Die Stimme des Todes - Stella Cameron - E-Book
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Die Stimme des Todes E-Book

Stella Cameron

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Beschreibung

Der Klang des Todes ist zuckersüß … ein neuer Fall für Alex Duggins
Die spannende Cosy Crime-Reihe der New York Times-Bestsellerautorin Stella Cameron

Als Kneipenbesitzerin Alex Duggins dem schönen Gesang in die Kirche folgt, ahnt sie nicht, was sie dort erwartet. Nachdem sie einen lauten Aufprall vernimmt, findet sie die Sängerin leblos auf dem Boden vor. Für das Mädchen kommt jede Hilfe zu spät. Ihre Familie ist erst vor kurzem in die Gegend gekommen und wird von den Dorfbewohnern mit Skepis betrachtet. Doch wer könnte den Tod der Sängerin wollen? Oder war es gar Selbstmord? Folly on Weir wird erneut von Chaos erschüttert und Alex gerät unter Verdacht, als Dan O’Reilly und Bill Lamb geschickt werden, um den Todesfall zu untersuchen. Kann es Zufall sein, dass Alex wieder einmal als Erste am Tatort war? Kann sie dabei helfen, den wahren Mörder zu finden, bevor es weitere Tote gibt?

Erste Leser:innenstimmen
„Cosy Crime mit viel Charme, sympathischen Charakteren und mörderisch guter Story.“
„Die bisherigen Geschichten um Ermittlerin Alex Duggins und das englische Dorf konnten mich alle überzeugen!“
„Spannender Whodunit-Krimi mit überraschendem Ende.“
„Fesselnd, zum Rätseln einladend und flüssig geschrieben!“

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Seitenzahl: 461

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Über dieses E-Book

Als Kneipenbesitzerin Alex Duggins dem schönen Gesang in die Kirche folgt, ahnt sie nicht, was sie dort erwartet. Nachdem sie einen lauten Aufprall vernimmt, findet sie die Sängerin leblos auf dem Boden vor. Für das Mädchen kommt jede Hilfe zu spät. Ihre Familie ist erst vor kurzem in die Gegend gekommen und wird von den Dorfbewohnern mit Skepis betrachtet. Doch wer könnte den Tod der Sängerin wollen? Oder war es gar Selbstmord? Folly on Weir wird erneut von Chaos erschüttert und Alex gerät unter Verdacht, als Dan O’Reilly und Bill Lamb geschickt werden, um den Todesfall zu untersuchen. Kann es Zufall sein, dass Alex wieder einmal als Erste am Tatort war? Kann sie dabei helfen, den wahren Mörder zu finden, bevor es weitere Tote gibt?

Impressum

Deutsche Erstausgabe November 2021

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-824-0

Copyright © 2020 by Stella Cameron Titel des englischen Originals: Melody of Murder

Published by Arrangement with Stella Cameron Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Lennart Janson Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © digoarpi, © shmeljov, © AmArtPhoto Korrektorat: Dorothee Scheuch

E-Book-Version 10.11.2022, 11:18:13.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die Stimme des Todes

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Die Stimme des Todes
Stella Cameron
ISBN: 978-3-98637-501-0

Der Klang des Todes ist zuckersüß … ein neuer Fall für Alex DugginsDie spannende Cosy Crime-Reihe der New York Times-Bestsellerautorin Stella Cameron

Das Hörbuch wird gesprochen von Chantal Busse.
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Prolog

„Seit wann hängst du so sehr an diesem Haus?“ Elyan legte die Finger auf die Klaviertasten und sagte nichts. Er mied den Blick in die blassen, ernsten Augen seines Vaters. „Elyan, dieses Verhalten ist inakzeptabel“, sagte Percy Quillam mit täuschend sanfter Stimme. Unter seinem rechten Auge zuckte ein Muskel; ein Zucken, das Elyan nur zu gut kannte. „Du hast mir viel zu oft gesagt, dass du dieses Haus protzig und furchtbar findest. Ich habe extra für dich das perfekte Haus in den Cotswolds reserviert, für sechs Monate. Du musst dich auf deine Konzerttour vorbereiten und wir müssen dafür sorgen, dass du fern jeder Ablenkung bist. Wir brauchen Ruhe und nichts darf unsere Konzentration stören. Folly-on-Weir ist der perfekte Ort dafür.“

Wut schnürte Elyan die Kehle zu. Wie immer manipulierte sein Vater ihn und trieb den großen Percy-Quillam-Plan für absolute Kontrolle über seinen Sohn voran.

„Ich habe bis heute nie von diesem Ort gehört, Vater. Ich würde lieber hierbleiben. Und falls es dir nicht aufgefallen ist: Ich brauche keine Ermahnung zum Proben. Ich fühle mich wohl in Hampstead. Jetzt meine Routine zu ändern wäre eine schlechte Idee.“

„Ein Rückzieher ist unmöglich. Es wurden Absprachen getroffen und ich habe einen Vertag unterzeichnet. Ich habe das alles mit Sebastian besprochen und er stimmt mir zu. Wells auch. Und deine Mutter. Sie hat das Haus gefunden, in dem wir wohnen werden.“

Sebastian Carstens war Elyans Klavierlehrer gewesen, seit Percy entschieden hatte, der zehnjährige Elyan sei über seinen ersten Lehrer hinausgewachsen. Seit er vier war, befand er sich in musikalischer Ausbildung. Wells Giglio war sein Agent und unterwarf sich ganz den Launen der Quillams, mit denen er unverhältnismäßig viel Zeit verbrachte.

Sebastian war einer der wenigen Erwachsenen, denen Elyan vertraute. Zu erfahren, dass er seinen Anteil an dieser plötzlichen, dramatischen Veränderung hatte, erschütterte Elyan.

„Warum höre ich erst jetzt davon?“ Als wüsste er das nicht. Sein Vater wollte ihn aus London rausbringen. Hier war es zu leicht, zu entkommen, und selbst wenige Stunden Freiheit waren mehr, als sein Vater ihm zugestehen konnte. Hatte Percy von den nächtlichen Ausflügen seines Sohns erfahren? Percy Quillam befürchtete, dass sein Sohn, der Fokus seiner Ambitionen, alles für die eigene Freiheit hinwerfen könnte. Elyan wünschte sich, dieser Gedanke würde ihm Befriedigung verschaffen, doch er hatte mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen; besonders mit dem Gedanken daran, was sein Vater tun würde, wenn er das verlöre, worauf sich seine gesamte Existenz fokussierte. „Vater?“, fragte Elyan leise. „Warum diese Heimlichtuerei?“

„Du bist so angespannt, mein Junge. Was nur verständlich ist. Wir hielten es für das Beste, alle Details zu klären, und dir das Ergebnis zu präsentieren, ohne dass du irgendeine Entscheidung treffen musst.“ Der Blick seiner hellblauen Augen zuckte zum Fenster und zurück. „Morgen Abend kommen Annies Eltern zum Essen. Ich habe bereits mit ihrem Vater gesprochen. Das wollte ich ebenfalls erledigen, bevor ich mit dir spreche.“

Sein Herzschlag dröhnte bis in seine Ohren, als Elyan zum Ende der Klavierbank rutschte, und er bemühte sich, die Hände entspannt zwischen seinen Knien hängen zu lassen, als er sich zu seinem Vater umdrehte.

Ein stabiler Mann von durchschnittlicher Größe, der sein dickes, graues Haar im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Percy schien ein unerschütterliches Selbstvertrauen zu besitzen, doch Elyan sah seinen Vater mittlerweile eher als einen gescheiterten Künstler, der sich durch sein Kind zu verwirklichen suchte, denn als den stolzen Vater eines Künstlers, den er so beharrlich darzustellen versuchte.

Percy trug gerne lange Samtjacketts mit altmodischem, gemütlichem Schnitt und Seidenkrawatten, die locker am Rand seines kragenlosen Hemdes hingen. Er stand mit geneigtem Kopf da, während Sonnenstrahlen durch die Jalousien und die weißen Vorhänge, die von der Decke bis zum Boden reichten, auf ihn fielen, und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. In dem elfenbeinfarbenen und weißen Musikzimmer, das karg möbliert war bis auf die gepflegten, goldverzierten Damastsessel und die Couch, die am Kamin um einen leeren Marmortisch gruppiert standen – und Elyans Steinway – wirkte der Mann wie das Motiv für ein Gemälde aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert.

Wie üblich wartete er auf eine Reaktion seines Sohnes, wartete darauf, dass er mit einer falschen Antwort das Schweigen brach oder besser noch, auf stille Akzeptanz. Elyan fiel es immer schwerer, Akzeptanz zum Ausdruck zu bringen, ohne sich schwach oder als Versager zu fühlen.

Lass ihn seinen Willen haben. Es ist nicht der richtige Moment zum Streiten. „Und?“, fragte Elyan, als er glaubte, seinen Drang zum Schreien unter Kontrolle zu haben. „Was wolltest du noch sagen?“

Wieder zuckte der Blick seines Gegenübers. „Ich wünschte, du würdest erkennen, dass ich nur dein Bestes will, mein Sohn. Du bist brillant, eine Seltenheit. Alles was ich tue, tue ich, um dein Talent zu unterstützen. Du bist nicht gewöhnlich. Das wirst du nie sein – aber du brauchst Führung. Du hast ein Publikum. Das sind die Leute, die bei deinen Konzerten noch den letzten Platz besetzen und vor Ehrfurcht in Tränen ausbrechen, wenn sie dir persönlich begegnen. Wir, deine engsten Vertrauten und Unterstützer, Sebastian, Wells und ich, leben dafür, dir den Weg zu bereiten und dafür zu sorgen, dass du dir um nichts als deine großartige Musik Gedanken machen musst. Alle in diesem Haushalt vergöttern dich. Achtzehn ist ein schwieriges Alter. Wir müssen deinen … Drang zum Weltlichen damit in Einklang bringen, dass die Musik, seriöse Musik, deine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Wenn du älter bist, wirst du erkennen, dass ich recht hatte.“

Wie oft, fragte Elyan sich, würde er sich noch Percys peinliche, extravagante Erklärungen anhören müssen? Manchmal hielt er seinen Vater für verrückt, doch dann sah er wieder, wie er mit denen umging, die nichts mit alldem zu tun hatten, und seine Sorge verblasste wieder, zumindest für eine Weile. „Du sprachst davon, dass die Bells zum Abendessen kommen“, sagte er betont freundlich. Diese Nachricht verhieß nichts Gutes. Es waren die Eltern seiner Freundin, Annie, und Percy wäre es vermutlich lieber, wenn sich die gesamte Familie in Luft auflöste. Eine solche Einladung hatte es zuvor noch nicht gegeben.

Er würde sich heute Abend mit Annie treffen, so wie sie es geplant hatten, und damit würde die Wut und die Angst zumindest zum Teil verfliegen. „Ich dachte, wir geben keine Dinnerpartys. Du magst sie nicht einmal.“ Die Bells waren zu gewöhnlich für die Quillams und sie zu ermutigen versprach keinerlei Gewinn.

„Es wird ganz schlicht“, sagte Percy und zupfte gedankenverloren an der moosgrün und schwarzen Krawatte, für die er sich an diesem Tag entschieden hatte. „Ein einfaches Essen mit Freunden. Weißt du, ich kenne dich besser als du denkst, und ich erinnere mich noch daran, selbst mal ein junger Mann gewesen zu sein. Diese flüchtigen Bekanntschaften scheinen in deinem Alter das Wichtigste im Leben zu sein, doch ich werfe dir das nicht vor. Genieße … was immer das ist. Solange es sich nicht auf deine Musik niederschlägt.“

Flüchtige Bekanntschaften? Was er mit Annie hatte war nicht flüchtig. Es war echt. Der Drang, seinem Vater die Meinung zu sagen und zu verschwinden, wurde immer stärker. „Du hast von den Bells gesprochen, Vater?“ Und es war ja nicht so, als wäre Percy Quillam den Frauen weniger verfallen als früher. Er hatte Elyans Mutter nur wenige Wochen nach dem Tod seiner ersten Frau geheiratet. Kurz nach der Hochzeit hatte er behauptet, den mittlerweile vier Monate alten Elyan nach einer mysteriösen, langwierigen Kinderkrankheit aus dem Krankenhaus geholt und ihn in seinem Haus versteckt zu haben, bis er entschied, dass es sicher sei, seinen Sohn in der Öffentlichkeit zu zeigen. Elyan hatte die Abfolge der Ereignisse problemlos aus dem Todeszeitpunkt und seinem Geburtsdatum abgeleitet. Percy hatte bereits mit Sonia geschlafen, während seine erste Frau noch im Sterben lag.

Percy zupfte erneut an seiner Krawatte. „Die Bells haben meine Einladung angenommen, und, zumindest in der Theorie, auch den Vorschlag, den deine Mutter und ich ihnen unterbreitet haben.“

Hatte es je einen Zeitpunkt gegeben, zu dem das Lächeln seines Vaters Elyan keine Gänsehaut bereitet hatte? Seine Mutter, so unterwürfig sie gegenüber Percy auch war, hielt vor Elyan nichts geheim, was ihn ihrer Meinung nach interessieren könnte. Dass sie so lange Schweigen bewahrt hatte, war ein weiteres Zeichen für bevorstehende Schwierigkeiten. Sonia Quillam war fünfundzwanzig Jahre jünger als ihr Ehemann, und so schwer es Percy auch fiel, sich das einzugestehen, er wusste, dass sie Angst vor ihm hatte. Nicht vor physischer Gewalt, sondern weil er sowohl in ihrem als auch ihm Leben ihres Sohns alles unter seiner Kontrolle hatte. Sonia hatte sich von Percys überwältigendem Werben vereinnahmen lassen und eine vielversprechende Karriere als Konzertgeigerin aufgegeben. Das hatte zumindest ihre langjährige Haushälterin Meeker in einem ihrer „Momente“ preisgegeben. Meekers Momente lösten ihr gelegentlich die Zunge, wenn sie nicht gut auf Percy zu sprechen war.

Was immer Percy wollte, er bekam es.

Wenn Elyan sich aus dieser Situation befreite, würde seine Karriere zwar darunter leiden, doch das hätte er bald überwunden. Seine Mutter würde sehr viel mehr Leid erdulden müssen.

„Deine Mutter und ich hoffen, dass die Bells Annie erlauben werden, jede Woche, oder vielleicht jede zweite Woche, ein oder zwei Tage bei uns im Green Friday zu verbringen.“

Er runzelte die Stirn. „Was soll das sein?“

Percy gab sein typisches, zweifach bellendes Lachen von sich. „Ein alberner Name. Lächerlich. Aber so heißt das Haus und der neue Besitzer hält den Namen wohl für erfrischend anders. Es ist ein schönes Haus, und es gehört für den Rest des Frühlings und den ganzen Sommer uns. Du wirst mit Annie spazieren gehen und die wundervolle Landschaft genießen können. Und man kann reiten.“

„Es wäre schön, wenn wir reiten könnten. Ich weiß nicht, wie es Annie geht, aber ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.“ Er setzte sein unschuldigstes Lächeln auf. „Aber es ist nie zu spät, um es zu lernen, nicht wahr, Vater?“

Sein Vater betrachtete seine Hände und gab ein unverbindliches Geräusch von sich. Er gab sich größte Mühe damit, Elyan von sämtlichen Aktivitäten fernzuhalten, die zu Verletzungen führen könnten.

„Gibt es auch einen Tennisplatz?“

Percy legte die Stirn in Falten, seine Augen wurden schmal, dann stieß er die Luft aus. „Ja, ja, das hat deine Mutter erwähnt. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie meinte, sie würde selbst gern wieder spielen.“

Dann spielte seine Mutter also Tennis – oder hatte es früher getan. „Ist es ein guter Platz? Vielleicht willst du selbst eine Runde spielen.“

„Das ist nichts für mich.“ Percy wirkte pikiert. „Ich habe mir das Gelände nicht allzu gründlich angeschaut. Du kannst mit Sebastian spielen. Mit Wells, wenn er vorbeikommt. Und natürlich mit Annie.“

Elyan hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Er wusste, dass er geliebt wurde – soweit sein Vater eben in der Lage war, jemanden zu lieben. Es war ganz natürlich, dass ein Achtzehnjähriger etwas Freiraum brauchte, um die Flügel auszubreiten, doch das würde seinem Vater nicht die Sorgen nehmen. „Wo ist Mutter? Sollte sie bei diesem Gespräch nicht dabei sein?“ Nicht dass sie je in ernste Besprechungen einbezogen wurde. „Und Laura?“

„Deine Mutter wird sich uns anschließen, sobald sie zurückkommt. Sie wird sich freuen, zu erfahren, dass du mit unserer Entscheidung einverstanden bist. Ich werde mit Laura sprechen.“

Es verlangte ihm nicht viel ab, der Versuchung zum Missmut zu widerstehen. Ein Lächeln war ein kleiner Preis, um den Frieden zu wahren. Und am Abend würde er Annie sehen. Sie würden lachen und sich küssen, vielleicht sogar ausgiebig. Elyan war froh, einen langen Baumwollpullover zu tragen. Sein Körper schien seinen eigenen Willen zu haben und er hatte zu viel darüber nachgedacht, mit Annie allein zu sein; völlig ungestört.

Einen Tag pro Woche mit Annie, oder gar alle zwei Wochen? Wie stellten sie sich das vor? Sollte sie am selben Tag hin und wieder zurück gefahren werden? Sollten sie gar keine Zeit für sich haben? Vermutlich. Bislang hatten Annie und er geheim halten können, wie viel Zeit sie miteinander verbrachten; für gewöhnlich in einem der weniger angesagten Kaffeehäuser von Hampstead, die zu ihren Lieblingsorten geworden waren. Sebastian half ihnen, wenngleich er immer wieder davor warnte, „sich mitreißen zu lassen“, und vor den Gräueln, die das mit sich bringen würde. In anderen Worten: Sex ist böse und kann dein Leben zerstören. Elyan bezweifelte, dass Annies Wohlergehen bei dieser Rechnung eine Rolle spielte. Heilige Scheiße.

Warum hatte Sebastian ihn nicht vor den Cotswolds-Plänen gewarnt? Wells dachte nur daran, den Goldesel zu melken und nicht Percys Missfallen zu erregen, aber Sebastian?

Sein Vater räusperte sich. „Ich denke immer wieder, dass deine Schwester zu häufig allein ist.“

„Laura?“ Laura war Elyans Halbschwester, aus der ersten Ehe seines Vaters. Ihre Mutter war tot und wenngleich Sonia sich darum bemühte, sie miteinzuschließen, schien Percy seine Tochter kaum zu bemerken, wenn sie nicht gerade eine praktische Zielscheibe bot. In jüngster Zeit war sie distanziert geworden, als würde sie stets eigenen, geheimen Gedanken nachhängen. Sie begleitete Elyan immer noch gerne bei der Flucht aus dem Haus, wenn er sich mit Annie traf. Sie mochten sie und fanden sie sympathisch genug, um sich nicht an ihrer Anwesenheit zu stören – zumindest nicht offensichtlich. „Ja, ich glaube auch, Vater. Sie ist so selbstbewusst geworden. Das merke ich. Sie will professionelle Sängerin werden. Das wäre toll. Sie ist so gut. Mit etwas Unterstützung …“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage.“ Percy machte eine abwehrende Handbewegung. „Wie kannst du so etwas nur vorschlagen? Sie ist schwach und du weißt, dass wir uns in jüngster Zeit Sorgen um sie machen. Ihr Herzfehler ist eine ernste Sache und ich würde meine Tochter ohnehin nicht dabei unterstützten, den populären Mist zu singen, für den sie sich interessiert.“

Er dachte viel über Laura nach. Sie war vier Jahre älter als er und „schwach“ wie Percy es ausdrückte. Eine Kinderkrankheit hatte ihr Herz dauerhaft geschädigt. Sie hatte tatsächlich eine Zeit durchgemacht, in der sich ihr Zustand zu verschlechtern schien, doch es ging ihr wieder besser. Sie war jetzt in guter Verfassung. Laura hatte Ziele, doch niemand schenkte ihr Gehör, bis auf Sebastian und Elyan – und Wells Giglio, hinter dessen Interesse an Laura Elyan allerdings mehr vermutete, als üblicherweise angemessen war. Ist es nicht besser, das zu tun, was man liebt, solange man es kann, statt in einer Art emotionalem Zwielicht zu leben? Ihr Leben schien stillzustehen. Vielleicht würde sie am Abend mitkommen – er wandte den Blick ab; er und Annie brauchten mehr Zeit für sich, jetzt erst recht.

„Aber Blues ist nicht das, wofür du es hältst. Es ist etwas Echtes. Einige der besten Bluesclubs der Welt sind in London und …“

„Deiner Schwester wurde es nie gut genug gehen, um ein Leben zu führen, wie du es dir vorstellst, verdamm!“ Er zog sich einen Sessel vom Kamin heran, setzte sich Elyan gegenüber, stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen aneinander. „Sprich nie wieder davon. Wir haben überlegt, dass Annies Besuche bei uns im Green Friday angenehmer wären, wenn sie sich ein Zimmer mit Laura teilt und gelegentlich über Nacht bleiben kann, wenn sie möchte. Sie kommen gut miteinander aus und könnten zusammen Zeit verbringen, während du übst. So musst du dich nicht die ganze Zeit um Annie kümmern, wenn sie da ist.“

Nicht gerade subtil. Wenn er protestierte und sagte, dass er bei ihr sein wollte, jeden Augenblick mit ihr verbringen wollte, wenn sie da war, würde ihm das nicht zugutekommen.

„Was sagst du dazu?“

Schau in seine unschuldigen Augen … und lüg ihn an. „Das wird Laura gefallen.“ Laura war es satt, ignoriert zu werden. „Und Annie auch.“ Er würde mit Annie das Beste daraus machen, und er würde Ausflüge nach London machen, ob es seinem Vater gefiel oder nicht.

„Gut, gut.“ Percys leichtes Lächeln zeigte der Welt, dass er triumphierte. „Ich sollte dich üben lassen, Elyan. Du bist ein guter Junge. Du hast längst verstanden, dass ich weiß, was das Beste für dich ist. Das darfst du nie vergessen.“

Der Himmel war von perlrosafarbenen Streifen durchzogen und der immer stärker werdende Wind blies Elyan in den Rücken und warf seine schwarzen Haare nach vorn. Ein Vorteil seiner Locken war, dass die Frisur immer gleich aussah, was auch passierte. Seine Gedanken rasten noch schneller als seine raschen Schritte, während er aus dem Hintereingang des Hauses auf die Lawn Road trat und zur U-Bahn-Haltestelle Belsize Park lief, eine Bahn zum Hampstead Hauptbahnhof nahm und dort wieder zur Straße hinaufeilte. Sebastian hatte dafür gesorgt, dass Elyan ungesehen verschwinden konnte. Es hatte keine Gelegenheit gegeben, über die Bombe zu sprechen, die sein Vater hatte platzen lassen, doch das würde sich noch ergeben. Er hastete weiter, mal bergauf und mal bergab, bis er die kleine Gasse an der Heath Street erreichte, wo in einer versteckten Ecke das Slider’s lag, ein kleiner Bluesclub.

Er sah Annies lange, kupferrote Haare und musste sich ins Gedächtnis rufen, wieder zu atmen. Sie stand an der grauen Steinmauer gegenüber dem Club. Von der anderen Seite der Mauer ragten junge Zweige eines Goldregens bis über ihren Kopf, wippten, schwer mit gelben Blüten beladen, auf und ab und warfen einen Schatten auf ihr Gesicht. Er liebte ihr Gesicht. Große, ernste, braune Augen, eine spitze Nase und Lippen, die die ernsten Augen Lügen straften: sanfte Lippen, auf denen stets ein leichtes Lächeln zu liegen schien.

Sie bemerkte ihn und winkte. Elyan rannte noch schneller und blieb nicht stehen, bis er sie an sich ziehen und im Arm halten konnte. „Haben deine Eltern dir von den Cotswolds-Plänen meines Vaters erzählt?“

„Ja, ich weiß Bescheid. Schau mich an, bitte.“ Sie schüttelte ihn, bis er ihr in die Augen blickte. „Wir wussten immer, dass es Hindernisse geben würde. Das ist nur das nächste davon und wird zwischen und nichts verändern. Stimmst du mir zu?“

Wenn er sie ansah und ihrer Stimme lauschte, glaubte er ihr alles. „Natürlich. Mich nervt nur die hinterlistige Art, das ist alles. Vertraust du Sebastian?“ Das hatte er eigentlich nicht ansprechen wollen. Normalerweise konnte er sich mit seinen Sorgen besser beherrschen, besonders gegenüber Annie.

„Was meinst du?“ Annie lehnte sich zurück, um ihm ins Gesicht zu schauen. „Er ist dein Freund. Er ist unser Freund.“

Eine Gruppe Menschen drängte sich lachend an ihnen vorbei und er blickte zu Boden. Öde, graue Pflastersteine. „Lass uns reingehen.“ Er führte sie die alten Steinstufen hinauf, die in der Mitte ausgetreten waren. Die glänzend braun gestrichenen Wände im Slider’s waren mit angeklebten oder angepinnten Anzeigen bedeckt: handgeschriebene Gesuche für Mitbewohner, Flyer für Bands, die in der Gegend auftraten, oder Angebote für eine Reihe weniger traditioneller Künste. Elyan schob Annie schnell durch den schlaff herunterhängenden, grünen Vorhang in eine abgedunkelte Nische, die ihm bereits zuvor aufgefallen war. Die Wände waren mit abgehangenen Kisten gesäumt, die wie schlechte Geisterdarsteller wirkten.

„Irgendetwas ist nicht in Ordnung“, sagte Annie atemlos. „Sag es mir sofort.“

Er musste lächeln. Seine Annie war eine ruhige, beherrschte junge Frau, doch sie hatte kein Talent für Geheimnisse oder Ratespiele. „Du lächelst“, flüsterte sie. „Das kann ich sehen. Wo stünden wir ohne Sebastian – und Laura? Wie hätten wir uns überhaupt sehen können? Ohne die beiden wären wir jetzt nicht hier.“

„Das weiß ich und ich verstehe Laura, sie ist ein Sonderfall, aber hast du dich je gefragt, warum Sebastian uns hilft?“

Annie nahm ihr langes, kupferrotes Haar zusammen und legte es sich mit einer Hand über die Schulter. „Ich will nicht in diesem … Schrank bleiben. Laura war vermutlich direkt hinter uns und wenn wir nicht da draußen sind, könnte sie wieder gehen.“

„Wäre das so schlimm?“ Verdammt. Dies war wohl ein Abend, an dem er Dinge aussprach, die er zwar denken aber nicht sagen konnte. „Ich meine …“

„Ich kann nicht glauben, dass du das gesagt hast.“ Annie wandte den Blick ab. „Denkst du so über Laura, Elyan?“

Es gab Momente, in denen es das Beste war, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie ein bisschen wehtat. „Manchmal. Ich hätte gern mehr Zeit mit dir zu zweit. Aber miss meinen Worten keinen Wert bei. Ich habe nach dem heutigen Tag miese Laune. Tut mir leid. Es ist in Ordnung, dass sie herkommt, das weißt du. Wir gehen rein und suchen uns einen Tisch.“

„Sebastian hat einen Tisch für uns reserviert.“ Licht spiegelte sich in ihren Augen.

„Du meinst, er hat dafür gesorgt, dass immer derselbe Tisch frei ist, wenn wir herkommen wollen. Das ist nicht gerade ein Laden, in dem man anruft, um einen Tisch zu reservieren.“

Sie nahm seine Hand. „Er kennt Slider. Sie sind befreundet. Er tut das für uns, damit wir dicht an der Bühne sitzen.“

„Ja, und ich würde mich tierisch darüber freuen, wenn ich es nicht satt hätte, manipuliert zu werden. Wir suchen uns einen anderen Platz.“

„Warum?“ Sie zog an seinem Arm. „Das ist unser Tisch. „Wir … das hier ist der einzige Ort, an dem ich den Blues spielen hören kann. Wir sind hier in Sicherheit, Elyan. Bitte?“

Es gab keine vernünftige Antwort darauf. Was dachte er sich? Dass der Tisch verwanzt war? „Vergiss es. Ich habe übertrieben.“

Er ließ sich von ihr wieder in den Durchgang führen. Am Eingang zu dem einzelnen, langen, schmalen Raum, an dessen freiliegender Ziegelwand beinahe über die ganze Länge eine Bar verlief, schob er sich durch den Strom der kommenden und gehenden Menschen. Sie gingen zu ihrem Stammplatz, ganz dicht an dem abgenutzten Klavier, auf dem Slider, der Besitzer, gerade ein Medley aus Jazz und Blues spielte.

Als wäre sie auf magische Weise herbeigerufen worden, stellte die Bedienung, die sie als Nancy kannten, zwei halbe Pint Lager auf die zerkratzte, schwarze Tischplatte, noch ehe sie sich setzen konnten. „Die gehen aufs Haus“, sagte sie und erhob die Stimme, um die Musik zu übertönen. „Ich bringe gleich noch eins für Laura.“

Slider leitete zu einem Publikumsliebling über, dem „Bayou Blues“ und spielte in seiner typischen Art: hüpfte auf dem Klavierhocker auf und ab, hämmerte in die Tasten, warf den Kopf in den Nacken und wippte mit geschlossenen Augen vor und zurück. Der glattrasierte Schädel des Schwarzen glänzte im Licht des einzelnen Scheinwerfers über ihm. Nacheinander breiteten sich mehrere Falten über seine Wangen aus, während sich sein Mund zu einem breiten Lächeln verzog. Vierzig, fünfzig, sechzig, wer wusste schon, wie alt dieser Mann sein mochte. Er konnte dafür sorgen, dass jedes bluesbegeisterte Publikum hingerissen lauschte.

Elyan hob seinen Krug und Annie tat es ihm gleich. Sie stießen an und grinsten sich zu. Annie trank einen Schluck und sagte: „Lass uns diesen Moment einfrieren – hierbleiben, wo wir gerade sind. Genau so. Lass uns nie wieder zurückgehen.“

„Wir haben beide Entscheidungen zu treffen, aber nicht ohne gründlich darüber nachzudenken.“ Er trank nachdenklich und betrachtete sie über den Rand des Glases hinweg. „Du weißt gar nicht, wie sehr ich mir das wünsche … ich mache mir Sorgen.“

„Über dieses Haus in den Cotswolds? Ich auch, aber davon werde ich mir nicht unsere Beziehung ruinieren lassen. Wir sind damit zurechtgekommen, wie die Dinge hier stehen. Das schaffen wir dort auch. Sie können uns nicht auseinanderdrängen, wenn wir das nicht zulassen. Und Sebastian macht sich um deine Zufriedenheit beinahe so viele Sorgen wie um Daisys, und das heißt einiges.“

Elyan wischte sich mit der Hand über die Augen. „Ich weiß.“ Es war die Wahrheit. Für Sebastian stand seine Tochter Daisy immer an erster Stelle, doch sein Musterschüler und Freund fand sich auf einem dichten zweiten Platz wieder, so hatte es zumindest immer gewirkt. „Vergiss, dass ich davon angefangen habe. Schieb es auf ein überfrachtetes Gehirn.“

„Ich bin spät dran. Vater hat mit Adleraugen Ausschau gehalten, deshalb musste ich es so aussehen lassen, als hätte ich es mir in meiner Höhle gemütlich gemacht.“ Laura ließ sich mit geröteten Wangen auf den Stuhl zwischen ihnen sinken. „Er ist aufgebracht. Hat die arme Mrs. M zur Schnecke gemacht.“

Maud Meeker, Mrs. M, MMM – als dreistimmige Harmonie gesummt, wenn sie nicht zugegen war – war ein weiterer sicherer Hafen in den stürmischen Gewässern des Quillam-Haushalts. Hauswirtschafterin und häufig Bindeglied der Familie. Sie gehörte schon lange dazu; seit sie mit Lauras Mutter Audrey eingezogen war, als die Percy geheiratet hatte.

„Die arme, alte Triple M“, sagte Annie. „Doch sie ist hart im Nehmen. Ich mag sie unheimlich. Sie war schon so oft nett zu mir.“

Elyan hielt sein Glas weiterhin fest in der Hand, deutete aber mit dem Zeigefinger auf seine Halbschwester. „Du bist diejenige, die das Chaos in Schach hält, Laura.“ Er wollte es nicht sagen, doch er schuldete ihr Ehrlichkeit. „Geht es dir gut? Du bist doch nicht krank, oder?“ Ihr Blick huschte im Raum umher und er sah, dass ihre Stirn von Schweiß glänzte. Die Bewegung war unauffällig, doch sie presste sich die Faust in den Bauch.

„Vater hat mich bloß auf dem falschen Fuß erwischt. Ich habe mich eigentlich nie besser gefühlt, oder entschlossener. Wir wissen alle, dass ich einen guten Grund für meine Ruhelosigkeit hatte, oder?“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, war beinahe stürmisch und nichts, was er je bei ihr gesehen hatte. „Wir wussten längst, dass ich einen guten Grund für meine Ruhelosigkeit habe. Den haben wir alle. Doch ich werde mich jetzt entscheiden, wie es mit meinem Leben weitergeht.“

„Darüber sprechen wir noch“, warf Annie rasch ein und legte ihre Hand auf Lauras. „Du bist ganz verschwitzt. Atme mal tief durch. Was möchtest du trinken? Nancy meinte, sie würde dir noch etwas bringen.“ Annie sah sich nach Nancy um und hob eine Hand, als sie sie entdeckte.

„Ich werde nicht bleiben, bis ich das Erbe meiner Mutter bekomme.“ Mit zitternden Fingern riss Laura einen Bierdeckel in Stücke. „Nicht mehr … Hört gar nicht auf mich. Ich plappere bloß. Ich werde nichts überstürzen, aber ich habe Pläne.“

Die Bedienung glitt vorüber und stellte einen Gin Tonic vor Laura ab, ohne stehenzubleiben. Laura trank mehr als Elyan lieb war. Er machte sich Sorgen um Wechselwirkungen zwischen dem Alkohol und etwaigen Medikamenten, die sie einnahm.

Von Fotos wusste er, das Laura beinahe das Double ihrer verstorbenen Mutter war. Glänzendes, glattes, hellblondes Haar, das auf Kragenhöhe endete, stechend blaue Augen mit dunklen, geschwungenen Wimpern und runde Gesichtszüge, die ihr üblicherweise einen strahlend gesunden Eindruck verliehen. Ihre Krankheit war die einzige Sache, über die sie nie gesprochen hatten, und Elyan fragte sich, ob Percy die Herzoperation in ihrer Kindheit als Ausrede benutzte, um ihre musikalischen Ambitionen ignorieren zu können.

„Wann haben sie dir von den Cotswolds erzählt?“, fragte Laura.

„Am späten Nachmittag. Annie hat es heute auch von ihren Eltern erfahren. Die beiden kommen morgen zum Abendessen zu uns.“

„Man hätte mir früher Bescheid sagen müssen.“ Lauras Gesicht wurde plötzlich rot. „Uns ging es noch nie so gut. Und mir wird es nie besser gehen. Und er hat herausgefunden, dass wir glücklich sind, deshalb versucht er, uns auseinanderzureißen, indem er uns an einem gottverlassenen Ort auf dem Land einsperrt, wo er uns auf Schritt und Tritt beobachten kann. Du gehst in einigen Monaten nach Oxford, Annie. Du kannst darauf wetten, dass unser Vater schon die Tage zählt, bis er Elyan vollständig isolieren kann, ob hier oder anderswo.“

„Oxford ist nicht weit genug entfernt, um uns voneinander zu trennen, egal ob ihr hier oder in Gloucestershire sein werdet. Selbst die Konzerte werden Elyan und dich nicht für immer von mir fernhalten“, Annie rückte mit ihrem Stuhl näher zu Laura und legte ihr einen Arm um die Schultern.

Laura presste ihr Gesicht an Annies Schulter. Bestürzt musste Elyan beobachten, dass ihre Schulter zitterte, weil sie weinte. Er rückte mit seinem Stuhl ebenfalls heran und die drei klammerten sich aneinander.

„Ich habe endlich die Chance, zu tun was ich möchte.“ Laura brachte die Worte kaum heraus. „Menschen haben mich gehört und interessieren sich für meinen Gesang. Ich möchte hierbleiben. Ich muss hierbleiben. Wie soll ich damit fertigwerden, mit ihm eingesperrt zu sein? Er würde jeden meiner Schritte beobachten. Doch das ist egal. Ich werde den richtigen Moment abwarten und verschwinden. Ich kann mein eigenes Geld verdienen – vielleicht genug, um mich für ein paar Jahre über Wasser zu halten, bis ich an das Erbe meiner Mutter komme. Ich brauche nicht viel. Eine kleine Reserve für den Anfang, dann bin ich weg. Ich bin stark und ich bin wütend. Aber ich kann sehr gut die Unterwürfige mimen. Ich werde beinahe unsichtbar sein. Ich werde so wenig auffallen, dass er es überhaupt nicht gleich bemerkt, wenn ich fort bin. Und dann werde ich endlich singen, um meine Brötchen zu verdienen.“

Er hörte seine Schwester zum ersten Mal so reden. „Wir werden das überstehen, Schwesterlein, das schaffen wir. Wir alle. Wir müssen mit Veränderungen zurechtkommen, doch das wird uns nur stärker machen.“

Annie legte sich den Zeigefinger auf die Lippen uns ließ ihn dort verweilen. Dann lächelte sie und Elyans Beunruhigung ließ nach. „Wir drei“, sagte sie. „Bis dass der Tod uns scheidet. Ich mag es manchmal auch ein wenig dramatisch.“

Sie lachten.

Eins

Ein Monat später

Alex Duggins hockte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an die hintere Wand der St. Aldwyn’s Kirche. Die Stille, abgesehen von einer kühlen Brise, die die Blätter einer riesigen Buche zum Rascheln brachte, erlaubte ihr, sich aus ihren viel zu geschäftigen Gedanken an einen ruhigeren Ort zurückzuziehen.

Das dichte Moos in sämtlichen Ritzen des Gebäudes und in den Spalten des Wegs verströmte einen intensiven, feuchten Geruch. Der Duft vermischte sich mit dem Geruch der Erde und des Mulchs aus etlichen Jahren. Sie atmete tief ein. Der Kreislauf des Lebens war selbst bei Moos vorhersehbar und nirgends mehr als zwischen den ewigen Ruhestätten der Toten. Die Inschriften auf den uralten, schrägstehenden Grabsteinen verschwanden unter einer grüngrauen Schicht.

Ein wunderschöner Sommer hatte in den Cotswold Hills Einzug gehalten. Von ihrem Platz im Schatten der Buche aus beobachtete sie, wie die frühe Morgensonne Schatten aufs Gras warf, und betrachtete die Grüppchen winziger Gänseblümchen im Schatten der dunklen Grabsteine.

Bogie, ihr grauer Hund, größtenteils Terrier, rannte mit der Schnauze am Boden hin und her und schnüffelte mit schlackernden Ohren. Sie ließ sich auf den Boden sinken. Diese Stelle war noch immer feucht vom Morgentau, doch sie trug eine lange Segeltuchjacke, die ihre Jeans weitgehend trockenhalten würde.

In der Kirche spielte jemand auf dem alten Klavier, das für die Chorproben benutzt wurde. Sie schaute in Richtung der hohen Buntglasfenster, konnte sie aber von ihrer Position aus nicht sehen. Sie waren nicht außergewöhnlich, doch sie gefielen ihr. Die Musik wurde lauter und eine Frauenstimme erhob sich zu einem Lied. Die wunderschöne, rauchige Stimme schien nicht an diesen Ort zu passen, doch sie war immer wieder in kurzen Intervallen in Harmonie mit dem Klavier zu hören. Es klang, als wäre es ein neues Stück für die Sängerin, an dem sie noch arbeitete. Immer wieder brach sie ab, setzte dann aber erneut an.

Die Stimme erinnerte sie an Madeleine Peyroux. Als Alex Madeleine zum ersten Mal gehört hatte, hatte sie an Billie Holiday gedacht. Alex liebte diese Musik. Die Frau in St. Aldwyn’s teilte die tiefe, schleppende Stimmfärbung einiger Bluessängerinnen, besaß jedoch zudem einen großen Stimmbereich, der sie selbst hohe Lagen erreichen ließ, die Alex ein verzücktes Grinsen entlockten, wenngleich sich ihr der Hals zuschnürte. „Loving you drives me crazy. But I ain’t got no choice.“ Es folgte wieder ein Klavierzwischenspiel und sie übte dieselbe Tonfolge wieder und wieder. Alex konnte hören, dass sie beim Zwischenspiel summte: ein voller, natürlicher Klang. Das Summen verstummte. Jede folgende Pause wurde länger, bis die Musik ganz verstummte.

Alex zog die Knie an die Brust, legte den Kopf darauf, schlang die Arme um die Beine und wartete auf mehr.

Im Moment tat ihr jede Ablenkung gut. Sie lebte in einem Kuddelmuddel von Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Und jede Wahl konnte sich für sie als absolut richtig oder schrecklich falsch herausstellen.

Sie konnte die hinteren Fenster der Burke Schwestern sehen. Sie wohnten in zwei Cottages an der Pond Street. Das untere Stockwerk der Cottages war zusammengelegt worden und beherbergte Leaves of Comfort, ihren Laden für Tee, Bücher und Handarbeiten. Alex blickte lächelnd zu dem Fenster im oberen Stockwerk, hinter dem die Schwestern gerade in ihrer Wohnung über dem Laden frühstückten, wie sie wusste, und vermutlich über Folly-on-Weir tratschten, oder vielmehr über die Bewohnerinnen und Bewohner. Für zwei alte, pensionierte Lehrerinnen, die vermutlich nicht allzu häufig das Haus verließen – bis auf die Besuche in Alex’ Pub, der praktischerweise sehr nah lag – verfügten sie über einen wahren Schatz an Neuigkeiten und Gerüchten aus der Gegend.

Doch es war Tony, Tony Harrison, der Tierarzt des Dorfes, der sich auch um die umliegenden Höfe kümmerte und manchmal Alex’ Geliebter war, der alles andere verdrängte und ihr Bewusstsein erfüllte, wann immer es ihr nicht gelang, die Gedanken an ihn beiseitezuschieben. Er war ihr bester Freund. Waren sie nicht ein seltsames Paar?

Sie wollte weiter mit Tony schlafen. Zuletzt hatten sie aufregende Experimente gewagt, die sie keinem von ihnen je zugetraut hätte, statt in eine gemütliche Routine zu verfallen.

Sie lächelte verstohlen hinter ihren Händen.

Doch sie schienen beide nicht in der Lage zu sein, sich ihrer Zukunft zu stellen. Das könnte auch besser so sein; sie hatten beide zuvor schreckliche Ehekatastrophen erlebt.

Sie wünschte, die Frau in der Kirche würde weitersingen, doch sie schien eine längere Pause eingelegt zu haben. Oder vielleicht war sie fertig.

Die kleine Tochter, die Alex vor fünf Jahren bei der Geburt verloren hatte, kurz bevor sie nach Folly-on-Weir zurückgekehrt war, hatte hier keinen Grabstein, an dem Ort, den die Mutter des Kindes und die Großmutter, Lily, als Heimat bezeichneten. Lily ging regelmäßig in die Kirche. Alex nur, wenn sie die entsprechende Stimmung überkam, was in jüngster Zeit allerdings häufiger vorgekommen war. Sie war an diesem Morgen auf den Friedhof gekommen, um eine gute Stelle für eine Sitzbank zu finden. Auf einer kleinen Messingplakette würde nur „Baby Lily“ stehen, da ihre Tochter nach der Großmutter benannt worden war, die sie nie gesehen, nie gehalten hatte.

Warum konnte sie diesen Verlust eines Kindes nicht hinter sich lassen? Manchmal dachte sie wochenlang nicht an ihre Tochter, doch dann holten sie die Erinnerungen wieder ein, meistens in den dunklen Nachtstunden, wenn sie wach lag und nach dem Sonnenaufgang Ausschau hielt. Sie stand auf und lief zwischen den Gräbern umher, immer noch auf der Suche nach dem perfekten Ort für die Bank. Als sie das rosenberankte, überdachte Friedhofstor erreichte, legte sie ihre verschränkten Arme auf einen rauen Querbalken, wobei sie darauf achtete, die Ranken nicht zu beschädigen, die sich darum wanden.

Einige Jugendliche ritten unter lautem Hufgetrappel die Mallard Lane hinauf. Sie lachten und plauderten, während das Fell ihrer Pferde in der Sonne funkelte. Zwei Jack Russel Terrier rannten auf der Suche nach Aufmerksamkeit um die Pferde herum, hielten sich aber weit genug von den Hufen fern. Sie beobachtete die Gruppe, bis sie die Pond Street überquerte und eine Abkürzung zur Dorfwiese nahm, dann drehte sie sich um, lief einmal auf dem Pfad im Halbkreis um den Friedhof herum und setzte sich dann wieder an die Mauer.

Alex musste sich auf den Black Dog konzentrieren, den Dorfpub von Folly-on-Weir, der nach ihrer Scheidung ihre Investition in die Zukunft gewesen war. Ein Geschäft führt sich nicht von selbst und es war ihr wichtig, als Eigentümerin nicht abwesend zu sein, während ihre Mutter, Lily Duggins, und ihr Geschäftsführer Hugh Rhys den Pub am Laufen hielten. So gut sie ihre Arbeit auch machten, die Gäste verbanden den Pub immer mit der Eigentümerin. Sie lächelte. Früher hatte sie sich nur auf ihre erfolgreiche Karriere als Grafikerin konzentriert. Einen Pub zu übernehmen wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

Aus der Kirche war Krach zu hören, ein misstönender Schlag auf die Klaviertasten, vermutlich aus Verzweiflung. Die Sängerin hatte so lange geschwiegen, dass Alex davon ausgegangen war, sie wäre gegangen.

Enttäuscht über die erneute Stille stand Alex auf, pfiff Bogie heran und lief zur Seitentür, die in den Chorumgang hinter der Orgel führte. Dort stand das alte, aber gut gepflegte Klavier, da dort auch der Chor übte. Das Klavier im Black Dog, das gelegentlich benutzt wurde, war in einem etwas besseren Zustand.

Wenn die Frau noch da wäre, würde Alex ihr erzählen, wie sehr ihr ihre Stimme gefiel und dass sie hoffte, sie wieder hören zu dürfen.

In der Ferne, rechter Hand von Alex, lief jenseits der Friedhofsmauer eine Gestalt in dunkler Kleidung entlang. Er, und sie war sich sicher, dass es ein Mann sein musste, lief aufs Pfarrhaus zu und verschwand beinah sofort wieder aus ihrem Blickfeld, weil die Kirche ihr die Sicht versperrte. Das musste Reverend Ivor gewesen sein, der Übergangsvikar, der sie angeblich bald wieder verlassen würde. Sie würde ihn vermissen, und seine Frau, Sybil – und den Langhaardackel Fred.

„Sitz“, sagte sie zu Bogie. „Und bleib.“

Es sank unter rosaroten und korallenfarbenen Rosenblüten zusammen und sah sie vorwurfsvoll mit seinen schwarzen Augen an.

In der Kirche dauerte es einen Moment, bis sich Alex’ Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten. Sie trat hinter den Chorpodesten ein und lief dahinter entlang, bis sie die Rückseite des Klaviers sah. Die Frau war fort. Verdammt. Enttäuscht kehrte Alex wieder in den Chorumgang zurück und vermied es, auf die Gedenktafeln aus Messing zu treten, die in die steinernen Bodenplatten eingelassen waren. Sie betrachtete den Ritter und sein Fräulein, die dort abgebildet waren, wie sie es schon oft getan hatte. Die zahllosen begeisterten Besucher, die Papier über die unheimlichen Abbilder ausbreiteten, um das Relief durchzupausen und später aufzuhängen, hatten über die Jahre ihre Spuren auf den Tafeln hinterlassen. Mittlerweile war das Durchpausen verboten.

Alex trat einen Schritt zurück, um einen besseren Blick auf den Ritter zu haben. Seine Plattenstiefel liefen spitz zu und seine in Kettenpanzer gehüllten Arme waren über der ausgehöhlten Brust verschränkt. In dem Stein daneben … Sie trat mit der Ferse auf irgendetwas, das unter ihrem Fuß wegrutschte. Sie kippte mit wedelnden Armen nach hinten und versuchte noch, sich mit einem Bein abzufangen. Alex schrie auf. Die Landung auf Ellenbogen und Hintern war schmerzhaft, doch wenigsten war sie nicht ganz flach aufgekommen und hatte sich den Kopf angestoßen.

Sie streckte sich vorsichtig auf dem kalten Boden aus und wartete, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte. Ihr tat alles weh, doch sie bewegte ihre Glieder und streckte die Wirbelsäule, bis sie sich sicher war, dass nichts gebrochen war. Alles noch funktionsfähig, wenngleich Schmerz durch ihren Körper pochte. Das Bein, das sich unter ihr zurückgebogen hatte, tat am Knie höllisch weh, doch sie konnte das Gelenk gut genug bewegen.

Sie hörte, dass irgendetwas vor und zurück rollte, langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Sie setzte sich auf. Die rote Thermoskanne, auf der sie ausgerutscht sein musste, war zum Stillstand gekommen. „Wer lässt denn so etwas hier liegen?“, murmelte sie, erhob sich vorsichtig und hob die unbeabsichtigte Stolperfalle auf. Vermutlich ein Chormitglied. Ein oder zwei von ihnen trugen Wasserflaschen mit sich herum und wickelten sich demonstrativ lange Schals um den Hals, wie Opernsänger und Opernsängerinnen, die ihre unbezahlbaren Stimmen schützen wollten.

Alex bückte sich, stützte sich auf ihren Knien ab und wartete, bis ihr Herz wieder im normalen Takt schlug. Sie würde sicher einige blaue Flecken davontragen. Die Thermoskanne war alt und abgenutzt, doch es fehlte der Schraubverschluss, der auch als Tasse diente.

Nicht weit vom Klavier entfernt, entdeckte sie am Boden einen schmutzigen, weißen Deckel, der vermutlich zur Flasche gehörte.

Sie atmetet durch den Mund und kniff die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, setzte ihr Herz erneut einen Schlag aus. Ein schmales Rinnsal aus Blut floss hinter einem Bein des Klaviers hervor – sein Ursprung schien hinter einer Masse glänzender, blassblonder Haare zu liegen, die sich über den Fuß eines Messingnotenständers und den grauen Steinboden ausbreitete.

Eine regungslose Hand schien mit ausgestreckten Fingern nach dem Verschluss der Thermoskanne zu greifen.

Zwei

Alex würde es nicht gefallen, wenn sie herausfand, dass Harriet Burke vom Leaves of Comfort aus angerufen hatte, um anzuregen, dass Tony vielleicht mal bei St. Aldwyn’s vorbeigehen sollte. Er würde versuchen, glaubhaft zu vermitteln, dass er zufällig bei einem Spaziergang mit seiner Hündin Katie vorbeigekommen war.

Das Märchen würde nicht der leisesten Skepsis standhalten. Na und? Er musste Zeit mit Alex verbringen, und zwar bald.

„Sie sitzt hinten an der Kirche, an der Mauer, die an unser Grundstück grenzt“, hatte Harriet ihm gesagt. Das war schon einige Zeit her und er hoffte, dass er sie nicht verpasst hatte. Er erreichte die Stelle. Alex war nirgends zu sehen, doch Katie stürmte los, so schnell die arthritische Hüfte es ihr erlaubte, und er folgte ihr. Die Hündin bellte einmal aufgeregt, dann stimmte ein vertrautes Jaulen ein. Er fand Katie bei Bogie, der fröhlich zwischen den Rosenbüschen an einem Seiteneingang zur Kirche herumtänzelte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.

Er hörte Alex’, bevor er sie sah. Der Ton ihrer Stimme ließ ihn schnell ins Gebäude laufen, vorbei an den Chorpodesten. Sie sprach in ihr Handy, dringlich und atemlos und setzte einen Notruf ab.

Zu ihren Füßen lag eine junge Frau, die ihm vage bekannt vorkam. Sie war blond, ihre blauen Augen standen offen und wirkten verschleiert, ihre runden Gesichtszüge erschlafft. Tony spürte die Leere des Todes.

Er ließ sich auf die Knie sinken und tastet nach einem Puls. Nichts. Doch sie war noch warm, nicht starr, und er begann mit der Wiederbelebung. Ihr Kopf erschlaffte, ehe er dazu kam, sie zum zweiten Mal zu beatmen, und ein Blick in ihre Augen bestätigte seine Befürchtung. Ihre Lippen waren blau und sogar ein wenig aufgedunsen, und Speichel lief aus ihrem Mundwinkel über die Wange. Er sah sich ihre Kleidung genauer an. Die Bluse klebte an ihrem Körper, als hätte sie stark geschwitzt. Er schnupperte und bemerkte, dass sie sich übergeben haben musste, auch wenn er keine Anzeichen dafür entdecken konnte. Er bewegte sich vorsichtig rückwärts, stand auf und sah sich um. Er wollte um keinen Preis etwas berühren, was für die Polizei von Interesse sein mochte.

Alex streckte ihre freie Hand nach ihm aus. Er drückte ihre Finger und sah, dass Tränen über ihre Wangen liefen und Verwirrung in ihren ovalen, grünen Augen funkelte. „Ja“, sagte sie ins Handy. „War? In der St. Aldwyn’s, Folly-on-Weir, bei der Orgel. Bitte beeilen Sie sich. Ja, ich bleibe so lange hier.“

„Tony“, sagte sie und ließ das Handy in eine Tasche ihrer grünen Jacke gleiten. „Woher wusstest du, dass du herkommen musst?“

Er schluckte. „Wusste ich nicht. Ich habe nach dir gesucht und dich gefunden. Und jetzt bin ich froh, bei dir zu sein. Weißt du, wer sie ist?“

Alex neigte den Kopf. „Ich glaube, ich habe sie irgendwo gesehen.“

„Mein Vater wollte heute Vormittag Harriet und Mary besuchen.“ Er holte sein eigenes Handy heraus. Sein Vater war der örtliche Landarzt. „Hoffen wir, dass er schon dort ist.“

Es war die vernünftigere Harriet Burke, die ans Telefon ging: „Leaves of Comfort.“

Er fragte, ob Doc Harrison bereits dort war. „Ja“, sagte sie knapp, konnte sich aber die Frage nicht verkneifen: „Gibt es ein Problem da drüben?“

Sie hatten also beobachtet, ob er Alex suchen würde. „Würden Sie ihn bitten, zur Kirche zu kommen? Er soll die Tür hinter der Orgel nehmen, in der Nähe des Chors“, sagte er bestimmt und legte auf.

„Tony.“ Alex starrte ihn an. „Ist das … Tony, hat ihr das jemand angetan?“

Er blickte ins Gebälk hoch über ihnen und schluckte. „Ich weiß es nicht.“

„Aber du glaubst es, oder? Ihr Kopf. Jemand hat ihr einen Schlag versetzt.“

„Oder sie ist gestürzt“, sagte er schnell. „Auf den Fuß des Notenständers vielleicht?“

Alex schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ein Krankenwagen ist unterwegs.“

Ihre Blicke begegneten sich und Tony zog eine Grimasse. „Was ist das?“ Er nickte in Richtung der roten Thermoskanne, die sie in der Hand hielt.

Sie schnupperte daran. „Riecht nach Beeren – und vielleicht Nelken – aber scharf. Ich erkenne den Geruch nicht. Könnte ein Sirup sein. Die Flasche lag da drüben. Ich bin draufgetreten und gestürzt. Ich glaube, das da bei ihrer Hand ist der Deckel.“

Er nickte. „Ich würde mir die Leiche gern genauer ansehen, aber wir dürfen sie nicht bewegen. Dad wird herkommen. Alex, die Thermoskanne hättest du nicht bewegen dürfen, oder auch nur berühren.“

„Sie ist leer.“ Sie stellte die Kanne auf den Klavierhocker und wischte sich die Hand an der Jeans ab. „Ich habe gar nicht an so etwas gedacht. Ich hatte … sie noch gar nicht bemerkt. Tony, warum? Sie ist so jung. Bist du dir sicher, dass sie nicht einfach ohnmächtig geworden ist und sich den Kopf aufgeschlagen hat?“

„Da bin ich mir sicher, Liebling. Ich wünschte, es wäre anders.“

„Morgen“, sagte sein Vater knapp, als er mit seiner Arzttasche durch die Seitentür hereinkam. „Wollt ihr beide euch für den Chor melden? Er war in letzter Zeit ein wenig unterbesetzt, aber meinst du wirklich, dass du eine Bereicherung wärst, Tony? Wenn ich mich recht entsinne …“ Er entdeckte die junge Frau und ging augenblicklich neben ihr auf die Knie. Er tastet an ihrem Hals nach einem Puls und holte das Stethoskop aus seiner Tasche.

Das alles fühlte sich so aussichtslos an.

„Habt ihr einen Krankenwagen gerufen?“, fragte er in scharfem Ton.

„Ja. Sie sang hier drinnen, als ich noch draußen unterwegs war. Dann hörte sie auf, doch ich habe keinen Hilferuf gehört.“

Doc James Harrison beugte sich über sie und ließ das Stethoskop über die Brust der jungen Frau wandern. Er setzte es ab, legte es auf den Boden und tastete erneut ihren Hals ab. Nach einigen Augenblicken lehnte er sich zurück und sah ihr direkt ins Gesicht. Wie lange ist es her, dass sie aufgehört hat zu singen?“

„Ich weiß es nicht.“ Alex sah aus, als wäre sie wieder den Tränen nah. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ich glaube, ich war ziemlich lange da draußen. Sie hat mehrfach aufgehört zu singen, als würde sie üben. Das war, bevor ich eine Runde um den Friedhof gedreht habe. Ich lief eine Weile, um nachzudenken, und kam irgendwann zurück und setze mich wieder. Es war, als hätte sie versucht, irgendetwas hinzubekommen, und hätte dann frustriert aufgegeben. Sie schlug fest auf die Klaviertasten. Danach war es still. Ich habe über andere Dinge nachgedacht.“

„Sie ist noch nicht lange tot“, sagte der Doc. Er war schon sein Leben lang Arzt, hatte aber nie das Mitgefühl im Angesicht einer Tragödie verloren. Als Tony ihn ansah, erkannte er, was Alex schon zuvor angemerkt hatte, ein Spiegelbild von ihm selbst mit Sechzig Jahren: Sein Vater war groß, stand mit geradem Rücken da, sein dunkelblondes Haar wurde grau, war aber immer noch dicht und lockig, und er hatte dieselben dunkelblauen Augen.

Tony richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Alex. Er konnte beinahe ihre Gedanken lesen. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Ich bin da draußen herumspaziert, während sie hier gestorben ist.“

„Denk lieber nicht darüber nach“, sagte er. „Du hättest nichts tun können.“

Sein Vater holte sein Handy heraus. „Ich muss die Polizei informieren.“

Drei

Gummisohlen quietschten auf den Platten des Vorraums.

„Gott sei Dank“, sagte Alex.

„Wenn das die Rettungssanitäter sind, werden sie sich zurückhalten müssen, bis die Polizei etwas anderes sagt“, erklärte ihr der Doc.

Alex atmete laut aus. Die alte Kirche schien mit ihrem gesamten Gewicht auf sie niederzudrücken. Das Sonnenlicht erreichte gerade den obersten Rand des einzelnen Buntglasfensters und beleuchtete die Leiche der jungen Frau und ihr blasses Gesicht mit unangemessen fröhlichen Farben. Das war nicht richtig. Bunte Farbtupfer wie in einem Kaleidoskop hatten hier nichts verloren.

„Hallo!“ Seine Stimme kündigte das Eintreffen eines jungen Mannes an. Er hatte dunkles und lockiges Haar wie Alex, wobei sie vermutlich kleiner war. Als er die halbe Strecke des Mittelganges zurückgelegt hatte, entdeckte er sie und hielt inne. „Entschuldigung“, sagte er und hängte seinen leer wirkenden Rucksack von einer Schulter über die andere. „Ich hatte nicht erwartet hier jemanden anzutreffen, außer … ich meine …“ Er runzelte die Stirn und sah sich suchend in der Kirche um.

Doc Harrison blickte zwischen Tony und Alex hin und her und ging dem Neuankömmling entgegen. Er mochte etwa um die zwanzig Jahre alt sein. Seine schlaksige Gestalt ließ vermuten, dass er noch ein Teenager war, doch er war groß.

„Doc James Harrison“, sagte Tonys Vater und lief mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Ich bin der Hiesige Landarzt. Wir sind uns noch nicht begegnet.“

„Elyan Quillam“, sagte der junge Mann, der jetzt nah genug war, dass Alex seine intelligenten, dunklen Augen und sein schmales, aber klassisch schönes Gesicht sehen konnte.

Doc Harrison war verstummt. „Der Pianist?“, fragte er.

„Ja. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Kein verlegener Seitenblick oder Röte im Gesicht, keine Befangenheit – oder Arroganz. „Wir wohnen für einige Monate im Green Friday. Wir sind vor zwei Wochen hergekommen.“

Alex konnte sich nicht bewegen. Die Leiche lag offen sichtbar auf den kalten Steinplatten, doch dieser Elyan konnte sie von seiner Position aus nicht sehen. Und sie wollte, dass er wieder ging, ehe sich das änderte. Er schien sich weiter umschauen zu wollen, als suchte er nach etwas.

„Das ist Hugh Rhys’ Haus“, sagte Tony. Er schien nicht weniger angespannt zu sein als Alex. „Das Haus, oberhalb des Dimple, das er sich gekauft hat. Dimple ist unser Spitzname für das ovale Tal, in das man vom Green Friday aus hinunterblickt. Er sagte, er würde das Haus über den Sommer an eine Familie vermieten. Ich hoffe, Sie fühlen sich dort wohl.“ Das Dimple war eine flache Vertiefung in einem nahegelegenen Hügel, in der sowohl Tonys als auch Alex’ Haus standen.

Elyan nickte und lächelte schief.

Doc Harrison schien von dieser Begegnung hingerissen zu sein. „Ich habe Sie in der Wigmore Hall gehört – wundervoll.“ Er betrachtete Elyan. „Ich wusste nicht, dass Sie es sind, der Hughs Haus mieten wird. Sie müssen ein sehr anstrengendes Leben führen. Das Green Friday wird ein angenehmer Rückzugsort für Sie sein. Ein wunderschönes Grundstück.“

Die Leiche. Alex’ Blick zuckte zu der toten jungen Frau. Wo ist der Krankenwagen? Wo bleibt die Polizei? Sie bekam Kopfschmerzen. Erst in diesem Augenblich dachte sie an Detective Chief Inspector Dan O’Reilly. Nein, nicht dieses Mal, nicht schon wieder. Sie waren sich zum ersten Mal im Angesicht einer Leiche begegnet, die eingefroren an einem verschneiten Hang außerhalb des Dorfes gelegen hatte. Sie knirschte mit den Zähnen. Dann waren sie sich ein weiteres Mal begegnet …

„Ich werde hier auf meine Schwester warten“, sagte Elyan und lief auf Tony zu.

Er lief an Doc Harrison vorbei und hielt direkt auf das Klavier zu, näherte sich aber so, dass seine Schwester auf der anderen Seite lag. „Sieh mal einer an …“ Er hob die Thermoskanne auf. „Ich glaube, die gibt es schon seit unserer Grundschulzeit.“ Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er ein Geräusch von sich gab. Das Glitzern des gerinnenden Blutes hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Er hatte eine Hand an die Seite des Klaviers gelegt und starrte auf das dunkler werdende Rinnsal, dann trat er langsam einen Schritt vor, und noch einen.

„Schauen Sie besser nicht hin“, sagte der Doc. „Kommen Sie her und setzen Sie sich.“

Falls der Junge ihn gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Noch ein Schritt, bei dem er behutsam darauf achtete, die Kleidung seiner Schwester nicht mit seinem Schuh zu berühren. Dann stand er da und blickte in das leblose Gesicht der jungen Frau hinab.

„Laura“, flüsterte er, dann schrie er: „Laura. Laura. Steh auf. Was ist los? Laura.“ Seine Stimme brach und er griff nach ihr, als wollte er sie in die Arme nehmen.

„Wir warten auf den Krankenwagen“, sagte Tony und fügte etwas sanfter hinzu: „Und auf die Polizei.“ Er ging zu dem Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Das ist Laura“, sagte Elyan undeutlich und sackte auf die Knie.

„Lassen Sie sie lieber liegen“, sagte Tony. Er hockte sich neben ihn. Kommen Sie, setzen Sie sich. Hilfe kommt bald.“

„Nein!“

Sie standen beide gleichzeitig auf und Elyan prallte gegen Tony, der den Jungen festhielt, als wäre er ein Kind, das sich gerade verletzt hatte. „Ich werde Ihnen nicht sagen, dass alles in Ordnung ist. Das ist es nicht. Bitte harren sie einfach mit uns aus.“

Tony wirkte verlässlich und vertraut, sein dunkelblondes Haar war wie immer zu lang; seine großen, talentierten Hände packten Elyans Schultern und ließen ihn an seiner Kraft teilhaben. Der junge Mann stand zusammengesunken und ausgelaugt da … völlig überwältig.

„Meine Schwester“, sagte Elyan. „Sie ist meine Schwester. Sie ist nicht immer bei bester Gesundheit, doch es ging ihr vorhin noch gut.“ Er riss sich los. Sein Gesicht war blass und seine Augen riesig. „Wer war das? Jemand hat ihr das angetan. Ich wollte für sie Klavier spielen, aber ich war zu spät. Oh mein Gott, ich habe mich verspätet. Ich hätte hier sein sollen.“

Alex fand ihre Stimme wieder. „Das ist nicht Ihre Schuld. Es war ein Unfall.“ Es musste ein Unfall gewesen sein.

„Verdammte Scheiße“, schrie Elyan. „Noch ein Mal. Immer soll ich noch ein letztes Mal üben. Wenn Sebastian das nicht verlangt, dann mein Vater. Sie lassen mich nicht mein Leben leben. Percy wollte … Ich hasse ihn. Ich hasse sie alle. Sie war immer so still und niemand hat sich für sie interessiert. An den meisten Tagen hat sie nicht einmal ihr Zimmer verlassen. Sie sagte, sie … sie sagte, sie würde so unauffällig werden, dass sie einfach verschwinden würde. Niemand hat je etwas dazu gesagt. Doch gestern Abend war sie glücklich. Sie rief mich an und sagte, sie wolle herkommen und singen. Aber … Warum bin ich nicht einfach zur ausgemachten Zeit losgegangen und hergekommen? Wenige Minuten können einen großen Unterschied machen, wenn es darum geht, wie ein Unglück verläuft. Sie hat einen Herzfehler. Selbst wenige Sekunden hätten einen Unterschied machen können.“

Und auch sie hätte einen Unterschied machen können, dachte Alex.