Die Stille zwischen Meer und Seele - Heiko Spieker - E-Book

Die Stille zwischen Meer und Seele E-Book

Heiko Spieker

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Beschreibung

Was wäre, wenn … … ich einer Situation nicht entkommen kann? … wenn ich helfen will – und dabei nur zerstöre? … wenn die Antwort nicht in Kontrolle liegt, sondern in Mitgefühl? Und was wäre, wenn das alles nicht in meinem Kopf entsteht – sondern längst geplant war? Lisas Welt besteht aus Angst – und Matthias weiß das. Doch die Hilfe, die sie braucht, kann er ihr nur bedingt geben. Als Lisa in eine Situation gerät, aus der sie sich nur selbst befreien kann, beginnt eine Reise zwischen Erinnerung, Isolation und der Suche nach Kontrolle. „Die Stille zwischen Meer und Seele“ ist ein literarischer Psychothriller an der Grenze zur Science-Fiction – über Kontrolle, Verlust und das, was bleibt, wenn nichts mehr sicher ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Heiko Spieker

Die Stille zwischen Meer und Seele

© 2025 Heiko Spieker

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm, elektronische Datenverarbeitung oder andere Verfahren – reproduziert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit realen Personen, lebenden oder verstorbenen, Ereignissen oder Orten wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erstveröffentlichung: Juni 2025

ISBN: 978-3-819421051

Covergestaltung: Josefine Hertnagel

Satz und Typografie: Josefine Hertnagel

Impressum:

Heiko SpiekerWiesengrund 2119069 SeehofDeutschland

E-Mail: [email protected]

Verantwortlich gemäß § 18 Abs. 2 MStV: Heiko Spieker

Weitere Informationen zum Autor: www.heikospieker.de

Danksagung

Mandy - ohne dich hätte ich niemals angefangenJosi, “Chip” - ohne Euch hätte ich es niemals zu Ende gebracht

Danke

Prolog

Etwas Dunkles kroch über den Boden.

Feuchte Kälte, die sich wie ein zweites Fell auf die Haut legte. Der Untergrund war rau, schmutzig, körnig - Sand vielleicht, vermischt mit zerfallenen Blättern, feinem Staub. Ihre Hände, taub vor Kälte, tasteten ins Nichts.

Ein Hauch von Salz hing in der Luft. Kaum spürbar. Mehr eine Erinnerung als ein wirklicher Geruch.

Oben: ein Himmel, der keiner war. Kein Stern. Keine Richtung. Nur eine endlose Decke aus Grau.

Das Gluckern von Wasser, gedämpft und träge, mischte sich mit einem fernen Rascheln, als würde etwas im Wind schleifen - Gras, Schilf, ein Fetzen Stoff.

Das Atmen fiel schwer. Die Luft war feucht, schwer, von einem kalten Gewicht, das die Brust zusammendrückte.

Etwas in ihr zog sich zusammen. Ein dünner Faden vielleicht, der sie noch hielt.

Unter ihren tauben Fingern etwas Hartes - Stoff, kalt und klamm, durchsetzt von feinem Sand. Eine Jacke? Eine leere Hülle.

Das Unbehagen kroch unter die Haut, schien selbst die Knochen von innen heraus zu umhüllen.

Sie rollte sich ein. Wurde kleiner. Versuchte, sich unsichtbar zu machen vor einer Welt, die sie längst vergessen hatte.

Ordnung.
Kontrolle.

Keine klaren Gedanken mehr. Nur diese beiden Worte - rhythmisch wie ein letzter Herzschlag.

Ein Summen löste sich aus ihrer Kehle.
Brüchig, tonlos fast, wie ein zerfleddertes Kinderlied, dessen Worte längst verweht waren.

Dann:
Stille.

Und Dunkelheit, die keinen Widerstand mehr spürte.

Kapitel 1

Der graue, wolkenverhangene Himmel war beinahe ein Klischee - so typisch für diese Gegend. Während man den Süden Deutschlands an Rhein und Mosel mit Wein und Sonnenschein beschrieb, gehörten zum Norden der raue Wind und die Wolken. Heute tat der Spätsommer sein Übriges: färbte die Blätter in warmes Gold und Rostrot, tauchte die vollen Äcker in leuchtende Farben.

Zwei große Autobahnen führten von Hamburg nach Osten: die A24 in Richtung Berlin und die A20, die Lübeck, Wismar, Rostock und Greifswald wie Perlen auf einer Schnur miteinander verband.

Matthias hatte gerade mit seinem 7er BMW die Abfahrt Wismar verlassen, als sein Diensttelefon klingelte. Jetzt nicht, dachte er, drückte den Anruf weg - ein Reflex, mehr Trotz als Entscheidung. Doch sofort schlich sich das schlechte Gewissen ein, wie ein vertrauter Schatten. Schließlich war es erst Donnerstagmittag. Eigentlich sollte er jetzt im Büro sitzen oder im Labor sein.

Er versuchte, das mulmige Gefühl abzuschütteln, drehte das Radio lauter und wechselte auf seinen Lieblingslokalsender. Jetzt, da er Hamburg und die Autobahn hinter sich gelassen hatte, ließ er sich von belanglosen Moderatorenkommentaren und altbekannten Songs berieseln.

Ein leichter Regen setzte ein, und die Scheibenwischer glitten fast lautlos über die Windschutzscheibe - als wollten sie auch seine Gedanken wegwischen. Gedanken, die immer noch um die Arbeit kreisten. Noch knapp zwanzig Minuten, dann wäre er zu Hause. Dann könnte er den Anzug gegen eine bequeme Jeans und einen Pullover tauschen, seine Frau in die Arme schließen, die sicher überrascht - und hoffentlich erfreut - über sein plötzliches Auftauchen wäre.

Dann, vielleicht, könnte er für einen Moment alles abstreifen: die Verantwortung, die Erwartungen seines Vaters, die Rolle des Herrn Doktor Kröger. Nicht der Erbe von Kröger Chemicals, nicht der mit 42 Jahren immer noch wie ein Student Behandelte - sondern einfach nur Matthias. Der Mann mit einem Haus, einem Garten und einer Frau, die ihn dringender brauchte als jede Projektreihe seiner Firma.

Das Diensttelefon klingelte erneut. Genervt schaltete er es aus und drehte das Radio noch ein Stück lauter.

Der schwarze BMW glitt über die Landstraße - leise, fast unauffällig, seinem Ziel entgegen.

Lisa stand in der Küche und trocknete gerade zwei Teller ab, als sie das Geräusch hörte. Es war unverkennbar: das Knirschen des Kieses unter den Reifen des großen BMWs, das satte, tiefe Brummen des Motors - und das viel zu laute Radio. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Sie warf das Handtuch auf die Spüle, wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab und lief zur Seiteneingangstür. Doch mitten im Schritt kam der Schreckgedanke: Warum ist Matthias schon hier? Es war Donnerstagmittag. War etwas passiert? Das laute Radio - das war meistens dann so laut, wenn ihn etwas bedrückte.

Als sie an der Tür ankam, sah sie, wie Matthias mit einem breiten Lächeln aus dem Wagen stieg. Ihre Augen begannen zu leuchten.

Sie öffnete die Tür. „Hey! Schön, dass du schon da bist!“ Dann stemmte sie kokett die linke Hand in die Hüfte, hob das Kinn und grinste verschmitzt. „Nun, was verschafft mir die Ehre Ihres hochherrschaftlichen Besuchs, mein Herr?“ - ihre Marlene-Dietrich-Imitation saß perfekt.

Matthias lachte, hob sie an den Hüften hoch und drückte sie fest an seine Brust.

„Oh, mir war, als hätte ich eine Verabredung mit dem bezauberndsten Mädchen der Stadt - oder habe ich mich etwa in der Tür geirrt?“

„Untersteh dich, du Schuft!“ Lisa lachte, und küsste ihn.

„Wie kommt es, dass du schon hier bist? Ist etwas passiert?“

Matthias setzte sie sanft ab und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Ach, ich darf ab Montag wieder zwei Wochen runter - da dachte ich, was soll’s. Ich gönne mir noch ein langes Wochenende mit dir.“

Runter, das hieß nach Spanien, zum Naturpark Bardenas Reales in Navarra. Mitten in diesem UNESCO-Biosphärenreservat stand der Komplex Biosphere III. Hinter diesem Namen verbarg sich die wohl größte Biosphären-Versuchsstation, die je errichtet wurde. Mit seinen fünf sternförmig angeordneten Domen und der zentralen Kontroll-, Wohn- und Überwachungseinheit war die Station darauf ausgelegt, verschiedene Experimente simultan durchzuführen - von Langzeitaufenthalten unter Extrembedingungen bis hin zu autarker Nahrungsmittelproduktion, Biotechnologie, Verhaltensforschung und neurokognitiven Tests in Isolation. Vorrangig ging es dabei um die Vorbereitung auf die Besiedelung von Mond und Mars. Doch der Komplex war längst mehr als das: ein globales Forschungszentrum, in das sich auch die Sorbonne, das MIT, die ESA und medizinische Fakultäten aus ganz Europa eingeklinkt hatten. Was hier getestet wurde, konnte das Denken über menschliches Leben in Extremsituationen nachhaltig verändern - nicht nur im All, sondern auch auf der Erde.

Gerade die geographische Beschaffenheit der Bardenas Reales war ideal, um dort Mond- oder Marslandschaften zu simulieren. Unter den riesigen, transparenten Halbkugeln ließ sich eine eigene Atmosphäre erschaffen. Forschen, testen und simulieren durfte dort jeder, der genügend Geld mitbrachte - wobei der gesamte Komplex schon auf Jahre hinaus ausgebucht war.

Gebaut aus privaten und multinationalen, staatlichen Mitteln, verschlang die gesamte Station Gelder, die kaum noch zu ermessen waren. Allein die fünf Dome wurden aus Aluminiumoxynitrid gefertigt.

Aluminiumoxynitrid, besser bekannt unter dem Handelsnamen ALON, ist ein transparenter keramischer Werkstoff, bestehend aus Aluminium, Sauerstoff und Stickstoff. Das Material bleibt bis zu 1200 Grad Celsius formstabil und ist härter als Glas. Laien sprechen oft von „transparentem Aluminium“ - was technisch nicht ganz korrekt ist, aber der Vorstellung recht nahekommt.

Entwickelt für militärische Anwendungen, wird ALON heute unter anderem in kugelsicheren Sichtfenstern von Kampfhelikoptern, gepanzerten Fahrzeugen und Hochsicherheitsfahrzeugen von Staatschefs verwendet. Selbst die NASA setzte auf das Material: Die Fenster der Cupola der Internationalen Raumstation - dem eindrucksvollsten Aussichtspunkt über der Erde - mussten nicht nur extremen Temperaturen, sondern auch Mikrometeoriten standhalten.

Matthias mochte das Material. Es war teuer, fraglos. Unverschämt teuer. Aber wenn er unter einer der Kuppeln stand und durch das kristallklare, leicht bläulich schimmernde Material in die bizarre Wüstenlandschaft blickte, vergaß er für einen Moment die endlosen Budget-Diskussionen. Irgendetwas an dieser durchsichtigen Härte, an dieser fast irrealen Klarheit, hatte etwas Tröstliches.

Kröger Chemicals hielt 51 % der Anteile an BiosphereIII. Die restlichen 49 % teilten sich große europäische Staaten, ausgewählte Spitzenuniversitäten - darunter die Sorbonne, das MIT und die Universität Lund - sowie einige private Hightech-Investoren. Damit hatte Kröger nicht nur ständigen Zugriff auf sämtliche Daten und Protokolle, sondern auch die uneingeschränkte Leitung der Station.

Kurz gesagt: Was Hans-Heinrich Kröger, Chef und Vorstandsvorsitzender von Kröger Chemicals, nicht für nützlich, dienlich oder interessant hielt, fand keinen Einzug in Biosphere III.

Und so kam es dann auch dazu, dass Matthias, dem die Leitung der Station unterstand, regelmäßig mit seinem Vater aneinandergeriet. Nicht nur, dass der alte Herr noch keinen Fuß in den Komplex gesetzt hatte und somit die Gegebenheiten nur von Fotos und Präsentationen kannte - er meinte außerdem, er könne sich über seinen Sohn stellen, der den Bau der Station von der ersten Zeichnung bis zur letzten Schraube begleitet und überwacht hatte, und ihm aus seinem feudalen Hamburger Büro heraus Anweisungen erteilen.

„Ihr hattet wieder Streit, oder?“, Lisa sah ihren Mann liebevoll fragend an. „Komm mal her, mein Großer.“

Sie wusste genau um die ewigen Reibereien zwischen ihm und seinem Vater. Oft genug hatte sie auf Familienfeiern erlebt, dass ihr großer, starker Mann vor dem Patriarchen klein und kindlich wirkte. Lisa nahm Matthias fest in die Arme und drückte ihn sanft. Für sie war es ein gutes Gefühl - einer der seltenen Momente, in denen sie die Starke sein durfte.

„Ja, das auch. Aber so schlimm war es eigentlich gar nicht“, antwortete er wenig überzeugend. „Es ist nur so, dass der alte Herr wieder meint, sich überall einmischen zu müssen - und mich dann wie einen kleinen Jungen dastehen lässt. Das nervt mitunter ganz schön, zumal er sich immer noch weigert, den Komplex zu besuchen und überhaupt keine Ahnung hat, wie es dort unten aussieht.“

Er erzählte ihr vom aktuellen Streit: Sein Vater bestand darauf, dass nun endlich die Mais- und Sojaexperimente beginnen sollten - obwohl nach Ansicht aller wissenschaftlichen Leitungsgremien der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen war. Die Saatträger waren nicht ausgereift, die Bedingungen im betreffenden Dom noch nicht optimal. Doch Hans-Heinrich Kröger hörte selten auf Warnungen.

Es war nun an Matthias, dem Vorstandsvorsitzenden genau das zu erklären - stellvertretend für ein Gremium, das vom alten Herrn weitgehend ignoriert wurde. Man kam nicht mit Problemen zu ihm, sondern mit Lösungen.Und wenn es keine gab, war es besser zu schweigen.

Dass er überhaupt auf seinen Sohn hörte, lag an einer Mischung aus familiärem Pflichtgefühl und kalkuliertem Misstrauen. Matthias hatte zwei Doktortitel, war gewissenhaft und loyal. Doch mehr noch: Er war der Einzige, dem er zutraute, ihn nicht zu hintergehen.

Je größer das Firmennetz geworden war, desto größer war auch die Angst des Patriarchen, verraten zu werden. Einen Hans-Heinrich Kröger betrog man nicht - das hatten schon andere versucht und teuer bezahlt.

Doch Vertrauen bedeutete bei ihm nie Unterordnung. Familien- und Firmenoberhaupt war immer noch er. Und das hatte auch ein Matthias Kröger zu respektieren. Zumindest offiziell.

Lisa lauschte den Sorgen ihres Mannes und strich ihm die dunkelbraunen Haare aus der Stirn.
„Ob ihr zwei jemals einer Meinung sein werdet, außer bei Timmi?“

Matthias schmunzelte leicht. Timmi war der Labrador-Findling, den Matthias als Jugendlicher bei einem Familienurlaub in Südfrankreich entdeckt hatte. Der abgemagerte Welpe sah aus, als sei er ausgesetzt oder von seiner Mutter verstoßen worden. Der Junge hatte dieses kleine, unschuldige Wesen sofort ins Herz geschlossen. Aus Angst, dass sein Vater schimpfen könnte, fragte er zunächst seine Mutter, ob er den Hund behalten dürfe. Doch zu seiner Überraschung zeigte der sonst so strenge Mann echte Gefühle - und mochte den Welpen auf Anhieb.

Den Namen Timmi hatte Matthias ihm gegeben und von da an dafür gesorgt, dass das Tier gebadet, gefüttert und gepflegt wurde. Im Nachhinein wurde es der schönste Familienurlaub, den sie je gehabt hatten.

„Ach, der alte Griesgram brauchte mal wieder Bestätigung für seine Ideen“, sagte Matthias und schüttelte den Kopf. „Er kann es nur nicht ausstehen, wenn man ihm mit Fakten kommt. Dass manche Dinge einfach ihre Entwicklungszeit brauchen, passt nicht in seinen Dickschädel.“

Lisa ließ ihren Mann los und stupste ihm spielerisch gegen die Brust.
„Du unverbesserlicher Held. Du versuchst wirklich noch, den alten Tyrannen zu bekehren?“

„Ich bin eher der Bote schlechter Nachrichten, die er nicht hören will. Da traut sich sonst keiner von diesen feigen Sesselpubsern aus dem Vorstand.“

„Eine Mischung aus Hermes und Don Quichot?“, grinste Lisa. „Na, das ist ja mal eine spannende Vorstellung. Komm, mein Held - raus aus der Küche!“

Sie schob ihn sanft in Richtung Wohnzimmer, wo Matthias sich auf das große Sofa fallen ließ.

So sehr er Lisas Fröhlichkeit genoss - jetzt war er einfach nur müde. Dabei hatte er sich auf dieses Heimkommen gefreut: auf ein Wochenende ohne Anrufe, ohne Zahlen, ohne Erwartungen. Einfach nur bei Lisa sein. Vielleicht ein paar Stunden im Garten verbringen, oder mit ihr an die Ostsee fahren - das tat ihr immer gut.

Ach Lisa, wenn ich nur mehr für dich tun könnte …

Die Nachmittagssonne schien angenehm durch die große Glasfront.
Lisa kam mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer und blieb kurz stehen, als sie Matthias so daliegen sah. Sein Gesicht war entspannt, die Stirn glättete sich, die Sorgen schienen für einen Moment verschwunden.

Ihr wurde warm ums Herz. Auch wenn er oft so tat, als seien ihm die Streitereien mit seinem Vater nur lästig, wusste sie, wie sehr ihn das alles belastete.

Matthias trug viel Verantwortung: im Vorstand von Kröger Chemicals, als inoffizielles Sprachrohr zum Vater - und natürlich als Direktor von Biosphere III. Seit der ersten Planungsphase war er dabei gewesen, hatte jede Entscheidung, jede Kompromisslinie, jede Materialprüfung begleitet. Vom ersten Entwurf bis zur letzten verbauten Schraube war es sein Projekt gewesen.

Mädchen für alles - aber ohne Klagen. Im Gegenteil: Er liebte dieses Stück Verantwortung. Sein Baby, nannte er es manchmal scherzhaft. Einmal hatte er gesagt, er sei wie eine große Glucke, die fünf Eier in ein steiniges Nest gelegt habe - und nun zuschaue, was da ausbrüte.

Und dann war da ja noch sie selbst.
Sie, die sich so oft als Belastung empfand.

Ach, ihr starker Ritter in schimmernder Rüstung. Ja, das war er für sie. Irgendwie schon immer.

Lisa stellte seine Lieblingstasse - die mit dem Periodensystem - leise auf den Couchtisch. Dann setzte sie sich auf die Sofakante, betrachtete ihn und legte eine Hand auf seine.

Der Moment war still. Friedlich.
Nur sie beide. Kein Konzern, keine Erwartungen. Kein Druck.

Als sie aufstand, um ihn nicht zu stören, tippelte sie leise durch das helle Wohnzimmer zur Terrassentür - hinaus in den Garten. Sie wollte ihm später von ihrem Tag erzählen. Jetzt sollte er schlafen. Sie konnte ihm später immer noch von ihrem Tag berichten.

Unten am See stand der Pavillon - ihr Rückzugsort, ihr Sehnsuchtsort. Ein Geschenk von Matthias, das mehr war als ein Bauwerk: Es war eine Geste, ein Symbol, ein Versprechen.

Er hatte ihn für sie gebaut. Und zwar nicht irgendeinen. Kein Fertigbausatz, kein Baumarkt-Schnäppchen. Nein, Matthias hatte sich zurückgezogen, tagelang Pläne gezeichnet, Materialien bestellt, Holz bearbeitet. Und das alles nur, um Lisa einen Pavillon zu schenken, wie sie ihn sich in ihrer Vorstellung ausgemalt hatte: weiß gestrichen, mit zarten Verzierungen, als stamme er direkt aus einem Jane-Austen-Roman. Verspielt, romantisch, fast zu schön, um wahr zu sein.

Als sie damals das Anwesen besichtigten - das Haus, den verwilderten Garten, den kleinen See - wusste Lisa sofort, dass sie angekommen war. Sie hatte getanzt, gelacht, ihm den Platz gezeigt, an dem der Steg hinmusste. Und genau dort hatte er ihn errichtet. Mit Kieselsteinen, ebenfalls in Weiß, hatte er einen Weg angelegt, der direkt vom Garten zum Wasser führte, vorbei an wildem Schilf und einem Weidenbaum.

Und dann, vor einem Jahr, als Matthias wieder einmal zwei Wochen Auszeit genommen hatte, vergrub er sich für drei Tage in sein Büro. Kein Wort, kein Hinweis, keine Erklärung. Er arbeitete still, konzentriert, beinahe abwesend und ließ keine Fragen zu, beantwortete ihre neugierigen Blicke nur mit einem vielsagenden Lächeln.

Fünf Tage später fuhren zwei Lastwagen vor. Holz, Farbe, Werkzeug, schon beinahe ein halber Baumarkt auf Rädern. Lisa fragte, was das alles solle, doch Matthias schwieg. Er lud ab, sortierte Material, und verschwand mit dem ganzen Equipment zum See. Tagelang hörte man nur gelegentlich Hämmern, Sägen, Schleifen.

Am Ende der zwei Wochen - Lisa hatte schon gedacht, sie würde ihren Mann in diesem Leben nicht mehr zu einem normalen Gespräch bewegen können - stand er plötzlich am Sonntagmorgen in der Schlafzimmertür. Mit einem schelmischen Grinsen, einer schwarzen Augenbinde und dem Befehl: „Vertrau mir.“

Er verband ihr die Augen und führte sie langsam durch den Garten. Über den Kiesweg, den sie sonst immer barfuß liebte. Jede Kurve, jede Unebenheit wurde zu einem Versprechen. Sie spürte seinen Herzschlag durch den Arm, der sie lenkte - und ihre eigene Ungeduld wuchs mit jedem Schritt.

Als er stehen blieb, herrschte eine Stille, die mehr sagte als tausend Worte.

Dann nahm er ihr die Binde ab.Und was sie sah, raubte ihr den Atem.

Vor ihr stand ein Pavillon. Aber nicht irgendein Pavillon - es war ihr Pavillon. Wie aus einem Jane-Austen-Roman gefallen. Filigran, strahlend weiß, mit geschwungenen Streben, Ziergiebeln und floralen Verzierungen. Selbst die Kieselsteine des kleinen Weges, der von einem neu angelegten Steg aus direkt zu ihm führte, waren weiß. So hatte sie es sich immer gewünscht, als sie zum ersten Mal dieses Grundstück betreten hatten. Als sie wie ein Kind am Ufer entlanggetänzelt war und schwärmte, genau hier müsse ihr Pavillon stehen.

Und er hatte es sich gemerkt. Und er hatte ihn gebaut.

In der Mitte des Pavillons: ein kleiner, runder Tisch. Überzogen mit einer schneeweißen Tischdecke. Darauf ein Sektkübel mit Eis, eine Flasche Moët Chandon - Jahrgang 1978, ihr Geburtsjahr - und zwei schlanke Kristallkelche, die in der Abendsonne funkelten wie Glas aus einem Königshaus.

„Für dich, meine Prinzessin“, sagte Matthias leise. „Ich hoffe, das ist, was du gemeint hast.“

Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, wirkte plötzlich wieder wie der junge Mann, der sie damals auf der Studentenparty angesprochen hatte.

Lisa stand da, regungslos. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Was für ein Jahrestag? Unser Hochzeitstag ist doch im …“ - und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Der 26. Juni 1997.

Damals, auf der Uni-Party in Hamburg. Biologie trifft Germanistik. Molekularchemie küsst Pädagogik. Ein improvisierter Bierstand, ein unbeholfener Rempler, eine Entschuldigung zu viel - und ein Kuss, der alles verändert hatte. Der englische Patient im Kino. Der Film war nebensächlich gewesen. Aber der Kuss, der nicht.

„Auch wenn ich nicht gerade Ralph Fiennes bin“, sagte Matthias zaghaft, „ich hoffe … du freust dich über mein kleines Geschenk.“

Lisa rannte auf ihn zu, warf sich in seine Arme. „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe, liebe, liebe, liebe dich!“

Sie war überglücklich. Nein - sie war zu Hause. Sicher. Geborgen. Matthias hatte ihr einen Ort geschenkt, der mehr war als nur schön. Es war ihr Anker geworden, ihr Rückzugsort - ein Stück Unversehrtheit in einer oft so bedrohlich wirkenden Welt.

Lisa setzte sich unten auf den Steg und schaute auf den See.

Das Wasser war ruhig und die Wolken zeichneten ein Bild in vielen verschiedenen Blau- und Grautönen. Ihr Tee wurde langsam kalt, aber das störte sie nicht. Einerseits freute sie sich, dass Matthias heute schon da war. Andererseits war sie verunsichert, weil es so gar nicht zu ihrem gewohnten Ablauf passte. Lisa brauchte ihre Rituale, ihre regelmäßig wiederkehrenden Abläufe. Dass Matthias heute schon angekommen war, widersprach allen Regeln und Gesetzen.

Und trotzdem - sie freute sich wahnsinnig!

Andererseits: Steckte vielleicht mehr dahinter, als er bereit war, ihr gegenüber zuzugeben?

Sie wusste es nicht.

Heute hatte sie einen Termin bei Frau Vogelsang, ihrer Therapeutin. Seit knapp drei Jahren war sie jetzt bei ihr in Behandlung. Wirkliche Fortschritte sah Lisa nicht, auch wenn Frau Vogelsang etwas anderes sagte. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen sie glaubte, die Sitzungen seien nicht mehr als ein notwendiger Pflichttermin.

Klar, die zehn Minuten Fahrt nach Wismar brachten sie ein wenig aus ihrer selbstgewählten Isolation, doch bei all ihren Gesprächen und Expositionsübungen sah sie an manchen Tagen keinen Erfolg.

„Sie müssen es schon zulassen und nicht ausblenden!“ - und Frau Vogelsang lächelte jedes Mal dabei, wenn sie ihre „Hinweise“ mitteilte.

Wusste sie überhaupt, wie schwierig es war, die ganzen Ängste wirklich zuzulassen?Das war jedes Mal aufs Neue eine kleine Herausforderung.

Heute ging es darum, Menschenmengen zuzulassen. Nur ein kleiner Spaziergang durch das wunderschöne Karstadt Stammhaus in Wismar. Was für andere Frauen ein entspannter Bummel war, bedeutete für Lisa puren Horror! Menschen, die an ihr vorbeidrängten. Menschen, die sie streiften, berührten, womöglich schmutzig oder vielleicht sogar krank waren!

Aber sie hatte es geschafft.

War mit Frau Vogelsang die Treppen in dem sanierten Kontorgebäude einmal hoch und wieder heruntergegangen. Nicht gelaufen - gegangen! Obwohl sie am liebsten gerannt wäre.

„Das haben Sie prima gemacht, Frau Kröger!“, hörte Lisa die Stimme von Frau Vogelsang, als sei sie meilenweit entfernt. Sie war noch viel zu sehr damit beschäftigt, den Druck auf ihrer Brust loszuwerden und wieder atmen zu können, als sie realisierte, dass sie beide wieder mitten in der Fußgängerzone standen.

„Auf einer Skala von 1 bis 10 - wie fühlen Sie sich jetzt?“

Fühlen? Wie fühlen!

Ihr Puls normalisierte sich langsam, die Knie zitterten nicht mehr so stark, aber fühlen?

Um sie herum waren nicht so viele Menschen wie in dem Kaufhaus, und keiner kam nah genug, um sie zu berühren.

„Gut …“, stammelte Lisa. „Es geht mir gut.“

Mit einem gekünstelten Lächeln versuchte sie, ihre Worte zu unterstreichen.

„So? Wirklich? … Nun, auf einer Skala von eins bis zehn - wo war Ihre Angst?“

Da war es wieder - das sanfte, gütige Lächeln, gepaart mit diesen Fragen, die sich so schwer beantworten ließen.

Auf einer Skala von eins bis zehn …

Lisa überlegte. Ging auch hundert? Nein, so war es nicht. Nicht dieses Mal. Der Angstpegel war zwar sehr hoch, aber nicht bei zehn. War es noch eine acht? Oder doch nur eine sieben?Lisa wusste, dass Herunterspielen nichts brachte.

„Zwischen vier und fünf, denke ich …“, antwortete sie zögernd.

„Sehr gut! Das ist ein Fortschritt. Ich denke, die Einzelheiten können wir nächste Woche besprechen.“

Frau Vogelsang war dran, Lisa für heute zu entlassen.

„Gönnen Sie sich etwas Ruhe und nehmen Sie sich ein wenig den Druck.“

Lisa lächelte. Es war, als würde eine Lehrerin sie aus der anstrengenden Lateinstunde entlassen.

„Ich werde es versuchen, Frau Vogelsang. Versprochen!“, beeilte sich Lisa zu versichern.

„Lisa - versprechen Sie mir nichts.“ Wieder dieses gütige, mütterliche Lächeln.

„Versuchen Sie einfach, etwas mehr Achtsamkeit zu üben und auf sich selbst zu achten.“

Frau Vogelsang reichte ihr die Hand zum Abschied und nickte ihr ermutigend und vielsagend zu. Dann drehte sie sich um und ging.

„Und nehmen Sie sich bitte mehr den Druck aus Ihrem Leben“, setzte sie noch hinterher - ohne sich umzudrehen.

BUMS.
Da war er - der eine Satz, der traf.

Lisa saß in ihrem Pavillon und starrte gedankenverloren auf den See.
Was würde Matthias wohl zu ihrem heutigen Fortschritt sagen?

Sie nippte an ihrem Tee. Kalt. Lisa wunderte sich. War es denn schon so spät? Egal.
Matthias war zu Hause - das bedeutete für sie vor allem eins: Sie musste nachts keine Angst haben. Kein Horchen auf jedes Knacken, kein Grübeln über eingebildete Schatten, keine schlaflosen Stunden in stummer Panik.
Die abendliche Sommersonne wärmte immer noch ihr Gesicht. Es war schön und beruhigend, einfach nur hier zu sitzen und den Geräuschen vom See zu lauschen - dem Rascheln im Schilf, dem leisen Zucken in den Büschen und Bäumen ringsum.

Herunterfahren.
Kein Stress.
Weniger Aufregung.
Einfach nur mehr … Sein.

„Ach, hier steckst du! Das hätte ich mir ja denken können.“

Matthias stand hinter ihr, eine schwarze ESA-Tasse in der Hand, gefüllt mit frisch aufgebrühtem Kaffee.
„Entschuldige bitte, dass ich einfach eingeschlafen bin. Der Tag war wohl doch etwas zu heftig.“

Er stellte die Tasse auf die Brüstung des Pavillons und legte seine Arme von hinten um ihre Hüften.
„Und, wie war dein Tag so, meine kleine Prinzessin?“

Lisa zögerte. Wie sollte sie es ihm erzählen? Dass sie heute das Karstadt-Haus betreten hatte? Dass sie sich beim nächsten Mal vielleicht sogar eine weitere Etage zutraute? Vielleicht - irgendwann - mit ihm gemeinsam einfach durchschlendern würde, wie andere Paare auch?
Sie schloss die Augen, suchte nach Worten.

Da klingelte sein Handy.
Matthias ließ sie los, trat einen Schritt zurück und nahm den Anruf an. Seine Stimme klang angespannt, sein Rücken wurde steif, das Gesicht nahm wieder diesen steinernen Ausdruck an. 
Er ging kleine Kreise auf dem Rasen - wie immer, wenn ihn etwas belastete.

Lisa kannte diesen Blick. Meist verhieß er nichts Gutes.
„Entschuldige bitte, Schatz … das war Hamburg. Mein Vater …“

Auch diesen Tonfall kannte sie. Immer dann, wenn er sie enttäuschen musste, ohne es zu wollen.

„Ich muss heute Abend noch nach Rostock - eine Sitzung mit ein paar Universitätsvertretern …“

„Schon gut. Es ist ja schließlich auch noch nicht Wochenende.“
Lisa versuchte verständnisvoll zu klingen. Hoffte, dass Matthias ihr das abnahm.

„Es tut mir wirklich leid, mein Schatz. Der alte Herr hat’s wohl vergessen - oder wollte selbst nicht hin und schiebt es jetzt mir unter.“
Er trat wieder zu ihr, nahm sie fest in die Arme und drückte sie an sich. „Ich habe aber noch etwas Zeit. Jetzt bist erst mal du dran.“

Er küsste sie sanft auf die Stirn und lächelte.
„Na, sag schon - wie war dein Tag? Ich bin ganz Ohr.“

„Ach … nichts Besonderes. Eigentlich ganz ruhig und friedlich. So wie immer. Schön, dass du da bist.“

Lisa legte den Kopf an seine Brust und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Kapitel 2

Der Seat Arona, der mit einem Dröhnen vor dem Biosphere-Komplex zum Stehen kam, hinterließ eine Staubwolke, die fast bis Pamplona sichtbar gewesen wäre. Langsam und bedächtig fuhr Vivi niemals. Schon mit fünfzehn hatte sie das Autofahren in den Straßen von Brest gelernt. Ihr vier Jahre älterer Bruder Léon, der sich seinen ersten gebrauchten Citroën 2CV zugelegt hatte, sobald er den Führerschein in der Tasche hatte, war damals zu ihrer Schule gefahren. Die kleine Schwester abzufangen, war sein Ritual.

„Zwei Pferdchen, Schwesterchen! Ich hab jetzt meine eigene Kutsche!“, hatte er stolz verkündet, als er sie in der großen Pause abgeholt hatte.

„Pah! Fahren kann doch jeder, das ist keine Kunst!“, hatte Vivi ihn mit einem frechen Grinsen geneckt, auch wenn sie insgeheim vor Stolz auf ihn strahlte. Die Art, wie sie immer ihre Hände in die Hüften stemmte, das Kinn anhob und sich eine ihrer feuerroten Locken aus dem Gesicht pustete, war ihr Markenzeichen.

„Ach, du nun wieder! Dann zeig’s mir doch, wenn du’s besser kannst“, hatte er herausgefordert. Und so war es, dass Vivi, das freche Mädchen mit den Sommersprossen, nach ein paar zögerlichen Minuten mit Léons kleinem Citroën durch den Hafen von Brest fuhr - ohne Führerschein, ohne Angst, aber mit einer Menge Spaß und einer gehörigen Portion Bewunderung ihres Bruders.

Doch das echte Fahren lernte sie später. Vor vier Jahren war es ein SMUR-Wagen der SAMU75 in Paris, der sie aus der Notwendigkeit heraus zur Fahrerin gemacht hatte. Als Notfallärztin zählte jede Sekunde, und Paris mit all seinen chaotischen Straßen und unberechenbaren Fahrweisen war eine der besten Übungsstrecken der Welt - so dachte sie damals oft.

Und doch hatte sie das „wirklichen“ Paris verlassen müssen, nachdem das, was sie als Erlebnis bezeichnete, ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2016 war in vollem Gange - und mit ihr die Straßenkämpfe und Proteste, die Paris erschütterten. Doch das war nicht der Hauptgrund, warum Vivi ihre Arbeit in der Stadt aufgab.

Es war Jean-Claude - der Mann, von dem sie geglaubt hatte, er sei ihr Freund, ihr Bruderersatz, jemand, dem sie vertrauen konnte. Doch er hatte sie in einem Moment größter Verzweiflung ausgenutzt, als sie nach einem 14-Stunden-Einsatz völlig erschöpft in seine Arme gefallen war. Was sie nicht gewusst hatte: Jean-Claude hatte auf mehr gehofft. Viel mehr.

Vivi, die in ihrer Jugend durch ihren Bruder Léon viele Techniken zur Selbstverteidigung erlernt hatte, wusste in diesem Moment genau, wie sie sich wehren konnte. Der Fuß, der in seine Weichteile traf, war ihre Antwort - und der Schmerz in seinen Augen der Moment, als Vivi klar wurde, dass diese Welt für sie in Paris nicht mehr existierte. Sie hatte sich von Jean-Claude befreit, doch der Riss war geblieben. Es war der Moment, als sie endgültig beschloss, dass Männer nicht mehr die Wurzeln der Sicherheit für sie sein konnten, die sie sich immer gewünscht hatte.

Doch Vivi hatte auch einen anderen Halt in ihrem Leben gehabt - ihren Vater. Der Professor an der medizinischen Fakultät von Brest hatte sie schon früh für die Medizin begeistert. Er hatte immer Wert darauf gelegt, dass sie das Handwerk verstand, dass sie als Ärztin nicht nur mit ihrem Kopf, sondern auch mit ihrem Herzen arbeitete.

„Du wirst den Menschen helfen, aber du musst auch wissen, wie du dich selbst schützt“, hatte er ihr oft gesagt.

Ihr Vater war ein Mann der Wissenschaft, der ihr in vielen Dingen den Weg gezeigt hatte. Aber auch er konnte die Lücke, die ihr Bruder hinterließ, nicht füllen. Als Léon sich endgültig entschied, in die Fremdenlegion zu gehen, hatte der Vater immer wieder versucht, seinen Sohn zu retten. Doch als dieser für immer verschwand, fühlte Vivi, wie ihr einziger, wirkliche Verbündete ihrer Familie sich in Luft auflöste.

Brest war keine Option mehr. Der Verlust hatte ein Loch hinterlassen, das sich auch durch Paris oder andere Männer nicht füllen ließ. Und als sie sich dann endgültig von ihrem sicheren Arbeitsplatz in Paris verabschiedete, zog es sie nach Marseille - in eine neue Stadt, in ein neues Leben. Doch auch hier, ohne Jean-Claude, ohne die ständige Erinnerung an ihre Familie, fühlte sie sich nur wenig sicherer.

Sie lernte schnell, dass die internationalen Seeleute, die oft in Marseille vor Anker gingen, nicht weniger aufdringlich waren als die Pariser. Die gleiche Leere, das gleiche Gefühl der Isolation.

Als das Angebot von Kröger Chemicals kam, war es für Vivi wie ein Geschenk. Eine Chance, die ihr half, endlich loszulassen. Kröger versprach ihr Sicherheit - einen Platz, an dem sie in Ruhe arbeiten konnte. Ein Ort, an dem sie ihre Wunden heilen konnte. Es war der Versuch, den sie nicht länger scheuen konnte.

Doch auch diese Fahrt, die sie jetzt in diesem Moment auf das Kröger-Gelände führte, war mehr Frustabbau als der Wunsch, endlich anzukommen. Der Spaß an der Geschwindigkeit hatte sie durch diese letzte Stunde gebracht, doch nun, nach der Staubwolke, die sie hinterließ, wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine Dusche, etwas zu essen - und ein weiches Bett, das sie wenigstens für ein paar Stunden in Ruhe ließ.

„Guten Tag und willkommen bei Biosphere. Wie kann ich Ihnen helfen?“, flötete eine Dame mit Zahnpasta-Grinsen hinter dem Empfangstresen.

Vivien blieb wie angewurzelt stehen und ließ ihren Blick durch die Empfangshalle gleiten. Es war, als hätte man die Eingangshalle eines futuristischen Raumbahnhofs mit einem IKEA-Katalog für Designer-Wissenschaftler gekreuzt. Jeden Moment, dachte sie, würde ein Raumschiff durch die Decke brechen, sie zur Venus entführen und ihr drei Monate Urlaub von sich selbst verschaffen.

Ein paar Grüppchen junger Menschen - überwiegend Studenten aus halb Europa - standen plaudernd an futuristischen Stehtischen und sprachen wild durcheinander: Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch. In der Nähe der Aufzüge kritzelten Techniker auf ihren Klemmbrettern herum, während ihnen ein breitschultriger Mann mit Handwerker-Jeans, kariertem Hemd und abgewetzter Lederweste Anweisungen erteilte.

Von der Decke hingen riesige Bildschirme, die in Endlosschleife ein Imagevideo von Kröger Chemicals abspielten. Dabei wechselten die Sprachen wie auf einem Flughafen in Marseille - alles war etwas zu perfekt, zu steril, zu bemüht international.

„Hallo? Hören Sie mich?“, wiederholte das Colgate-Lächeln etwas lauter und blinzelte professionell über den Tresen hinweg.

Vivi antwortete nicht. Stattdessen ließ sie demonstrativ ihren olivgrünen Armeerucksack und die dunkelbraune Arzttasche mit den Initialen ihres Vaters neben sich auf den Boden plumpsen. Der Aufprall hallte nach. Sie musterte ihr Gegenüber und fragte sich ernsthaft, ob es sich dabei um einen Androiden handelte.

„Wo finde ich die medizinische Abteilung?“, fragte sie dann, als wäre das hier die Rezeption eines Bahnhofs und sie habe einen Anschlusszug in zehn Minuten.

Die Empfangsdame blieb makellos freundlich, ihre Stimme weich wie Vanillepudding:

„Wenn Sie mir Ihren Namen nennen, dann werde ich sofort …“

„Ich will den Leiter sprechen.“

Vivi hatte keine Lust auf Floskeln. Hatte nicht dieser Herr Kröger persönlich in Marseille bei einem zu süßen Cappuccino gesagt, man werde sie herzlich empfangen? Bisher war davon nichts zu spüren - außer der Deko.

„Herr Kröger junior wird erst am Montag zurückerwartet“, säuselte die Stimme weiter. „Wenn Sie mir also einfach Ihren Namen verraten, dann …“

Vivi ließ die Dame gar nicht erst zu Ende sprechen. Sie stützte sich mit einem Ellbogen auf den Tresen, pustete sich eine ihrer feuerroten Locken aus dem Gesicht und fixierte das Namensschild auf der makellosen Weste vor ihr.

„Hör’ mal, Maria, oder?“, sagte sie mit dem Tonfall einer charmanten Abrissbirne. „Ich hab mir gerade über hundert Kilometer lang meinen hübschen Hintern plattgesessen, mein Kreislauf schreit nach einer Dusche und mein Magen nach allem, was keine Konservierungsnummer trägt. Also: Wo. Ist. Die. Medizinische. Abteilung?“

Maria, die jeden Monat mindestens drei Nobelpreiskandidaten und doppelt so viele hormonell entgleiste Studierende über sich ergehen lassen musste, ließ sich äußerlich nichts anmerken. Innerlich aber wuchs der Wunsch, die Französin mit einem Blick zu versteinern. Leider fehlte ihr dazu das mythische Talent.

Vivien seufzte ein Oh mon dieu, drehte sich demonstrativ um, lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen und verschränkte die Arme - ein Signal, das in jeder Sprache gleichbedeutend mit Jetzt reicht’s aber langsam war.

Und just in diesem Moment klackerten Schritte von der Seite durch das Foyer.

„Hallo, willkommen bei Biosphere. Wie kann ich helfen?“

Die Stimme des kräftigen, mittelgroßen Mannes mit Lederweste hallte freundlich durch das Foyer. Vivien drehte sich in seine Richtung und hob überrascht die Stirn. Der Mann mit der ausgetragenen Handwerker-Jeans war noch nicht ganz am Tresen angekommen, als Maria sich bereits in bester Empfangsdamenmanier zu rechtfertigen begann.

„Herr Koiping, die Dame wollte mir ihren Namen nicht …“

„Schon in Ordnung, Maria“, unterbrach er sie sanft lächelnd. „Ich kümmere mich um sie.“

Er warf Vivien einen vielsagenden Blick zu, seine Augen wanderten kurz über ihr Gepäck. Als er die lederne Arzttasche mit den Initialen sah, fiel bei ihm der Groschen. Er tippte sich kopfschüttelnd an die Stirn.

„Sie müssen die neue Ärztin sein, von der Herr Kröger erzählt hat. Wir hatten Sie eigentlich erst am Montag erwartet.“

Er streckte die Hand aus - offen, herzlich. Vivien zögerte einen Moment, als müsste sie abschätzen, ob diese Hand nicht vielleicht doch etwas Unanständiges im Schilde führte. Schließlich gab sie sich einen Ruck und erwiderte den Händedruck.

„Vivien Hechter. Aber nennen Sie mich Vivi. Alles andere kann eh kein Nichtfranzose aussprechen, n’est-ce pas?“

Der Mann schmunzelte, sichtlich bemüht um eine passende Erwiderung, nickte dann verlegen und wandte sich wieder Maria zu.

„Maria, würden Sie mir bitte den Schlüssel für 514 geben?“

Maria reichte den Schlüssel wortlos über den Tresen, ihr Lächeln festgetackert wie das Etikett auf einer Verpackung. Vielleicht war das mit ihrem Gesicht auch einfach genetisch bedingt, dachte Vivi, die die Szene amüsiert beobachtete.

„Freut mich, Vivi“, sagte der Mann, als er sich wieder ihr zuwandte. „Ich bin Jan Koiping, Haupttechniker hier. Zuständig für Maschinen, Gebäude, alles was knarzt. Ich bin von Anfang an dabei. Wenn Sie möchten, führe ich Sie herum.“

Vivien bückte sich nach ihren Taschen, überlegte einen Moment.

„Vielen Dank, aber ich würde gern erst meine Sachen unterbringen und duschen“, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln.

„Natürlich, kein Problem“, entgegnete Jan und bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“

Sie machten sich auf den Weg durch das gläserne Foyer zu den Fahrstühlen. Vivi schaute sich dabei aufmerksam um.

„Ein ziemlich imposantes Gewächshaus haben Sie hier.“

Jan strahlte, als hätte jemand innerlich einen Schalter umgelegt.

„Ja, der Bau hat schon was. Der Chef meint sogar, man könne ihn aus dem Weltraum sehen“, sagte er, die Augen leicht verdrehend.

Vivi schmunzelte.

„Aber die Dome sind schon beeindruckend. Besonders mittags - dann schimmern sie fast durchsichtig“, fügte er hinzu.

„Sie meinen diese riesigen Glaskuppeln da draußen?“

Jan wollte gerade ausholen - vermutlich zu einem Vortrag über ALON und Transparenzkoeffizienten - als der Fahrstuhl mit einem dezenten Ping seine Ankunft meldete.

„Ja, wenn Sie so wollen - die Glaskugeln …“

Die Türen öffneten sich, beide stiegen ein. Jan drückte den Knopf für die fünfte Etage.

„Da oben sind die Wohneinheiten für die Stammbelegschaft und das leitende Personal. Ganz oben: Restaurant und Terrasse. Im vierten Stock: Sport und Wellness. Und in der dritten: Ihr Reich - die medizinische Abteilung. Dafür brauchen Sie aber eine Zugangskarte. Ich weiß nicht, ob die schon bereitliegt. Sie sollten ja erst Montag kommen.“

Vivien wirkte kurz verlegen.

„Ich weiß. Aber ich hab gekündigt, und meinen Freunden wollt’ ich auch nicht länger die Haare vom Kopf futtern …“

„Kein Problem. Ihr Zimmer ist schon lange vorbereitet. Ach so, hier - Ihr Schlüssel.“

Jan reichte ihr den Schlüssel für Apartment 514. Er hatte einen riesigen Anhänger, der eher an ein altes Hotel erinnerte.

Vivien betrachtete ihn skeptisch.

„Die sind so groß, damit man sie nicht verliert“, erklärte Jan schmunzelnd.

Vivi zuckte mit den Schultern. In diesem Moment öffneten sich auch schon die Fahrstuhltüren.

„Ja also … dann erstmal danke“, sagte sie etwas verunsichert.

„Ihr Zimmer ist hinten links. Ich hol Sie nachher zum Essen ab, ja?“

„Ja gern!“, rief sie ihm hinterher, als sich die Türen bereits schlossen.

Vivien stand allein im Korridor, runzelte die Stirn und setzte sich mit Gepäck und einem leichten Seufzen zögernd in Bewegung, um ihr Zimmer zu suchen.

Kapitel 3

„Willst du deinen Vater nicht doch noch einmal anrufen?“ Lisa sah ihren Mann besorgt an.

Der gestrige Abend war nicht ganz so verlaufen, wie es sich der Senior vorgestellt hatte. Zwar hatte Matthias seinem Vater nach dem Treffen wie gewünscht telefonisch Bericht erstattet, doch dessen Reaktion auf die Nachricht, dass sowohl die Uni Rostock als auch Greifswald noch keine Entscheidung treffen wollten, war alles andere als erfreut. Beide Institutionen wollten mehr Informationen - und Bedenkzeit.

„Lass gut sein, mein Schatz. Wir haben nur noch diese drei Tage und die will ich mit dir verbringen. Ohne Arbeit. Ohne den alten Herren.“ Matthias rang sich ein Lächeln ab und nahm seine Frau in den Arm.

„Nur wir beide. Was hältst du davon? Wir könnten zum Beispiel an die Ostsee fahren und…“

„Matthias? Bist du glücklich?“ Lisa senkte den Blick. „Ich meine … so wirklich glücklich. Mit mir.“

Matthias sah sie erstaunt an. Als er ihre Hände nahm, traf es ihn wie ein Schlag: rau und rissig. Anzeichen. Der Waschzwang war zurück - schlimmer, als er gedacht hatte. Noch ehe er etwas sagen konnte, versuchte Lisa, ihm zuvorzukommen.

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Es ist nur gerade alles sehr … schwierig.“ Sie sah ihn flehend an. „Glaub mir, es wird nicht wieder so schlimm. Versprochen. Sei bitte nicht böse. Bitte …“

Ihre glasigen Augen füllten sich mit Tränen. Matthias verstand die Welt nicht mehr. Böse? Worauf denn?

„Komm her, meine Prinzessin.“ Er zog sie fest an sich und ließ sie nicht mehr los. „Warum sollte ich dir böse sein? Nur weil du zurückgefallen bist?“

Natürlich wusste er, dass es um mehr ging. Aber zu bohren wäre riskant. Fragte er nicht, wirkte es, als sei es ihm egal. Fragte er zu viel, machte sie womöglich dicht.

„Willst du darüber reden? Möchtest du mir etwas erzählen?“, fragte er behutsam.

Er erinnerte sich gut, wie er das erste Mal gemerkt hatte, dass bei Lisa etwas nicht stimmte. Es waren nicht die großen Dinge. Eher die kleinen Auffälligkeiten. Dass sie in ihrer Lieblingskneipe das Besteck mit einem Taschentuch polierte - nun gut, studentische Hygiene war berüchtigt. Auch der eigene Kühlschrank in der WG war keine Seltenheit. Erst viel später verstand er, dass es nicht ums Essen ging. Sondern um Kontrolle. Um Sicherheit.

Lisa war diszipliniert, stark - sie hatte ihre Ängste lange perfekt verborgen. Zu perfekt. Gerade das machte es so schwer, zu erkennen, was Zwang war - und was schlicht eine Eigenheit.

Er dachte an das Gespräch kurz vor der Hochzeit. Drei Tage vorher, im Gästezimmer seiner Eltern. Er hatte sich gewundert, dass Lisa ihre Kleidung nicht wie sonst in den Schrank legte, sondern gefaltet auf den Stuhl - logisch, es gab ja keinen Schrank. Doch dann holte sie eine Plastiktüte und stülpte sie über die Sachen. Als er sie darauf ansprach, erschrak sie so sehr, dass sie keinen Ton herausbrachte. Wenig später flossen Tränen.

Damals brach es aus ihr heraus wie ein Wasserfall. Sie sprach zum ersten Mal offen über ihren Waschzwang, ihre Ängste - über die Geschichten in ihrem Kopf, die sie so lange für sich behalten hatte. Und Matthias hatte einfach zugehört. Sie gehalten. Und geliebt.

„Du musst nicht reden, wenn du nicht willst“, sagte er leise. „Aber bitte zweifle nie daran, dass ich dich liebe. Und für dich da bin.“

Langsam wurde Lisa ruhiger. Ihr Atem normalisierte sich. Sie sah ihn an und lächelte.

„Danke, dass du da bist. Danke, mein Held.“

Matthias schmunzelte, küsste sie auf den Kopf. „Dafür bin ich doch da, meine Prinzessin.“ Er hielt sie fest - noch ein bisschen länger.

Dann ging Lisa in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Matthias folgte ihr, machte den Kaffee.

„Sag mal, Schatz, hab ich dir eigentlich erzählt, wie der alte Herr gestern reagiert hat, als ich ihn angerufen habe?“

Lisa drehte sich um. „Nein, hast du nicht. Gab es etwas Besonderes?“

Matthias grinste. „Was soll ich sagen. Ich hab ihm erzählt, dass beide Unis abgesagt haben. Dass ihnen die Entfernung und das Risiko zu groß seien. Dabei hab ich nicht mal von den Fördermitteln gesprochen.“

Lisa schob die Brötchen in den Ofen. „Und? Wie war seine Reaktion?“

„Wie immer. Ich bin schuld. Natürlich. Ich hätte auch bunte Kühe anbieten können - wäre aufs Gleiche hinausgelaufen.“

Lisa schnaubte verächtlich. „Ich weiß nicht, warum er das immer wieder mit dir macht. Wenn es schiefgeht, bist du schuld. Dabei ist er doch der große Verkäufer. Soll er doch mal selbst seinen Hintern aus Hamburg her bewegen.“

Matthias schmunzelte still in sich hinein. Lisa runzelte die Stirn.

„Warum schmunzelt mein großer Diplomat?“

„Na ja … ich hab ihm genau das gesagt.“

„Du hast was?“ Lisa erstarrte.

„Ich sagte ihm, wenn der Termin so ungeheuer wichtig sei, dann möge er sich selbst in seinen großen Dienst-Benz setzen und hinfahren.“

Lisa wäre beinahe die Brötchentüte entglitten. „Du hast ihm echt …? Und was hat er gesagt?“

„Er hat gestammelt. Dann aufgelegt.“

Lisa riss die Augen auf. „Er hat aufgelegt? Und du …“

Beide prusteten los. Lachten Tränen.

„Jetzt verstehst du, warum ich ihn nicht noch einmal anrufe. Drei Tage - die will ich mit dir verbringen.“ Matthias nahm ihre Hand über den Tisch hinweg. „Weißt du was? Nach dem Frühstück packen wir unsere Sachen. Ich weiß auch schon, wohin.“

Lisa sah ihn neugierig an. Eigentlich mochte sie keine Überraschungen. Aber mit ihrem Helden ging sie überall hin.

„Also gut, mein Ritter. Entführe mich.“ Sie verbeugte sich spielerisch, wie auf einer Opernbühne.

„Wart’s nur ab, Prinzessin … wart’s nur ab.“ Matthias grinste geheimnisvoll und schien etwas ganz Besonderes im Sinn zu haben.

Kapitel 4

Das schrille Klingeln des Telefons durchschnitt die samtige Stille des Zimmers wie eine Glasscherbe. Nicht ihr Handy - das lag stumm auf dem Nachttisch -, sondern das fest installierte, altmodisch wirkende Gerät auf der Kommode. Vivien blinzelte, als sie die Augen öffnete. Sonnenlicht flutete durch das große Panoramafenster und traf sie direkt ins Gesicht - grell, ungefiltert, als würde die Welt sie zwingen wollen, endlich wach zu werden.

Ihr erster Impuls war, sich wegzudrehen und das Kissen über den Kopf zu ziehen. Doch dann fiel ihr Blick auf die digitale Anzeige des Weckers: Zehn Uhr.

Zehn.
Sie stöhnte leise auf. Um diese Zeit machte sie sonst ihre zweite Frühstückspause. Wenn sie arbeitete. In Marseille. In einem Leben, das plötzlich Lichtjahre entfernt wirkte.

Sie setzte sich langsam auf, fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare und griff dann mürrisch nach dem Hörer.

„Hallo Vivi? Sind Sie schon wach?“ Jans Stimme platzte wie ein Ballon voller guter Laune in ihre noch benebelten Gedanken. Er klang unverschämt wach, fröhlich, ein bisschen zu laut - wie ein Showmaster in einer dieser Nachmittags-Quizshows, die sie immer nur ertrug, wenn sie krank war.

„Gerade so“, murmelte sie und versuchte gleichzeitig, ihre Augen an das gleißende Licht zu gewöhnen und ihre Gedanken zu ordnen.

Da war dieser gestrige Abend … Der Techniker, der sie am Empfang abgeholt hatte. Der Fahrstuhl, der zu einem Ort führte, den sie so nie erwartet hätte.

Das Restaurant. Dieses absolut wahnsinnige Restaurant inmitten von - nichts.

Sie erinnerte sich, wie sich der sterile Glas-Beton-Komplex plötzlich wandelte - als hätte jemand eine geheime Schiebetür geöffnet in eine andere Welt. Dort, wo sie metallene Kühle und funktionale Effizienz erwartet hatte, empfing sie plötzlich der warme Schein von Kerzenlicht. Holzvertäfelte Wände, Brokat-Tischdecken, das Funkeln von Kristallgläsern. Silberbesteck, das so sorgfältig ausgerichtet war, als stünde ein königliches Dinner bevor. Und in der Mitte des Raumes: ein Kamin. Ein echter. Nicht nur ein Hologramm oder eine Lichtinstallation.

Für einen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, der Fahrstuhl habe sie zurück in eine europäische Großstadt gebracht. Paris. London. Irgendwohin, wo Restaurants noch mit Michelin-Sternen glänzten.

Doch draußen war nichts als rotes Land. Kalksandstein, dürre Vegetation, flimmernde Hitze über dem Nichts. Die Isolation war real. Umso mehr staunte Vivien über den Aufwand, den man hier betrieb, um der Einsamkeit zu trotzen.

„Moral ist alles“, hatte Jan gesagt, als sie sich mit einem Glas hervorragendem Wein auf dem Balkon niedergelassen hatten. „Genau wie auf großen Überseeschiffen. Gutes Essen verhindert Meutereien.“ Und er grinste dabei, als sei das keine Redewendung, sondern ein unterschwelliges Versprechen. Oder eine Warnung.

Sie erinnerte sich, wie sie seinen Worten gelauscht hatte, ohne wirklich zu antworten. Ihre Gedanken waren noch damit beschäftigt gewesen, das Gesehene und Gefühlte einzuordnen. Wer in einem Forschungskomplex ein Restaurant wie aus einem Edward-Hopper-Gemälde bauen ließ, hatte entweder ein großes Herz - oder einen noch größeren Plan.

Jan erklärte ihr, dass der Seniorchef aus Hamburg eine Menge Geld in den gesamten Freizeitbereich gesteckt hatte. Wellness, Unterhaltung, Luxus. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, wie Jan betonte, sondern weil ausgeglichene Mitarbeiter produktiver waren.

Vivien hatte dazu ihre eigene Meinung - sie war sich nur noch nicht sicher, wie weit sie mit dieser Meinung hier drinnen kommen würde. Und so schwieg sie. Beobachtete. Hörte zu.

Gleich neben dem Restaurant, erinnerte sie sich, lag die Dachterrasse - groß, offen, einladend. Mit einer eigenen Bar und einer Chillout Area, wie Jan sie genannt hatte. Liegestühle, Decken, kleine Windlichter. Vielleicht ein Versuch, das Gefühl von Freiheit zu simulieren. Jan hatte ihr erzählt, dass hier manchmal Feste stattfanden. Keine offiziellen, sondern selbstorganisierte Veranstaltungen der Studenten. Feiern, die aus der Not heraus geboren wurden, sich nicht in eine sterile Monotonie fallen zu lassen.

Und plötzlich war ihr klar geworden, was sie hier eigentlich war: eine Beobachterin in einem Biotop. Nicht nur wissenschaftlich - sondern auch menschlich.
Alles hier war ein Versuch. Ein Experiment.
Nicht nur das mit den Pflanzen und der Atmosphäre. Sondern auch das mit den Menschen.

Vivien erfuhr, dass ihre gestrige Abendbegleitung ein waschechter Holländer war. Geboren in Den Helder, aufgewachsen mit Blick aufs Meer, hatte Jan Koiping nach der Schule und einigen Gelegenheitsjobs Maschinenbau am ITC in Enschede studiert. Danach verschlug es ihn für einige Jahre zu VW nach Emden und später zur HAUNI nach Hamburg. Doch irgendwann suchte er nach einer Aufgabe, bei der er sein eigener Herr sein konnte. Da kam das Angebot von Kröger Chemicals gerade recht - wenn auch nicht ganz zufällig.

Kurt Körber und Hans-Heinrich Kröger kannten sich bereits seit den 1970er-Jahren, als beide damit begannen, ihre Unternehmen zu Weltkonzernen zu formen. Doch während Kröger vor allem Größe und Reichtum im Blick hatte, vergaß Körber mit seiner HAUNI nie die soziale Verantwortung und sein Engagement für Gesellschaft und Mitarbeitende.

Als Körber 1992 starb, hätte Hans-Heinrich jede Wette abgeschlossen, dass sein Konzern bald zerschlagen würde. Doch es kam anders.

Also schickte er seinen Sohn Matthias ins Rennen - offiziell, um die freundschaftlichen Beziehungen der Unternehmen aufrechtzuerhalten, inoffiziell, um Informationen zu sammeln. So traf Matthias Kröger bei einer Führung auf Jan Koiping. Kaum hatten die beiden zehn Minuten miteinander gesprochen - Jan erklärte eigentlich nur die neuen Maschinen -, wusste Matthias, dass er diesen außergewöhnlich klugen Kopf für sein eigenes Projekt gewinnen musste.

Und nun war er hier.

„Jan, Sie sagten gestern, ich hätte heute noch frei … und … was war das bitte für ein Rotwein?“ Vivi fühlte sich, als hätte eine Heavy-Metal-Band in ihrem Kopf übernachtet.

„Oh, das weiß ich nicht mehr so genau - Sie hatten ja die beiden Flaschen für sich.“ Jans Stimme am Telefon kicherte leise. „Ich bin beim Bier geblieben.“

Vivien rieb sich mit der linken Hand die Schläfen, während sie schwer ins Telefon seufzte.

„Alles gut“, kam es zurück, „kommen Sie erst mal auf die Füße. Wenn Sie später Lust haben - meine Nummer ist im Telefon gespeichert.“

Klack. Die Leitung war tot.

Vivi ließ sich zurücksinken, sah sich in dem Apartment um, das ihr zugewiesen worden war - und das ganz klar zu den besseren Unterkünften der Biosphere gehörte. Es war großzügig geschnitten, fast luxuriös. Ein großer Wohnraum mit Multimedia-Anlage, ein 55-Zoll-Bildschirm an der Wand, eine U-förmige Ledersitzgruppe und ein Glastisch auf schwarzem Saphirglas. Direkt angeschlossen ein modernes Bad mit Wanne und Bidet, ein Schlafzimmer mit Himmelbett - selbstverständlich Doppelbett - und einem weiteren Fernseher samt Internetzugang. Davor lag eine kleine, aber edel gestaltete Küchenzeile mit Kühlschrank.

Die Möbel waren aus Sonoma-Eiche gefertigt, mit schwarzen Glaselementen abgesetzt - der Stil: durchgängig hochwertig. Das Bad war schlicht, aber vollständig mit weißem Marmor gefliest. Alles wirkte, als hätte man hier ein Fünf-Sterne-Hotelzimmer einfach ausgeschnitten und in den Komplex eingesetzt. Selbst die Wände waren mit hochwertigen Kunstdrucken geschmückt: Miró, Matisse, Kandinsky, Franz Marc und August Macke.

Das Einzige, was Vivi jetzt wirklich interessierte, war die Kaffeemaschine.

Ihr Blick wanderte zur Küchenzeile - und tatsächlich: ein kleiner, glänzender Jura-Vollautomat wartete dort auf sie. Sie schaltete ihn ein und suchte nach einer Tasse. Im Hängeschrank fand sie Kaffeebecher mit Biosphere-Logo auf der einen und Kröger-Wappen auf der anderen Seite. Wirklich? Kopfschüttelnd stellte sie den Becher unter den Auslauf. Im Kühlschrank fand sie noch eine ungeöffnete Milch.

Mit dem heißen Kaffee in der Hand schlenderte sie schließlich zum Panoramafenster im Wohnzimmer. Der erste Schluck schmeckte nach Leben - warm, dunkel, bitter -, genau, was sie brauchte. Doch was sich vor ihr auftat, ließ sie den Becher kurz senken.

Vor ihr lagen die Bardenas Reales, wie aus einer anderen Welt. Die rostfarbenen Felsformationen zogen sich bis zum Horizont, durchzogen von Canyons, Schluchten, bizarren Nadeln und Plateaus. Diese Wüste, mitten in Europa, war ein Relikt der Urzeit - rau, wild, unerbittlich.

---ENDE DER LESEPROBE---