Die Straßen von London - Maeve Binchy - E-Book

Die Straßen von London E-Book

Maeve Binchy

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Beschreibung

Tagaus, tagein fahren Tausende von Menschen mit der Londoner U-Bahn, lassen sich von diesem unterirdischen Zug zu ihren diversen Zielen transportieren. Die Schicksale einiger dieser Menschen schildert Maeve Binchy auf gewohnt packende und einfühlsame Weise in diesem Roman: Da ist das nervöse junge Paar, das das erstemal zu einer Party fährt, auf der Partnertausch angesagt ist; die mysteriöse Rita, die in Notting Hill Gate lebt, und Sophie, die ein Handtaschengeschäft bei Marble Arch führt. All diese Menschen stellt Maeve Binchy auf ihre unnachahmlich warmherzige Weise dar und läßt den Leser an ihrem Leben teilnehmen.

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Maeve Binchy

Die Straßen von London

Roman

Aus dem Englischen von Robert A. Weiß und Christa Prummer-Lehmair, Kollektiv Druck-Reif

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungVictoria LineTottenham HaleSeven SistersFinsbury ParkHighbury & IslingtonKing’s CrossEustonWarren StreetOxford CircusGreen ParkVictoriaPimlicoVauxhallStockwellBrixtonCentral LineShepherd’s BushHolland ParkNotting Hill GateQueenswayLancaster GateMarble ArchBond StreetOxford CircusTottenham Court RoadHolbornChancery Lane

Für Gordon, mit all meiner Liebe

[home]

Victoria Line

   

Tottenham Hale

Als das sechste Taxi absichtlich an ihr vorbeirauschte, um bei jemand anderem zu halten, wurde Amy allmählich klar, daß sie an fortgeschrittener Paranoia litt; sie sollte es lieber sein lassen und mit der U-Bahn heimfahren. Außerdem war sie bereits so spät dran und so wütend, daß die rumpelige Fahrt in einem überfüllten Waggon ihre Laune auch nicht mehr verschlechtern konnte. Wenn sie hier in der Stoßzeit noch länger am Straßenrand stand und sich von sämtlichen Taxifahrern ignorieren ließ, brachte sie das womöglich um den letzten Rest ihres Verstandes. Und den würde sie heute abend brauchen.

Denn heute abend kamen Eds Schwester und ihr Mann zum Abendessen. Heute abend würde sie die große Mutterfigur in Eds amerikanischer Familie kennenlernen, die Frau, vor der alle buckelten und bei der Ed in einem Brief praktisch um die Erlaubnis ersucht hatte, Amy heiraten zu dürfen. Damals hatte Amy darüber gelacht und sogar gefragt, warum er nicht auch noch ihre zahnärztlichen Befunde und Kopien ihrer Schulzeugnisse nach New York schickte. Doch als sie dann drei Jahre lang mit ansehen mußte, wie Ed Monat für Monat an seine große Schwester Bella schrieb, verging ihr das Lachen. Sie durfte diese Briefe niemals lesen, und in ihrem Groll hatte sie einen einmal geöffnet, ehe sie ihn zur Post gebracht hatte. Es war ein infantiler Bericht darüber, was sich in den letzten vier Wochen zugetragen und verändert hatte: eine lächerlich ausführliche Beschreibung des Bodenbelags, den sie für die Küche gekauft hatten; hoffnungsvolle Spekulationen über eine bevorstehende Gehaltserhöhung; die lobende Erwähnung eines neuen Kleides, das Amy erstanden hatte; die minuziöse Schilderung eines gemeinsamen Picknicks mit einem anderen Paar. Amy war unbehaglich zumute gewesen, als sie das las, denn es erweckte den Eindruck, als sei Ed geistig zurückgeblieben. Einen solchen Brief mochte vielleicht eine Mutter von ihrem kleinen Sohn aus dem Ferienlager bekommen, aber so etwas schrieb man doch nicht seiner Schwester im fernen Amerika!

Ed freute sich wie ein Schneekönig auf diesen Besuch, der seit mehr als drei Monaten feststand. Bella und ihr Gatte Blair würden im Rahmen ihrer Europa-Rundreise drei Tage in London verbringen. Sie würden bereits am Vormittag ankommen, wollten aber nicht sofort abgeholt werden, sondern sich lieber in ein gutes Hotel zurückziehen und sich in einem komfortablen Zimmer mit Bad von ihrem Jet-lag erholen. Gut ausgeruht würden sie dann um sieben Uhr abends ihren lieben Ed besuchen und ihre neue Schwägerin Amy in der Familie willkommen heißen. Am nächsten Tag stand ein Ausflug nach Windsor auf dem Programm, abends ein Theaterbesuch mit anschließendem Dinner zu viert; am Samstagvormittag sollte Amy freundlicherweise ihre Schwägerin Bella bei einem Einkaufsbummel begleiten, ihr die schicksten Geschäfte zeigen und sie in den besseren Häusern mit den Abteilungsleitern bekannt machen. Danach würden sie ganz exquisit zu Mittag essen, nur die beiden Frauen. Und schließlich würden Bella und Blair nach Paris weiterfliegen und wieder aus ihrem Leben verschwunden sein.

Wenn Amy sonst, an einem normalen Donnerstag, von der Arztpraxis in der Harley Street, wo sie als Sprechstundenhilfe arbeitete, nach Hause kam, zog sie die Straßenschuhe aus und schlüpfte in die Pantoffeln, packte ihre Einkäufe aus, bereitete das Essen vor und machte Feuer im Kamin, bevor Ed von der Arbeit heimkehrte. Ihre Abende verliefen seit einer Weile nach einem immer gleichen Muster. Ed kam müde und abgespannt nach Hause; vor dem Kaminfeuer legte sich dann seine Nervosität, und ganz allmählich hatte er auch keinen Blick mehr für die Akten, die er aus dem Büro mitgenommen hatte. Er genehmigte sich einen Sherry, die Falten in seinem Gesicht glätteten sich, und er kam zu der Einsicht, daß es keinen Sinn hatte, abends noch groß arbeiten zu wollen. Bei einem Glas Wein verkündete er dann, er verdiene sich seine Brötchen sauer genug, und ereiferte sich, daß man doch ein Recht auf seinen Feierabend habe. Danach widmete er sich glücklich den Schnitzereien an dem Tisch, den er gerade zimmerte, sah fern oder löste mit Amy zusammen Kreuzworträtsel. Und Amy stellte zu ihrer Freude fest, daß er sie wirklich brauchte, denn nur ihre verständnisvolle Art ermöglichte es ihm abzuschalten und mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein.

So war es zumindest gewesen, bevor Bellas Besuch seine drohenden Schatten vorauswarf.

Denn seit nunmehr drei Monaten hatte er sich nicht mehr richtig entspannen können. Allen Schmeicheleien und Ermunterungen Amys zum Trotz schien er erschöpft und bedrückt zu sein. Und zwar in jeder Hinsicht: Bella würde es merkwürdig finden, daß er den Sprung vom Vertrieb zum mittleren Management bislang nicht geschafft hatte; er mußte Bella klarmachen, wie der Betrieb strukturiert war, mußte ihr beweisen, daß er so viele Überstunden und zu Hause soviel zusätzliche Arbeit geleistet hatte, wie ihm nur möglich gewesen war. Jeden Abend war seine Aktentasche prall gefüllt mit Papieren voller unverständlicher Zahlenreihen. Doch damit nicht genug. Er schaffte es nicht einmal, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, sondern sprang ständig auf, um irgendwelche Mängel im Haus aufzuspüren.

»Mensch, Amy, an der Vorhangstange fehlen drei Haken, kannst du das in Ordnung bringen, Schatz? Bitte.«

Manchmal fügte er hinzu: »Bevor Bella kommt«, manchmal auch nicht. Im Grunde war es auch überflüssig. Amy wußte es ohnehin.

Die Muschel des Telefonhörers war verschmiert, der Vorleger im Bad sah abgetreten aus, die Blumenkästen mußten eigentlich frisch gestrichen werden, an der Tranchierplatte war eins der Standbeine verdreht, die Eisschalen im Kühlschrank hatten beide einen Sprung.

Etwa ein dutzendmal hatte Amy darauf reagiert und ihm erklärt, daß Bella nicht zu einer Haushaltsinspektion zu ihnen komme. Sie würde nicht über den Atlantik fliegen, um die Vorhänge, das Telefon oder die Eisschalen zu begutachten, sondern um Ed wiederzusehen. Aber dann machte er nur ein noch besorgteres Gesicht und meinte, er wolle eben, daß alles ordentlich sei.

Und jetzt war alles so ordentlich, daß Amy mit ihren Nerven beinahe am Ende war. Das Haus sah aus wie geleckt. Eine herrliche Kasserolle stand im Kühlschrank und mußte nur noch aufgewärmt werden, Amy hatte einen guten Wein besorgt und bereits den Tisch gedeckt, ehe sie heute morgen aus dem Haus gegangen war. Selbst wenn Bella mit einem ganzen Polizeitrupp aufkreuzen würde, der auf Hausdurchsuchungen spezialisiert war, würde sie nichts Nachteiliges zutage fördern können. Keine verborgenen Müllhäufchen, kein schlampiges Sammelsurium in irgendwelchen Schubladen. Bella konnte sogar den Wohnzimmerteppich zurückschlagen und den Boden darunter inspizieren, ohne irgendwelches belastendes Material zu finden.

Zeitungen und Zeitschriften, die die Vorzüge dieses Viertels im Londoner Norden anpriesen, waren strategisch geschickt placiert, damit Bellas Blick darauf gelenkt werden konnte, falls sie Vorbehalte gegen Eds und Amys vorstädtische Wohngegend äußern sollte. Sie hatten sogar einige Nachbarn darauf vorbereitet, daß sie möglicherweise mit Bella und Blair auf ein Gläschen hereinschneien würden, falls die beiden ein paar Einheimische kennenlernen wollten.

Amy hatte sich den Nachmittag frei genommen und ein paar Stunden im Schönheitssalon verbracht. Es war ihr eigener Vorschlag gewesen, und Eds freundliche, aber bekümmerte Miene hatte sie aufgehellt.

»Nicht, daß du nicht sowieso schon sehr hübsch bist, Amy«, hatte er zaghaft begonnen, um sie nicht zu verletzen. »Nur … na ja, weißt du, ich habe Bella doch geschildert, wie gepflegt du immer bist, und die Fotos, die wir geschickt haben … ich meine, wir schicken eben immer die, auf denen wir besonders gut aussehen.«

Dabei war ja nun Bella keine atemberaubende Schönheit, dachte Amy wütend. Sie sah vielmehr ausgesprochen farblos aus, diese große und ziemlich streng wirkende Frau. Auf den Fotos, die Ed ihr gezeigt hatte – und die schon einige Jahre alt waren –, war sie schlicht und adrett gekleidet, ohne jegliches Zugeständnis an die damalige Mode. Warum zerbrach sich dann Ed nächtelang den Kopf über Amys Garderobe und überlegte, was sie anziehen sollte? Bella war Lehrerin, und Blair hatte irgendeine nicht näher beschriebene Stelle an derselben Schule, wahrscheinlich in der Verwaltung, meinte Ed. Aber es interessierte ihn nicht weiter. Niemand in der Familie interessierte sich näher für Blair. Er war Bella ein guter Gatte, schweigsam und solidarisch. Das genügte. Bellas vier jüngere Brüder waren ihr zu grenzenlosem Dank verpflichtet. Sie hätten nie die Schule abgeschlossen, wenn Bella sie nicht dazu gedrängt hätte; ohne ihren segensreichen Einfluß hätten sie keine guten Stellungen bekommen und sich auch nicht so gut verheiratet. Sie wären Habenichtse, orientierungslose Waisenkinder ohne jede Zukunftsperspektive, wenn Bella nicht die Behörden davon überzeugt hätte, daß sie, gerade fünfzehn Jahre alt, ihnen eine Mutter sein konnte. Damals war Ed erst fünf gewesen; an seine Eltern, die bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluß in einen See gestürzt waren, konnte er sich nicht einmal mehr erinnern.

Manchmal fragte sich Amy, wie es ihren anderen Schwägerinnen erging. War es nicht seltsam, daß die Söhne alle so weit von ihrer geliebten Bella fortgezogen waren? Der eine Bruder lebte in Kalifornien – vom Staat New York aus gesehen praktisch am entgegengesetzten Ende der USA. Ein anderer wohnte in Vancouver, wieder ein anderer in Mexiko und Ed in London. Amy hatte das Gefühl, daß sie sich mit ihren drei anderen Schwägerinnen blendend verstehen würde. Bestimmt würde sie der gemeinsame Haß auf Bella und das, was sie den Männern in ihrer Familie angetan hatte, verbinden.

Doch keiner der Briefe der Familie, in denen ständig von Bella die Rede war, ließ derartiges durchblicken. Als Bella drei Wochen lang mit einer Grippe das Bett hatte hüten müssen, waren haufenweise Briefe, abgestempelt in San José, Vancouver und Mexico City, auf dem Fußabtreter in Tottenham Hale gelandet, die über den aktuellen Gesundheitszustand Auskunft gegeben hatten. Und nachdem Bellas Englandbesuch offiziell geworden war, hatten die drei Brüder Ed in ihren Briefen begeistert gratuliert. Bellas eigene Briefe waren kurz und knapp gehalten; sie erzählte kaum etwas von sich, sondern beschränkte sich auf lobende Kommentare oder Fragen zu den Lebensumständen des Empfängers. Je mehr Amy über sie nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, daß Bella verrückt sein mußte.

Mit einer hübschen Frisur und einem eleganten Make-up, frisch manikürt und massiert, was zu Amys maßlosem Ärger eine horrende Summe gekostet hatte, stand sie nun am Bahnsteig und wartete auf den Zug, der sie nach Hause bringen würde, um dieses Ungeheuer kennenzulernen. Geschmeichelt stellte sie fest, daß so mancher Fahrgast sie mit bewundernden Blicken bedachte. Ein Student kniff sie in den Po, was nicht nur schmerzhaft war, sondern sie außerdem ziemlich wütend machte. Mit ihrem neuen Selbstvertrauen, das sie der sündteuren Behandlung im Schönheitssalon verdankte, fuhr sie ihn laut und deutlich an. »Wagen Sie das nicht noch mal!«, woraufhin alle den Studenten anstarrten, der puterrot anlief und an der nächsten Station ausstieg. Zwei Männer gratulierten ihr, und sie freute sich über ihr souveränes Verhalten.

Nach ihrer Schätzung würden ihr zu Hause noch etwa zwei Stunden Zeit bleiben, ehe die gefürchtete Bella eintraf. Das genügte, um die letzten Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen, ein Bad zu nehmen und sich umzuziehen. Ed hatte sich den Nachmittag ebenfalls frei genommen, er wollte sich um frische Blumensträuße und sonstige Kleinigkeiten kümmern, die in letzter Minute noch anfielen.

»Wird sie es nicht komisch finden, daß du nicht zur Arbeit gegangen bist und dich statt dessen um den Haushalt kümmerst?« hatte Amy gefragt.

»Wenn sie sich nicht danach erkundigt, brauchen wir es ihr ja nicht auf die Nase zu binden«, hatte er erwidert und dabei gekichert wie ein Schuljunge.

Amy mußte sich vergegenwärtigen, daß sie keine Verbrecherin war, sie hatte Ed nicht entführt, sie hatte ihn aus Liebe geheiratet. Sie sorgte in jeder Hinsicht gut für ihn, sprach ihm Mut zu, wenn er bedrückt war, drängte ihn aber nicht, nach den Sternen zu greifen. Diese entsetzliche Bella würde ihr nichts vorwerfen können, oder? Aber wenn das alles so war – woran sie nicht zweifelte –, wovor hatte sie dann eigentlich Angst? Da bremste der Zug mit einem heftigen Ruck, so daß sämtliche stehenden Fahrgäste einander in die Arme geschleudert wurden. Unter verlegenem Lachen und Entschuldigungen löste man sich behutsam voneinander, und es dauerte einige Augenblicke, ehe sie merkten, daß der Zug zum Stillstand gekommen war, und zwar nicht an einer Haltestelle.

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, bemerkte ein Mann mit rosiger Gesichtsfarbe und Aktentasche. »Da hab ich meiner Frau versprochen, daß ich früher heimkomme, und jetzt stecken wir womöglich die ganze Nacht hier drin.«

»Hoffentlich nicht«, meinte eine Frau, die müde und elend aussah und eine schwere Einkaufstasche trug. »Sonst stehen meine Kinder vor verschlossener Tür«, fügte sie besorgt hinzu.

Amy dämmerte allmählich, in welcher Situation sie sich befand. Jede Minute hier bedeutete eine Minute weniger bei dem genau berechneten Countdown bis zu Bellas Eintreffen. Eine fünfzehnminütige Verzögerung hieß, daß sie womöglich auf ihr Bad verzichten mußte. Eine halbstündige Verspätung bedeutete, daß sowohl das Bad wie auch die Verzierung des Trifles ausfallen mußten. Und welche Konsequenzen es haben würde, wenn sie hier länger als eine halbe Stunde festgehalten wurde, wollte sie sich gar nicht erst ausmalen.

Schon kurz darauf betrat ein Uniformierter den Waggon und versicherte ihnen, dies sei kein Notfall, es bestünde keine Gefahr, aber es sei ein Defekt aufgetreten, der behoben werden müsse; die Londoner Transportgesellschaft bedauere zutiefst, doch die Weiterfahrt werde sich verzögern.

Nein, man könne nicht sagen, wie lange es dauern würde. Ja, er könne ihnen versichern, daß wirklich keine Gefahr bestehe.

Nein, es sei völlig ausgeschlossen, daß ein anderer Zug mit dem ihren zusammenstoßen würde.

Ja, er wisse, daß das eine Zumutung für sie alle sei.

Nein, der Schaden werde so schnell wie möglich behoben, aber schneller gehe es eben nicht.

Ja, man würde einen tödlichen Stromschlag bekommen, falls man auf die Gleise treten würde.

»Das war’s dann also«, sagte der Mann mit dem rosigen Teint. Er bedachte Amy mit einem anerkennenden Blick. »Ich schätze, ich kann mich glücklich schätzen, daß ich hier, abgeschnitten von der Außenwelt, immerhin eine so hübsche Leidensgefährtin gefunden habe. Ich heiße übrigens Gerald Brent.«

»Amy Baker«, stellte sie sich lächelnd vor.

»Mrs. Baker, darf ich Sie zu einem Schlückchen Wein einladen?« bot Gerald Brent an. Aus seiner Aktentasche holte er eine Flasche Wein, ein Taschenmesser mit Korkenzieher und den Becheraufsatz seiner Thermoskanne. Amy nahm lachend an.

»Ich trinke von der anderen Seite«, meinte Gerald.

Mit der Geduld und Fügsamkeit, für die die Londoner bekannt sind, richtete man sich nun überall im Wagen ein. Man begann, gemütlich den Standard oder die News zu lesen; ein Mann versuchte sogar, so etwas wie ein Nickerchen zu halten, während die besorgte Frau sich in ihr Schicksal fügte und in einer Frauenzeitschrift blätterte.

»Meine Schwiegermutter hat sich zum Abendessen angekündigt«, erzählte Gerald. »Ein schrecklicher alter Drachen. Im Grunde tut es mir überhaupt nicht leid, daß ich sie nun verpasse. Jedenfalls ist das ein viel zu edles Tröpfchen für sie. Kommen Sie, trinken wir noch einen Schluck.«

Amy nahm den erneut gefüllten Becher und sah den Mann ungläubig an. »Glauben Sie wirklich, daß wir das Abendessen versäumen?« fragte sie.

»Garantiert«, antwortete Gerald. Er erklärte ihr, was bei dem Zug vermutlich kaputtgegangen war, daß ein Sicherheitsmechanismus zwar richtig funktioniert habe, man diesen jetzt allerdings von Hand zurücksetzen müßte. Und dazu mußte technisches Personal in den Tunnel kommen.

»Mindestens drei oder vier Stunden«, schätzte er.

Das durfte einfach nicht wahr sein – in ganz London mußte ausgerechnet der Zug zusammenbrechen, in dem sie sich befand! Und gerade an diesem einen Tag von den über tausend Tagen, die sie mit Ed verheiratet war! Sie konnte es einfach nicht fassen, daß diese Bella, der düstere Schatten über ihrem Leben, immer noch mehr zu einer pechschwarzen, dräuenden Gewitterwolke wurde, die nichts als Qual und Enttäuschung brachte. Ed würde niemals wieder der alte sein. Der Abend wäre ruiniert. Ed würde durch die Straßen laufen und nach ihr suchen. Vielleicht würde er glauben, sie habe ihn verlassen, als eine Art Protest gegen Bella. Angesichts dieser schrecklichen Situation überkam Amy Übelkeit, sie wurde leichenblaß und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.

»Sachte«, hörte sie Gerald sagen. »Man darf diesen Wein nicht zu schnell trinken, er ist sehr gut, schwer und gehaltvoll. Kommen Sie, setzen Sie sich hier hin.« Er schob sie zu einem Sitzplatz, wo die Leute zusammenrückten und ihr ein Eckchen freimachten. Mittlerweile war eine gesellige Atmosphäre entstanden, nicht untypisch für London; Menschen, die seit Jahr und Tag mit der U-Bahn fuhren und nie ein Wort miteinander gewechselt hatten, wurden nun, in dieser gemeinsamen Notlage, gesprächig und freundlich.

Amy erzählte Gerald von Bella: daß sie den Brief geöffnet hatte, daß alle Brüder unter Bellas Fuchtel zu demütigen, überschwenglich dankbaren Kreaturen geworden waren. Als sie dies aussprach, trat ihr noch deutlicher vor Augen, welch einen verheerenden Einfluß Bella ausübte. Vier normale Männer in Vancouver, San José, Mexico City und auch in London schufteten wie die Berserker, um dieser Frau zu danken, daß sie ihnen zuliebe ihre Jugend geopfert hatte. Tatsächlich aber, erkannte Amy schlagartig, hatte Bella nichts anderes getan, als ihren normalen Mutterinstinkten freien Lauf zu lassen. Dafür hatte sie von den Behörden Lob und Sozialleistungen eingeheimst – und ihre vier Brüder dankten es ihr mit hündischer Ergebenheit.

Amy und Gerald leerten die Flasche Wein. Gelegentlich murmelte Gerald das eine oder andere Wort der Aufmunterung, und immer wenn Amy an den verdorbenen Abend dachte und in Panik auszubrechen drohte, sprach er beruhigend auf sie ein.

»Unsinn. Natürlich weiß er, daß Sie hier sind. Sie bringen es bestimmt in den Lokalnachrichten.«

»Hören Sie, er ruft sicher am Bahnhof an, da sagen sie ihm Bescheid.«

»Mensch Mädchen, Bella erwartet doch nicht von Ihnen, daß Sie sich einen Pickel besorgen und sich den Weg frei hacken!«

Er erzählte ihr, seine Frau finde, er trinke zuviel. Und sie habe recht. Einmal habe er eine Affäre mit seiner Sekretärin gehabt, was seine Frau nie herausgefunden habe – oder zumindest glaubte er, sie wisse nichts davon. Aber die ganze Heimlichtuerei sei ihm zuwider gewesen, also habe er Schluß gemacht, woraufhin seine Sekretärin ihn in Anwesenheit von drei Seniorpartnern seiner Firma als chauvinistisches Schwein beschimpft habe. Tja, da habe er ziemlich im Schlamassel gesteckt.

Von der nächstgelegenen Station wurden Kaffee und belegte Brote gebracht, und bald herrschte eine richtige Partystimmung. Man sang sogar gemeinsam Lieder, und als die Fahrgäste um zehn Uhr abends endlich aussteigen konnten und von den Blitzlichtern der Fotografen und einer erwartungsvollen Menschenmenge empfangen wurden, machte Amy sich keine Gedanken mehr wegen Bella und dem verdorbenen Abend.

Mit einem jähen Schrecken entdeckte sie Bella am Bahnsteig. Sie spähte in die Menge, die aus dem Zug strömte, und wirkte bekümmert, als würde sie sich um Amy sorgen. Hinter ihr standen Ed und Blair, ebenfalls mit sorgenvollen Gesichtern.

»Da ist sie!« rief Bella und lief ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. »Amy, meine kleine Schwägerin, ist alles in Ordnung? Bist du verletzt? Hat sich jemand um dich gekümmert? Arme Amy, was für eine Tortur, was für eine Katastrophe hast du durchmachen müssen!« Sie ließ sie los, damit Ed sie umarmen konnte, während Blair sie mit einem mannhaften Händedruck ohne Worte begrüßte.

Gerald beobachtete die Szene und zog den Hut, ehe er spöttisch lächelnd seiner Wege ging.

Zusammen verließen die vier den Bahnhof. Bella wirkte weder streng noch farblos, vielmehr sprühte sie vor Anteilnahme und Interesse. Viermal hatte sie bei der Polizei angerufen und sich versichern lassen, daß die Passagiere in keinerlei Gefahr schwebten, trotzdem hatte sie für alle Fälle einen Erste-Hilfe-Koffer zum Bahnhof mitgenommen. Aber wie wunderbar, daß alles gut ausgegangen sei und sie nun in Eds und Amys reizendes Zuhause zurückkehren könnten. Schon auf den ersten Blick sei sie ganz entzückt gewesen angesichts dieses wunderschönen Hauses, allein diese tollen Blumenkästen, und ach, Amy führte ja einen wirklich glänzenden Haushalt, beim Telefonieren sei ihr aufgefallen, wie sauber und ordentlich das ganze Haus war. Wie schön, daß sie jetzt alle heimgehen und sich das feine Abendessen schmecken lassen konnten, das ja so köstlich ausgesehen habe …

Blair schwieg mit dem Lächeln eines tapferen, treuen Recken. Ed strahlte wie ein Kind, das Süßigkeiten geschenkt bekommen hat. Und Amy fragte sich, warum sie eigentlich je etwas gegen Bella gehabt hatte, sie freute sich jetzt wirklich über ihren Besuch. Und mehr noch, weil Bella alles gefiel. Ja, jetzt würden sie sich wirklich die Mühe machen und mit ihr am Samstagvormittag einen hübschen Einkaufsbummel unternehmen. Letztlich kam es doch nur darauf an, Bella eine Freude zu machen.

Seven Sisters

Wie seltsam, dachte Pat zum hundertstenmal, daß sie angeblich in Seven Sisters wohnten. Es konnte kein Zufall sein, daß jemand, der zum Partnertausch einlud – bei einer Party, auf der sich kultivierte Paare hemmungslos dem Vergnügen hingaben und unbekümmert miteinander paarten –, in einem Stadtteil namens Seven Sisters wohnte. Das hatte sie auch zu Stuart gesagt.

»Irgendwo müssen sie ja schließlich wohnen«, lautete seine dürftige Antwort.

Pat studiert daraufhin den Stadtplan.

»Mir ist nicht ganz klar, weshalb sie sagen, es sei in Seven Sisters. Es ist eher Hornsey«, krittelte sie.

»Hätten Sie Hornsey geschrieben, hättest du das wahrscheinlich noch anzüglicher gefunden«, meinte Stuart nachsichtig.

Zwei Wochen vor der Party packte Pat eine starke Unruhe, die sie nicht mehr losließ. Mit sorgenvoller Miene prüfte sei ihre neue Garnitur Unterwäsche. Sie war rot und hatte einen schwarzen Spitzenbesatz. An einer Stelle war eine Rosette eingearbeitet. Wieder und wieder ging Pat ins Badezimmer, zog sie an und betrachtet sich prüfend im Spiegel. Durch die dunklen Farben wirkte ihre Haut schrecklich weiß, fast leblos. Ob so etwas die Lust der Männer entfachte? Ob ihnen der Anblick leichenblasser Haut, gepaart mit roter Seide und schwarzer Spitze, den Verstand raubte? Vielleicht würde eine der Frauen sie zur Seite nehmen und ihr eine Bräunungslotion empfehlen. Das Schreckliche an alldem war, daß Pat niemanden zu Rate ziehen konnte. Selbst wenn sie sich an diese entsetzliche Zeitschrift gewandt hätte, in der Stuart zuerst den Artikel über Partnertauschpartys gelesen und dann an eine der angegebenen Postfachnummern geschrieben hatte, wäre die Antwort nicht mehr rechtzeitig eingetroffen.

Unzählige Male übte Pat ihren Begrüßungssatz: »Hallo, wie reizend von Ihnen, uns dazuzubitten … Ihr Haus ist wirklich toll.« Nein – sie konnte doch nicht zu der Besitzerin des Hauses in Seven Sisters, dieser gräßlichen Hure, sagen, wie sehr Pat und Stuart sich über die Einladung gefreut hätten. Schließlich hatten doch Pat und Stuart – schamlos auf Abenteuer aus – der Seven-Sisters-Clique höchstpersönlich ihre Bereitschaft signalisiert, zu ihnen zu kommen, sich auszuziehen und mit einem Haufen fremder Leute ins Bett zu gehen. Je öfter sie sich vor Augen hielt, daß sie genau das beabsichtigten, um so beklommener wurde ihr zumute und um so lächerlicher kam sie sich vor.

Obwohl sie dagegen ankämpfte, kreisten ihre Gedanken um die Frage, ob man wohl ein paar Worte miteinander wechseln würde, bevor man zur Sache kam. Ob sie sich unter Umständen splitternackt in einer Ecke mit einer gleichfalls nackten Frau über die Theatergruppe der Kinder oder den neuen Supermarkt unterhalten würde, während Stuart sich im Adamskostüm mit den neuen Bekannten fröhlich über die Tomaten in ihrem Schrebergarten unterhielt?

Über solche Themen wurde bei den Partys geredet, die sie normalerweise besuchten – gesittete Abende, an denen die Gäste ihre Kleider anbehielten und nicht lüstern übereinander herfielen, sondern über die erhöhten Zeitkartentarife bei der Bahn sprachen und über die Schwierigkeit, einen Arzt zu finden, der einem zwei Minuten lang zuhörte. Harmlose, langweilige Abende. Man fiel allmählich in einen gewohnten Trott, alterte vorzeitig, nahm spießiges Vorstadtverhalten an, obwohl man doch der bürgerlichen Mittelschicht noch gar nicht angehörte. Keine aufregenden Ereignisse, alles ein wenig gleichförmig. Nichts, was Herzklopfen verursachte.

Zwei Kinder – der landesweite Durchschnitt –, Stuart war Angestellter in einer Bank …

Großer Gott! – Angenommen, einige seiner Bankkunden waren auch auf der Party! Gar kein so abwegiger Gedanke. Man wohnte ja nicht unbedingt neben seinem Geldinstitut. Warum sollte nicht der eine oder andere um die Ecke der Seven Sisters Road zu Hause sein? Hatte Stuart das bedacht? Besser, sie sagte es ihm. Noch konnten sie das Ganze abblasen. Es wäre doch töricht, seine Laufbahn auf diese Weise zu gefährden … Nein, bestimmt hatte er diese Möglichkeit einkalkuliert. Er war wild entschlossen, auf die Party zu gehen. Wenn sie ihm von ihren Bedenken erzählte, bekam er nur den Eindruck, sie suche nach einem Vorwand, um sich zu drücken.

… hübsche kleine Wohnung, leider ohne Garten, aber an den Wochenenden hatten sie ja den Schrebergarten. Kerngesunde, glückliche Kinder, die gerne zur Schule gingen. Debbie spielte auch dieses Jahr wieder bei der Theateraufführung mit, und Danny hoffte, ins dritte Team aufgenommen zu werden. Viele Schulfreunde, die auch bei den Nachbarn ein- und ausgingen und sich auf dem Abenteuerspielplatz am Ende der Straße tummelten. Kein weltbewegendes, aber ein zufriedenes, glückliches Leben … vor kurzem hatte selbst der Schulleiter gesagt …

Lieber Himmel! – Gesetzt den Fall, die Schule bekam irgendwann Wind davon. Wie schrecklich beschämend für Debbie und Danny, als Kinder perverser Freaks gebrandmarkt zu sein. Womöglich würde man ihnen sogar nahelegen, die Schule zu verlassen, damit die Mitschüler nicht unter ihren verderblichen Einfluß gerieten. Bleib ganz ruhig! Die Schule konnte doch bloß dann davon erfahren, falls noch andere Eltern oder der eine oder andere Lehrer sich auf der Party vergnügten, bei dem zwanglosen Treiben moderner Erwachsener mitmischten … Keine Frage, falls man sich dort begegnete, mußten alle dichthalten und für immer schweigen wie ein Grab.

… wie auch immer, der Schulleiter hatte den Eltern von heute Respekt gezollt, weil sie für ihre Kinder derart viele Opfer brachten, sie nach Kräften unterstützten und sich ihrer Probleme annahmen. Er sei allerdings überzeugt davon, daß sich die Mühen auf vielfältige Weise bezahlt machten, denn sie lebten in friedlicher Gemeinschaft miteinander, weit weg von den Kriegen, Spannungen und Zwistigkeiten, unter denen andere Länder litten.

Stuart hatte gesagt, an solchen Partys nähmen ganz normale, ehrbare, ordentliche Durchschnittsbürger teil, die ihre eigenen Hemmschwellen überwanden und ihrem alltäglichen Sexleben mit dem Ehepartner ein wenig Würze geben … und weniger egoistisch sein wollten …, indem sie ihre Liebe mit anderen verheirateten Paaren teilten. Er habe gelesen, daß diese großzügige Geste, die Rechte auf den eigenen Partner an Freunde abzutreten, ein Akt der wahren Liebe sei, und das glaube er auch. Außerdem bräuchte niemand mehr verstohlen fremdzugehen, was in dieser verlogenen Zeit von unschätzbarer Bedeutung sei, es gäbe keinen Grund mehr für geheime oder verbotene Affären. Nichts geschähe heimlich, alles wäre natürlich und gut.

Stuart redete so begeistert darüber wie einst über seinen Schrebergarten, seine Augen hatten den gleichen Glanz wie damals, als er sich dem Traum vom autarken Leben hingab: Während das übrige London verhungerte und sich mit radioaktivem Niederschlag vergiftete, würden Stuart, Pat, Debbie und Danny alles, was sie zum Überleben benötigten, auf ihrer kleinen Parzelle anbauen, hoho – würde dann noch einer über sie lachen? Pat hatte sich vorsichtig erkundigt, wie Stuart seine Stangenbohnen und Kohlköpfe gegen zwölf Millionen Hunger leidende Londoner verteidigen wollte, falls sie tatsächlich die einzigen sein sollten, die sich noch versorgen konnten. Darauf hatte Stuart erwidert, das sei allein eine technische Frage.

Und so betätigten sie sich weiterhin samstags und sonntags im Garten. Zwar hatte sich der anfängliche Überschwang verloren, aber mittlerweile bereitete ihnen ihr Schrebergarten stilles Vergnügen. Vielleicht würde es sich mit dem Partnertausch ja ähnlich verhalten, überlegte Pat. Die trunkene Begeisterung würde gewiß bald nachlassen, und dann würden die Partys in Seven Sisters, Barking, Rickmansworth oder Biggin Hill vielleicht zu einer fröhlichen selbstverständlichen Routine.

Stuart verhielt sich der Sache gegenüber beängstigend gleichmütig. Das beunruhigte Pat am meisten. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich vielleicht neue Boxer-Shorts zulegen wolle.

»Nein, mein Schatz, ich habe genügend im Schrank«, hatte er überrascht geantwortet.

»Ich meine für die Party«, zischelte sie.

»Und weshalb brauche ich dafür neue?« fragte er verwirrt, als hätte sie ihm vorgeschlagen, ein neues Transistorradio zu kaufen. »Ich habe neun Stück oben. Glaub mir, ich habe wirklich genug.«

Je näher der Termin rückte, um so mehr sorgte sich Pat wegen Stuart. Hatte er Nerven wie Drahtseile, oder mangelte es ihm an Gefühl? Wie seelenruhig er alles hinnahm … schon allein, daß er an eine Postfachadresse hatte schreiben können, und dann der Anruf dieser Frau mit der Stimme einer Kreissäge.

Pat hatte sich nie viele Gedanken über ihr Liebesleben gemacht. Sie hatte es immer sehr angenehm und befriedigend gefunden, und sie hielt sich ganz bestimmt nicht für frigide, verglichen mit dem, was man in Frauenzeitschriften darüber las. Auch konnte sie sich nicht erinnern, jemals Kopfschmerzen vorgetäuscht oder keine Lust gehabt zu haben. Wahrscheinlich war eben alles ein wenig eintönig geworden. Aber, lieber Himmel, manche Dinge sind nun mal, wie sie sind. Ein Schokoladenriegel oder ein Gin Lemon ändern sich auch nicht im Geschmack. Und selbst Beethovens Fünfte klingt immer wieder gleich, ebenso wie die Musik von Johnny Mathis. Weshalb dann dieser Drang nach Abwechslung?

Pat war verletzt und verwirrt. Sie hatte von Frauen gelesen, die bei ihren sanften, konventionellen Ehemännern eine Vorliebe für Fesselpraktiken und harte Pornographie entdeckt hatten … Vielleicht sollte sie dankbar sein, daß Stuart sich lediglich für den guten alten Partnertausch der bürgerlichen Mittelschicht interessierte. Dennoch fühlte Pat sich bedrückt. Da sie sich darauf eingestellt hatte, bis ans Ende ihrer Tage so zu leben wie im Augenblick, Geld für das Haus zurückzulegen, einmal im Jahr Ferien mit dem Wohnmobil zu machen und zweimal wöchentlich behaglich in der dunklen Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers miteinander zu schlafen, empfand sie es als irgendwie undankbar von Stuart, etwas anderes zu wollen.

Pat hatte am Nachmittag des gefürchteten Tages einen Friseurtermin.

»Na, was Schönes vor?« fragte die Friseuse freundlich und gewohnt beiläufig.

»Äh … ja«, antwortete Pat.

»Ach, wohl eher eine Pflichtübung, was?« Die Friseuse ließ nicht locker.

»Ähm, nein, nein, nichts Dienstliches. Eine private Einladung. Alte Freunde, neue Leute. Eine Party. Eine ganz gewöhnliche Party«, verteidigte sich Pat.

Die Friseuse zuckte mit den Schultern.

»Wird bestimmt nett«, meinte sie kühl.

Der Babysitter erschien pünktlich. Pat hatte gehofft, das Mädchen würde anrufen und absagen. Dann bräuchten sie nicht diesen grotesken Ausflug quer durch London zu unternehmen und sich mit fremden Menschen zum Geschlechtsverkehr zu treffen. Das einzige, was sie im Augenblick erregte, war die Überlegung, ob sie nicht vielleicht komplett verrückt geworden war.

Debbie und Danny wandten kaum den Blick vom Fernseher.

»Gute Nacht, Mum. Gute Nacht, Dad. Kommt noch mal zu uns ins Zimmer, wenn ihr wieder zurück seid.«

Pats Augen füllten sich mit Tränen.

»Stuart, Liebling …«, setzte sie an.

»Gute Nacht, ihr zwei«, rief Stuart ihnen zu.

Da sie davon ausgegangen war, daß sie mit dem Auto fahren würden, war sie überrascht, als Stuart erklärte, es sei doch viel praktischer, die U-Bahn zu nehmen.

»Wir müssen nur einmal umsteigen«, erklärte er. Aber dieser Satz klang in Pats Ohren drohend und gefahrvoll. Wollte er damit vielleicht auch sagen, sie würden nur mit einem Paar Partnertausch machen? Ihr wurde übel. Angenommen, es würde so werden wie bei der Tanzparty im Tennisclub vor vielen Jahren, als niemand einen zum Tanzen aufforderte – bis man schließlich mit einem ekligen Kerl vorliebgenommen hatte, der sich bereit zeigte, einen übers Parkett zu schieben. Ob das heute abend auch passieren würde? Was, wenn ihnen ein abstoßendes Paar, das von allen anderen gemieden wurde, ermunternd zulächelte? Mußte man es dann mit ihnen tun? War es gegen die Regeln, sich zu drücken?

»Schon, aber es wäre doch nicht schlecht, anschließend mit dem Auto nach Hause zu fahren«, meinte sie.

»Vielleicht habe ich danach keine Lust zum Autofahren«, erwiderte Stuart kurz angebunden.

Entkräftet vor lauter Vergnügen? Ausgepumpt? Eingeschlafen am Busen einer fremden Ehefrau? Zu ihr nach Hause mitgegangen? Oder wollte er bei der schrecklichen Frau in Seven Sisters übernachten? Was sollte das heißen, daß er möglicherweise keine Lust mehr zum Autofahren hätte? Dieser Alptraum flößte ihr immer nur noch mehr Angst ein. Weshalb hatte sie sich überhaupt auf diese sündige, alberne Sache eingelassen? Und warum hatte Stuart es überhaupt je vorgeschlagen?

Die U-Bahn kam natürlich sofort, wie immer, wenn man zum Zahnarzt muß oder zu einer Party mit Gruppensex. Die Haltestellen rasten vorüber. Stuart las die letzte Seite der Zeitung seines Gegenübers. Dreimal prüfte Pat ihr Aussehen.

»Du siehst gut aus«, sagte Stuart, als sie den Taschenspiegel zum viertenmal hervorzog.

»Wahrscheinlich hast du recht. Außerdem ist mein Gesicht ja ohnehin nicht so wichtig«, meinte sie seufzend.

»Was? Ach so, ja«, erwiderte Stuart und lächelte sie ermutigend an, bevor er sich wieder den Fußballergebnissen zuwandte.

»Meinst du, daß wir uns sofort ausziehen werden?« fragte Pat verzweifelt, nachdem sie aus der U-Bahn-Station getreten waren und den Weg zum Haus einschlugen.

»Keine Ahnung, das hängt vermutlich davon ab, ob es in dem Haus Zentralheizung gibt«, antwortete Stuart sachlich.

Pat sah ihn an, als wäre er ein völlig Fremder.

»Hat sie gesagt, wie viele Leute ungefähr kommen?« fragte Pat nach einer weiteren Minute mit schriller Stimme. »Die Häuser sind nicht besonders groß. Da lassen sich nicht gerade Dutzende von Menschen unterbringen.«

»Nein, sie hat nur von ein paar Freunden gesprochen«, erwiderte Stuart. »Aber keine genaue Zahl genannt.«

»Aber wir sind keine Freunde, eigentlich drängen wir uns doch auf, findest du nicht auch?« sagte sie flehentlich. In ihren Augen standen Tränen. Noch einmal um die Ecke, dann rechts, und sie waren in der Straße angelangt. Nun gab es kein Zurück mehr.

Gerührt von ihrer tränenerstickten Stimme sah Stuart sie an.

»Pat, Liebes, es wird bestimmt sehr nett. Es wird dir gut gefallen. Bei solchen Anlässen bist du immer ein wenig nervös.«

Sie funkelte ihn an.

»Was soll das heißen, ›bei solchen Anlässen‹? Hat es denn so was schon mal gegeben? Wann haben wir jemals etwas Ähnliches gemacht? Das ist doch das erstemal …« Zu ihrem eigenen Entsetzen brach sie in Tränen aus.

Stuart sah verzweifelt aus. Er wollte sie berühren, den Arm um sie legen, aber Pat schob ihn weg.

»Nein, sag nicht noch einmal, alles wäre in Ordnung und es würde mir gefallen. Ich werde es abscheulich finden. Ich gehe nicht hin und damit basta.«

»Aber warum hast du das denn nicht früher gesagt? Weshalb hast du bis kurz vor die Haustür damit gewartet?« fragte Stuart, und sein rundes, unschuldiges Gesicht bekam einen dümmlichen, verwirrten Ausdruck. »Ich verstehe nicht, weshalb du mir nicht gleich gesagt hast, daß du das nicht willst. Dann hätten wir uns doch gar nicht auf all das eingelassen. Ich dachte, du hättest auch Lust dazu.«

Pat schnaubte in ihr Papiertaschentuch.

»Du fandest, es klänge irgendwie aufregend …«, fuhr er fort.

Pat hustete geräuschvoll.

»Außerdem hast du gemeint, wir sollten es einmal probieren, und falls es uns nicht gefiele, könnten wir es ja wieder sein lassen …«, rechtfertigte er sich weiter.

Pat schneuzte sich die Nase.

»Warum, Liebes, hast du deine Meinung geändert? Sag’s mir. Wir machen das, was du möchtest. Wir gehen nicht hin, wenn dich der Gedanke anwidert. Sag doch was.«

Pat sah ihn mit rotgeweinten Augen an. Stuart hatte wirklich ein rundes, unschuldiges Gesicht. Warum war ihr das früher eigentlich nie aufgefallen? Er war einer dieser enttäuschten jungen Bankangestellten. Einer von den Männer mit nervtötendem Job, einer durchschnittlichen Frau, ein paar Drinks am Samstag, zwei niedlichen, aber zeitraubenden und kostspieligen Kindern, einem Auto, das Unsummen verschlang, wenn man es nicht bald durch ein neues ersetzte. Alljährlich mieteten sie sich ein Wohnmobil, würden aber niemals den Sand der Westindischen Inseln oder der Seychellen zwischen den Zehen spüren.

Sie wollte reden, hielt aber wieder inne. Jetzt mußte sie vorsichtig sein. Ihr war, als sei Stuart bisher das Negativ eines Fotos gewesen, von dem man ihr jetzt einen Abzug unter die Nase hielt, der alles enthüllte: seine Frustrationen, die stundenlangen Fahrten zwischen Büro und Wohnung, seinen zunehmenden Bauchumfang. Diese Realität stand in krassem Gegensatz zu den James-Bond-Büchern oder der Wildwestlektüre, die Stuart Abend für Abend eine halbe Stunde vor dem Einschlafen las.

Eine Welle des Verständnisses erfaßte sie. Er brauchte einfach ein wenig Abwechslung, etwas, das ihn aus dem gleichförmigen Trott herausholte. Er benötigte einen Beweis dafür, daß er keine graue Maus, sondern noch zu etwas Ungewöhnlichem imstande war, bevor er alt wurde, die Pensionierung ins Haus stand, er am Stock ging, verfiel und starb.

Ruhig sah sie ihn an und sagte:

»Ich bin eifersüchtig. Das ist es. Das ist die Wahrheit.«

»Wie bitte?« fragte er.

»Ich will nicht, daß sie dich ansehen, dich haben können. Ich will nicht, daß irgendwelche Mädchen an dir rumfummeln. Ich würde furchtbar eifersüchtig sein. Ich liebe dich. Ich will nicht, daß sie dich lieben.«

»Aber Pat«, sagte er verzweifelt. »Darüber haben wir doch bereits gesprochen; das hat doch überhaupt nichts mit Liebe zu tun. Man tauscht doch nur den Partner, läßt sich ein bißchen gehen, streift seine Hemmungen ab … tut einmal etwas ganz anderes … nicht immer das gleiche bis ans Ende unserer Tage.«

Sie hatte recht gehabt. Nun, dann wollte sie eben alles tun, was ihre beschränkte Phantasie zuließ und wovon Sexmagazine sich nicht einmal die geringste Vorstellung machten – wenn sie bloß wieder unbeschadet aus Seven Sisters nach Hause gelangte.

»Du bist zu einmalig«, sagte sie zögernd. Blumige Koseworte waren ihnen fremd, sie machten einander nie übertriebene Komplimente. Und so war es nicht einfach, so etwas abends im Norden Londons auf dem Weg zu einer Gruppensexorgie zum erstenmal auszusprechen. Aber irgendwo mußte man ja mal anfangen.

»Du bist zu … wichtig. Zu wertvoll und aufregend. Ich … äh, bumse verdammt gerne mit dir. Ich will nicht, daß andere Frauen das mit dir erleben. Es ist mein … äh, Vergnügen.«

»Du magst es?« fragte er unschuldig.

»Ja.« Sie schloß die Augen, und ein tiefer Seufzer entfuhr ihr – war sie doch dem Sieg ganz nahe –, der wie tiefempfundenes Verlangen klang …

»Ich hätte nicht gedacht, daß du dir so viel daraus machst«, sagte er.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel«, antwortete sie und fügte nachdrücklich hinzu: »Aber das würde sich vielleicht ändern, wenn ich daran denken muß, daß all diese Frauen über dich gestiegen sind …«

Sie hielt inne. Es war ein kalkuliertes Risiko. Denn bisher hatte sie nur wenig über Stuarts Rolle bei dieser armseligen Sache nachgedacht, dazu war sie viel zu sehr mit sich beschäftigt gewesen. Aber Stuart ihre wahren Ängste zu offenbaren würde ihn nur in seiner Auffassung bestätigen, er hätte eine prüde, langweilige Frau geheiratet und könne seine Phantasien nur mittels Büchern ausleben, und das bis an sein Lebensende.

»Oft … äh, werde ich ganz aufgeregt, wenn ich mir vorstelle, daß eine Frau in die Bank kommt … äh, und dich vielleicht verführen will«, sagte sie.

Stuart sah sie an.

»Kein Grund zur Beunruhigung. Ein bißchen paranoid, deine Eifersucht«, erklärte er besänftigend. »Ich bin dir immer treu gewesen. Selbst heute abend wärst du ja dabei.«

»Ich will dich nicht mit ihnen teilen«, sagte sie. »Nein, Sie haben alte, gräßliche Ehemänner, widerliche Kerle. Aber ich habe dich. Weshalb soll ich denn so großmütig sein?«

Er sagte nichts. Sein Blick wanderte die Straße hinauf und wieder hinunter. Pat wandte ihre Augen nicht von seinem Gesicht. Der Blick die Straße hinab siegte.

»Wir wär’s mit Döner …«

»Und einer Flasche Wein.«

Als sie sich umwandten und zurück zur Haltestelle gehen wollten, hielt ein Paar mittleren Alters im Auto neben ihnen und fragte nach der Straße.

Welche Nummer sie suchten?

Nummer 17, wie Pat vermutet hatte.

Nachdem sie dem Paar den Weg gewiesen und ihnen »Viel Spaß« gewünscht hatten, brachen Stuart und sie in Gelächter aus.

»Die waren ein bißchen alt«, meinte Stuart. »Glaubst du, es wäre ziemlich schmierig und irgendwie jämmerlich geworden?«

Pat wollte nicht, daß er so darüber dachte.

»Nein, gewiß sind einige ganz tolle Exemplare unter den Gästen. Alte Leute sind sowieso viel leidenschaftlicher. Wahrscheinlich wäre die Dame sofort auf dem Kaminteppich über dich hergefallen, kaum daß wir die Schwelle

überschritten hätten.«

Im Licht einer Straßenlampe sah Stuart wirklich ein wenig dümmlich aus. Als hätte er erkannt, welch abgenutzten, schmuddeligen Anstrich das Ganze möglicherweise bekommen hätte. Stuart war ein sehr sanftmütiger Mensch. Pat wurde von einer Welle von Zuneigung erfaßt. Sie hätte ihn wirklich nicht mit einer anderen Frau teilen wollen, und ein Abend mit einer Flasche Wein, einem köstlichen scharfen Döner und schwarzroter Unterwäsche konnte einen so aufregenden Ausgang nehmen wie schon lange nichts mehr.

Frauen sind um so vieles vernünftiger, was Sex betrifft, dachte sie heiter, als Stuart die Tickets für die Rückfahrt löste. Vergessen waren die wochenlangen Ängste, die endlosen kritischen Blicke in den Spiegel, die unaufhörlichen Sorgen, daß alles ans Licht kommen würde. In ihrer Erleichterung erlaubte Pat sich sogar die verwegene Vorstellung, wie die ältere Frau aus dem Wagen wohl nackt aussehen mochte, und sie lächelte Stuart zu, der jetzt Ähnlichkeit mit einem Tiger besaß, wissend, daß seine Frau zu eifersüchtig war, um ihn bei einer Gruppensexparty mit einer anderen Frau teilen zu wollen. Das Gesichtsfeld hatte sich ohne eigenes Zutun erweitert.

Finsbury Park

Vera haßte Fernsehsendungen über die Armut. Schon der Anblick von Arbeiterfrauen, die mit Lockenwicklern im Haar und einem Baby auf dem Arm einem mitfühlenden Reporter ihre Probleme schilderten, erfüllte sie mit Abscheu. Denn zu sehr riefen solche Bilder in ihr die Erinnerung an ihre Jugend wach. Es war wie immer, als sähe sie ihre eigene Mutter in diesen schlurfenden, ewig jammernden Frauen, die obligatorische Zigarette im Mundwinkel, die Strickjacke von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten, die Wohnungstür immer offen, da ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, der durchdringende Geruch nach feuchter Wäsche … schlecht gewaschener, also schmutziger feuchter Wäsche.

Vera konnte es nicht ausstehen, wenn Frauen lauthals herauslachten, denn das erinnerte sie an ihre Mutter und ihre ältere Schwester, die immer dann, wenn die Lage besonders hoffnungslos war, losgegackert und sich mit flaschenweise Ingwerwein gegenseitig aufgemuntert hatten, da doch das Leben zu kurz war, um Trübsal zu blasen. Vera wollte an nichts mehr denken, das sie an das Leben vor ihrem fünfzehnten Geburtstag erinnerte.

An ihrem fünfzehnten Geburtstag war Vera mit akutem Gelenkrheumatismus ins Krankenhaus gekommen, und in den langen Wochen ihres Aufenthalts dort lernte sie Miss Andrews kennen, die reizende Lehrerin im Nachbarbett, die ihrem Leben eine entscheidende Wendung gab.

»Sag ihnen, sie sollen dir statt Süßigkeiten Lavendelwasser mitbringen.«

»Bitte deine Schulfreundinnen, dir keine Comics, sondern lieber Handcreme zu schenken.«

»Ich suche dir in der Bibliothek ein paar schöne Bücher aus.«

»Wir werden dem Sozialarbeiter sagen, daß dich ein Besuch beim Friseur aufmuntern würde.«

Als Vera aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte sie sich in ein schlankes, hübsches Mädchen verwandelt. Doch nicht nur äußerlich war sie ein neuer Mensch. Denn Miss Andrews hatte ihr einen wichtigen Grundsatz mit auf den Weg gegeben, daß nämlich auch unerfreuliche Dinge und schlimme Zeiten ihr Gutes haben konnten – wenn man sie als Lehrzeit betrachtete. Vera sollte unbedingt weiter zur Schule gehen und dort einen Abschluß machen, auch wenn die Schule unerträglich war und ihr Zuhause die reinste Hölle.

So hatte sie also die Augen vor dem Schmutz und dem Elend ringsum verschlossen und von dem Tag geträumt, an dem sie in einem sauberen Haus wohnen würde, ohne Bratpfannen mit den eingebrannten Resten von unzähligen Mahlzeiten. Sie malte sich aus, daß sie einmal ein eigenes Zimmer haben würde, wo kein Geschrei und kein Lärm zu hören waren, wo keine jüngere Schwester mit Kopfläusen sich auf ihr Bett werfen würde und sagen:

»Zur Hälfte ist es auch mein Zimmer, du kannst mich nicht rausschmeißen.«

»Zieht nicht zu früh von zu Hause aus«, hatte Miss Andrews ihr eingeschärft. »Erst wenn du ganz sicher bist, daß du es allein schaffst. Wieder dorthin zurückkehren zu müssen wäre niederschmetternd. Es würde dir allen Mut rauben.«

Vera konnte sich später kaum mehr an die zwei Jahre erinnern, die sie noch bei ihrer Mutter gewohnt hatte. Von Zeit zu Zeit war bestimmt auch ihr Vater heimgekommen … dann ging es immer besonders laut und gewalttätig zu. Und sie hatte zweifellos regelmäßig die Schule besucht, immerhin konnte sie in einigen Fächern einen Abschluß vorweisen. Außerdem hatte sie es sich in diesen beiden Jahren wohl zur Gewohnheit gemacht, Miss Andrews allwöchentlich zu besuchen; sie war bestimmt mehr als hundertmal in der ruhigen Wohnung mit dem Klavier, den Trockenblumensträußen, den Vitrinen voller Porzellan und der schnurrenden Perserkatze vorbeigekommen.

So nützlich diese Lehrjahre auch gewesen waren, in Veras Gedächtnis war jede Erinnerung daran gelöscht. Als sie fortging, beherrschte sie jedenfalls Maschineschreiben, Stenographie und Rechtschreibung. Auch hatte Miss Andrews sie – allein durch ihr Vorbild – gelehrt, stets freundlich zu lächelnd und sich gewandt auszudrücken. Vera hatte den früher schrillen Klang ihrer Stimme gedämpft, sie sprach die Vokale weniger gedehnt aus und hatte ihre überstürzte Reaktionsweise abgelegt. Und so war ihre Mutter völlig perplex, als Vera fluchtartig aus der elterlichen Wohnung zog. Doch Vera ließ sich auf keinerlei Debatten und keinen Streit ein – und auch die flehentlichen Bitten ihrer Mutter stießen auf taube Ohren.

»Aber du wirst uns doch oft besuchen kommen, jedes Wochenende«, bettelte ihre Mutter.

»Natürlich«, versprach Vera. Doch sie kam kein einziges Mal.

Statt dessen schickte sie ihrer Mutter dreimal jährlich ein Kuvert mit einer Karte und einer Pfundnote darin: zu Weihnachten, zum Geburtstag und am Muttertag. Doch schrieb sie weder, wie es ihr ging, noch, wo sie wohnte. Kein Wort über einen geplanten Besuch, keine Fragen nach den anderen Familienmitgliedern. So hatten sie keine Möglichkeit, ihr Bescheid zu geben, als Margaret starb. Oder sie um Hilfe zu bitten, als Colin von der Polizei geschnappt wurde. Auch als das Pfund nur noch ein Fünftel seines früheren Wertes besaß, änderte Vera ihre Gepflogenheit nicht: Dreimal im Jahr trudelte eine brandneue grüne Einpfundnote ein, mit einer Büroklammer an eine nichtssagende Glückwunschkarte geheftet. Einmal zerriß ihre Mutter sie und warf sie ins Feuer, doch auch das sollte Vera nie erfahren.

Miss Andrews war zu vornehm gewesen und zu sehr Dame, um das Mädchen darüber aufzuklären, daß Geld der Schlüssel zur Lösung beinahe jedes Problem war – zu dieser wichtigen Erkenntnis gelangte sie erst später durch eigene Erfahrung. Selbst wenn Miss Andrews sich darüber im klaren gewesen wäre, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dieses Wissen an Vera weiterzugeben. Nachdem Vera den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hatte, verfuhr sie ebenso mit Miss Andrews. Allerdings gab sie sich bei der Auswahl der Karten, die sie der Lehrerin schickte, größere Mühe und legte hin und wieder ein Spitzentaschentuch oder ein kleines Duftkissen für das Wäschefach bei. Doch auch ihr schrieb sie nie, was sie machte oder wo sie war, und schon bald, oder zumindest nach einiger Zeit, dachte die einsame Lehrerin nicht mehr an das Mädchen. Ihre knappen Grüße, nicht länger als drei Zeilen, hatten etwas Endgültiges … sie klangen nach Abschied.

Die ersten fünf Jahre in Freiheit – in denen sie fünfmal Stellung und Zimmer wechselte – zählte Vera noch zu ihrer Lehrzeit. Anders als ihre Arbeitskolleginnen fand sie keine Zeit für Flirts und hatte auch kein Geld, um es für unnützen Kram zu verwenden – ein Kinobesuch dann und wann, ja, aber nur, wenn sie dabei etwas über stilvolle Kleidung und gute Umfangsformen lernte. Sie ging hauptsächlich in englische Filme, die Lebensart der Amerikaner war zu ausländisch, wahrscheinlich sogar geschmacklos und das pure Gegenteil von Stil. Die Mittagspause verbrachte sie in Boutiquen oder in Buchhandlungen, wo sie in Magazinen blätterte, ohne sie jedoch zu kaufen: Das, was ihr nach Bezahlen der Miete noch blieb, investierte sie in Abendkurse, von »Französisch für Anfänger« bis »Machen Sie das Beste aus Ihrem Typ«.

Ehe sie sich’s versah, war sie eine junge Dame von dreiundzwanzig Jahren geworden, gebildet und wortgewandt, und wohnte in einem hübschen Zimmer zur Untermiete. Im Laufe der Zeit hatte sie ein paar reizende Ziergegenstände zusammengetragen, ganz ähnlich jenen, die Miss Andrews in ihrer Vitrine ausgestellt hatte. Und sie wußte einige Dinge, auf die es ankam, zum Beispiel, daß man sich bei der Ausstattung der Wohnung auf eine einzige Stilrichtung beschränken sollte. Die wichtigsten Regeln des guten Benehmens kannte sie aus dem Effeff, und falls sie jemals ins Auge gefaßt hätte, Gäste zu bewirten, hätte sie genau gewußt, wie der Tisch richtig zu decken war und welchen Wein man zu den einzelnen Gängen kredenzte.

Doch in all den Jahren war es ihr nicht gelungen, die Verhältnisse, aus denen sie kam, mit unverkrampftem Blick zu betrachten. Sie wunderte sich immer wieder, wie freimütig die anderen Mädchen in der Arbeit davon erzählten und sich sogar darüber lustig machten, wie ungehobelt und ordinär es bei ihnen zu Hause zugegangen war … Vera hätte sich nie dazu hinreißen lassen, etwas über ihre Familie preiszugeben. Ein- oder zweimal, als man sie dazu drängte, gab sie vor, es schmerzte sie zu sehr, von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Folglich nahm man an, es habe irgendein tragisches oder unerfreuliches Ereignis gegeben, und ließ sie in Ruhe.

Veras Interesse für Porzellan verhalf ihr zu einer Stelle in einem eleganten Hotel, wo sie die Geschenkboutique führte, und hier lernte sie auch Joseph kennen. Er war zwanzig Jahre älter als sie und hatte große, ängstliche Augen und einen besorgten Gesichtsausdruck – die ideale Partie, wie ihr eins der ständig kichernden Mädchen vom Empfang versichert hatte. Ein kinderloser, einsamer und schwerreicher Witwer, den der Tod seiner Frau so sehr mitgenommen hatte, daß er sein Haus verkauft hatte und ins Hotel gezogen war. Hier lebte er schon seit drei Jahren. Und ganz offensichtlich war er auf der Suche nach einer Frau, denn das Leben im Hotel hatte seine Schattenseiten. Gelegentlich kam er in Veras kleinen Laden, um Geschenke für Kunden zu besorgen, und sie beriet ihn dabei mit Charme und sicherem Geschmack. Er fühlte sich sehr zu ihr hingezogen, und schon bald nahm er all seinen Mut zusammen und lud sie ein, mit ihm auszugehen. Veras Zögern war nicht gespielt. In ihrem Bemühen, ihren eigenen Vorstellungen von einer Dame zu entsprechen, hatte sie kaum einen Gedanken daran verschwendet, daß sie schließlich auch eine Frau war. Da sie nur wenig über Männer wußte, war sie bei ihren ersten Verabredungen sehr schüchtern. Doch gerade das gefiel Joseph ganz besonders … Schon nach wenigen Wochen schwärmte er ihr von seinem Traumhaus vor und daß er befürchtete, sich dort einsam zu fühlen, wenn er es nur für sich allein kaufte. Überschwenglich stimmte sie ihm zu, daß man in einem großen Haus nicht allein leben sollte. Deshalb wohne sie auch in einem winzigen Zimmer zur Untermiete.

Ob er sie dort wohl einmal besuchen dürfe, erkundigte sich Joseph. Vera hatte nichts dagegen und lud ihn für den kommenden Samstag zum Nachmittagstee ein. Das funkelnde Sonnenlicht auf dem erlesenen Porzellan, der seidige Schimmer von Veras Haar, das glänzend polierte Holz des kleinen Tischchens … all das rührte Joseph zu Tränen. Auf einmal begann er sich dafür zu entschuldigen, daß er schon fünfundvierzig war, daß er so anmaßend gewesen war anzunehmen, so ein hübsches junges Mädchen wie sie würde auch nur daran denken, ihn … Sie ließ ihn ein paar Minuten lang weiterreden, doch als er dann aus lauter Verlegenheit einen Rückzieher machen wollte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und sagte:

»Sprechen Sie nicht weiter, Joseph. Ich freue mich darauf, Ihr Traumhaus in Finsbury Park sehen zu dürfen, und wir werden es zu einem Palast machen, wie es keinen zweiten gibt auf der Welt.«

So einen ähnlichen Dialog hatte sie einmal in irgendeinem alten Film gehört, und die Worte erschienen ihr für diese Gelegenheit sehr passend. Und wie sie paßten! Es war genau das Richtige gewesen. Die nächsten Monate standen ganz im Zeichen hektischer Betriebsamkeit: Sie besichtigten das Haus, Vera kündigte ihre Stelle im Hotel und bekam zur Hochzeit von Joseph einen kleinen Teil seines Vermögens überschrieben. Da sie mit ihrer Familie nichts mehr zu tun haben wollte, heirateten sie in aller Stille. Anschließend verbrachten sie kurze Flitterwochen im sonnigen Südfrankreich. Damit endete Veras Lehrzeit, ihr Leben begann.

Die kleine Spülküche neben der großen Küche in Finsbury Park erkor sie zu ihrem Hauptquartier. Dort saß sie und studierte die Pläne, dorthin kehrte sie zurück, nachdem sie in aller Ausführlichkeit die übrigen Räume ausgemessen hatte, dort begutachtete sie Stoffe, Farbkarten, Kachel- und Holzmuster. In dieser Spülküche stapelten sich bergeweise Kataloge, während sie mit gerunzelter Stirn und geschürzten Lippen darüber brütete, mal dieses, mal jenes in Erwägung zog, das Für und Wider bedachte und schließlich noch einmal ihre erste Wahl begutachtete. Nachdem einige Wochen auf diese Weise verstrichen waren, wurde Joseph allmählich unruhig.

»Wird dir das alles nicht zuviel, mein kleiner Liebling?« erkundigte er sich besorgt. »Wir könnten einen Innenarchitekten damit beauftragen, fachmännischen Rat einholen, wenn du willst. Einfach jemanden hinzuziehen, der dir die Dreckarbeit abnimmt.«

»Dreckarbeit?« rief Vera, ehrlich überrascht. »Aber das ist es doch gerade, was am meisten Spaß macht. Alles selbst auszusuchen, damit es wirklich perfekt wird. Sich selbst ein ganz und gar vollkommenes Zuhause zu schaffen!« Ihre Augen sprühten vor Begeisterung, deshalb verzichtete Joseph darauf zu erwähnen, daß sie sich ein Zimmer teilen und die Mahlzeiten in der kleinen Spülküche einnehmen mußten, während ein Vierzehn-Zimmer-Haus auf sie wartete. Ein leeres Haus, das es einzurichten galt.

Es wurde eingerichtet. Wenn auch erstaunlich langsam. Allein die Malerarbeiten dauerten Monate, die Auswahl der Vorhänge und Möbel nahm nicht weniger Zeit in Anspruch. Zwei Jahre verstrichen, und immer noch sah das Haus aus, als wären sie eben erst eingezogen. Joseph war zutiefst enttäuscht.

Seine Arbeit als Syndikus forderte ihn. Und als Vera, dieses zarte, blühende Geschöpf, seine Frau wurde, hatte er gedacht, sein Leben würde eine neue, fast wundersame Wendung nehmen. Sicher, an den Abenden fühlte er sich jetzt nicht mehr so einsam wie damals im Hotel. Aber dafür waren sie weit weniger gemütlich. Im Hotel hatte er genügend Platz gehabt, um sich zu entspannen, um auszuruhen und um zu arbeiten. Dort war auch das Essen ausgezeichnet gewesen. Zu Hause hingegen, in seinem zukünftigen Palast, war für nichts dergleichen Platz. Er lebte aus einer Kiste im Schlafzimmer, denn Vera wollte sich erst dann richtig einrichten, wenn das Mobiliar komplett und am richtigen Platz aufgestellt war, und das dauerte Monate – für jedes einzelne Möbelstück. Auch an Kochen war nicht zu denken, denn sie mußten erst noch darauf warten, daß die nötigen Geräte installiert wurden. Aber Vera schien sich für Nahrung ohnehin nicht zu interessieren, und allem Anschein nach dachte sie, daß auch Joseph keine brauchte. Wenn er abends von der Arbeit heimkam, gab sie ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange und präsentierte ihm dann ein Bündel Prospekte und Kataloge mit Stoffmustern.

»Oh, Liebling, da bist du ja. Schatz, was meinst du, sind die Blumen auf diesem Muster hier zu groß? Ich bin mir fast sicher, aber nicht ganz.«

Er versuchte zu erraten, was sie von ihm hören wollte, mußte jedoch so tun, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, sonst war sie nicht zufrieden. Oft, wenn er zwei Stunden über Muster gebrütet hatte und vor Hunger und Müdigkeit ganz matt war, fragte er sich, ob sie nicht tatsächlich an einer Nervenkrankheit litt, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Aber sogleich bekam er ein schlechtes Gewissen und verdrängte diesen Gedanken. Wie selbstsüchtig von ihm zu erwarten, seine junge Frau müsse ihn mit einem Glas Scotch und einer warmen Mahlzeit empfangen und lebhaftes Interesse dafür zeigen, wie sein Tag verlaufen war.

Gelegentlich aß er noch im Hotel, bevor er nach Hause ging. Vera schien das nichts auszumachen. Ja, natürlich habe sie genügend gegessen, murmelte sie vage, sie mache sich meist eine Tasse Suppe und belegte Brote dazu.

Auch Josephs Kinderwunsch schien sich nicht erfüllen zu wollen. Erst nach einer ganzen Weile fand er heraus, daß Vera die Pille nahm, während er ständig darauf gehofft hatte, sie würde ihm endlich sagen, daß sie schwanger sei. »Aber Liebling, in diesem prächtigen Haus können wir doch nicht daran denken, uns Kinder zuzulegen! Ich meine, wie kann man in einem Haus mit solchen Tapeten Kinder haben?« Dabei strich sie beinahe zärtlich mit der Hand über die Tapete.

»Überhaupt nie?« Jacques stockte vor Schreck schier der Atem.

»Vielleicht irgendwann einmal«, lenkte Vera ein, denn sie hatte die leise Ahnung, daß sie diesmal vielleicht ein bißchen zu weit gegangen war.

Vera war achtundzwanzig, und sie waren inzwischen fünf Jahre verheiratet, als er ihr gegenüber zu erwähnen wagte, daß das Haus jetzt aber wirklich fertig eingerichtet war. Er hatte jedes Detail bewundert, jedes einzelne Möbelstück mit ihr zusammen noch einmal umgestellt und hoffte, daß diese langwierige Angelegenheit nun endlich abgeschlossen war. Doch mit zunehmender Besorgnis mußte er feststellen, daß sie nur widerwillig kochte, um die Küche nicht zu verunreinigen, und im Wohnzimmer mußten die Vorhänge geschlossen bleiben, damit die Farben nicht verblichen. In dem Arbeitszimmer, das sie für ihn eingerichtet hatte, konnte sich kein heimeliger Geruch einnisten, denn sie hatte ihn gebeten, nicht zuviel einzuheizen, daß die Farbe sonst Blasen werfen könnte. Und seine Zigarren mußte er draußen rauchen. Dieses Jahr war das unglücklichste in seinem ganzen Leben, denn nun wurde Joseph klar, daß die Fertigstellung des Hauses nicht gleichzeitig bedeutete, daß nun ein normales Zusammenleben für sie beide begann.

Veras hübsches Gesicht war noch immer über Zeitschriften und Farbmusterkarten gebeugt. Noch nie hatten sie jemanden zu sich eingeladen. Einmal hatte er seine Mutter, eine ältliche Frau, mit nach Hause gebracht … allerdings nur auf einen Drink vor dem sonntäglichen Mittagessen. Denn Vera hatte angeführt, sie könne unmöglich einen großen Braten zubereiten, wenn sie die Küche im bestmöglichen Zustand vorführen wollten.

»Aber müssen wir sie denn unbedingt im bestmöglichen Zustand vorführen?« fragte er verzweifelt.

»Warum hätten wir sonst all die Zeit und das Geld investieren sollen, wenn wir nicht alles so schön wie möglich haben wollen?« entgegnete sie.

Er hoffte, mit einer regelmäßigen Haushaltshilfe würde sie diese Dinge etwas lockerer sehen können. Siebzehn Bewerberinnen stellten sich bei ihnen vor, denn er bot ein hohes Gehalt. Schließlich einigten sie sich auf eine junge Filipina, die sich ebenso für das Haus begeisterte wie Vera. Zusammen putzten und polierten sie nun von früh bis spät. Sie wischten die maßangefertigten Möbel und Einbauten feucht ab und rieben gläserne Lampen mit weichen Staubtüchern blank, bis sie vor Sauberkeit strahlten. Die junge Frau aus Manila sparte jeden Penny, den sie verdiente, und ernährte sich wie Vera ausschließlich von Fertigsuppen, um sich bei Kräften zu halten. Abends zog sie sich in ihr Zimmer zurück und sah fern. Vera hatte ihr ein tragbares Fernsehgerät besorgt, damit sie zu Hause blieb. Wie sie Joseph erklärte, hätte Anna nämlich nicht mehr genug Energie für die Hausarbeit, wenn sie sich abends herumtrieb.

Joseph schlug vor, auch eine Köchin einzustellen, doch Vera wandte ein, so jemand würde nur die Küche in Unordnung bringen. Allerdings hätte sie gerne eine tägliche Zugehfrau fürs Grobe, damit Anna und sie sich auf die Feinarbeiten konzentrieren konnten.

Die Putzfrau kam fünf Tage die Woche. Sie fand, daß Vera nicht ganz bei Trost war, und sagte ihr das auch. Aber Vera hörte gar nicht richtig zu und war nicht im geringsten beleidigt.

»Wenn Ihnen die Arbeit nicht gefällt und das Geld, das Sie dafür kriegen, kann ich auch jemand anderen einstellen«, sagte sie schlicht und klang überhaupt nicht gekränkt dabei.

Die Putzfrau hieß Mrs. Murray und wohnte in einem Häuserblock ganz ähnlich jenem, in dem Vera aufgewachsen war. Manchmal tat Mrs. Murray die Verrückte, für die sie arbeitete, ein bißchen leid, und dann erzählte sie ihr Geschichten aus dem Leben im Wohnblock. Aber Veras Gesicht verzerrte und verkrampfte sich jedesmal. Sie rannte fast aus dem Zimmer, wenn Mrs. Murray begann, diese Erinnerungen wieder in ihr wachzurufen. »Bitte, Mrs. Murray, machen Sie mit Ihrer Arbeit weiter. Bitte. Ich will Sie nicht aufhalten. Ein anderes Mal vielleicht.«

Hinter ihrem Rücken tippten sich Anna und Mrs. Murray an die Stirn und schüttelten den Kopf.

»Ich glaube, die kommt aus sehr armen Verhältnissen«, vertraute Mrs. Murray Anna eines Tages an.

»Aber ich denke, sie ist so eine reiche Frau«, entgegnete Anna.

»Tut dir nicht auch ihr armer Mann leid?« fuhr Mrs. Murray fort. »Bei mir daheim hätte er es besser, da wäre es lustig, und er bekäme eine gute Fleischpastete, wenn er von der Arbeit heimkommt. Und danach Eiscreme und ein Gläschen Portwein dazu, und seine Hausschuhe würden wir ihm auch bringen. Und um mal ganz ehrlich zu sein, ich glaube, das wäre ihm auch viel lieber.«

Anna dachte darüber nach.

»Ja, wenn ich an meine eigene Familie daheim in Manila denke … wir haben kaum Geld … kaum etwas zu essen, fast keine Möbel … Aber wenn unser Vater nach Hause kommt … laufen alle herbei und begrüßen ihn ganz herzlich, und er ist der Mittelpunkt.«

Mrs. Murray nickte wissend.