Die Störung - Brandon Q. Morris - E-Book
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Die Störung E-Book

Brandon Q. Morris

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Beschreibung

Ein Blick auf den Anfang des Universums: »Die Störung« ist der neue, harte Science-Fiction-Roman von Brandon Q. Morris. Weiter als die vier Astronauten der Shepherd-1 ist noch nie jemand ins All vorgestoßen. Das Ziel ihrer Mission: die Entstehung des Kosmos zu beobachten. Ein Schwarm von Sonden soll so ausgerichtet werden, dass mithilfe der Sonne als Linse der Moment des Urknalls sichtbar wird. Für die Astronomin Christine geht damit ein Traum in Erfüllung. Um so größer ist die Enttäuschung, als über den ersten Bildern ein Schleier liegt, der jede Erkenntnis verhindert. Wie besessen arbeitet sie an einer Lösung, doch als es ihr tatsächlich gelingt, den Schleier zu lüften, sieht sie etwas, das besser verborgen geblieben wäre … Ein realistischer Space-Thriller für Leser von Andreas Brandhorst, Andreas Eschbach, Andy Weir, Cixin Liu und Phillip P. Peterson.

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Seitenzahl: 516

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Brandon Q. Morris

Die Störung

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Blick auf den Anfang des Universums: »Die Störung« ist der neue, harte Science-Fiction-Roman von Brandon Q. Morris.

 

Weiter als die vier Astronauten der Shepherd-1 ist noch nie jemand ins All vorgestoßen. Das Ziel ihrer Mission: die Entstehung des Kosmos zu beobachten. Ein Schwarm von Sonden soll so ausgerichtet werden, dass mithife der Sonne als Linse der Moment des Urknalls sichtbar wird.

 

Für die Astronomin Christine geht damit ein Traum in Erfüllung. Um so größer ist die Enttäuschung, als über den ersten Bildern ein Schleier liegt, der jede Erkenntnis verhindert. Wie besessen arbeitet sie an einer Lösung, doch als es ihr tatsächlich gelingt, den Schleier zu lüften, sieht sie etwas, das besser verborgen geblieben wäre …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Brandon Q. Morris ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit Weltraum-Themen. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de

Shepherd-1

12. März 2094

Nasse Wolken hängen über dem Ende des Universums. Christine wischt mit den Fingern über den Bildschirm. In dem kleinen Labor, das in der Nacht nicht geheizt wird, ist es zu Beginn ihrer Schicht so kalt, dass sich an Glasflächen Feuchtigkeit absetzt. Aber die kurz aufflammende Hoffnung trügt. Die Schlieren auf dem Display bestehen nicht aus Kondenswasser, sie stecken in den Daten selbst. Die Aufnahmen, die eigentlich die Ergebnisse der zwölf Stunden lang durchgerechneten Extrapolation zeigen sollen, sind unbrauchbar.

Christine trommelt mit Zeige- und Mittelfinger auf der Lehne ihres Stuhls. Sie sollte nicht so ungeduldig sein. Die Shepherd-1 hat ihre Position auf der Fokallinie noch nicht einmal erreicht. Aaron und David treiben gerade noch die verirrten Schafe zur Herde zurück. Aber sie hat nachgerechnet. Es befinden sich längst genügend Sonden in dem nur 1,3 Kilometer durchmessenden Bereich, der ein scharfes Bild garantiert. Dass die algorithmische Extrapolation nur Schlieren zeigt, ist mindestens seltsam, wenn nicht gar unmöglich.

Sie holt sich die Werte der Sonden auf den Schirm und schiebt die Brille zurück. Sheep-1 hat genügend Licht gesammelt, um eine ordentliche Auswertung zu ermöglichen. Sheep-2 zeigt ebenfalls ein sauberes Bild. Sheep-3, Sheep-4, Sheep-5, Sheep-6, alles bestens. Sheep-7 ist ein Totalausfall, aber das sollte das System verkraften. Sie hält den Finger auf der Blättertaste. Die Tabellen fliegen von rechts nach links über den Schirm. Die Zahlen verschwimmen, und trotzdem hat sie das Gefühl, jede einzelne wiederholen zu können. Sie hatte schon als Kind diese Begabung. Jedes Mal wenn ihr Vater etwas in seiner Faust versteckte, hatte sie richtig geraten. Sie erinnert sich zwar noch an den erstaunten Blick des Vaters, aber nicht mehr an die Farbe seiner Augen. Waren sie blau wie ihre?

Sheep-56 bleibt auf dem Bildschirm stehen. Es ist die letzte Sonde des ersten Schwarms, die Daten geliefert hat. Christine wechselt von der Listenansicht zum Rohbild. Auf den ersten Blick sieht sie nur eine schwarze Fläche. Sie erhöht den Kontrast. Am Rand des Bildes funkeln nun einzelne Sterne. Sie sind uninteressant. In der Mitte schält sich eine schwarze Scheibe heraus, die keinen einzigen Lichtpunkt enthält. Das ist die Sonne, die das Teleskop der Sonde automatisch ausgeblendet hat. Um die Scheibe herum verläuft ein schmaler Kreis, ein sogenannter Einstein-Ring. Er besteht aus dem Licht des Objekts, das sie beobachten wollen, abgelenkt und fokussiert von der Gravitation der Sonne selbst. Seine wahre Gestalt, seine wirklichen Eigenschaften offenbart das Objekt erst, wenn sie die Daten aller Sonden des Schwarms auswerten. Jedes einzelne Schaf liefert einen Beitrag, aber es ist der Gesamtblick der Herde, der zählt.

Christine schließt die Datei. Der Schirm zeigt nun wieder die verschwommene Darstellung. Heute soll es wohl nicht passieren. Sie tippt eine kurze Beschreibung, verknüpft sie mit dem Bild und schickt sie über die High-Gain-Antenne an den CapCom. In 4,3 Tagen wird ihre Nachricht die Erde erreichen. Vielleicht haben die Forscher dort ja eine Idee, wie sie den Wolkenvorhang zur Seite ziehen können. Christine schluckt. Ihr Speichel schmeckt bitter. Das muss die Enttäuschung sein. Sie hat sich den Moment seit zwanzig Jahren ausgemalt, Tag für Tag, nur dafür ist sie Astronomin geworden, hat auf eine Familie verzichtet und den langen Flug hierher auf sich genommen. Es würde Licht werden auf dem Bildschirm, und dann würde sie als erster Mensch das Ende des Universums erblicken, das zugleich sein Anfang war.

Shepherd-1

14. März 2094

»Hast du ihn?«

Aaron hält den Finger über den Auslöser.

»Moment. Er torkelt. Das Triebwerk ist wohl dezentriert«, erklärt Benjamin. »Ich bekomme kein Target Lock.«

»Ein Meteoritentreffer?«

»Asteroiden. Erst in der Erdatmosphäre werden sie zu Meteoriten. Wie oft soll ich dir das noch erklären?«

»Du hast es mir noch nie erklärt, Ben.«

»Benjamin. Mann, so viel Zeit muss sein.«

Benjamin spricht seinen Namen französisch aus. Warum belässt er es nicht einfach bei Ben? Es wäre so viel einfacher.

»Hab ihn jetzt im Fadenkreuz«, sagt Benjamin. »Feuer.«

Aaron drückt den Knopf. Aus dem Bug der von Benjamin ferngesteuerten Dog-Sonde schießt unsichtbar ein Laserstrahl, der hoffentlich die Sonnensegel von Sheep-23 treffen und so den Kurs des Sorgenkindes korrigieren wird. Normalerweise übernehmen die Dogs solche Aufgaben autonom, aber mit dem Torkeln sind sie offenbar nicht zurechtgekommen.

»Sieht gut aus«, sagt Benjamin. »Zielkoordinaten wandern in die richtige Richtung.«

»Hoffen wir mal, dass wir nicht überkompensiert haben«, sagt Aaron.

»Das Risiko liegt bei 23 Prozent.«

»Optimistisch wie immer.«

Benjamin antwortet nicht. Aaron lehnt sich zurück, verschränkt die Arme hinterm Kopf und beobachtet ihr Sorgenkind Sheep-23. Die Sonde besteht aus einem etwa drei Meter langen Aluminiumgerüst mit quadratischem Querschnitt von knappen zehn Zentimetern Kantenlänge. Nach allen Seiten stehen mit Solarzellen belegte Sonnensegel ab, die Aaron an Blätter erinnern. Aus der Ferne und bei flüchtigem Hinsehen könnte man die Sonde für den abgerissenen Ast eines exotischen Baums halten. Die Segel können den Strahlungsdruck der Sonne nutzen, um die Sonde zu beschleunigen. Zumindest wenn es eine nennenswerte Sonnenstrahlung gäbe. Hier draußen ist ihr Heimatstern längst einer von vielen und nicht einmal mehr das hellste Objekt am schwarzen Himmel.

Langsam rotiert Sheep-23 um sich selbst. Das Torkeln scheint aufgehört zu haben. Sicherheitshalber ruft Aaron die Daten des Lagesensors der Sonde ab.

»Ha, wir hatten Erfolg«, sagt er dann.

»Du hast ja bloß den Knopf gedrückt«, antwortet Benjamin per Funk.

Aus unerfindlichen Gründen haben die Ingenieure die Fernsteuerung der Satelliten und das Auslösen der auf ihnen installierten Laser und Teleskope voneinander getrennt. Wie paranoid muss man sein, um zu befürchten, dass einer von ihnen durchdreht und die anderen mit dem Laser beschießt? Wer eine so lange Reise auf sich nimmt, würde das Projekt niemals gefährden. Heimlich einen ersten neugierigen Blick durch die Teleskope zu werfen, das würde er sich und seinen Mitreisenden schon eher zutrauen. Nützen würde es ihnen allerdings nichts, weil das eigentliche Bild erst in stundenlanger Arbeit berechnet werden muss.

Aaron ist allein in seiner Kabine. Hier fühlt er sich am wohlsten. Sie sind nun fast zwanzig Jahre lang gemeinsam unterwegs. Da muss man sich nicht mehr jeden Tag sehen. Vermutlich streiten sie deshalb so selten. Die Psychologen auf der Erde haben wirklich gute Arbeit geleistet. Benjamin nervt ihn zwar manchmal mit seinem Pessimismus, den er Realismus nennt, aber das erdet ihn auch. Denn er ist aus Prinzip optimistisch.

Er unterdrückt ein Gähnen und schließt den Hosenknopf. Vielleicht sollte er sich doch mal wieder mit jemandem verabreden. Er wird sonst noch ganz unsozial.

»Sollen wir uns zum Essen treffen?«, fragt er deshalb Benjamin.

»Gib mir zwanzig Minuten. Ich muss Sheep-23 noch drehen, damit wir ihn wieder in die Matrix aufnehmen können.«

***

Der Aufstieg in die Zentrale bringt Aaron ins Schwitzen. Die von der Rotation der Shepherd-1 verursachte Schein-Schwerkraft wirkt nach außen. Die Zentrale in der Mitte liegt für ihn deshalb am Ende eines knapp hundert Meter hohen Anstiegs. Denn so groß ist der Durchmesser des Rings, auf dem die vier Kabinen und das Astronomielabor liegen.

Er sieht nach oben. Der schmale Gang scheint heute gar kein Ende zu nehmen. Sprosse für Sprosse zieht er sich hinauf. Die Kraft, die an ihm zerrt, wird zwar von Schritt zu Schritt geringer, doch auch die Luft scheint dünner zu werden. Bildet er sich das nur ein, oder haben sich die Ingenieure hier eine Fehlkonstruktion geleistet? Und warum fällt ihm das erst jetzt auf?

Ein grün leuchtender Ring, der sich einmal um den ganzen Gang zieht, zeigt an, dass er es geschafft hat. Über ihm ist eine Klappe, die er zur Seite schieben muss. Sie lässt sich sehr leicht bewegen. Aaron klettert die restlichen Stufen nach oben und zieht sich schließlich ins Freie. Er schwebt, denn hier herrscht Schwerelosigkeit, in einem flachen, indirekt beleuchteten Raum, der seltsam verzerrt wirkt. Das liegt wohl daran, dass Decke und Boden deutlich gekrümmt sind. Er befindet sich in einer Kugelschale, die den Kern des Schiffes umgibt. Auf dieser Ebene befinden sich die drei Gemeinschaftsräume, die Küche und die Werkstatt. Es riecht nach Essen. Vielleicht haben David oder Christine etwas gekocht? Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Plötzlich hat er richtigen Appetit. Er kann sich an das Gefühl gar nicht mehr erinnern.

Aaron betrachtet das Loch, durch das er eben ausgestiegen ist. Es sieht völlig schwarz aus und wirkt so klein, als würde er gar nicht hindurchpassen. In dieser Umgebung verliert man schnell alle Maßstäbe. Er stellt sich vor, wie ein Wurm durch das Loch kriecht. Vor Ekel richten sich ihm die Nackenhärchen auf. Schnell schiebt er die Klappe wieder zu. Sie verschwindet nahtlos im Boden, als hätte es hier nie ein Loch gegeben. Gäbe es die Leuchtstreifen auf dem Boden nicht, die zum Einstieg führen, wüsste er nicht, wie er zurück in seine Kapsel finden sollte.

»Zur Küche«, sagt er.

Auf dem Boden leuchtet ein blauer Pfeil auf. Aaron hätte geschworen, dass er nach rechts gehen muss, doch das Schiff führt ihn nach links. Vermutlich ist seine Orientierung gestört, weil er das Loch im Boden nicht mehr sieht. Aaron wendet sich nach links und fliegt mit großen Schritten los. Der Pfeil bleibt immer ein paar Schritte vor ihm, als würde er seine Bewegung vorherahnen. So oft hat er diesen Weg schon genommen! Und doch kommt er ihm heute seltsam vor. Er bewegt sich bergab und gleichzeitig bergauf. Das sind die Tücken der Relativität. Aaron stellt sich die kugelförmige Zentrale von außen vor. So kommt er besser zurecht.

Da ist auch schon die Küche. Sie ist durch eine dünne Wand abgetrennt. Der Pfeil erlischt, und eine Tür öffnet sich.

»Willkommen, Aaron«, sagt das Schiff.

Die Küche ist leer. Niemand hat hier gekocht. Entweder er hat sich den Geruch eingebildet, oder das Schiff hat ihn künstlich erzeugt.

Plötzlich hört er Schritte. Aaron dreht sich um. Es ist Benjamin. Er schwebt um 90 Grad versetzt an der Wand; es wirkt, als würde er an der Wand entlanglaufen. Der Ingenieur ist kleiner als er, aber genauso sportlich. Er hat dunkle, glatte Haare und einen ausgeprägten Seitenscheitel. Seine Augen sind von einem sanften Braun. Kuhaugen, hätten seine Kumpel in der Einheit gesagt.

Benjamin zieht hörbar die Luft ein.

»Riecht gut hier«, sagt er. »Hast du gekocht?«

Also hat er sich den Duft nicht eingebildet.

»Nein, sieht man doch, oder?«, fragt er zurück.

»Dann muss das Schiff den Geruch erzeugt haben.«

»Vielleicht, um uns Appetit zu machen. Regelmäßige Nahrungsaufnahme soll ja gesund sein.«

»Hallo, Jungs, habt ihr gekocht?«

Es ist Christine, die Astronomin. Sie taucht immer dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet.

»Nein, tut mir leid. Der Duft hat uns auch hergelockt«, sagt er.

»Dann kochen wir eben jetzt etwas«, sagt Christine leise, aber bestimmt.

Sie geht zu den hüfthohen Schränken an der Seite und öffnet eine Schublade nach der anderen.

»Hier haben wir Reis«, sagt sie, »und hier Nudeln.«

Dann läuft sie zum Kühlschrank. Als sie die Tür öffnet, dringen Nebelschwaden heraus, als sei der Kühlschrank mit flüssigem Stickstoff gefüllt.

»Oh, der Kühlschrank ist leer«, sagt Christine.

»Wie bitte?«, fragt Aaron.

Vorgestern war er noch voller frischem Gemüse gewesen. Er erinnert sich genau. Acht Möhren, vier Zucchini, mehrere Avocados und ein Rettich. Er hat sie selbst gezählt.

»Schiff, wo sind die Vorräte?«, fragt Christine.

»Es tut mir leid, es gab einen Zwischenfall im Kühlsystem, der auch die hydroponischen Gewächshäuser beeinträchtigt hat«, antwortet die Schiffsstimme aus einem in der Decke verborgenen Lautsprecher.

»Wann wird der Vorfall behoben sein?«

»Er ist schon behoben, aber alle frischen Lebensmittel wurden sicherheitshalber der Wiederverwertung zugeführt.«

»Wann wird es Nachschub geben?«

»Da die Gewächshäuser neu gestartet werden mussten, rechne ich in acht Wochen damit. Bis dahin stehen euch dehydrierte Vorratspackungen zur Verfügung.«

Na toll. Sie müssen also acht Wochen lang den Fertigfraß essen.

»Wir könnten trotzdem Nudeln kochen«, sagt Christine.

»Danke, mir ist der Appetit vergangen«, sagt Benjamin.

***

Aaron berührt vorsichtig die dünne Folie, zuckt aber gleich wieder zurück, weil sie so heiß ist. Zum Schutz schiebt er den Ärmel über die Finger und hält so die Schale fest. Dann sticht er mit dem Messer in der rechten Hand hinein. Er biegt die Folie nach oben, bläst kurz darauf und zieht sie dann ab.

Die Fertignahrung, angeblich Cajun-Chicken mit schwarzen Bohnen, sieht seltsam aus, riecht aber gut. Mit der Gabel nimmt er einen Bissen auf. Die Konsistenz ist cremig. Fleischfasern fehlen völlig. Was immer das ist, mit Huhn hat es nichts zu tun. Aber es schmeckt einfach faszinierend. Irgendetwas muss darin enthalten sein, das seine Geschmacksnerven reizt.

»Ziemlich lecker«, sagt Christine. »Benjamin verpasst etwas.«

»Ich hatte auch schon vergessen, wie gut das Zeug ist«, sagt Aaron. »Kein Vergleich mit dem Fertigfraß, den wir beim Militär essen mussten.«

Das Cajun-Chicken macht schnell satt. Er hat nicht einmal die Hälfte der Packung gegessen, bevor er die Plastikschale in die Mitte des Tisches schiebt. Ein surrendes Geräusch ertönt. Der Tisch öffnet sich, und die Schale verschwindet.

»Gut gekocht, Schiff«, sagt er.

»Danke, Aaron.«

»Kannst du uns das Rezept verraten?«

»Tut mir leid, ich kenne keine Rezepte.«

»Du willst das doch nicht etwa nachkochen?«, fragt Christine. »Es gibt bestimmt noch fünftausend Packungen davon im Lager.«

»Nicht hier, aber wenn wir wieder zu Hause sind, vielleicht.«

»Zu Hause!«

Aaron ist überrascht, wie verächtlich Christine diese beiden Worte ausspricht. Sie hat irgendwann schon einmal erzählt, dass sie die Flucht ergriffen hat. Aber die Verletzung, die sie davongetrieben hat, scheint noch immer weh zu tun, nach zwanzig Jahren!

»Wie kommst du mit deiner Forschung voran?«

Über ihre Arbeit redet sie immer gern. Christine wirft ihren langen Zopf über die Schulter und rückt die Brille zurecht. Sie ist schon 47, zwei Jahre älter als er, sieht aber immer noch aus, als wäre sie während des langen Flugs kein bisschen gealtert. Ihr Gesicht ist faltenlos, und ihre Haare haben noch keine einzige graue Strähne. So ist das wohl, wenn man sich oft sieht. Man bleibt gemeinsam jung. Seltsam eigentlich, dass sie nie zusammengekommen sind. Ist es ihre Ausstrahlung? Oder ist es eine natürliche Verhaltensweise, wenn drei Männer und eine einzige Frau so lange zusammen eingeschlossen sind? Vielleicht ist das so ein Überbleibsel aus der Evolution, ein Selbstschutzmechanismus: Bevor sich ihretwegen alle Männer gegenseitig umbringen, bleibt lieber jeder allein.

»Ich habe nichts, gar nichts«, sagt sie.

Ihre Stimme vibriert dabei auf ungewohnte Weise. Der Misserfolg macht ihr zu schaffen. Er wusste gar nicht, dass sie so ungeduldig ist.

»Die Sonden sind doch noch gar nicht in der optimalen Position«, sagt er.

»Das ist nicht das Problem«, sagt sie. »Wir müssten trotzdem etwas sehen, keine Details, aber irgendwas.«

»Ist etwas mit den Fotorezeptoren?«

»Mit allen auf einmal? Dann würden wir ja zumindest Schwärze sehen, und zwar scharfe Schwärze. Auch das Nichts kann scharf sein.«

»Ah, du siehst also doch etwas?«

»Wolken«, sagt Christine, »oder Nebel. Aber sie sind nicht fassbar, irgendwie wirkt alles wie verrutscht.«

»Das klingt … kompliziert.«

»Stell dir vor, jemand verbirgt etwas, das du unbedingt sehen willst, mit einem beinahe unsichtbaren, aber trotzdem undurchsichtigen Vorhang und rüttelt dauernd daran, so dass du nicht einmal die Falten des Vorhangs erkennen kannst.«

»Fies.«

»Ja, oder?«

Sie lächelt ihn an. Das Lächeln verwandelt seine Kollegin in eine wunderschöne Frau. Das ist gefährliches Terrain. Er senkt sofort den Blick.

»Wenn du den Vorhang nicht einmal nachgewiesen hast, kannst du ihn auch nicht zur Seite ziehen«, sagt er.

»Also muss ich herausfinden, wie der Vorhang beschaffen ist.«

»Das klingt sinnvoll. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich.«

»Danke, Aaron, das werde ich. Bringt ihr mir mal den Schwarm in Position. Wenn der Vorhang dann gelüftet ist, brauche ich möglichst viel Input.«

»Was erhoffst du dir eigentlich, Christine?«

Sie zögert. Vermutlich überlegt sie, wie viel sie ihm anvertrauen kann. Er wird sie nicht für dumm oder übergeschnappt halten, egal, was sie sagt. Jedes Crewmitglied hat sein eigenes Motiv für diese Reise. Seines ist … er drängt den Gedanken zurück.

»Ich … wir werden die Oberfläche von Trappist-1 sehen können.«

Schade. Ja, das ist zwar eines der offiziellen Missionsziele. Die Suche nach außerirdischem Leben, vielleicht sind wir nicht allein im All, bla, bla, bla. Aber sollten sie tatsächlich auf Leben stoßen, wird das keine praktischen Auswirkungen haben, weil es zu weit entfernt sein wird, um sinnvoll kommunizieren zu können. Die Solar Gravity Lens ist jedoch noch zu viel mehr fähig.

»Okay«, sagt Christine, »das ist nicht alles. Ich will … ich will den Anfang sehen. Den Anfang von allem. Das Nichts, aus dem wir entstanden sind. Wir können ihm so nah kommen wie noch nie jemand vor uns.«

»Ihm?«

»Dem Nichts. Dem Urknall, der daraus entstand.«

Natürlich. Sie ist Wissenschaftlerin. Er nicht. Er ist Militärpilot. Seine Eltern sind zwar orthodoxe Juden, aber er war selbst nie gläubig und hat die Religion nie praktiziert. Er sucht trotzdem nach dem, der dieses Nichts zu einem Etwas geformt hat. Er will, er muss ihm eine Frage stellen: Warum hast du meine Frau sterben lassen, während ich im Krieg war? Warum nicht mich?

Houston

10. Januar 2079

»Kann ich etwas für Sie tun?«

Rachel betrachtet den unförmigen Mann, der ihr den Weg versperrt. In seinen kurzen, hellen Hosen und dem ausgeleierten T-Shirt sieht er aus wie ein Tourist. Ob er sich verirrt hat? Die erste Besichtigungstour läuft schon. Sie sieht auf das elektronische Tattoo über ihrem Handgelenk. Es ist gleich zehn. Wenn der Typ nicht bald verschwindet, kommt sie schon am ersten Tag im neuen Job zu spät.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragt sie noch einmal.

Ihrer Stimme ist der Ärger anzuhören. Eigentlich sollen sich alle NASA-Mitarbeiter den Touristen gegenüber stets freundlich geben. Aber der Mann scheint sich nicht an ihrem genervten Ton zu stören. Er dreht sich nicht einmal um. Schweißtropfen glänzen auf der Speckrolle in seinem Nacken. Immer wieder zieht er eine Plastikkarte durch den Scanner. Das Gerät piepst dann doppelt, und der Mann zerrt an der Türklinke. Begreift er denn nicht, dass er offenbar keine Zugangsberechtigung besitzt?

»Sir«, sagt Rachel, »ich fürchte, Sie sind hier falsch. Ihre Karte funktioniert nicht.«

Er dreht sich um. Endlich hat er sie gehört. Vielleicht kommt sie doch noch pünktlich. Seine Stirn glänzt, ein paar dünne Haare kleben darauf. Er hat kleine Augen, feiste Wangen und einen leicht panischen Blick. Der Mann erinnert sie an ein Kind, das vom Weg abgekommen ist und nun seinen Retter gefunden hat.

»Aber sie muss gehen«, sagt der Mann. »Die Security hat sie mir gerade erst ausgestellt. Ich muss doch pünktlich sein.«

Sein Blick bekommt etwas Flehendes, während er ihr die Karte hinhält. Rachel ist zwar genauso fremd hier wie er, aber anscheinend strahlt sie die Erfahrung einer langjährigen NASA-Mitarbeiterin aus. Sie nimmt die Karte und liest die Beschriftung. »Gast« steht darauf.

»Ich bin Charles Dickenson«, sagt der Mann, der wohl ihren fragenden Gesichtsausdruck bemerkt hat. »Ich komme von Alpha-Omega. Das ist …«

»Ich weiß«, sagt Rachel, »die Organisation hinter dem SGL-Projekt.«

»Manche halten Alpha-Omega für einen Ort«, sagt der Mann und wischt sich mit dem linken Handrücken Schweiß von der Stirn. Rachel ist versucht, einen Schritt zurückzutreten, um nicht von irgendwelchen Tropfen getroffen zu werden.

»Ist heiß heute«, sagt der Mann, nickt entschuldigend und tritt einen Schritt zur Seite.

Er muss ihren Impuls bemerkt haben. Aufmerksam ist er jedenfalls, und das ist doch schon mal was. Zumal sie wohl in den nächsten Jahren eng zusammenarbeiten werden. Es war ja klar gewesen, dass man ihr keine völlig freie Hand lassen würde. Aber dass Alpha-Omega gleich an ihrem ersten Tag einen persönlichen Aufpasser schickt? Die Mission muss ihnen wirklich wichtig sein.

»Ich bin Rachel Schmidt«, stellt sie sich vor, ohne dem Mann die Hand hinzuhalten. »Die neue CapCom der Mission.«

»Angenehm«, antwortet er. »Dann werden wir uns in Zukunft wohl öfter sehen.«

Sie hält ihr Tattoo an den Kartenleser. Das Gerät piepst einmal, dann ist ein metallisches Knacken zu hören. Rachel stößt die Tür auf.

»Sie sollten sich auch so ein Tattoo machen lassen«, sagt sie. »Ich werde Ihnen nicht immer die Tür öffnen können, Mr. Dickenson.«

»Charles«, sagt er. »Bitte nenn mich Charles. Oder Charlie, wenn dir das lieber ist.«

Rachel hält die Tür fest, während der dicke Mann hindurchgeht. Sie rümpft die Nase. Das geht ein bisschen zu schnell. Aber andererseits – die Mission ist auf zunächst einmal vier Jahre angelegt. Sie wird sowieso nicht darum herumkommen, Charlie in der langen Zeit näher kennenzulernen. Sie wird erfahren, was er mit der Familie unternimmt, er wird ihr aus dem Urlaub erzählen und von seinen Kindern, während sie ihn mit Allgemeinplätzen hinhalten wird, weil ihr Leben außerhalb der Arbeit niemanden etwas angeht. Sie wird ihn früher oder später beim Vornamen nennen, also kann sie auch gleich damit anfangen.

»Rachel«, sagt sie. »Nenn mich Rachel. Oder auch Rachel. Aber niemals Ray, Rach oder Rachy.«

Charles läuft den schmalen Gang entlang und lacht. Sie folgt ihm. Es riecht nach frischer Farbe. Das Licht ist etwas zu hell, und es ist eiskalt.

»Verstehe. Wusstest du, dass Rachel so viel wie Mutterschaf bedeutet?«

Ja, das haben ihr ihre nicht jüdischen Klassenkameraden oft genug vorgehalten. Rachel schüttelt den Kopf.

»Nie gehört«, sagt sie und bemüht sich um einen ernsthaften Gesichtsausdruck.

»Oh, wirklich?«

Charles bleibt mit einem Mal stehen, und Rachel prallt beinahe auf ihn. Sie nickt.

»Ich finde das besonders bemerkenswert«, sagt er, »weil unser Schiff da draußen Shepherd-1 heißt und die Sonden wohl alle zur Typklasse ›Sheep‹ gehören.«

»Was für ein Zufall«, sagt sie.

Ein Schauder läuft über ihren Rücken, denn das ist ihr tatsächlich noch nicht aufgefallen. Wäre sie selbst darauf gekommen, hätte sie es vielleicht als Zufall abgetan. Aber aus Charles’ Mund klingt es, als stünde eine geheime Absicht dahinter.

***

Rachel lehnt sich in ihrem Sessel nach hinten. Vor ihr fummelt ein Techniker in einem orangefarbenen Overall an der Rückseite des rechten Bildschirms herum. Das MOC, das Mission Operations Center, scheint extra für sie renoviert worden zu sein. Rachel dreht sich nach links. Eine Reihe hinter ihr hat sich Alison über ihren Schreibtisch gelegt und zerrt an einem Kabel. Alison ist MOM dieser Mission und damit ihre direkte Vorgesetzte. Hoffentlich bekommen die Techniker das Chaos bald in den Griff. Und sie hat sich extra beeilt, um auch ja pünktlich zu ihrer ersten Schicht zu erscheinen!

Sie hat noch Alishondras langgezogenes Schluchzen im Ohr. Ihre kleine Tochter hatte herzzerreißend geweint, als sie sie bei ihrer Oma gelassen hatte. Sie hätte wirklich schon eher damit anfangen sollen. Aber irgendwie hatte sie Alishondras Anwesenheit nach ihrer Trennung so sehr genossen, dass sie nicht loslassen wollte. Eigentlich mag Alishondra ihre Großmutter ja. Bestimmt hat sie sich längst beruhigt. Rachel sieht auf das Tattoo. Es ist erst kurz nach zwölf. Nein, sie sollte ihre Tochter jetzt nicht anrufen. Bestimmt hält sie gerade Mittagsschlaf.

Jemand tippt sie am Knie an. Rachel schreckt auf. Es ist der Techniker.

»Mam? Darf ich Sie stören? Ich bin hier fertig. Sie können sich jetzt einloggen.«

»Danke«, sagt Rachel und richtet sich auf.

Der Techniker entfernt sich. Devendra, der Flight Manager, winkt ihn zu sich. Rachel zieht die Tastatur heran und gibt ihre Logindaten ein. Auf dem Bildschirm öffnen sich gleich mehrere Statusanzeigen der Shepherd-1 und der vierköpfigen Crew. Sie betrachtet die Vitaldaten der Astronauten. Alle vier schlafen noch. Ihre Körpertemperatur ist etwas niedrig, aber im Rahmen des Erwartbaren.

Nein, Rachel, pass auf, mahnt sie sich. Das ist eine ganz besondere Mission. Was sie hier sieht, ist der Zustand, der vor gut vier Tagen geherrscht hat. So lange haben die Daten gebraucht, um vom Deep Space Network aufgefangen zu werden. Shepherd-1 ist die erste bemannte Expedition über die Grenzen des Sonnensystems hinaus.

Sie holt sich die Daten ihrer vier Astronauten nach vorn. Aaron, Benjamin, Christine und David, schöne Namen. Rachel öffnet ihre Personalbogen. Benjamin, diplomierter Ingenieur, ist Franzose. Sie wird ihn als Erstes fragen, wie er genannt werden will und ob sie seinen Namen französisch aussprechen soll. Auf dem Bild wirkt er wie ein Clochard. Vermutlich hat jemand das Foto kurz nach einem anstrengenden Training geschossen. Aaron ist Israeli. Das israelische Verteidigungsministerium ist – neben der NASA und Alpha-Omega – einer der Missionspartner. Er sieht stark und durchsetzungsfähig aus. Zu seiner Vergangenheit ist nur erwähnt, dass er bei den Spezialkräften gedient hat. David ist der Einzige, dessen Spitzname im Dossier erwähnt wird: »Dave«. Er soll eine Navy-Ausbildung hinter sich haben. Mit 38 Jahren ist er der Jüngste der Crew. Das heißt, zum offiziellen Starttermin der Shepherd-1 kann er erst 18 gewesen sein. Christine ist die einzige Frau an Bord – und die einzige Wissenschaftlerin. Mit ihr fühlt sie sich seltsamerweise sofort verbunden. Sie braucht nur ihr Bild anzusehen, um die Schwester in ihr zu sehen, die sie nie hatte. Die Biographie könnte ihre eigene sein, der Vater, der ihr nur seine Anerkennung zeigte, wenn sie exzellente Leistungen erbrachte, die Mutter, die sie mit ihren eigenen Sorgen zuschüttete – es kommt ihr fast so vor, als sei Christine ein Duplikat ihrer selbst. Aber das ist natürlich Quatsch.

»Na, noch ein bisschen Recherche vor dem großen Tag?«

Rachel erschrickt und schließt schnell das Personalmodul. Charles steht neben ihr und betrachtet ihren Bildschirm. Die persönlichen Daten der Crew gehen ihn aber nichts an.

»Sorry, aber das ist intern«, sagt sie in schneidendem Ton.

»Entschuldige. Ich wollte nicht spionieren.«

Sie betrachtet Charles’ Gesicht. Der Schweiß ist getrocknet. Ihre Worte haben eine tiefe Falte auf seine Stirn gezeichnet. Sie hat gar nicht gewusst, dass sie dazu fähig ist.

»Ich sitze da vorn«, sagt er.

Charles zeigt auf einen Schreibtisch vorn rechts. »Science Operations« sagt ein Schild darauf. Je weiter vorn jemand sitzt, desto unwichtiger ist er. Eigentlich. Aber auf Charles scheint das nicht zuzutreffen. Sie weiß nicht, woher sie das weiß. Aber selbst MOM hat ihn mit einem eigenartigen Respekt begrüßt.

Mit einem Mal wird der Raum dunkel.

»Signal von Dog-1«, ruft eine männliche Stimme durch den Raum.

Zwei der drei riesigen Schirme an der Frontseite des MOC haben sich abgeschaltet. Die Aufgabe der Dog-Satelliten besteht darin, die zahlreichen Sheep-Sonden zu überwachen. In jeder Sheep-Gruppe gibt es ein oder zwei Dogs. Der mittlere Bildschirm zeigt jetzt, was Dog-1 gerade sieht. Es ist Shepherd-1, das schnellste und leistungsfähigste Raumschiff, das die Menschen je gebaut haben.

»Wow«, sagt Charles.

Als Mitarbeiter von Alpha-Omega müsste er das Schiff eigentlich schon gesehen haben. Aber Rachel kennt die Daten ja auch – und ist trotzdem fasziniert. Die Shepherd-1 sieht aus wie ein in einem Höllenschlund geschmiedetes Atommodell. Seine Struktur scheint rot glühend zu wabern, was wohl an der Infrarotaufnahme liegt. Sie besitzt einen rundlichen Kern, der von fünf deutlich kleineren Begleitern umgeben ist, die ihn an dünnen, ausgesprochen zerbrechlich wirkenden Speichen umkreisen.

»Da wäre ich gern an Bord«, sagt Rachel und ärgert sich sofort darüber.

Ihre Wünsche gehen niemanden etwas an, schon gar nicht Charles, der nicht einmal NASA-Angestellter ist. Sie ist als CapCom vor allem der Crew verpflichtet, und diese Aufgabe wird sie auch erfüllen. Sich mit einem der Kollegen anzufreunden, ist dabei nur hinderlich.

Shepherd-1

15. März 2094

»Die erste Welle ist jetzt komplett«, sagt David, ihr Navigator.

Er zeigt mit dem Finger auf ein paar blinkende Symbole an der Wand. Dort, wo seine Fingerspitze hinzeigt, erscheint ein roter Lichtpunkt.

»Seht ihr?«

Er bewegt die Hand auf und ab, und der Lichtpunkt bewegt sich in einem engen Kreisbogen.

»Das ist der Fokusbereich«, erklärt David. »Er durchmisst nur etwa 1,3 Kilometer. Wir haben es geschafft, den Schwarm in diesem Bereich zu konzentrieren.«

Eigentlich kennen alle diese Fakten. Und es war, vielleicht von Sheep-23 abgesehen, auch nicht ihre Leistung, dass die Sonden so perfekt navigiert haben. Aber Aaron versteht ihn schon. Er fliegt nun einmal als Navigator mit und muss deshalb solche Reden halten.

»Genau genommen hat es der Schwarm selbst geschafft, so eng beieinanderzubleiben«, sagt Benjamin.

Aaron zwinkert ihm zu. Lass ihn doch, soll das heißen, aber Benjamin kann oder will ihn nicht verstehen.

»Gut, bei Sheep-23 haben Aaron und ich ein bisschen nachhelfen müssen, aber sonst waren es wohl vor allem die Dogs, die die Arbeit gemacht haben«, redet Benjamin weiter.

»Das ist mir schon klar«, sagt David, »aber wir waren die ganze Zeit im Hintergrund. Wenn etwas geschehen wäre …«

»… hätten wir gar nicht eingreifen können, weil die Shepherd erst zu langsam und dann zu schnell für den Schwarm war«, widerspricht Benjamin.

Womit er zweifellos recht hat. Das riesige Schiff auf Reisegeschwindigkeit zu bringen, hat nun einmal länger gedauert als bei einer Sonde von etwa 200 Kilogramm Masse, und auch das Bremsen war aufwendiger gewesen.

»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagt Christine.

Die Astronomin ist aufgestanden. Sie läuft zu der Wand, auf die David den Schwarm projiziert hat, und wischt das Bild mit wedelnden Handbewegungen weg.

»Das hier ist unser Problem«, sagt sie.

»Das hier?«, fragt David.

»Das ist das Bild, das sich aus den Aufnahmen des Schwarms ergibt.«

»Aber da ist ja nichts.«

»Eben, David. Damit müssen wir uns dringend beschäftigen, und zwar möglichst vor dem nächsten Kontakt mit dem MOC.«

Warum hat sie es so eilig? Christine war in den vergangenen zwanzig Jahren die Ruhe selbst.

»Wenn ihr euch fragt, warum ich es so eilig habe: Wir sind nun seit zwanzig Jahren unterwegs. Das Projekt ist eine riesige Investition. Die NASA ist wegen der Finanzierung unserer Expedition nicht zum Saturn geflogen. Die Menschheit hat also ein paar Antworten verdient, oder? Zumindest ein paar kluge Fragen sollten wir Mission Control stellen können. Dort unten haben sie ja wesentlich mehr Ressourcen, dem Problem auf die Schliche zu kommen.«

Aaron zieht die Stirn in Falten. Das ist eine plausible Argumentation, beinahe hätte sie ihn überzeugt. Aber es ist ja auch egal. Natürlich will er selbst ebenfalls möglichst schnell Ergebnisse sehen.

»Du bist die Astronomin«, sagt Benjamin. »Als kleiner Ingenieur wüsste ich nicht, was ich da beitragen könnte.«

»Hast du nicht die Architektur des Lofar NG mitentwickelt?«, fragt Christine. »Dann kennst du dich doch mit möglichen Problemen eines Teleskop-Arrays aus.«

»Das war ein Radioteleskop mit ziemlich primitiven Antennen.«

»Na komm, du weißt selbst, dass der einzige Unterschied die Frequenz der elektromagnetischen Strahlung ist.«

»Ja, Christine, aber ich hasse das Programmieren. Ich baue gern etwas mit meinen eigenen Händen.«

»Du sagst also, es liegt nicht an der Hardware, sondern an den Algorithmen, die die Daten auswerten?«

»Ja, davon müssen wir ausgehen«, antwortet Benjamin.

Aaron muss ihm recht geben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Messinstrumente des kompletten Schwarms während des Flugs hierher dejustiert wurden.

»Ich sehe mir die Software gern mit dir zusammen an«, schlägt Aaron vor.

Aber Christine gibt keine Ruhe.

»Wie groß ist denn die Fehlertoleranz des Systems, also welcher Anteil darf ausfallen, ohne die Mission zu gefährden?«, fragt sie.

Das sollte sie eigentlich selbst wissen.

»Ein Drittel«, sagt David.

»Und bei systematischen Fehlern?«

»Wie meinst du das?«, fragt David.

»Angenommen, die Navigation irrt sich ein bisschen.«

Darauf will sie also hinaus. Natürlich, wenn der Schwarm den Fokusbereich gar nicht erreicht hat, können auch keine scharfen Bilder entstehen. David wird rot. Es ist ein krasser Misstrauensbeweis, schließlich ist er für die Navigation zuständig.

»Ich … das kann ich ausschließen. Keine der Sonden zeigt irgendwelche Abweichungen. Ich habe das immer wieder kontrolliert.«

Davids Hände zittern. Er setzt sich hin und legt sie in seinen Schoß.

»David, das soll kein Vorwurf sein. Der Schwarm navigiert ja anhand mehrerer Pulsare. Es kommt immer wieder vor, dass sie ihre Eigenschaften ändern. Wenn das Licht eines Leuchtturms plötzlich stärker wird, kommen Schiffe, die sich darauf verlassen, ja auch vom Weg ab, obwohl der Leuchtturm seine Position nicht verändert.«

»Die Pulsare wurden wegen ihrer besonderen Stabilität ausgesucht«, erwidert David leise.

Das ist ein schwaches Argument. Wie stabil ein Himmelskörper bisher auch war, er kann sich jederzeit verändern.

»Es wäre nicht dein Fehler. Mission Control hätte so etwas bemerken und uns darauf aufmerksam machen müssen«, sagt Christine. »Wir sollten sie auf jeden Fall danach fragen.«

»Wenn du möchtest, gehen wir nachher zusammen die Algorithmen durch«, sagt Aaron.

»Gern«, antwortet Christine. »Aber lass uns zunächst eine Anfrage an Mission Control formulieren. Ich hätte die Probleme gern schnellstmöglich geklärt.«

Shepherd-1

16. März 2094

»Licht aus.«

David steht allein in der Schwärze des Alls. Rings um ihn blinken ferne Sterne.

»Schwarm 1 einblenden.«

Mindestens zehn rote Kreuze leuchten vor ihm auf. Er dreht sich und erkennt die Symbole weiterer Sonden. Er befindet sich mitten unter ihnen.

»Statusvektoren.«

Alle Sonden feuern plötzlich ihre Laser ab. So wirkt die Darstellung jedenfalls. Dünne grüne Linien zeigen, in welche Raumrichtung sich eine Sonde bewegt. Rote Linien symbolisieren ihren aktuellen Geschwindigkeitsvektor. Bis auf Sheep-23 scheinen alle Vektoren parallel zu verlaufen. Er zieht die Strahlen durch eine Handbewegung zu sich heran. Ja, auch in der Vergrößerung ist alles okay. Christine muss sich geirrt haben.

»Fokuslinie ein.«

Ein röhrenförmiger Bereich wird plötzlich von rötlich leuchtendem Nebel erfüllt. Das ist das Gebiet, in dem die Sonden gemeinsam ein scharfes Bild auffangen müssten. Alle befinden sich darin. Bestens! Er hat doch gute Arbeit geleistet. David knetet seine Hände. Ein solch fataler Fehler wie damals, auf der Nachtfahrt mit Rick, wird ihm nicht noch einmal passieren.

Er steht auf und dreht sich um. Die Fokuslinie läuft auf einen weißen, ziemlich hellen Stern zu. Dort sind sie hergekommen. In der Nähe, auf der Erde, auf dem Baltimore National Cemetery, ist sein Freund Rick begraben, der durch seine Schuld gestorben ist, obwohl ihm dafür nie jemand Vorwürfe gemacht hat. Das ist lange her.

In der Virtuellen Realität ist nicht erkennbar, was die Navigation so kompliziert macht. Denn die Fokuslinie muss durch das Gravitationszentrum des Sonnensystems verlaufen, das sich ein kleines bisschen abseits des Kerns der Sonne befindet – woran vor allem Jupiter schuld ist. Und dann bewegt sich das komplette System ja auch noch mit 960000 Kilometern pro Stunde um das galaktische Zentrum. Unter diesen Umständen ein Teleskop dauerhaft gerade auf das Ziel zu halten, ist eine echte Leistung – und sie haben es geschafft.

David dreht sich zurück. Die Sonne sehen zu müssen, macht ihn immer auf seltsame Weise traurig. Vor ihm liegen wieder die dunklen Abgründe des Kosmos.

»Röntgenquellen einblenden«, sagt er.

Die Simulation blendet mehrere blaue, pulsierende Kugeln in sein Sichtfeld ein. Er zählt sie durch. Es sind siebzehn, siebzehn Pulsare, deren Röntgenabstrahlung sich so verändert, dass die Sonden daraus ihre Position triangulieren können. Siebzehn Leuchttürme, die auch aus größter Entfernung noch sichtbar sind – das ist ein Luxus, den nur Raumschiffe sich leisten können.

David betrachtet einen der Pulsare genauer. Das System bemerkt seinen Blick und zeigt die Bezeichnung des Objekts, PSR B1919+21, sowie seine für die Positionsbestimmung wichtigen Daten. PSR B1919+21 ist ein Klassiker. Seine Periode, 1,337 Sekunden, kennt jeder, der sich für Neutronensterne interessiert. Die Werte stimmen. David wechselt zu einem anderen Pulsar. PSR J0437–4715 rotiert so schnell, dass die Sonden pro Sekunde fast 174 Röntgenpulse von ihm empfangen. Auch hier entsprechen die Werte seiner Erinnerung. Er hat alle siebzehn auswendig gelernt, um jeden Irrtum schon im Ansatz vermeiden zu können.

Welche Fehlerquellen kommen noch in Frage? Eine Rotverschiebung der Frequenzen vielleicht? Sie fliegen zwar schnell, aber der dadurch entstehende Dopplereffekt ist in den Algorithmen schon berücksichtigt. Und wenn es eine relativistische Störung ist? Dann müsste es zwischen ihnen und den Pulsaren eine größere, bisher unbekannte Masse geben, die das Röntgenlicht in ihren Potenzialtopf zieht und dadurch seine Laufzeit verlängert. Aber man hat ja absichtlich Pulsare in allen Himmelsrichtungen gewählt. Die unbekannte, unsichtbare Masse müsste sich also in direkter Nähe befinden. Ein bisher nicht entdeckter Planet scheidet deshalb aus. Ein Schwarzes Loch planetarer Größe käme in Frage. Das wäre eine aufsehenerregende Entdeckung, denn die Astronomen versuchen schon lange, Schwarze Löcher ebendieser Klasse nachzuweisen.

»Simuliere ein punktförmiges Objekt von Jupiter-Masse in einem Orbit von 1000 Astronomischen Einheiten«, befiehlt er.

1000 AE, das ist die tausendfache Entfernung der Erde von der Sonne. Das Schwarze Loch müsste sich also noch 450 AE weiter draußen befinden als sie. David hat keinen Anhaltspunkt, ob das einigermaßen realistisch ist, aber irgendwo muss er ja anfangen. Die Darstellung verschwimmt kurz, dann erscheinen alle Sterne und der komplette Schwarm wieder. Auf den ersten Blick hat sich nichts geändert.

»Zeige durch das simulierte Objekt induzierte Abweichungen.«

Vor allem die Fokuslinie müsste sich verändern. David verfolgt sie, doch es ist keinerlei Abweichung zu sehen. Offenbar ist sie so gering, dass das System sie nicht darstellen kann. Das Schwarze Loch müsste sich also näher an der Sonne befinden. Kommt es jedoch zu nah, hätten es die Astronomen längst wegen seiner Auswirkungen auf die Bewegung der äußeren Planeten entdecken müssen. Spätestens seit sie endlich den sagenumwobenen neunten Planeten gefunden hatten, ein marsgroßes Objekt, das heute in allen Sprachen der Menschheit Unity heißt, waren seltsame Abweichungen in den Orbits transneptunischer Objekte weitgehend erklärbar geworden.

»Rücke simuliertes Objekt auf 700 Astronomische Einheiten heran.«

Die Darstellung löst sich in Millionen Lichtpunkte auf, als zerfalle das Universum zu Sternenstaub. Dann setzt sie sich wieder zusammen. David dreht sich um. Wohin zeigt die Fokuslinie? Wenn das fiktive Schwarze Loch irgendeine Auswirkung hätte, müsste sich die Linie verschoben haben. Er vergrößert den Bereich der inneren Planeten und folgt weiter der Fokuslinie. Mars fliegt, sich aufblähend, an ihm vorbei. Die Erde trifft ihn knapp. Er zuckt zurück, weil die Simulation so überzeugend ist. Von der Venus ist nichts zu sehen, sie versteckt sich hinter der Sonne. Merkur wird vom Tennis- zum Fußball. Dann erreicht er, die Röhre des Fokusbereichs entlanggleitend, den Kern der Sonne – und passiert ihn exakt im geometrischen Zentrum, nicht im Schwerpunkt.

Ist das die Ursache für Christines Probleme? Gäbe es im Sonnensystem ein Schwarzes Loch von Jupiter-Masse, würde es, das beweist die Simulation, den Fokusbereich verschieben – und die Bilder der Solar Gravity Lens wären unscharf. Das ist klar. Aber gibt es denn ein Schwarzes Loch? Wenn es noch niemand gefunden hat, weil es die Bewegung der anderen Planeten nur unmerklich beeinflusst, wie sollen sie dann seine Existenz beweisen? Moment. Er hat nicht beachtet, dass das Sonnensystem ja nicht stillsteht. Alles bewegt sich, und zwar in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das vom Schwarm aufgenommene Bild müsste sich also mit der Zeit umgestalten. Es würde zwar unscharf bleiben, aber die Art der Unschärfe sollte sich verändern. Wer es nicht ahnt, kommt nicht darauf. Aber wenn sie wissen, wonach sie suchen müssen, sollte es möglich sein, die Existenz des Schwarzen Lochs zu beweisen.

Das wäre etwas. Selbst wenn sie nie einen Blick auf Trappist-1 oder den Anfang des Universums werfen können, wäre er Mitentdecker des ersten Schwarzen Lochs in Erdnähe. Vielleicht kann er im Namen eine Erinnerung an seinen Freund unterbringen. Er muss dringend mit Christine sprechen. Sie hat die Messdaten, in denen die periodische Veränderung nachzuweisen sein müsste.

Houston

11. Januar 2079

»DSN online«, ruft ein junger Mann mit irischem Akzent von links.

Rachel steht auf.

»Was ist denn los?«, fragt eine weibliche Stimme hinter ihr.

Sie dreht sich um. Auf dem Platz, der gestern noch leer gewesen war, sitzt jetzt eine attraktive Frau mittleren Alters mit dunkler Haut, langen schwarzen Haaren und rot geschminkten Lippen. Sie muss neu sein. Rachel liest das Schild auf ihrem Tisch. »Systems Analyst« steht dort. Kein Name. Die Frau kommt also von irgendeinem Geheimdienst. Meist sitzen deren Abgesandte hinter der nur halb transparenten Scheibe. Ist es dort schon so voll, dass sie die Frau nach vorn setzen mussten?

»Ich bin Aurora«, sagt die Fremde, steht ebenfalls auf, lächelt freundlich und streckt die rechte Hand aus.

»Rachel, CapCom. Sehr angenehm«, antwortet sie. »Jetzt kommt gleich meine erste Kommunikation von der Shepherd-1. Auf dem mittleren Bildschirm.«

»Danke. Ich bin noch ganz neu hier.«

»Kein Problem.«

Rachel dreht sich nach vorn.

»Madrid ist live«, sagt der Ire vom DSN, dem Deep Space Network.

Gleich ist es so weit. Der Projektor heult schon einmal vorbeugend auf. Und da sind sie. Vier Gesichter sehen sie an. Es wirkt, als wäre alles von oben herab gefilmt, aber das täuscht. Die vier Astronauten schweben schwerelos flach über dem Boden.

»Sehr originell«, sagt Aurora von hinten. »Oh, Entschuldigung.«

Rachel dreht sich kurz um. »Keine Sorge, das ist keine Live-Unterhaltung, dafür sind sie zu weit weg.«

Wo ist eigentlich Charles? Sie mustert die vorderen Reihen. Wenn sogar die Geheimdienste dabei sind, sollte Alpha-Omega doch nicht fehlen. Sein Schreibtisch mit dem »Science Operations«-Schild ist leer.

»Hallo, Erde, hallo, MOM, hallo, CapCom!«

Christines Stimme klingt blechern. Vermutlich ist die Lautstärke übersteuert, weil sie zu leise spricht. Das Video an der Wand stockt immer wieder. Die Daten kommen offenbar live herein. Christines Mund öffnet und schließt sich ruckartig. Rachel winkt ihr zu, obwohl sie es nicht sehen kann. Im gleichen Moment winkt die Astronautin zurück. Rachel lächelt. So ein Zufall! Christine ist ihr sympathisch. Da es sich bei dem SGL-Projekt um eine Wissenschaftsmission handelt, ist sie als Astronomin auch die Kommandantin des Schiffes.

Es hatte lange Diskussionen darüber gegeben, ob es sich wirklich lohnen würde, eine Crew auf eine so weite Reise zu schicken. Aaron, Benjamin, Christine und David waren der Kompromiss gewesen, auf den man sich schließlich geeinigt hatte. Alpha-Omega hatte alle Kosten und die Ausbildung für sie übernommen, aber welche Kröte hat die NASA dafür schlucken müssen? Es geht sie zwar nichts an, aber Rachel hat das Gefühl, dass sie diese Frage noch beschäftigen wird.

Christine erstattet Bericht. Sie ist absolut professionell und vergisst nicht, ihre Kollegen an den passenden Stellen zu loben. Reporter sind heute nicht zugelassen, aber wären welche da, hätten sie die Übertragung vermutlich schon gelangweilt verlassen. Eine Raummission? Spannend, aber nur, wenn etwas schiefläuft. Der Anfang des Universums ist den meisten zu weit weg. Dass womöglich eine der Grundfragen der Physik, ja der menschlichen Existenz gelöst werden könnte, ist erst eine Meldung wert, wenn auch die Antwort bereitsteht. Rachel seufzt, und fast im selben Moment seufzt auch Christine auf der Projektion. Was hat sie gerade gesagt? Sie muss besser aufpassen, denn sie muss der Crew die Antwort von Mission Control übermitteln.

»Wir sind auf eure Antwort gespannt«, sagt Christine zum Abschluss. »Vielen Dank für eure Unterstützung.«

Die Zuhörer im Saal applaudieren kurz, wie es üblich ist.

»Ihr habt es gehört«, sagt MOM, »also an die Arbeit. Oder gibt es noch Fragen? Ungeklärte Zuständigkeiten?«

Niemand meldet sich.

»Gut. In zwei Stunden sollte jeder die nötigen Informationen parat haben. Dann wird der CapCom unsere Antwort aufzeichnen. An die Arbeit!«

Raumkapsel B

17. März 2094

Nun gut. Wenn Mission Control darauf besteht, wird er eben nachsehen. Er weiß zwar sowieso schon, dass das ein vollkommen sinnloser Ausflug wird, aber zumindest ist es eine Abwechslung.

»Klammern lösen«, befiehlt er.

Benjamin hört ein metallisches Schaben, als würde jemand von außen mit einer Nadel an seiner Kabine kratzen. Ein buchstäblich haarsträubendes Geräusch.

»Klammern gelöst«, antwortet das Schiff.

»Handsteuerung.«

»Ich empfehle, bei der Automatik zu bleiben, Benjamin. Beim Aktivieren der Handsteuerung erhöht sich das Unfallrisiko auf 0,05 Prozent.«

Das Schiff spricht seinen Namen korrekt aus. Pariser Akzent, ganz eindeutig. Wenn er seine Kollegen nur auch so weit brächte.

»Handsteuerung«, sagt er.

Es wäre ja noch schöner, wenn er sich von dem Schiff bevormunden ließe. Aber er ist stolz auf sich. Nur 0,05 Prozent Risiko! Neulich hatte das Schiff noch 0,2 Prozent berechnet. Seitdem hat er die Kapsel fünfmal mit der Hand geflogen. Die niedrigere Gefahrenquote ist der Lohn dafür.

»Übergebe Steuerung.«

»Danke, Shepherd-1.«

Mit dem Joystick an der rechten Armlehne lässt er die Steuerdüsen am Bug feuern. Ganz langsam setzt sich die Kapsel vom Mutterschiff ab, wie eine Perle, die sich aus einem Armreif löst. Es ist eine ziemlich praktische Konstruktion. Sollten sie sich mal nicht mehr verstehen, könnte jeder in seiner eigenen Kabine davonfliegen. Aber natürlich ist der technische Hintergrund ein anderer. Es geht um Redundanz. Sollte seine Kapsel von einem Asteroiden getroffen werden, würde der Rest der Crew davon kaum etwas merken. Hilfe von der Erde können sie hier draußen sowieso nicht erwarten.

Benjamin öffnet seinen Hosenknopf. So ist es bequemer. Die Nahrung schmeckt zwar nicht besonders, aber er hat trotzdem das Gefühl, an Gewicht zugelegt zu haben. Das macht ihm Sorgen, denn seine Figur ist ihm wichtig. Vermutlich bewegt er sich zu wenig. Gut, dass ihn hier drin wenigstens niemand beobachten kann.

Jetzt kommt der wohl gefährlichste Moment des Ausflugs. Das Schiff hat der Kapsel beim Ablösen einen Impuls übertragen. Sie ist zwar nach wie vor schwerelos, aber sie entfernt sich gerade mit derselben Geschwindigkeit vom Schiff, mit der sie sich zuvor am Ring um das Schiff gedreht hat. Wenn er den Schwarm erreichen will, muss er diese Geschwindigkeit kompensieren und zugleich den Kurs anpassen.

Vorsichtig gibt er seitlichen Schub. Er darf nicht übersteuern, weil die Kapsel sonst selbst in Rotation gerät. Er darf sich aber auch nicht zu viel Zeit lassen, denn dann dauert der Flug zu lange. Benjamin kneift die Augen zusammen. So kann er die Flugdaten auf dem Bildschirm besser erkennen. Er muss sich unbedingt eine Brille besorgen. Die zwanzig Jahre im All haben ihre Spuren hinterlassen. Langsam nähert sich die rote Linie der grünen an. Dann folgt ein sattes Kling-Klong. Er hat es geschafft. Benjamin stellt das Manövriertriebwerk rechts auf eine feste Leistung und aktiviert den Hauptantrieb. Die Trägheit drückt ihn gegen die linke Sessellehne, während die Kapsel eine langgezogene Kurve zieht und um die Shepherd-1 herum in Richtung Schwarm fliegt.

***

Die Shepherd-1 ist nur noch zu sehen, wenn das Navigationsmodul sie auf dem Display markiert. Benjamin beugt sich nach vorn und drückt die Taste, die den Bildschirm ausschaltet. Dann greift er nach oben zum Bedienpult der Lebenserhaltung. Sauerstoff, Kohlendioxid, Wasserdampf, Temperatur – er deaktiviert alle Regler. Das Volumen der Kapsel ist so groß, dass er tagelang ohne Luftaufbereitung atmen könnte, und wenn die Temperatur zu sehr sinkt, kann er ja immer noch den Raumanzug anlegen.

Es wird still. Gänsehaut bildet sich auf seinen Armen. Das wollte er schon lange einmal ausprobieren. In der Kapsel ist es nicht völlig dunkel; kleine Leuchtdioden hier und da verbreiten die Helligkeit eines wolkenverhangenen Nachtmondes. Aber die Kapsel komplett herunterzufahren, traut er sich dann doch nicht. David, der sich von allen am besten mit der Technik auskennt, hat ihm nicht garantieren können, dass ein Neustart problemlos möglich ist.

Aber schon die Stille ist ein Erlebnis. Sie ist überwältigend. Liegt es nur daran, dass er zwanzig Jahre lang ständigem Rauschen ausgesetzt war? Ihm scheint es mehr als das, es ist ein existenzielles Gefühl. Lange hält er das nicht aus. Müsste er denn nicht wenigstens das Pochen seines Herzes hören? Oder ist er schon tot und hat es bloß nicht gemerkt? Er atmet hechelnd. Der Sauerstoffgehalt der Luft scheint nur noch minimal zu sein. Er greift nach der Konsole der Lebenserhaltung. Es geht nicht mehr, er braucht frische Luft.

Bu-bumm. Bu-bumm. Bu-bumm.

Da ist es. 63 Mal pro Sekunde. Die Stille muss seinen Herzschlag für einen Moment übertönt haben. Er lebt noch. Nun bekommt er auch wieder Luft. Sein Atem beruhigt sich. Er hält das aus, er muss sich nur erst daran gewöhnen. Deshalb hat er doch diese Reise angetreten – um allein zu sein. Wo wäre das besser möglich als hier draußen, 80 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt?

Bu-bumm. Bu-bumm. Bu-bumm.

Er zählt mit. Sein Herzschlag verlangsamt sich auf 59 Schläge pro Minute, dann auf 56. Er wird schläfrig und schließt die Augen. Auch jetzt ist es nicht vollkommen dunkel. Ein dunkelroter Vorhang begrenzt sein Gesichtsfeld. Da, eine Sternschnuppe huscht darüber hinweg, vermutlich ein Treffer aus der kosmischen Strahlung.

52 Schläge pro Minute. Es geht noch langsamer. Er weiß nur nicht, wie weit. Bisher hat er jeden Versuch bei 40 Herzschlägen abgebrochen. Er war nie mutig genug gewesen. Ist jetzt der Moment gekommen? Ist er nicht deswegen hierhergeflogen? Was wird passieren, wenn er bis ans Ende geht? Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass dann etwas vollkommen Neues beginnen würde. Etwas, das kein Mensch zuvor erlebt hat. Benjamin hat nie jemandem etwas davon erzählt. Man hätte ihn für verrückt gehalten, für einen esoterischen Spinner. Dabei ist er das genaue Gegenteil. Er glaubt an das, was ist. Und dazu gehört seine Fähigkeit, seinen Körper mit Hilfe seines Geistes zu kontrollieren.

Er ist völlig entspannt. Es gibt keine Eindrücke, keine Schmerzen, keine Gefühle, keine Gedanken. Der rote Vorhang wabert. Das ist interessant, berührt ihn aber nicht weiter. Er lässt das Geräusch seines Herzschlags durch. Sein Puls liegt bei 45. Es wird wieder still.

Nein, lass es, sagt er laut. Du verpasst sonst die Vorstellung. Jemand wird den Vorhang zur Seite ziehen. Das willst du nicht verpassen.

Er öffnet die Augen. Über ihm ist das Bedienpult der Lebenserhaltung. Er aktiviert sie. Sofort erfüllt tosender Lärm die Kapsel. Er muss sich die Ohren zuhalten, bis er sich wieder daran gewöhnt hat.

***

Piiing. Piiing. Piing. Ping. Er kommt näher. Die Frequenz steigt. Die Kapsel hat sich an Sheep-18 herangepirscht. Alles in Handsteuerung, er kann stolz auf sich sein. Aber jetzt überlässt er der Automatik die Navigation. Er selbst ist entbehrlich, aber wenn er eine der Schwarmsonden beschädigt, könnte das das Projekt gefährden.

Pingpingpingping. Sie müssen sich in direkter Reichweite von Sheep-18 befinden.

»Fahre Greifarm aus«, sagt die Automatikstimme.

Plong.

»Greifarm fixiert.«

»Danke«, sagt Benjamin. »Ich sehe mir das an.«

Es ist seltsam, einer Automatik zu danken. Aber er fühlt sich schlecht, wenn er es nicht tut. Er hat es ausprobiert.

Benjamin richtet sich auf, löst den Gurt und schließt den Knopf der Hose. Für die Inspektion der Sonde kann er den Exosuit nutzen. Das ist ein relativ starrer Raumanzug, der draußen an der Kapsel hängt, und zwar so, dass er nur von innen einzusteigen braucht. Er ist in dem Anzug nicht sehr beweglich, aber er kann auf die ganze Vorbereitung verzichten, die er sonst braucht, um die Taucherkrankheit zu vermeiden.

Er schwebt eine Etage nach unten, in die Werkstatt. Links ist die Toilette. Er spürt in sich hinein, aber er hat gerade keinerlei Bedürfnis. Also verzichtet er auch auf die Windel. Es ist doch bloß Routine. Der Einstieg in den Suit ist ein Loch in der Wand, das von einer verschiebbaren Klappe verschlossen ist. Benjamin öffnet sie und zieht die Schuhe aus. Die Schwerelosigkeit ist gerade ein echter Vorteil. So kann er sich in der Luft querlegen und mit den Beinen voran in das Loch einfädeln. Seine Füße suchen die Beinöffnungen des Suits. Dann schiebt er sich mit den Armen weiter hinein. Kurz überkommt ihn Platzangst. Der Exosuit ist ein Miniraumschiff, ausgerüstet mit allem, was ein Schiff braucht – abgesehen von einer Toilette. Aber er kann sich darin nicht bewegen. Er wird selbst zum Raumschiff.

»Shepherd-1, beginne jetzt mit der Untersuchung von Sheep-18.«

»Alles klar, Ben«, sagt Aaron. »Entschuldige, Benjamin. Sei vorsichtig.«

Was soll schon passieren? Er tastet mit der rechten Hand nach den Bedienelementen. Der quadratische Knopf schließt die Verbindung zur Kapsel. Er drückt ihn. Vor seinem Gesicht erscheinen Statusanzeigen. Alles ist grün. Es kann losgehen. Er drückt den Knopf noch einmal. Sein Kopf wird gegen die weich gepolsterte Innenwand gedrückt. Er ist unterwegs. Benjamin konzentriert sich. Er befindet sich zwar im Inneren eines humanoiden Roboters, aber steuern muss er die Maschine zunächst wie ein Raumschiff.

Er orientiert sich. Mit dem kleinen Finger versetzt er den Anzug in eine langsame Rotation. Der Greifarm, der die Sonde gepackt hat, ragt aus dem Bauch der Kapsel. Er gibt minimalen Schub. Der Suit schwebt auf den Greifarm zu. Benjamin breitet die Arme aus. Noch zehn Meter, noch fünf. Der rechte Arm ist optimal positioniert. Die Hand des Anzugs berührt den Greifarm am Gelenk. Er packt zu. Die künstlichen Muskeln reagieren etwas langsamer als erwartet, aber er findet trotzdem Halt. Sein Körper schwingt herum. Er muss aufpassen, dass er die Sonde nicht beschädigt. Seine linke Hand greift zu. Er stößt sich mit den Füßen leicht am Greifarm ab und steht nun kopfüber auf ihm. Aus der Ferne muss es aussehen, als turne hier ein riesiger Gorilla herum.

Langsam zieht er sich näher heran, indem er die Arme beugt. Das chemische Triebwerk der Sonde befindet sich einen halben Meter vor seinem Gesicht. Der Greifarm hat Sheep-18 an ihrem äußersten Rand erwischt. Benjamin greift mit der rechten Hand in das Gestänge, das den Körper der Sonde bildet. Dann zieht er sich langsam an ihr entlang. Er muss dabei aufpassen, die Sonnensegel nicht zu beschädigen. Ihn interessiert das Vorderteil. Dort befindet sich das Teleskop, das die Aufnahmen anfertigt. Oder besser gesagt die Teleskope, denn die Sonde arbeitet in verschiedenen Wellenlängen, vom Röntgenbereich bis zum sichtbaren Licht. Den Röntgendetektor benutzt sie auch zur Pulsarnavigation. Wenn dieses Teleskop dejustiert wäre, würde sich das besonders drastisch auswirken.

Aber eigentlich ist das unmöglich. Das System hätte es bemerken müssen. Sein Besuch hier ist eigentlich überflüssig. Aber die Idee eines Schwarzen Lochs in der Nähe des Sonnensystems, auf die David gekommen ist, hat Mission Control wohl so schockiert, dass sie die manuelle Kontrolle angeordnet haben.

Da ist es. Benjamin hätte es beinahe übersehen. Das Gerät ist als Teleskop kaum zu erkennen. Linsen besitzt es nicht. Die eigentliche Linse befindet sich achtzig Milliarden Kilometer entfernt. Das Teleskop ist nicht mehr als ein Lichtsammler, ein hocheffizienter Detektor, der sich am Boden eines gegen Umgebungslicht abschirmenden Rohres befindet.

Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein. Aber es würde schon eine Abweichung von einem Millimeter genügen, um das Teleskop unbrauchbar zu machen. Deshalb holt sich Benjamin mit einer Wischbewegung über den Visor eine virtuelle Schablone in sein Blickfeld. Sie zeigt absolut exakt, wo sich die Teleskope in jedem Moment befinden müssten, und überblendet das theoretische Bild mit der Wirklichkeit. Es ist eine faszinierende Darstellung. Benjamin hat die Schablone noch nie vorher benutzt. Sobald er sich auch nur ein bisschen bewegt, passt sie die Darstellung an.

Er muss möglichst nah herankommen, damit das Instrument seine Arbeit verrichten kann. Er ist im Grunde die menschliche Fernbedienung einer ausgereiften Software. Sie benutzt ihn, um die Realität mit der Theorie abzugleichen. Vielleicht hätte man dazu auch eine Drohne einsetzen können. Aber der Mensch ist, bei all seinen physischen Nachteilen, auch eine ziemlich effiziente Maschine.

Ein Pfeil in seinem Visor schickt ihn um die Sonde herum. Eine rote Fläche warnt vor dem Sonnensegel, das ihm dabei im Weg ist. Er folgt den Anweisungen des Kontrollprogramms. Links unten sieht er eine Erfolgsanzeige. Sie steht bei 78 Prozent und zeigt einen Kreis, der sich langsam füllt. Auch an die Motivation des menschlichen Gehilfen hat man gedacht. Benjamin scannt das Teleskop von allen Seiten und fühlt sich gebraucht. So muss es sein. Es macht ihm Hoffnung, dass sie nicht umsonst seit zwanzig Jahren unterwegs sind. Das Projekt hat noch immer alle Chancen, selbst wenn Christine bisher kein scharfes Bild bekommen hat.

***

Die Kapsel erzittert, als sie gegen den Haltearm prallt. Blitzschnell schießen von zwei Seiten metallene Klammern heran und fixieren die Kugel. Ein Mechanismus dreht sie so, dass die Schleusen auf beiden Seiten sich wieder in den Ring einfügen. Die Welt rotiert um Benjamin. Er hält sich fest und schließt kurz die Augen. Das ist für ihn immer der anstrengendste Teil eines Ausflugs. Er fühlt sich dem Schiff ausgeliefert.

Aber schon nach dreißig Sekunden signalisiert ein sonorer Gong das erfolgreiche Andocken. Benjamin beugt sich nach vorn, sieht aber niemanden. Hat man ihn vergessen?

Der Bildschirm vor seinem Sessel schaltet sich an. Aarons Gesicht erscheint.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagt er. »Wir waren ein bisschen abgelenkt.«

Im Hintergrund sind David und Christine zu hören. Er versteht nicht, was sie sagen, aber sie scheinen sich mit gedämpften Stimmen zu streiten.

»Was ist denn los?«, fragt er.

»Wir haben deine Daten schon ausgewertet, und Christine ist nicht besonders glücklich darüber.«

»Gab es denn Veränderungen, die die Mission gefährden?«

»Nein, im Gegenteil, die Ausrichtung der Teleskope ist perfekt.«

»Dann war mein Ausflug umsonst?«

»Nein, Benjamin. Jetzt wissen wir, dass es nicht am Schwarm liegt. Also werden wir als Nächstes Davids Idee überprüfen.«

»Das Schwarze Loch im Orbit um die Sonne.«

»Ja.«

»Klingt spannend. Und warum ist Christine sauer?«

»Es hält uns von der eigentlichen Mission ab, meint sie«, flüstert Aaron, während er immer wieder in Christines Richtung sieht.

»Aber wenn fehlerhafte Daten das Projekt behindern, ist es doch sinnvoll, dem nachzugehen?«

»Sag ihr das mal, Benjamin. Sie ist ziemlich angepisst. In gewisser Hinsicht hat sie ja auch recht: Wenn da wirklich ein Schwarzes Loch ist, wird alles andere in den Hintergrund treten. Ich sehe uns schon auf dem Weg dorthin.«

Das ist keine üble Vorstellung. Vergeht im Orbit eines Schwarzen Loches die Zeit nicht viel langsamer? Sie würden in die Zukunft reisen.

»Ich fände das ziemlich cool, ehrlich gesagt.«

»Cool? Das ist sicher kein Argument, das bei Christine zieht. Aber es ist auch egal, am Ende entscheidet Mission Control. Wir können ja schlecht meutern.«

»Meutern, nein, natürlich nicht. Apropos, hast du Lust, nachher mit mir eine Runde Pirates in VR zu zocken?«

Shepherd-1

25. März 2094

»Das kann doch nicht ihr Ernst sein!«, sagt Christine.

Gerade projiziert das Schiff die neue Nachricht von Mission Control auf die Wand in der Küche. Sie ist wütend. Daran ist nur David schuld mit seinen verrückten Ideen!

»Du hörst es …«

»Pssst«, unterbricht sie Aaron.

»Die Anwesenheit eines Schwarzen Lochs im Sonnensystem wäre nicht nur eine Sensation, sondern auch eine sehr große Gefahr.«

Ein schlanker, großgewachsener Mann im Anzug hat das Mikrophon übernommen. Er hat noch nie mit Ihnen gesprochen. Normalerweise ist allein Rachel als CapCom für die Kommunikation mit den Astronauten zuständig. Der Mann trägt ein NASA-Logo am Revers. Er ist wohl einer der Chefs. Dass man ihn zu Wort kommen lässt, zeigt, für wie spektakulär man auf der Erde ihre mutmaßliche Entdeckung hält, bei der es sich jedoch vorerst nur um eine Vermutung handelt. Hätte sie Davids Idee bloß nicht weitergegeben! Sie hätte ihre Befugnisse als Kommandantin der Mission dafür nutzen können, aber es war ihr wie Machtmissbrauch vorgekommen. Das hat sie nun davon.

»Deshalb müssen wir alles Menschenmögliche unternehmen, um die Lage zu klären. Dem muss sich Ihre eigentliche Mission leider unterordnen«, erklärt der namenlose Mann weiter.

Unterordnen, wenn es nur das wäre! Wenn sie das gerade richtig verstanden hat, verliert sie vermutlich über Wochen sämtliche Daten des Schwarms.

»Stellt euch doch mal vor, ein Schwarzes Loch in unmittelbarer Nähe. Wenn es in einem Orbit bei 700 AE kreist, könnten wir in zehn Jahren dort sein und es untersuchen«, sagt David.

»Wir wissen doch sowieso schon alles über Schwarze Löcher«, sagt Christine.

»Theoretisch ja. Aber so ein Phänomen mit eigenen Augen zu untersuchen, reizt euch das nicht?«, fragt David.

Natürlich finden das alle spannend. Sie selbst ja auch. Aber der Blick auf den Anfang des Universums wird alles andere in den Schatten stellen, ganz sicher.

»Darum geht es doch der Erde gar nicht«, sagt sie. »Die betrachten das als Gefahr. Und wir verlieren wertvolle Zeit.«

»Kann ich jetzt wieder auf Abspielen drücken?«, fragt Aaron.

Ihr ist gar nicht aufgefallen, dass das Gesicht des NASA-Mannes an der Wand eingefroren ist. Er hat gerade den Mund geöffnet. In seiner oberen Zahnreihe sind zwei Goldzähne zu erkennen. Der Rest des Gebisses strahlt übernatürlich weiß. Christine senkt den Blick. Too much information.

»Nun mach schon«, sagt Benjamin.

Der Mund des NASA-Mannes schließt sich.

»Wir haben einen temporären Ersatzplan ausgearbeitet«, sagt er. »Nach unseren Berechnungen müsste es genügen, die Hälfte des Schwarms auf den vermuteten Orbit des Schwarzen Lochs auszurichten. Wir warten, bis es zu einer Bedeckung kommt, und schon haben wir es.«

Das ist grundsätzlich keine üble Strategie. Das Schwarze Loch muss, wenn es existiert, irgendwann mal eines der Objekte hinter ihm abdecken. Auch wenn man das Loch selbst nicht sieht – es verrät sich durch seinen Schatten, der einen weit entfernten Stern kurz zum Verschwinden bringt. Und da mehr als zwanzig Augen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen hinsehen, steigt die Chance, eine Bedeckung zu beobachten.