Die Stimmen vom Nil - Peter Hessler - E-Book

Die Stimmen vom Nil E-Book

Peter Hessler

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Beschreibung

Zum 10. Jahrestag des Arabischen Frühlings: „Originell und zutiefst menschlich – anders als alles, was ich über die ägyptische Revolution gelesen habe.“ Anand Gopal Noch immer blickt die Welt auf den Nahen Osten, um die Folgen des Arabischen Frühlings zu verstehen. Doch aus der Distanz bleibt vieles verborgen. Peter Hessler erzählt die ägyptische Revolution aus dem Alltag der Menschen heraus. Ein Abfallsammler, der aus Kairos Müll mehr herauslesen kann als jeder Archäologe. Ein Arabischlehrer mit Faible für Ägyptens sozialistische Vergangenheit. Und ein schwuler Mann, der in einem Muslimbruder einen unerwarteten Verbündeten findet. In einer brillanten literarischen Reportage bringt Peter Hessler Persönliches und Politisches, Gegenwart und Geschichte zusammen und entwirft so ein schillerndes Porträt einer Gesellschaft im Umbruch.

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Seitenzahl: 854

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über das Buch

Noch immer blickt die Welt auf den Nahen Osten, um die Folgen des Arabischen Frühlings zu verstehen. Doch aus der Distanz bleibt Vieles verborgen. Peter Hessler lebte selbst in Kairo und erzählt die ägyptische Revolution aus dem Alltag der Menschen heraus. Er zeigt: Nirgendwo werden die großen Zusammenhänge so klar wie dort. In einer brillanten literarischen Reportage bringt Hessler Persönliches und Politisches, Gegenwart und Geschichte zusammen und legt so die Linien frei, die sonst verborgen bleiben.

Peter Hessler

Die Stimmen vom Nil

Eine Archäologie der ägyptischen Revolution

Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Andreas Thomsen

Carl Hanser Verlag

Für Doug Hunt

Inhalt

Zeitleisten

Teil I Der Präsident

Teil II Der Putsch

Teil III Der Präsident

Dank

Anmerkungen

Register

Zeitleiste der ägyptischen Geschichte

Zeitleiste des ägyptischen Arabischen Frühlings

Teil IDer Präsident

Verehrt den König mit euren Leibern,Seid Seiner Majestät in eurem Denken gewogen,Wendet täglich Schrecken von ihm,Schafft jeden Augenblick Jubel für ihn.

Er sieht, was in den Herzen steckt;Seine Augen erforschen jeden Leib.

– Die Loyalitätslehre §2, II, 1–619. Jahrhundert v. Chr.1

1

Am 25. Januar 2011, dem ersten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, blieb es ruhig in Abydos. Es gab keine Demonstrationen, keine Menschenaufläufe und keine Probleme für die Polizei. Bis zu jenem Tag war in der Grabungszeit dieses Winters nur ein bemerkenswertes Ereignis zu verzeichnen gewesen. Anfang des Monats hatte ein Team von Archäologen der amerikanischen Brown University einen Hohlraum freigelegt, in dem sich dreihundert Bronzemünzen, zwei Bronzestatuetten des Osiris und eine Steinstatuette befanden, die Horus als Kind darstellte.

Die Archäologen hatten schon eine Reihe von Gräbern freigelegt, die bereits in der Antike ausgeraubt worden waren, und nicht erwartet, auf einen solchen Fund zu stoßen. Die Grabungsleiterin Laurel Bestock reagierte mit gemischten Gefühlen.1 Natürlich freute sie sich über die Entdeckung, gleichzeitig machte sich jedoch auch Nervosität in ihr breit, da sich das Team nun auf schärfere Sicherheitsauflagen und jede Menge Bürokratie gefasst machen musste. Die örtliche Polizei unterrichtete die ihr vorgesetzten Dienststellen, und wenig später traf ein Beamter des ägyptischen Ministeriums für Altertümer in Abydos ein. Unmengen an Dokumenten und Papieren mussten ausgefüllt werden, und über mehrere Tage hinweg machten Bestock und ihr Team Überstunden, bis sie sämtliche Münzen und Statuetten gesäubert, vermessen und fotografiert hatten. Nachdem das erledigt war, wurden die Fundstücke in eine Holzkiste gepackt, auf einen Kleinlaster geladen und von einem halben Dutzend mit Gewehren bewaffneter Polizisten nach Sohag eskortiert, die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements.

Die Objekte an sich waren nicht sonderlich wertvoll. Keine der Statuetten maß mehr als dreißig Zentimeter, was die Prozession aus Lastwagen und bewaffneter Polizeieskorte etwas absurd anmuten ließ. Die Münzen datierten in die mittlere Ptolemäerzeit, zwischen dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr., was nach den Maßstäben der Ägyptologie vergleichsweise spät ist. Für die Archäologen lag die wahre Bedeutung des Fundes denn auch in seinem Kontext – offenbar waren die Figuren und Münzen im Rahmen eines alten Rituals beigesetzt worden. Doch darüber wurde in den umliegenden Dörfern nicht gesprochen, wo die Gerüchteküche die Bronzemünzen unweigerlich in Goldmünzen und die Statuetten in Artefakte verwandelte, die ebenso wertvoll waren wie Tutanchamuns Totenmaske. Im schlimmstmöglichen Fall könnte eine solche Entdeckung sogar zu einem kurzen Zusammenbruch der zivilen Ordnung führen. Doch eigentlich gab es keinen Grund für solche Befürchtungen. Präsident Hosni Mubarak regierte Ägypten nun schon seit fast dreißig Jahren, und wenn es in der Hauptstadt zu Protesten kam, strahlten diese selten in die abgelegeneren Teile des Landes aus.

Auch am 26. Januar 2011, dem zweiten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, war in Abydos von dem, was sich in Kairo abspielte, nichts zu spüren.

Die Archäologen arbeiteten westlich der Dörfer in einer alten Nekropole, die von den Dorfbewohnernal-Madfuna genannt wird: Die Begrabene.2 In dieser Ruinenstätte finden sich die frühesten bekannten Königsgräber Ägyptens und zudem eines der ältesten erhaltenen Lehmziegelgebäude der Welt – ein riesiges Rechteck aus dreizehn Meter hohen Wänden, das auf die Zeit um 2660 v. Chr. datiert.3 Niemand weiß mit Sicherheit, welchem Zweck es ursprünglich diente. Der lokale arabische Name – Schunet el-Zebib, »Lagerhaus der Rosinen« – ist ein weiteres Rätsel. Immer wieder wurde gemutmaßt, es könnte sich einst um ein Lagerhaus für Waren oder Tiere gehandelt haben. Auguste Mariette, ein französischer Archäologe, der hier Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitete, vermutete in dem Gebäude eine »Art Polizeistation«, ohne jedoch irgendwelche Belege für diese Annahme zu liefern.4 Offenbar spiegelte Mariettes Theorie seine Furcht vor Plünderungen wider, die in Abydos seit etwa fünftausend Jahren ein großes Problem darstellen.

Am 28. Januar 2011, am vierten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, versammelten sich in Kairo Zehntausende Menschen zu einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz, in deren Verlauf das nahe gelegene Hauptquartier der Nationaldemokratischen Partei Mubaraks von Unbekannten in Brand gesteckt wurde.5

In Abydos war das Team der Brown University bereits in die USA zurückgekehrt und eine andere Gruppe von Archäologen vom Institute of Fine Arts der New York University angekommen. Diese Gruppe restaurierte Teile derSchunet el-Zebib, beziehungsweise der Shuna, wie die Anlage oft genannt wird. Leiter des Teams von der NYU war der Archäologe Matthew Adams. Adams war achtundvierzig Jahre alt und hatte das typische Aussehen eines Weißen, der viele Jahre seines Berufslebens in der Sahara verbracht hat: Ohren und Wangen rot, den Ausschnitt seines Hemds permanent in Hals und Brust eingebrannt – eine V-förmige Hieroglyphe, die »Ägyptologe« bedeutet.

Adams’ Karriere in Abydos verlief in gewisser Weise parallel zur Herrschaft des Mubarak-Regimes. Im Herbst 1981 kam er zum ersten Mal in die Nekropole, damals noch als Praktikant. Kurz nach Beginn der Ausgrabungssaison im Oktober fiel Präsident Anwar al-Sadat bei einer Militärparade in Kairo einem Attentat zum Opfer. Nach dem Mordanschlag wurde der bisherige Vizepräsident Mubarak zum neuen Präsidenten ernannt. Die Lage in der Hauptstadt blieb stabil, und auch in Abydos gab es abgesehen von einer erhöhten Polizeipräsenz keine spürbaren Auswirkungen. Als Praktikant hatte Adams damals die bescheidene Aufgabe zugewiesen bekommen, Tausende von antiken Keramikscherben zu sortieren. Seitdem hat er den Herbst von Sadats Ermordung als die langweiligste Zeit in Erinnerung, die er je in Ägypten verbracht hat.

Demensprechend fiel Adams’ Reaktion auf die ersten Proteste auf dem Tahrir-Platz aus. Als die NYU-Verwaltung anfing, laut über eine Evakuierung des Teams nachzudenken, widersetzte sich Adams. Er wusste, dass Plünderungen drohten, wenn die Ausländer das Grabungshaus, in dem sie während der Saison in der Nekropole wohnten, verließen. Doch dann versammelten sich am 1. Februar 2011 mindestens zweihunderttausend Menschen auf dem Tahrir-Platz. Im ganzen Land verließen Polizisten ihre Posten, und wütende Menschenmassen stürmten eine Reihe von Gefängnissen. Im Gefängnis Wadi al-Natrun, das in der Wüste nördlich von Kairo liegt, befreiten Angreifer Hunderte von Kriminellen, politischen Gefangenen und Islamisten, darunter einen hochrangigen Führer der Muslimbruderschaft namens Mohammed Mursi.6

Nach diesen Vorkommnissen beschloss Adams, sein Team aus Abydos zu evakuieren. Es dauerte drei Tage, bis sie ein Charterflugzeug organisiert hatten, welches das Team direkt von Luxor nach Athen bringen sollte. Auf dem Weg zum Flughafen wollten die Archäologen noch einen Zwischenstopp bei McDonald’s in Luxor einlegen, doch wegen der Revolution war der dortigen Filiale der Schnellimbisskette das Fleisch ausgegangen.

Binnen weniger Stunden nach Abreise der Ausländer tauchten die ersten Grabräuber auf. Das Grabungshaus beschäftigte private Wachleute, die bei größeren Problemen üblicherweise die Polizei zu Hilfe riefen. Dieses Mal aber reagierte die örtliche Polizei nicht auf ihren Notruf. Die ersten Diebe konnten die Wachmänner noch verjagen, doch ein paar Stunden später, um zwei Uhr morgens, traf eine größere Gruppe vor dem Grabungsfeld ein. Die Männer waren maskiert und hatten Werkzeuge dabei. Sie drohten den Wachen, dass sie getötet würden, sollten sie das Gelände nicht räumen.

Der Leiter des Grabungshauses war Ahmed Ragab, ein knapp vierzig Jahre alter, ruhiger und sehr fähiger Mann aus Assuan im äußersten Süden des Landes. Ausländische Institutionen stellen an archäologischen Stätten in Ägypten gewöhnlich einen Verwalter aus einem anderen Teil des Landes ein, der vor Ort nicht durch Verpflichtungen gegenüber Familie oder Stamm gebunden ist. Auf eben diesen Treuepflichten beruhte, wie Ahmed wusste, seine größte Hoffnung gegenüber den Plünderern. Viele von ihnen trugen Waffen, aber wenn sie aus Abydos stammten, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die unbewaffneten Wachmänner schießen. Auswärtige Plünderer dagegen würden eine solche Zurückhaltung möglicherweise nicht an den Tag legen.

Dabei sorgte sich Ahmed nicht so sehr um den möglichen Diebstahl antiker Artefakte. Nach jahrtausendelangen Plünderungen und nach mehr als einem Jahrhundert professioneller archäologischer Ausgrabungen waren sämtliche leicht zu findenden Objekte von Wert längst aus der Nekropole geborgen worden. Aber das war den Grabräubern leider nie bewusst, und wenn sie dann im Dunkeln hektisch nach vermuteten Schätzen buddelten, bestand die Gefahr, dass sie unterirdische Strukturen beschädigten, die bislang noch nicht genauer untersucht worden waren. Offenkundig hatten viele der Diebe von den kürzlich in Abydos geborgenen Statuetten und Münzen gehört, denn ihre Suche konzentrierte sich vor allem auf deren Fundort.

Am 11. Februar verkündete ein Regierungsbeamter im nationalen Fernsehen Mubaraks Rücktritt vom Amt des Präsidenten. Ungefähr zur gleichen Zeit trafen die ersten auswärtigen Plünderer in der Ruinenstätte ein. Einige von ihnen waren von einem Glauben an magische Kräfte, wie er in Oberägypten seit jeher verbreitet ist, dazu veranlasst worden. Eines Abends erwischten und verhörten die Wachen einen jungen Plünderer, der aus Nag Hammadi stammte, einer mehr als eine Stunde südlich gelegenen Stadt. Der Mann sagte aus, ein Scheich in seinem Dorf habe die Zeichen gedeutet und verkündet, dass in Abydos Schätze verborgen lägen. Ahmed rief wieder bei der Polizei an, aber wieder meldete sich niemand, und am Ende ließen die Wachen den Plünderer laufen.

Ahmed war nicht nur ein erfahrener Verwalter, er konnte auch gut mit Hammer und Säge umgehen. Und so entschied er, dass es nur einen Weg gab, um die Grabungsstätte zu schützen. Er ging ins Grabungshaus, trug Holz, Nägel und Farbe zusammen und machte sich an die Arbeit.

Die alten Ägypter unterteilten ihr Land in Ober- und Unterägypten, was heutige Menschen, die sich am Kompass und nicht am Nil orientieren, nicht selten verwirrt. Der Süden ist oben, der Norden unten: Man muss seine Vorstellungskraft neu kalibrieren in diesem Land.

Selbst die grundlegendsten landschaftlichen Bedingungen sind schwer zu fassen. In Oberägypten hat der Nil eine tiefe Schlucht in die nordafrikanische Hochebene gegraben, in der heute dreißig Millionen Menschen leben, mehr als im Libanon, in Jordanien, Israel und Libyen zusammen. Doch alle diese Menschen siedeln in einem Tal, das an vielen Stellen nicht einmal fünfzehn Kilometer breit ist. Wie eine dünne, in die Länge gezogene Oase durchzieht dieses grüne Band eine unfassbar riesige Wüste. Wer am Ufer des Nils in Abydos aufbricht und immerzu nach Westen geht, trifft erst in Südflorida wieder auf einen Fluss.

Die Ruinenstätte von Abydos markiert den ersten Schritt in diese gewaltige Leere. Sie liegt auf einem breiten Schelf direkt über dem landwirtschaftlich genutzten Schwemmland, und der Übergang vom fruchtbaren Ackerboden zur Wüste erfolgt so abrupt wie eine auf einer Karte gezogene Grenze. In der Nekropole selbst gibt es keine Siedlungen oder Dörfer, dort wächst praktisch nichts; die von Sand und Geröll bedeckte Fläche erstreckt sich gut eineinhalb Kilometer bis zur Westwand der Schlucht. Diese Felsen ragen über einhundertfünfzig Meter in die Höhe und werden von einem einzigen Wadi, einem Trockental, durchbrochen, das sich bis zur nordafrikanischen Hochebene hinaufschlängelt. In der Antike galt dieses Wadi als Tor zum Jenseits: Die Seelen der Verstorbenen folgten dem Verlauf des Tals zu den Geheimnissen der untergehenden Sonne.

Die Könige der 1. Dynastie, die Ägypten vereinigten, legten ihre Gräber in der Nähe der Mündung des Wadis an. In diesen Gräbern entdeckten Forscher später die frühesten bekannten geschriebenen Wörter in Ägypten, Schriftzeichen, die auf etwa 3300 v. Chr. datieren.7 Die Hieroglyphen wurden in Tafeln aus Elfenbein geritzt, denn damals durchstreiften noch Elefanten das ägyptische Hochland. Zu Beginn der 1. Dynastie, um 3000 v. Chr., residierten die Könige bereits in der Nähe des heutigen Kairo, da es von dort aus einfacher war, Ober- und Unterägypten zu kontrollieren. Doch um ihre Gräber zu errichten und Rituale durchzuführen, kehrten sie nach Abydos zurück, von dem man annimmt, dass es ihre angestammte Heimat war. Mit der Zeit entwickelte sich die Nekropole zu einem Wallfahrtsort; Menschen aus ganz Ägypten strömten hierher, um an dem seit über einem Jahrtausend alljährlich stattfindenden Fest für den Gott Osiris teilzunehmen. Die alten Ägypter nannten diesen Ort die »Terrasse des Großen Gottes« – isoliert und doch zugänglich, geheimnisvoll, aber einsehbar, ohne Leben, jedoch beseelt von alten Königen und Göttern. Matthew Adams beschreibt es als eine Art Theater. Die Begrabene,das ist die Bühne, die Klippen sind die Kulisse, und die Dörfer ringsum stellen das Publikum dar. Und die ersten Akteure, die auf diese Bühne traten, waren die Könige, die das Wesen politischer Macht definierten.8

In der Woche, in der Mubarak aus dem Amt gedrängt wurde, zimmerte Ahmed im Innenhof des Grabungshauses eine große rechteckige Holzkiste.9 Die Kiste war ungefähr vier Meter lang und zwei Meter hoch, hatte glatte Seitenwände und lediglich ein paar Innenstreben als Boden. Ahmed strich sie mit einer dunklen blauschwarzen Farbe an.

Eine Gruppe von Plünderern war so dreist, am südlichen Ende der Anlage mit einem Bulldozer auf das Grabungsfeld vorzudringen. Hier befinden sich die Überreste der letzten ägyptischen Königspyramide, und die Bulldozerdiebe hoben vor dem zerstörten Monument einen über drei Meter tiefen Graben aus. Eine weitere Gruppe von Grabräubern machte sich am Fuße der westlichen Klippen zu schaffen und grub einen vier Meter tiefen Tunnel senkrecht in die Erde, obwohl sich dort in der Nähe keine Gräber befanden. Vielleicht hatte ihnen irgendein Scheich prophezeit, dass sie unterhalb der Felsen einen Schatz finden würden.

Ahmed fuhr nach al-Balyana, die rund zehn Kilometer östlich von Abydos gelegene Hauptstadt des Distrikts, wo er einen Dachträger mit nachgemachten Polizei-Blaulichtern kaufte, den er zusammen mit einer Sirene auf seiner Holzkiste montierte. Anschließend hievte er gemeinsam mit den anderen Wachen die Kiste auf die Ladefläche seines Jeeps.

Im Dunkeln war das umgebaute Fahrzeug nun kaum noch von den gepanzerten Polizei-Mannschaftswagen zu unterscheiden, die in Ägypten in jedem Touristenort allgegenwärtig sind. Jede Nacht fuhren Ahmed und die anderen Wachen in diesem nachgebauten Polizei-Mannschaftswagen mit eingeschalteten Blaulichtern und jaulenden Sirenen durch die Nekropole. Bald darauf bekamen sie mit, dass im Dorf das Gerücht kursierte, die Polizei sei wieder aktiv. Tagsüber versteckte Ahmed den hölzernen Aufbau innerhalb der Mauern derSchunet el-Zebib, womit sich Auguste Mariettes Theorie, dass es sich bei dem Lehmziegelgebäude um eine Art Polizeistation handelte, schließlich doch noch bestätigte.

Weil niemand eine Idee hatte, wie man die Grabungsstätte sonst schützen könnte, lief also jeden Abend dasselbe Spiel ab: Holzkiste auf den Jeep, heulende Sirenen, blinkendes Blaulicht, Holzkiste vor Sonnenaufgang zurück in dieSchunet el-Zebib. Und nach Sonnenuntergang: noch einmal von vorn. Monate später schilderten viele Ägypter, die in der ersten Welle des Arabischen Frühlings aktiv waren, ähnliche Erfahrungen. Nichts schien mehr zu existieren außer der Gegenwart: keine Zeit für Pläne, keine Zeit für Erinnerungen. Bis Recht und Ordnung schließlich doch wiederhergestellt wurden. In Kairo setzte ein Rat von Militäroffizieren eine Übergangsregierung ein und versprach demokratische Wahlen für ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Die Leute auf dem Tahrir-Platz feierten, und die Straßenkämpfe hörten auf. Ende März patrouillierten wieder echte Polizisten in Abydos. Nach aufregenden, ereignisreichen Wochen kehrte die Normalität zurück, und die Menschen fingen an, darüber nachzudenken, was in den vergangenen Wochen und Tagen geschehen war und was wohl als Nächstes passieren würde.

Die alten Ägypter kannten zwei unterschiedliche Arten von Zeit: Djet undNeheh. Diese Begriffe lassen sich nicht ins Englische oder Deutsche übersetzen, und womöglich können sie von modernen Menschen nicht einmal erfasst werden. In unserer Kultur stellt man sich die Zeit als eine gerade Linie vor, auf der ein Ereignis zum anderen führt; dementsprechend definieren wir Geschichte als Summe dieser Ereignisse, in Verbindung mit den Taten bedeutender Menschen. Für die alten Ägypter aber verlief die Zeit nicht linear, und Ereignisse – Kheperut – galten als suspekt; sie waren Kuriositäten und Ablenkungen, die die natürliche Ordnung unterbrachen. Geschichte, wie wir sie definieren würden, existierte nicht. Ab ungefähr 3300 v. Chr. kannten die Ägypter die Schrift, und es sind noch bis ins Jahr 332 v. Chr. Schriften von ihnen überliefert, als das Reich am Nil von Alexander dem Großen erobert wurde. In diesen drei Jahrtausenden brachten sie jedoch nichts hervor, was man als ein Geschichtswerk im modernen Sinne betrachten könnte.

Nehehist die Zeit der Zyklen, verbunden mit der Bewegung der Sonne, dem Lauf der Jahreszeiten und der alljährlichen Flut des Nils.10 Sie wiederholt sich, sie kehrt wieder, sie erneuert. Djet hingegen ist Zeit ohne Bewegung. Wenn ein König stirbt, wechselt er in die Djet, die Zeit der Götter. Tempel sind in der Djet, ebenso wie Pyramiden, Mumien und königliche Kunst. Der Begriff wird manchmal mit »ewig« übersetzt, beschreibt aber auch einen Zustand der Vollendung und Vollkommenheit. Dinge in der Djet-Zeit sind beendet, aber nicht vergangen: Sie existieren für immer in der Gegenwart.

Die Welt, die von den Göttern erschaffen wurde, ist nicht von Dauer. Sie ist, um es mit den Worten des Ägyptologen Erik Hornung zu sagen, eine Insel »zwischen Nichts und Nichts«.11 Der Ort, an dem wir leben, wird verschwinden. Doch die alten Ägypter zeigten kein gesteigertes Interesse daran, diese Zukunft vorherzusagen, und sie waren ebenso wenig erpicht darauf, die Vergangenheit zu analysieren oder sich wieder vorzuspielen. Vielleicht ist es mit einem nicht linearen Zeitverständnis einfacher, sich auf das Heute zu konzentrieren. Der Ägyptologe Raymond Johnson von der University of Chicago sagt, die alten Ägypter betrachteten »die normale Zeit als einen Kreis, der eine sich endlos wiederholende Gegenwart beschreibt«.12 Dies war, glaubt Johnson, eine natürliche Reaktion auf das Terrain im Süden des Landes.13 Seiner Ansicht nach wurdeNeheh von den Zyklen des Flusstals inspiriert, währendDjet die Zeitlosigkeit der Wüste widerspiegelt. Und die räumliche Nähe dieser extrem unterschiedlichen Landschaften – dieser abrupte Übergang zwischen der Ruinenstätte und den Feldern – stützte die alten Ägypter in ihrer Vorstellung einer zweigeteilten Zeit. Überall in Oberägypten kann man aus der Ewigkeit in die Gegenwart treten und wieder zurück.

Als Matthew Adams fast zwei Jahre später das nächste Mal mit einem Team der New York University nach Abydos kam, betrieben sie zunächst eine Art Archäologie der Revolution.14 In der Nekropole hatten Diebe über zweihundert große Gruben ausgehoben, die von den Behörden eilends wieder zugeschüttet worden waren, nachdem die öffentliche Ordnung wiederhergestellt war. Adams und sein Team öffneten nun fast jede Grube wieder, vermaßen sie und kartografierten sie mithilfe von Satellitentechnik. Das Team bestand aus vier Ausgräbern, drei Restauratoren, zwei Landvermessern, zwei Architekturspezialisten, einem Fotografen, einem Künstler und zwei Inspektoren des Ministeriums für Altertümer, die von mehr als fünfzig vor Ort rekrutierten Grabungshelfern unterstützt wurden. Eine eigens angefertigte, gut fünf Meter hohe Stufenleiter erlaubte es dem Fotografen, die Gruben von oben zu fotografieren, fast so, als wären es Tatorte. In manchen Gruben fanden sie Patronenhülsen – von Plünderern, die mit ihren Waffen in die Luft geschossen hatten, um die Wachen einzuschüchtern. Andere Fundstücke waren eher alltäglicher Natur.

»Hier liegen ein paar Zigarettenkippen.«

»Das ist der beste Fund des Tages.«

»Also mit Filter?«

»Der Filter deutet darauf hin, dass sie keine hundert Jahre alt sind.«

»Das hier ist rund. Die alten Ägypter haben keine runden Strukturen wie diese hier gebaut.«

Eine kreisförmige Ziegelwand war teilweise aus dem Sand freigelegt worden; eine solche Form wäre für ein antikes Grab niemals verwendet worden. Adams kniete zusammen mit einer jungen amerikanischen Archäologin namens Kate Scott nieder, um die Ziegel zu untersuchen. Beide trugen breitkrempige Hüte zum Schutz vor der Sonne, die bereits um acht Uhr morgens unerbittlich auf sie herunterbrannte. »Sie haben an der Mauerkuppe herumgehackt«, verkündete Scott. »Es ist offensichtlich, dass der Befund gestört ist und dass dabei Bausubstanz beschädigt wurde. Aber worum es sich genau handelt, ist nicht ganz klar.«

»Das ist gebrannter Ziegel.«

»Ohne jeden Zweifel. Das sind keine antiken Ziegel.«

»Die Plünderer haben die Mauer gesehen und wussten nicht, was sie da vor sich hatten«, meinte Adams. »Also haben sie ein wenig daran herumgehackt. Aber sie sind nicht besonders entschlossen vorgegangen.«

Adams spekulierte, dass die Mauer möglicherweise zu einem Hirtenunterschlupf aus den 1950er-Jahren oder einer Grabungshütte einer früheren Generation von Archäologen gehört hatte. Die Unwissenheit der Grabräuber und ihr wahlloses Vorgehen waren ein weiterer Grund, warum Adams sich entschlossen hatte, die zugeschütteten Raublöcher wieder freizulegen. Denn sie ermöglichten es den Archäologen, sich rasch einen Überblick über die in der Nekropole vorhandenen Strukturen zu verschaffen, ohne sie selbst aufwendig ausgraben zu müssen. Irgendwann könnten die auf diese Weise gewonnenen Informationen dann zur Planung zukünftiger Grabungen herangezogen werden. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten die Gruben der Plünderer eine wichtige Entdeckung zutage gefördert: Ein Teil der Nekropole hatte während des Neuen Reiches, das im 16. Jahrhundert v. Chr. begann, als Friedhof für Eliten gedient.

Viele der Gräber waren schon vor mehr als einem Jahrhundert in der Frühzeit der Archäologie fachmännisch freigelegt worden. Damals hatten die Forscher mit hohem Tempo gearbeitet und sich in der Regel auf die Suche nach Artefakten für Museen und private Sammler konzentriert. Die Aufzeichnungen waren, wenn überhaupt welche gemacht wurden, von schlechter Qualität, und viele Details waren verloren gegangen. Heutzutage fotografieren Archäologen die Ausgrabungsstätten akribisch und führen genaue Messungen durch, und sie schütten ihre Ausgrabungen wieder zu, weil alte Bausubstanz unter der Erde am besten geschützt ist. Die Archäologen wissen, dass irgendwann in der Zukunft Forscher mit besseren Methoden und Technologien kommen werden, um die Funde zu untersuchen, die wir bisher nicht verstanden haben.

Die ursprünglichen Akteure auf der großen Bühne der RuinenstätteDie Begrabene waren königlicher Herkunft, doch seither haben hier noch unzählige andere Menschen ihre Spuren hinterlassen. So kann ein und dieselbe Fundstätte zuerst von antiken Grabräubern, dann von Archäologen im 19. Jahrhundert, neuzeitlichen Plünderern und schließlich von Archäologen in der Post-Tahrir-Zeit freigelegt worden sein. Menschen kommen und gehen, nicht anders als Dynastien und Regime; Sand wird entfernt, wieder aufgeschüttet, nur um erneut entfernt zu werden.

Nachdem die Polizei ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, zerlegte Ahmed seinen selbst gebastelten Polizei-Mannschaftswagen. Er würde, so dachte er, ihn nun nicht mehr benötigen. Doch das Projekt hatte seine Lust am Schreinern wieder geweckt, und als Matthew Adams eines Jahres wieder ins Grabungshaus kam, fand er dort zu seiner freudigen Überraschung zwei wunderschöne neue Betten und Schränke vor, alle von Ahmed getischlert.

Der Ansturm der Plünderer zu Beginn der Revolution brachte Ahmed dazu, noch eine weitere Veränderung in Angriff zu nehmen: Während einer der ruhigeren Perioden des Arabischen Frühlings fuhr er nach al-Balyana, suchte die zuständigen Behörden auf, füllte die erforderlichen Dokumente aus und erhielt die Genehmigung zum Erwerb und Tragen einer Handfeuerwaffe.

2

Im ersten Herbst des Arabischen Frühlings zog ich mit meiner Familie nach Kairo. Wir kamen im Oktober 2011 an, zu einer Zeit des Jahres, in der sich das Licht in der Stadt verändert. Die Tage waren noch heiß und dunstig, aber in den Nächten wehte oft eine angenehme Brise aus dem Norden, wo der Nil ins Mittelmeer mündet. Über mehrere Wochen hinweg vertrieb die Brise nach und nach das grelle Sommerlicht, sodass die Details der Hauptstadt deutlicher zutage traten. Entlang des Flusses breiteten sich die Schattenflecken unter den Brücken aus, und das Wasser wechselte seine Farbe von einem stumpfen, schlackigen Grau zu kühlen Blau- und Brauntönen. Bei Sonnenuntergang erstrahlten selbst heruntergekommene Gebäude in einem goldenen Glanz. Mit dem herannahenden Winter reichte der Blick immer weiter in die Ferne, bis ich manchmal, wenn ich mich an einem erhöhten Ort befand – in einer Wohnung in einem der oberen Stockwerke oder auf einer Autobahnüberführung –, die Pyramiden auf dem Plateau von Gizeh deutlich ausmachen konnte.

Wir wohnten in der Ahmed-Heshmat-Straße in Zamalek, einem Stadtbezirk auf einer langen, schmalen Insel im Nil. Zamalek ist traditionell die Heimat der Mittel- und Oberschicht Kairos, und wir mieteten eine weitläufige Wohnung im Erdgeschoss eines Hauses, das wie viele andere Häuser an unserer Straße sehr schön, aber etwas heruntergekommen war. Vermutlich war es irgendwann in den 1920er- oder 1930er-Jahren errichtet worden, denn die Fassade war von den vertikalen Linien des Art-déco-Stils geprägt. Zur Straße hin waren die Gitterstäbe eines schmiedeeisernen Zauns wie Spinnweben geformt.

Das Spinnennetzmotiv wiederholte sich im gesamten Gebäude. Kleine schwarze Netze schmückten unsere Wohnungstür, und die Balkone und Veranden hatten mit Netzmustern verzierte Geländer. Zu unserer Wohnung gehörte ein kleiner Garten, der teilweise ebenfalls mit schmiedeeisernen Netzen umzäunt war. Als ich die Vermieterin nach der Bedeutung der Spinnweben fragte, zuckte sie mit den Achseln und sagte, sie habe keine Ahnung. Die gleiche Antwort erhielt ich, als ich mich nach dem Alter des Gebäudes erkundigte. Sie war eine koptische Christin, wie viele Immobilienbesitzer in Zamalek. Die meisten von ihnen hatten ihre Häuser in der chaotischen Zeit nach der letzten Revolution Ägyptens 1952 erworben. Damals hatte Gamal Abdel Nasser eine Reihe von Maßnahmen erlassen, die sich an einer sozialistischen Wirtschaftspolitik orientierten, und damit zahlreiche Geschäftsleute aus dem Land vertrieben. Die Vermieterin erzählte mir, dass das Gebäude seit mehr als einem halben Jahrhundert ihrer Familie gehörte, doch über die ursprünglichen Besitzer konnte sie uns nichts sagen.

In den unteren Stockwerken waren nur wenige Dinge renoviert oder ausgebessert worden. Der Aufzug war ebenso alt wie das Haus und durch eiserne Spinnennetztüren zugänglich. Hinter diesen Türen fuhr eine altmodische Aufzugskabine aus schwerem, geschnitztem Holz, die an einen byzantinischen Sarkophag erinnerte, in einem düsteren Schacht auf und ab. Die Lücken im Netzmuster der Türen waren groß genug, um den Kopf durchzustecken, und man konnte durch sie hindurchgreifen und den Aufzug berühren, wenn er vorbeifuhr. Nicht lange nach unserem Einzug geriet ein Kind in einem der oberen Geschosse mit dem Bein in den Schacht und zog sich einen so komplizierten Bruch zu, dass es zur Behandlung nach Europa gebracht werden musste.

Sicherheit hatte in den alten Kairoer Stadtvierteln noch nie einen hohen Stellenwert gehabt, aber während des Arabischen Frühlings wurde noch weniger als sonst darauf geachtet. Stromausfälle waren fast an der Tagesordnung, und hin und wieder kam es vor, dass wir einen ganzen Tag kein fließendes Wasser hatten. Doch die meiste Zeit funktionierte doch alles irgendwie, auch wenn es für Neuankömmlinge mitunter schwierig war zu verstehen, wie das Alltagsleben organisiert war. Einmal im Monat klopfte ein Mann an die Tür, bat höflich um Eintritt, las den Gaszähler in der Küche ab und stellte eine Rechnung aus, die gleich bezahlt werden musste. Ein anderer Mann erschien regelmäßig, um die Stromgebühren einzutreiben. Keiner dieser Männer trug eine Uniform oder legitimierte sich durch irgendeine Art von Ausweis, und sie tauchten zu jeder beliebigen Uhrzeit zwischen frühmorgens und spätabends auf.

Noch mysteriöser organisiert war die Müllabfuhr. Die Vermieterin wies mich an, unsere Abfälle außerhalb der Küche zu deponieren, wo eine kleine Tür zu einer metallenen Feuerleiter führte. Es gab keinen Abholplan und keine vorgeschriebenen Müllbehälter; ich konnte Taschen oder Kartons benutzen – oder einfach den losen Müll nach draußen werfen. Abgeholt wurde der Müll von einem Mann namens Sayyid, der weder bei der Regierung noch bei einem privaten Unternehmen beschäftigt war. Als ich die Vermieterin nach der monatlichen Gebühr fragte, antwortete sie, dass müsse ich mit Sayyid selbst aushandeln.

In der ersten Zeit bekam ich Sayyid nie zu Gesicht. Alle ein, zwei Tage stellte ich einen Müllsack auf die Feuerleiter, und wenig später war er verschwunden. Nachdem wir fast einen Monat in den Genuss dieses unsichtbaren Services gekommen waren, klopfte es eines Tages an der Küchentür.

»Salam aleikum«, sagte der Mann, bei dem es sich um Sayyid handeln musste, nachdem ich ihm die Tür geöffnet hatte. Statt eines Handschlags hielt er mir seinen Oberarm hin, sodass ich sein Hemd greifen konnte. »Mish nadeef«, erklärte er lächelnd. »Nicht sauber.« Er hielt seine Hände hoch – die Haut hatte die Farbe von altem Leder und die Finger waren so dick, dass man meinen konnte, er würde Handschuhe tragen.

Sayyid war klein, nur knapp über eins fünfzig groß, er hatte kurzes lockiges Haar und trug einen gepflegten Schnurrbart. Seine Schultern waren breit, und als er die Hände ausstreckte, traten die Venen an seinen Unterarmen wie die eines Gewichthebers hervor. Er trug ein schlabberiges blaues Hemd, eine riesige, fleckige Hose, die von einem Gürtel an Ort und Stelle gehalten wurde, und viel zu große Lederschuhe wie ein Clown. Später sollte ich erfahren, dass die meisten seiner Kleidungsstücke so überdimensioniert waren, weil er sie aus dem Müll größer gewachsener Männer gezogen hatte.

Aus Rücksicht auf mich sprach er langsam und erklärte mir auf Arabisch, dass er gekommen sei, um die monatliche Müllgebühr zu kassieren. Ich fragte ihn, wie viel er bekäme.

»So viel, wie Sie bezahlen wollen«, sagte er.

»Wie viel zahlen die anderen?«

»Einige zahlen zehn Pfund«, sagte er. »Einige zahlen hundert Pfund.«

»Wie viel soll ich bezahlen?«

»Sie können zehn Pfund bezahlen. Oder Sie können hundert Pfund bezahlen.«

Er verhandelte nicht im eigentlichen Sinne, sondern legte diese beiden Zahlen wie Endlinien auf einem Football-Feld vor mich und ließ mich dann in dem ganzen leeren Raum dazwischen allein. Am Ende gab ich ihm vierzig ägyptische Pfund, was sechseinhalb Dollar entsprach. Damit schien er zufrieden zu sein. Später erfuhr ich von Sayyid, dass der Reuters-Korrespondent, der über uns wohnte, nur dreißig Pfund im Monat bezahlte, was mich beruhigte. Schließlich produzierte jemand, der lange Reportagen für Zeitschriften schreibt, mit Sicherheit mehr Müll als jemand, der für eine Nachrichtenagentur arbeitet.

Nachdem ich Sayyid zum ersten Mal persönlich begegnet war, traf ich ihn plötzlich überall in der Nachbarschaft. Schon am frühen Morgen war er auf der Straße und schleppte riesige Leinensäcke voller Müll herum, gegen Mittag dann machte er eine Pause an dem H-Freedom-Kiosk hinter unserer Gartenmauer. Der Kiosk gehörte einem ernst wirkenden Mann mit einem lila-schwarzen Gebetsfleck auf der Stirn, wie ihn fromme muslimische Männer manchmal bekommen, indem sie beim Beten den Boden mit der Stirn berühren. Der Kiosk stand schon seit Jahren dort, doch nach dem Sturz Mubaraks benannte der Besitzer ihn zu Ehren der Revolution in H Freedom um. Er war ein beliebter Treffpunkt für die Männer der Nachbarschaft, und wenn Sayyid dort saß, grüßte er viele der Vorbeigehenden. Er schien jeden zu kennen, der hier wohnte.

Eines Nachmittags sprach er mich unweit des Kiosks an. »Sie sprechen Chinesisch, nicht wahr?«, sagte er.

»Ja«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, woher er das wusste.

»Ich habe etwas, das Sie sich ansehen sollten«, sagte er.

»Was denn?«

»Nicht jetzt.« Er senkte seine Stimme. »Darüber reden wir besser nachts. Es hat mit Medizin zu tun.«

Ich sagte ihm, dass ich an dem Abend ab acht Uhr freihätte.

Wie so ziemlich jeder war auch ich vom Ausbruch des Arabischen Frühlings überrascht worden. Vor unserem Umzug nach Ägypten hatte ich mehr als ein Jahrzehnt in China gelebt, wo ich auch meine Frau Leslie kennengelernt hatte, die ebenfalls Journalistin war. Wir kamen aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen: Sie wurde als Tochter chinesischer Einwanderer in New York geboren, während ich im ländlichen Missouri aufgewachsen war. Aber eine ähnliche innere Unruhe hatte uns beide veranlasst, ins Ausland zu gehen, erst nach Europa, später nach Asien. Als wir China 2007 zusammen verließen, hatten wir fast unser gesamtes Erwachsenenleben außerhalb der USA verbracht.

Wir hatten uns einen Plan zurechtgelegt: Wir wollten in den Südwesten Colorados aufs Land ziehen, eine Auszeit vom Großstadtleben nehmen und vielleicht ein Kind bekommen. Anschließend wollten wir im Nahen Osten leben. Uns gefiel die Vorstellung, an einen Ort zu ziehen, der uns völlig unbekannt war, und wir wollten beide eine weitere große Kultursprache lernen. Ich freute mich auf den Besuch archäologischer Stätten im Nahen Osten – schon in China war ich von der geschichtsträchtigen Atmosphäre solcher Orte fasziniert gewesen.

Noch war alles sehr abstrakt: das Kind, das Land. Vielleicht würden wir nach Ägypten gehen, vielleicht nach Syrien. Vielleicht würde unser Kind ein Junge werden, vielleicht ein Mädchen. Welchen Unterschied machte das schon? Als ich erwähnte, über einen Umzug nach Ägypten nachzudenken, warnte mich ein Redakteur in New York, dass mir das Land im Vergleich zu China recht träge erscheinen könnte. »In Kairo ändert sich nie irgendwas«, meinte er. Doch genau das gefiel mir. Ich freute mich darauf, in einem Land, in dem nie etwas passierte, ganz entspannt Arabisch zu lernen.

Die erste Abweichung von unserem Plan war, dass aus einem Kind zwei wurden. Im Mai 2010 brachte Leslie unsere eineiigen Zwillingsmädchen Ariel und Natasha zur Welt. Da sie zu früh geboren wurden, wollten wir ihnen ein Jahr Zeit lassen, bevor wir umzogen. Schließlich war es egal, so dachten wir, wann wir umziehen würden; im Leben eines Neugeborenen passierte in einem Jahr so viel, während sich in Kairo im gleichen Zeitraum sowieso nichts änderte. Als es auf dem Tahrir-Platz zu den ersten Protesten kam, waren unsere Mädchen acht Monate alt – und genau achtzehn Tage älter, als Mubarak gestürzt wurde.

Wir schoben den Umzug hinaus und überlegten hin und her. Am Ende beschlossen wir, es trotzdem zu wagen, auch wenn sich die Bedingungen geändert hatten: Jetzt würde ich eben über eine Revolution schreiben. Vor unserer Abreise absolvierten wir einen zweimonatigen Arabisch-Intensivkurs. Wir wollten eine Lebensversicherung abschließen, doch unser Antrag wurde abgelehnt, wegen »ausgedehnter Reisen«, wie uns das Versicherungsunternehmen in einem kurzen Brief beschied. Wir gingen zu einem Anwalt und verfassten unsere Testamente, kündigten den Mietvertrag für unser Haus, lagerten unsere Besitztümer ein und verschenkten unser Auto. Wir schickten nichts voraus – das Gepäck, das wir mit ins Flugzeug nahmen, würde alles sein, mit dem wir in unser neues Leben starteten.

Am Tag vor der Abreise heirateten wir. Leslie und ich legten eigentlich keinen Wert auf solche Konventionen, und wir hatten auch wenig Lust, eine Hochzeit zu organisieren. Aber die ägyptischen Behörden weigerten sich manchmal, ein gemeinsames Aufenthaltsvisum auszustellen, wenn ein ausländisches Paar keinen gemeinsamen Familiennamen hatte. Also fuhren wir zum Ouray County Courthouse, wo wir eine in altmodischer Schrift ausgestellte Urkunde erhielten, die bestätigte, dass wir »den Heiligen Bund der Ehe« geschlossen hatten. Ich legte die Heiratsurkunde in unser Gepäck. Am nächsten Tag bestiegen wir zusammen mit unseren siebzehn Monate alten Zwillingen das Flugzeug. Weder Leslie noch ich waren je in Ägypten gewesen.

Um Punkt zwanzig Uhr läutete es an der Tür. Als ich öffnete, griff Sayyid in eine Tasche und zog eine kleine rote Schachtel heraus, die mit goldenen Schriftzeichen verziert war.

Laut dem zwar eleganten, aber wenig aufschlussreichen chinesischen Aufdruck enthielt die Schachtel »Produkte zum Schutz der Gesundheit«, welche die »Entwicklung und Energie förderten«. Im Inneren der Schachtel befand sich ein Tablettenstreifen samt Beipackzettel mit Anweisungen auf Englisch, die mich wieder einmal daran erinnerten, dass Chinesen sich manchmal dann am klarsten ausdrücken, wenn sie schlechtes Englisch schreiben:

2 Pillen auf einmal wann immer noterwendig

Vor Ficken Liebemachen 20 Minuten

»Wo hast du das her?«, fragte ich.

»Aus dem Müll«, antwortete Sayyid. »Von einem Mann, der gestorben ist.«

Der Mann sei schon älter gewesen, erklärte er, und seine Söhne hatten alles, was sie nicht gebrauchen konnten, weggeworfen, einschließlich dieser Pillen. »Viele dieser Dinge waren mish kuaissa«, sagte Sayyid. »Nicht gut.«

Ich fragte, was er damit meinte.

»Solche Dinge wie diese –« Mit einem dicken Finger zeichnete er etwas in die Luft und deutete dann unter seinen Gürtel. »Es ist elektrisch. Es werden Batterien verwendet. Es ist für Frauen. So etwas ist nicht gut.« Umso mehr schien es ihm zu gefallen, davon zu erzählen. Mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu, dass er im Müll des älteren Mannes auch eine große Sammlung pornografischer Zeitschriften gefunden hatte. Was er mit den Heften gemacht hatte, verriet er mir allerdings nicht. Ich fragte, wo der Tote früher gearbeitet hatte.

»Er war Botschafter.«

Sayyids Tonfall war sachlich, als würde es sich dabei um eine Arbeit handeln, die routinemäßig auch den Erwerb von Pornoheften und chinesischen Potenzpillen beinhaltete. Da ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte, bat ich ihn, das Wort zu wiederholen: safir. »Er war Botschafter im Ausland«, erklärte Sayyid. »Und er war sehr reich, er besaß Millionen von Dollar. Er hatte 4.000.044 Dollar auf seinem Bankkonto.«

Dieser exakte Betrag ließ mich aufhorchen. »Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Weil es in Briefen der Bank stand.«

Ich nahm mir vor, Leslie zu warnen, dass sie aufpassen musste, was sie wegwarf. Sayyid fragte nach der Gebrauchsanweisung der chinesischen Medizin, und ich versuchte in gebrochenem Arabisch, die Sache mit den »zwanzig Minuten warten vor dem Ficken Liebemachen« zu übersetzen. Er murmelte etwas davon, die Pillen zu verkaufen, doch seine Fragen legten die Vermutung nahe, dass er sie eher selbst verwenden wollte. Ich überprüfte die Inhaltsstoffe: Weißer Ginseng, Geweihpulver, Großblütige Elfenblume usw. Das »usw.« war etwas beunruhigend – was um alles in der Welt mochte der nächste logische Inhaltsstoff in einer solchen Aufzählung sein? Andererseits sind derartige Präparate in China weitverbreitet, sodass die Pillen wahrscheinlich kein Gesundheitsrisiko darstellten. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht das erste Mal sein würde, dass Sayyid etwas schluckte, was er aus dem Müll gefischt hatte.

Von da an kam Sayyid regelmäßig abends bei uns vorbei. Das nächste Objekt, das er mir präsentierte, war eine 35-Millimeter-Kamera der Marke Kiew. Die Kamera, noch zu Zeiten der Sowjetunion in der Ukraine hergestellt, war schwer wie ein Hammer; ich hätte nie gedacht, dass so viel Metall dafür benutzt werden konnte, ein Foto zu machen. Sayyid wollte wissen, ob sie noch funktionierte und ob sie wertvoll war. Ein älterer Mann, der aus seiner Wohnung auszog, hatte sie weggeworfen.

Die besten Funde gelangen Sayyid, wenn Leute umzogen oder starben. Doch er stieß ständig auf interessante Dinge, weil er den Müll, den er einsammelte, von Hand sortierte und alles herauszog, was sich recyceln ließ oder irgendwie von Wert zu sein schien. Sein Sammelgebiet war vergleichsweise groß – es umfasste vierhundert Wohnungen in mehr als einem Dutzend Gebäuden –, dennoch war er mit einer solchen Aufmerksamkeit bei der Arbeit, dass er seine Kunden anhand ihres Mülls zuverlässig identifizieren konnte. Eines Nachmittags bereitete ich meinen Töchtern das Essen zu und stellte, nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, einen vollen Müllsack auf die Feuerleiter. Nicht einmal eine Stunde später klopfte es an der Tür. Als ich sie öffnete, stand Sayyid mit einer kleinen Metallgabel in der Hand vor mir. »Die war noch im Reis«, sagte er.

Das war ein Grund, warum die Bewohner in Sachen Müllgebühr zur Großzügigkeit neigten: Sayyid fungierte als eine Art Fundbüro der Nachbarschaft. Wann immer jemand umzog oder starb, verstand es sich von selbst, dass alles, was im Müll landete, Sayyid gehörte. Ansonsten jedoch fragte er bei den Bewohnern nach, wenn er etwas ungewöhnlich Wertvolles in ihrem Müll fand. Er warnte die Leute, wenn in der Nachbarschaft etwas verdächtig schien, und war überhaupt eine zuverlässige Informationsquelle. Im Laufe der Zeit stellte er mir die verschiedenen bekannten Gestalten aus unserem Viertel vor: ein einäugiger Portier, der silberhaarige Mann, der den staatlichen Brotstand betrieb, ein freundlicher Teebote, der sein auf Hochglanz poliertes Tablett die Straße hinauf und hinunter trug.

Einige von ihnen dienten Sayyid auch als Berater. Da er wie über ein Viertel der ägyptischen Bevölkerung Analphabet war, ging er mit einem Dokument, das er verstehen wollte, zum H-Freedom-Kiosk, dessen Besitzer lesen und schreiben konnte. Hatte er Streit mit jemandem aus dem Viertel, suchte er den silberhaarigen Mann auf, der als Betreiber des staatlichen Brotstandes mit allen Bewohnern auf gutem Fuße stand.

Mein Fachgebiet als Ausländer umfasste Importwaren, Arzneimittel, Sexartikel und Alkohol. Wenn Sayyid Medikamente aus dem Müll fischte, kam er damit zu mir. Ich las ihm die Beipackzettel vor, erklärte, wogegen beziehungsweise wofür sie gut waren und wie man sie einnehmen musste. Bei Dingen wie der Kiew-Kamera recherchierte ich online und gab ihm eine grobe Schätzung, wie viel dafür in den Vereinigten Staaten gezahlt wurde. In den USA bekam man für diese Kameras auf Ebay rund vierzig Dollar, aber natürlich konnte Sayyid in Kairo unmöglich dasselbe verlangen. Dennoch wollte er stets den amerikanischen Preis wissen. Offenbar bereitete es ihm Freude zu wissen, dass er sein Fundstück an einem anderen Ort, in einem anderen Leben, für einen ansehnlichen Betrag hätte verkaufen können.

Und auch wenn, was hin und wieder vorkam, ein muslimischer Trinker von seinem schlechten Gewissen geplagt wurde und seine Alkoholvorräte entsorgte, tauchte Sayyid mit den diskret in einer schwarzen Plastiktüte verstauten Flaschen vor meiner Tür auf, damit ich den Wiederverkaufswert der Spirituosen taxierte. Selbst eine Flasche Whiskey, die nur noch zu einem Viertel gefüllt war, ließ sich gut verkaufen, da die meisten Bewohner der Stadt große Hemmungen hatten, einen der wenigen Schnapsläden in Kairo zu betreten. Sayyid war Muslim, und nachdem ich ihn besser kennengelernt hatte, verriet er mir, dass er beabsichtigte, bei den diversen Post-Tahrir-Wahlen für die Kandidaten der Muslimbruderschaft zu stimmen. Er war der Bewegung allerdings nicht offiziell verbunden, zudem nahm er das islamische Alkoholverbot längst nicht so ernst wie die meisten ägyptischen Muslime. Wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag bei uns in der Wohnung vorbeischaute, bat er mich oft um ein kaltes Bier. Er war der einzige Gast, den ich je zu Hause bewirtet habe, der sein Leergut selbst mitnahm – er wusste ja, dass es am Ende so oder so wieder in seinen Händen landete.

Das Spinnennetzhaus lag nur knapp zwei Kilometer vom Tahrir-Platz entfernt, aber uns schien die Entfernung viel größer zu sein. Wegen des Flusses hat man in Zamalek immer das Gefühl, vom Rest der Stadt getrennt zu sein, auch weil es nur ein halbes Dutzend Brücken gibt, die die Insel mit dem übrigen Stadtgebiet verbinden. Als wir dort lebten, gab es auf unserem Teil der Insel weder eine U-Bahn-Haltestelle noch irgendwelche bedeutenden Ministerien. Ebenso wenig wie wichtige Plätze, große Moscheen oder öffentliche Orte, die geeignet gewesen wären, Demonstranten anzulocken. Die Revolution war etwas, das anderswo stattfand.

Wir waren zufällig während einer Pause in den Unruhen in Kairo angekommen. Mittlerweile waren acht Monate seit dem Sturz Mubaraks vergangen, und bislang waren noch keine Wahlen für einen neuen Präsidenten angesetzt worden. Es war unklar, wer den ägyptischen Arabischen Frühling anführte. Das Land hatte nach wie vor keine endgültige Verfassung und keine Legislative, obwohl für den Winter Parlamentswahlen angekündigt waren. In dieser Phase war es leicht, das, was sich auf nationaler Ebene abspielte, auszublenden, und es vergingen einige Wochen, bevor ich zum ersten Mal auf dem Tahrir-Platz stand.

Die meisten meiner Nachbarn mieden den Platz. Nachdem die politische Entwicklung wieder an Fahrt aufgenommen hatte, sah ich oft wohlhabend wirkende Menschen in den Cafés von Zamalek sitzen und die Revolution im Fernsehen verfolgen, als stammten die Aufnahmen aus einem fernen Land. Unsere Nachbarn rieten mir unverhohlen davon ab, zum Tahrir-Platz zu gehen; ihrer Meinung nach war es dort zu gefährlich für einen Ausländer, auf den zu Hause kleine Kinder warteten.

Sayyid war ebenfalls sehr skeptisch, was Politik anging. Er entstammte einem sozialen Milieu, das theoretisch von einer Revolution profitieren müsste, aber in solchen Kategorien dachte er offenbar nicht. Er erzählte abschreckende Geschichten über bekannte Personen aus dem Viertel wie etwa den einäugigen Portier. Während einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz war der Portier neugierig geworden und zu einer Straße unweit des Platzes gelaufen, wo er, um besser sehen zu können, auf eine Überführung kletterte. Das war ein Fehler: Wenn die ägyptische Polizei eine Menschenmenge auseinandertreiben will, feuern die Polizisten mit ihren Schrotflinten in die Luft. Der Portier bekam auf der Überführung eine Ladung Vogelschrot ab und verlor ein Auge.

»Er hat nicht einmal demonstriert«, sagte Sayyid. »Mafeesh faida. Es ist zwecklos. Deshalb solltest du dich von dort fernhalten.«

Ich erklärte ihm, dass es zu meiner Arbeit gehöre, mit Demonstranten zu sprechen, versprach ihm aber, vorsichtig zu sein.

»Ba’oolek ay«, sagte Sayyid. »Ich will dir etwas sagen.« Dieser ägyptische Satz ist häufig eine Art Einleitung zu einem Ratschlag, und in meinen ersten Monaten im Land war er oft das Letzte, was ich verstand, bevor sich mein Gegenüber in eine langatmige Erklärung stürzte. Ich lächelte und nickte, während die Worte an mir vorbeiflogen, und fragte mich dann immer, ob mir vielleicht gerade ein schwer fassbares geheimes Wissen zum Überleben in Kairo entging. Sayyids Ratschlag jedoch war leicht zu verstehen: »Alle hoch gelegenen Orte meiden.«

3

Ende November, als die Revolution nach einer zwischenzeitlichen Flaute wieder an Fahrt aufnahm und die Protestanten auf den Tahrir-Platz zurückkehrten, ging ich fast jeden Tag von Zamalek aus dorthin. Dem Ostufer der Insel folgend, lief ich unter der Brücke des 6. Oktober hindurch und passierte eine Reihe von kleinen Parks und Gärten, die den Fluss säumten. Alles in allem brauchte ich rund eine halbe Stunde bis zur Qasr-al-Nil-Brücke. Die Brücke war in den 1930er-Jahren unter der Herrschaft von König Fuad erbaut worden, der das Bauwerk zu Ehren seines Vaters benannt hatte. Nach der Revolution von 1952, als Nasser und seine Landsleute die Monarchie stürzten, erhielt die Brücke ihren neuen Namen, der »Palast des Nils« bedeutet.

Viele Wahrzeichen im Zentrum Kairos waren nach verschiedenen Ereignissen des 20. Jahrhunderts benannt oder umbenannt worden. Selbst das unpolitische Zamalek war eine Insel voller historischer Daten: Die Hauptverkehrsader war die Straße des 26. Juli, nach dem Tag, an dem König Farouk abdankte, und die Brücke des 15. Mai erinnert an den Beginn des arabisch-israelischen Krieges 1948. Die Brücke des 6. Oktober feiert die ägyptische Invasion des Sinai im Jahr 1973. Nach offizieller Lesart handelt es sich dabei samt und sonders um glorreiche Ereignisse, allerdings mit der Tendenz, für Ägypten besser zu beginnen als zu enden. Der arabisch-israelische Krieg erwies sich als eine Katastrophe für die Araber; die Militäraktion 1973 im Sinai endete damit, dass die ägyptische 3. Armee von den Israelis eingeschlossen wurde.1 Acht Jahre später, ebenfalls am 6. Oktober, wurde Sadat ermordet, vor allem wegen seiner Bereitschaft, mit Israel zu verhandeln. Ich hatte noch nie an einem Ort gelebt, der an derart viele historische Ereignisse erinnerte, die man bestenfalls als ambivalent betrachten kann.

Die Qasr-al-Nil-Brücke überspannt den Nil und führt dann direkt zum Tahrir-Platz hinunter. Streng genommen ist der Tahrir-Platz kein Platz im eigentlichen Sinne – vielmehr ist er ein riesiger Kreisverkehr mit einem endlosen Strom an Autos, die um seinen Mittelpunkt kreisen. Die Gebäude entlang des Platzes weisen die unterschiedlichsten Stilrichtungen auf, als wären sie wild zusammengewürfelt worden. Die Mogamma, ein großer Regierungskomplex, hat eine langweilige, modernistische Fassade, einige private Wohnblöcke verfügen über säulengerahmte Balkone mit französischen Türen, und das Ägyptische Museum mit seinem Kuppeldach und Bogenfenstern erstrahlt in dem kräftigen Hellrot eines italienischen Palazzos. Daneben gibt es die üblichen Fast-Food-Filialen sowie die Omar-Makram-Moschee mit ihrem anmutigen Minarett und den fein gearbeiteten Fenstergittern im islamischen Stil.

Nachdem die Proteste im November zu Gewaltausbrüchen geführt hatten, waren der Kreisverkehr geschlossen und sämtliche Restaurants dichtgemacht worden. Meine Spaziergänge über die Brücke fühlten sich an, als würde ich eine unsichtbare Grenze überqueren: Hinter mir die mit Bäumen und Blumen üppig bewachsene Uferlinie der Insel, vor mir die Hochhäuser, die sich über den Platz erhoben. Sogar die Luft änderte sich auf dieser Seite des Flusses – sie war voller Staub von Demonstranten, die Steine und Ziegel warfen, dazu der chemische Gestank von Tränengas, der über dem Platz hing.

Als die Proteste begannen, hatte sich meine Erfahrung mit der Revolution darauf beschränkt, die frühen Phasen in Colorado am Fernseher zu verfolgen. Die Jubelszenen zum Rücktritt Mubaraks hatten mich beeindruckt, dementsprechend zog ich mich für meinen ersten Besuch auf dem Tahrir-Platz schick an – gebügelte Hose und Hemd mit Knopfleiste, als wäre es ein formaler Anlass. Ich erkannte aber schnell, dass niemand sonst so gekleidet war. Zu viel Staub und zu viel Chaos, außerdem war es ratsam, nicht aus der Menge herauszustechen. Gleich bei meinem ersten Besuch auf dem Platz klaute mir ein Taschendieb die Brieftasche. Ich war in eine Menschenmenge geraten, von der Masse mitgerissen worden und konnte die Hand nicht abschütteln, die sich in meine Tasche schob. Ich hatte Glück – allzu viel Geld war nicht darin gewesen – und meine Lektion gelernt. Das waren die Tahrir-Regeln: Trag keine schicke Kleidung, nimm keinen Geldbeutel mit. Und höher gelegene Orte meiden.

Bei meiner zweiten Visite auf dem Tahrir-Platz wurde ich in der Omar-Makram-Moschee Zeuge, wie ein Dieb beim Klauen erwischt wurde.2 Der Diebstahl ereignete sich während des Mittagsgebets, als die meisten Männer in der Moschee mit dem Blick nach vorne auf dem Boden saßen. Die Moschee liegt an der südwestlichen Ecke des Platzes, und an diesem Tag drang durch die geöffneten Türen und Fenster das Gebrüll der draußen versammelten Menge herein. Der Lärm wogte im Rhythmus eines Ozeans auf und ab: ein konstantes Rauschen, das ständig wechselte und periodisch zu einem Crescendo anschwoll wie eine große Welle, die auf den Strand donnerte. Jedes Mal, wenn das Gebrüll einen Höhepunkt erreichte, fragte ich mich, was jetzt wohl wieder passiert war. Vielleicht war ein Tränengasbehälter in die Menge geschleudert worden, vielleicht wurde wieder ein verletzter Teenager von der Frontlinie zurückgetragen.

Bei all der Aufregung ging der Dieb wohl davon aus, dass niemand auf ein Handy achten würde, das an ein Ladegerät angeschlossen war. Er schlich hinüber und steckte das Telefon ein, während sein Besitzer betete. Zufällig beobachtete ihn dabei von hinten ein alter Scheich mit einem langen weißen Bart. Nachdem die Gebete beendet waren, flüsterte der Scheich einigen Männern in der Nähe etwas zu, darunter auch der Student, der mich in die Moschee eingeladen hatte. Als eine zweite Runde von Gläubigen zu einem lauten Gebet ansetzte – »Allahu akbar! Allahu akbar!« –, hatten die Männer den Dieb bereits umzingelt. Ich stand hinter der Gruppe und beobachtete sie. Der Dieb, der mit dem Rücken zur Gebetsmauer stand, rückte das Telefon ohne Widerstand heraus. Als der Scheich fragte, warum er es genommen hatte, antwortete er, ihm sei sein eigenes Telefon an diesem Morgen gestohlen worden.

»Wo ist dein Ausweis?«, fragte der Student.

Der Dieb behauptete, er sei zu jung, um einen von der Regierung ausgestellten Ausweis zu besitzen. Er war sehr dünn, hatte einen fahlen, ungesunden Teint, und seine Kleidung war schmutzig. Sein linkes Auge war rot – vielleicht eine durch das Tränengas verursachte Entzündung, vielleicht aber auch Folge eines Schlages. An diesem Tag gab es auf dem Tahrir viele Menschen mit geröteten Augen.

»Das ist haram!« erklärte der Scheich. »Verboten! Verstehst du? Wir könnten die Polizei rufen und dich verhaften lassen.«

In Wahrheit würde sich an einem Tag wie diesem kein Polizist in die Nähe der Omar-Makram-Moschee wagen, und wenn Gerechtigkeit geübt werden sollte, würde das diese Gruppe von Männern übernehmen müssen. Der Dieb stand in sich zusammengesunken da, und als der Student seine Taschen durchsuchte, zuckten seine Arme wie die einer Marionette. Der Student fand ein Feuerzeug sowie eine Schachtel Ventolin, ein Asthmamittel, das von den freiwilligen Ärzten an Tränengasopfer verteilt wurde. Er übergab die Gegenstände dem Scheich, der sich zu dem Dieb beugte und ihn eine gefühlte Ewigkeit lang belehrte. Er sprach leise; niemand in der Gruppe hatte während der gesamten Konfrontation die Stimme erhoben. Als der Dieb verstand, dass er nun gehen durfte, erstarrte er einen Moment wie von Erleichterung überwältigt. Dann ging er mit gebeugtem Kopf und schnellen Schritten zum Ausgang der Moschee. Ohne zurückzublicken, verschwand er im Getümmel des Platzes.

Die genaue Ursache der Gewalt war schwer zu benennen. Drei Tage zuvor hatte die Muslimbruderschaft einen Protest gegen die hohen Militärs organisiert, die für eine Übergangszeit die Kontrolle übernommen hatten. Diese Offiziere bildeten den Obersten Rat der Streitkräfte, kurz SCAF, und in letzter Zeit gab es Anzeichen dafür, dass sie versuchen könnten, ihren Zugriff auf die Regierungsmacht auf längere Zeit zu sichern. Einige befürchteten, dass die Generäle die ersten freien Parlamentswahlen des Landes, die Ende November beginnen sollten, hinauszögern wollten.

Der Protest der Bruderschaft war im Wesentlichen eine Warnung. Mit der friedlichen Versammlung auf dem Tahrir-Platz wollten sie den SCAF daran erinnern, dass jeder Versuch, den Übergang zur Demokratie zu verhindern, auf Widerstand stoßen würde. Nach einem Tag zogen die Muslimbrüder wieder ab, zufrieden, dass ihre Botschaft angekommen war. Einige linke Aktivisten blieben jedoch über Nacht auf dem Tahrir-Platz, und am nächsten Tag kam es zu Konflikten mit der Polizei. Die Aktivisten behaupteten, die Polizisten hätten sie ohne jeden Grund angegriffen; andere sagten, die jungen Leute hätten die Beamten provoziert. Auf jeden Fall war das politische Klima so aufgeheizt, dass selbst ein kleiner Streit schnell eskalierte. Kaum hatte sich die Nachricht über die sozialen Medien verbreitet, strömten auch schon junge Menschen aller politischer Richtungen auf den Platz, getrieben von der Furcht, das Militär könnte ihnen ihren hart umkämpften Sieg über Mubarak wieder entreißen.

Am dritten Tag der Proteste waren bereits über zwanzig Tote zu beklagen, die meisten davon auf der Mohammed-Mahmud-Straße, die von der südöstlichen Ecke des Tahrir-Platzes zum Innenministerium führt.3 Das Ministerium war die Schaltzentrale der Polizei und deshalb ins Visier der aufgebrachten Demonstranten geraten. Immer wieder attackierten mit Stöcken und Steinen bewaffnete Gruppen junger Männer das Gebäude, und Polizisten in Kampfausrüstung hielten mit Tränengas, Gummigeschossen und Vogelschrot dagegen.

Als ich an diesem Morgen auf den Tahrir-Platz kam, ging die Menge in die Zehntausende. Auf dem Platz selbst war es zwar noch nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen, doch die Menschen waren aufgeputscht. Ab und zu schreckte eine Gruppe ohne ersichtlichen Grund auf und rannte von der Einmündung der Mohammed-Mahmud-Straße weg, als ob die Polizei aufmaschieren würde. Die Panik war ansteckend: Es reichte schon, wenn nur vier oder fünf junge Männer losrannten, schon sprinteten kurz darauf Hunderte über den Platz – bis die Welle ebenso abrupt wieder abebbte, wie sie entstanden war. Wie die Geräusche des Platzes erinnerte auch dieser Rhythmus an den Ozean, und es war faszinierend mit anzusehen, wie sich die Wellen aus flüchtenden Menschen im Wechsel aufbauten und ausliefen.

Bei einem dieser Anstürme fiel mir ein junger Mann auf, der mit halb geschlossenen Augen und einem sanften Ausdruck im Gesicht an der Seite stand. Es war ungewohnt, jemanden in dieser Menge zu sehen, der so ruhig wirkte. Ich sprach ihn in meinem schlechten Arabisch an, dann wechselten wir ins Englische. Er studierte im zweiten Jahr Pharmakologie an der Ain-Shams-Universität und erzählte mir, er habe an den Protesten im Januar und Februar teilgenommen und sei nun zurückgekehrt, um sicherzustellen, dass der Traum von der Demokratie nicht unterging.

Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, erklang von der Omar-Makram-Moschee her der Aufruf zum Mittagsgebet. Der Student fragte, ob ich ihn zur Moschee begleiten wolle, worauf ich erklärte, dass ich kein Muslim sei.

»Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Jeder kann kommen.«

Von allen Gebäuden und Institutionen, die den Platz säumen, hatte allein die Omar-Makram-Moschee ihre Tore für die Demonstranten geöffnet. Im Gebetsraum hatten ehrenamtliche Ärzte eine provisorische Klinik zur Behandlung der Verwundeten eingerichtet, und die Toiletten der Moschee durften von allen benutzt werden. Als ich mit dem Studenten eintrat, sah ich Dutzende von Menschen, die ihre Telefone aufluden, andere hatten sich am Rand des Gebetsraums zum Schlafen hingelegt.

Von diesem Tag an stattete ich jedes Mal, wenn ich meine tägliche Reise über die Qasr-al-Nil-Brücke machte, der Omar-Makram-Moschee einen Besuch ab. Bald schon verbrachte ich den Großteil meiner Zeit auf dem Tahrir-Platz in der Moschee. Der Platz selbst überforderte mich; die Kämpfe verliefen so chaotisch, dass ich keine Ahnung hatte, was genau hier ablief. In der Moschee dagegen herrschte ein Gefühl der Ordnung. Mehrere Scheichs traten abwechselnd als Vorbeter auf, und zahlreiche junge Aktivisten machten sich als freiwillige Ärzte, Apotheker oder Sicherheitskräfte nützlich. Sie organisierten ein Fundbüro für Dinge, die auf dem Tahrir-Platz gefunden worden waren. Normalerweise hatten nur Männer Zutritt zum Hauptgebetsraum, doch da der Eingang für Frauen in eine behelfsmäßige Klinik umgewandelt worden war, durften die Frauen den Männerbereich auf dem Weg zu ihrem Teil der Moschee durchqueren.

Es war ein Ort, an dem man als Außenstehender keine Probleme hatte. Ich stellte mich stets als amerikanischer Journalist vor, und die Leute waren froh über die Gelegenheit zu reden. Hin und wieder filmte ich die Ereignisse in der Moschee, damit ich sie später mit einem Übersetzer noch einmal durchgehen konnte. Immer wieder versicherten mir die Leute nachdrücklich, dass alle Moscheen auch Ungläubigen offenständen, weil der Islam alle Glaubensrichtungen begrüße. Sie waren sogar freundlich zu Leuten, die die Regeln brachen, zumindest in den ersten Tagen der Proteste. Die Männer, die den Handy-Dieb gestellt hatten, waren deshalb so nachsichtig gewesen, weil sie sich an einem heiligen Ort befanden – aber auch, weil sie an die Revolution draußen auf dem Platz glaubten.

Am fünften Tag der Proteste sah ich, wie die Leiche eines Demonstranten in die Moschee getragen wurde. Die Totenfeier begann mit einer neuen Geräuschwelle: Erst war nur ein leises Grollen vor der Moschee zu vernehmen, das nach und nach zu einem lauten Brüllen anschwoll.4 Ich saß in einer Ecke des Gebetsraums, als plötzlich eine Menschenmenge durch die Vordertür stürmte, angeführt von einem halben Dutzend Männer, die einen offenen Sarg auf ihren Schultern trugen.

Sie stellten den Sarg vor demMihrab ab, der Nische an der Vorderseite einer jeden Moschee, die anzeigt, in welcher Richtung Mekka liegt. Eine kleine Gruppe von schwarz gekleideten Frauen hatte die Männer begleitet, darunter auch die Mutter des Toten, die ein passbildgroßes Foto ihres Sohnes in den Händen hielt. Ein paar Männer stellten sich ihnen in den Weg und riefen, dass es für Frauen haram sei, einer Beerdigung beizuwohnen. Doch die Mutter des Toten ließ sich nicht einschüchtern – sie schwenkte das Foto ihres Sohnes hin und her, und in ihren Händen hatte das winzige Bild eine Wirkung wie ein Knüppel. Die Männer zogen sich hastig zurück, und die Frauen blieben während des kurzen Gottesdienstes im Gebetsraum.

Einer der Männer, die den Sarg begleiteten, erzählte mir, dass der tote Demonstrant erst fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sei und einen Hochschulabschluss in Touristik hätte. Er war in der vergangenen Nacht getötet worden. Auf meine Frage, wie der junge Mann ums Leben gekommen war, griff der Mann ohne ein Wort in seine Tasche und zog zwei Patronenhülsen heraus. Leute, die in der Nähe des Innenministeriums demonstrierten, hoben solche Funde manchmal als Beweis dafür auf, dass die Regierung inzwischen scharfe Munition gegen die Demonstranten einsetzte.

Der junge Demonstrant war einer von bislang über dreißig Menschen, die bei den Protesten ums Leben gekommen waren. Vor dem Sarg erzählte ein bärtiger Scheich die Geschichte von Hamza, einem Onkel des Propheten, der in einer der frühen Schlachten mit den Mekkanern während des Aufstiegs des Islam im 7. Jahrhundert n. Chr. als Märtyrer gefallen war. Dann sprach der Scheich über die Proteste.

»Wisset, dass wir diesen Mann als Märtyrer im Paradies Gottes ansehen«, verkündete er mit immer lauter werdender Stimme. »Wir schwören bei Gott, dass sein Tod nicht umsonst gewesen ist! Dieses Blut ist gutes Blut! Es wurde für eine gerechte Welt vergossen! So hört mich an, Volk Gottes! Wir werden demonstrieren; wir werden hier ausharrren, bis wir Vergeltung für die Märtyrer erhalten haben!«

Ein Mann in der Menge schloss sich an: »Gott, bitte lass uns für unsere Sache sterben! Gott, bitte lass uns für unsere Sache sterben!«

»Allahu akbar! Allahu akbar!«

Die Männer brachen in lautes Geschrei aus, zogen sich Masken über die Gesichter und drängten, ein paar von ihnen mit dem Sarg auf den Schultern, zur Tür, um den Kampf draußen fortzuführen. Die Mutter des Toten wehklagte, und eine Frau neben ihr ließ ihrer Wut über die Grausamkeit der Polizei freien Lauf. »Haram! Haram!«, schrie sie. »Solche Verbrechen werden an uns begangen!«

»Frau, das ist die Herrschaft des Militärs«, entgegnete ihr ein Mann. »Und nichts anderes bekommen wir von einem Militärregime.«

Nachdem der Sarg draußen und der Lärm, der vom Platz her dröhnte, abgeebbt war, breitete sich Ruhe im Gebetsraum aus. Weiter hinten lagen einige Leute, die den Gottesdienst zu einem Nickerchen genutzt hatten. In der provisorischen Klinik neben dem Mihrab arbeitete ein junger freiwilliger Apotheker namens Ahmed Salem. Er sprach gut Englisch, und als ich die Trauerfeier erwähnte, blinzelte er und meinte, er sei zu beschäftigt gewesen, um darauf zu achten. Zwei Tage lang hatte er ohne Pause durchgearbeitet. Hauptsächlich, sagte er, gebe er Ventolin und Farcolin gegen das Tränengas aus, darüber hinaus jede Menge Augentropfen mit Polyvinylalkohol. Der Boden war mit aufgerissenen Verpackungen, Ampullen, Flaschen und anderen Dingen übersät; noch während wir uns unterhielten, trat der Apotheker in eine auf dem Boden liegende Spritze und verletzte sich am Fuß. Mit einem abwesenden Ausdruck im Gesicht, als würde er sich nur kratzen, bückte er sich und legte bedächtig einen Verband an. Er war barfuß. In der Omar-Makram-Moschee wurde inzwischen vieles flexibel gehandhabt, doch eine Regel wurde eisern eingehalten: Niemand trug Schuhe in der Moschee.

Am sechsten Tag der Proteste wurden einem Mann namens Salem Abd-Elsalem die Nike-Sandalen gestohlen, während er in der Moschee betete. »Alhamdulillah!«