiche gegessen. Sie hatten große Auswahl. Und Geld war nicht nötig gewesen, um sich zu ernähren.

Sie schiebt die Hand in ihre Bluse, zieht ein zerknautschtes blaues Päckchen heraus, öffnet es vorsichtig. Nur noch zweieinhalb Zigaretten, sie wird sie strecken müssen. Die Streichhölzer zerbröckeln eins nach dem anderen, als sie sie über die Reibefläche reißt. Schon wieder diese elende Feuchtigkeit. Das vierte entzündet sich schließlich. Charlesia hält es an die Zigarettenhälfte. Ihre Hand zittert ein bißchen. Beim ersten Zug muß sie sich überwinden zu inhalieren, denn er schmeckt beißend nach kaltem Tabak, den man ein zweites Mal anzündet und der nur allmählich wieder zu brennen beginnt. Das hat nichts mit dem Genuß einer neuen Zigarette zu tun. Sie saugt einen langen Zug ein, der Rauch weitet ihre Kehle, gelangt in die Lunge, sie hält ihn einen Moment lang dort, so lange, bis sie tief in ihrem Brustkorb genug hat, und atmet ihn als dünnen Luftstrom wieder aus. Noch zwei Züge, dann knipst sie das äußere graue Ende mit einer raschen Handbewegung zwischen Daumennagel und Zeigefingernagel ab, steckt das übriggebliebene Stück zurück in das blaue Päckchen und das Päckchen wieder in ihre Bluse. Diese Viertelzigarette wird sie später rauchen. Noch eine Sache, die sie hier hatte lernen müssen: eine Zigarette viermal zu rauchen, zu verzichten auf das Vergnügen dieses Kribbelns am Gaumen, je weiter die Zigarette herunterbrennt, während man das Meer betrachtet.

Das Meer. Dort war es überall gewesen. Vor ihr, hinter ihr, sichtbar von drinnen und sichtbar von draußen, wo seine zärtlichen Rhythmen eine Harmonie schufen, um das Glück ihrer Welt zu behüten und zu wiegen.

»Ou tandé Charlesia? Vinn ékouté! Kanon lindépandans!«

Sie ließen nicht locker, diese Klatschmäuler. Natürlich hatte sie es gehört! Wer könnte dem in diesem Gehege entgehen, in dem alle Geräusche als anschwellendes Echo vervielfacht zurückgeworfen werden? Sie hat den Eindruck, mit dem Kopf in einer Trommel zu stecken, auf die sie einschlagen, einschlagen, einschlagen, pausenlos. Die gespannte Haut nimmt die Schläge auf und verstärkt sie, läßt sie in kurzen Wellen hervorbrechen, die die Membranen ihrer Trommelfelle unweigerlich dazu bringen, gegen die Innenwände ihres Schädels zu explodieren.

Charlesia steht plötzlich auf. Es ist zu laut hier. Die Luft ist zu schwer in dieser Stadt. Diese Masse von Wellblech, die die Hitze in den Rinnen festhält und verdichtet, diese gellende Musik, die pausenlos aus diesen niemals schlafenden Radios schmettert, diese frisierten Mofas, die knattern und knallen wie asthmatische Hühner, wobei sie Qualm in die Luft pusten, der einem die Lunge zusammenzieht, die Hitze eines Backofens, die den Schlaf vertreibt, diese Beengtheit, die einem das Gefühl gibt, die komplette Stadt unter seinem Dach zu beherbergen.

Sie geht hinein in ihre Hütte, nimmt ihr rotes Tuch, das auf dem Bett liegt, schlingt es mit einer schnellen Bewegung um ihre schweißnassen lockigen Haare. Mit dem Fuß angelt sie nach ihrem Hausschuh unter dem Schrank, geht wieder hinaus, ohne die Tür zu schließen.

Miselaine hat sie vorbeigehen sehen, hat den Mund geöffnet, um sie zu fragen, wohin sie gehe, und ihre Meinung geändert, überrascht, da sie sich wie eine Schlafwandlerin bewegte. Sie folgte ihr mit den Augen, während sie den Hang hinunterging. Dann wandte sie sich schulterzuckend und genervt ab.

»Hmm. Die da wieder. Komisch. Wie immer.«

Sie hütet sich aber, sie ihre Meinung hören zu lassen. Sie weiß, daß sie das Französische besser meidet, denn der Ton ist rauher und viel verletzender als in ihrer eigenen Sprache.

Charlesia schleppt sich dahin. Der überhitzte Asphalt klebt ihr als schwärzlicher Brei an den Sohlen. Sie geht geradeaus, riecht, erwartet, daß ihr hellwacher Geruchssinn sie leitet, daß er sie zu diesem Meer führt, das sie einfach sehen muß. Doch ihr Kompaß funktioniert hier nicht. Zu viele Gerüche wie zahllose Hindernisse, das dickflüssige, ranzige Öl des Verkaufsstands mit frittiertem Gebäck an der Straßenecke, der Gestank von Gummi und Benzin einer Autowerkstatt ein Stück weiter die Straße rauf.

Alles läuft hier schief. Straßen mit aberwitzigen Windungen, Sackgassen, die mitten im Abstieg plötzlich auftauchen. Zu Fuß gehen hat hier keinen Sinn. Dort fand sie mit geschlossenen Augen, fanden ihre Füße wie von selbst zu der natürlichen Abschüssigkeit des Sandes, das Meer vor sich, das Meer hinter sich, ruhig und schön, um ihre Welt zu streicheln und wohlig erschauern zu lassen: wie ein ermatteter Körper umschlossen vom Körper des Geliebten.

Charlesia läuft. Sie wird es schließlich finden. Sie beginnt es zu riechen, vage, schwach. Es muß noch sehr weit weg sein. Aber sie ist bereit, es den ganzen Tag lang zu suchen, wenn es sein muß.

Hinter einem großen Gebäude, einem grauen Klotz, zuckt sie zusammen. Sie ist da, so nah, dort, auf der anderen Seite der breiten Straße, wo die Autos entlangrasen, wobei die Linien der metallischen Farben sich in ihrem Windschatten in Luft auflösen. Sie muß da rüber. Sie schaut nach rechts, nach links, noch einmal nach rechts, alles geht zu schnell, die Kanonen dröhnen in ihrem Kopf. Sie schließt die Augen, macht einen Schritt nach vorn. Ein lautes Quietschen, der beißende Geruch von Gummi und Asphalt, der ihr den Geruchssinn vernebelt, Hupen, eine Reihe von Flüchen. Sie öffnet die Augen wieder. Hinter ihr sind die Autos weitergefahren. Sie muß nur noch ein Absperrgitter überwinden, dann einen breiten Betonstrand.

»É, kot ou pé alé?«

Sie hält nicht an, um dem Mann zu antworten, der aus seinem Wächterhäuschen gestürzt ist. Sie geht schneller. Sie muß zum Ende dieses Kais. Zum Ende dieses Kais. Dort muß ihr Schiff sein. Müßte es sein. Dort ist es vor einem Jahr plötzlich verschwunden. Spurlos. Der Spiegel zerschlagen. Das Ende jeder Hoffnung.

Er hatte kaum Zeit gehabt zu reagieren, als sie das Absperrgitter übersprang. Hätte er die Lautstärke seines Transistorradios ein wenig heruntergedreht, er hätte sie zweifellos kommen hören. Doch er hatte nicht eine Sekunde von dem verpassen wollen, was sie über die Zeremonie ganz in der Nähe auf dem Champ de Mars im Radio berichteten. »Ein historischer Moment an diesem 12. März 1968, in dem unser Mauritius unabhängig wird«, sagte der Sprecher, und seine Stimme zitterte ein bißchen.

Historisch, dieses Wort kam in der Übertragung ständig vor, das würde er nicht verpassen. Wenn er schon einmal Zeuge der Geschichte war, wollte er davon so viel wie möglich mitnehmen, um eines Tages seinen Enkelkindern davon zu berichten. Ja, ich bin dort gewesen oder jedenfalls fast, ich kann euch alles erzählen.