Die Strafe Gottes - Thomas Pollan - E-Book

Die Strafe Gottes E-Book

Thomas Pollan

3,9

Beschreibung

Der Abschluss der UNO-Biowaffenkonvention ist ins Stocken geraten. Die Entwicklungsländer, angeführt von der belarussischen Regierung, blockieren die Verhandlungen. Alle Hoffnungen, die weltweiten Biowaffenarsenale doch noch unter internationale Kontrolle zu stellen, liegen jetzt auf einem Mann: Jack Wilda. Er war einer der besten Männer der UNO - bis ihm während seiner letzten Mission im Sudan alles genommen wurde, was ihm lieb war. Seither ist er ein wandelndes Wrack, ausgeliefert seinen Launen und Panikattacken. Wilda lässt sich auf den Fall ein und ahnt bald, dass die politische Blockade nur der Anfang eines größeren Plans ist. Welches schmutzige Geheimnis verbergen der belarussische Staatschef und seine kaltblütige Tochter? Welche Rolle spielt der ominöse Oligarch? Was hat es mit den Gerüchten von ex-sowjetischen Biowaffenlabors auf sich? Aber Wilda scheint zu spät zu kommen, denn plötzlich bricht in Europa die Pest aus ...

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Thomas Pollan

DIE STRAFE GOTTES

Für Paul, Vater und Sohn

VERLAG

SALIS VERLAG AG, ZÜRICH

 

www.salisverlag.com • [email protected]

 

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LEKTORAT

PATRICK SCHÄR / ANDRÉ GSTETTENHOFER

KORREKTORAT

INA SERIF

FOTO UND UMSCHLAG

MICHEL GILGEN

SATZ

BARBARA HERRMANN

GESAMTHERSTELLUNG

FGB, FREIBURG IM BREISGAU

 

1. AUFLAGE 2011

 

© 2011, SALIS VERLAG AG, ZÜRICH

 

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

 

ISBN 978-3-905801-47-7

 

PRINTED IN GERMANY

The views expressed herein are those of the author and do not necessarily reflect the views of the United Nations.

Hey, Ho, Let’s Go!

Ramones

PROLOG Nr. 1Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik. 1987

Graues Schneegestöber rauschte über den Bildschirm. Dann ein Schatten, der Umriss einer Gestalt.

»Ist er das?« Einer der Wissenschaftler beugte sich zum Monitor.

»Wer?«, fragte der Techniker, während er weiter an den Reglern drehte.

»Na, der Vektor.«

»Hä?« Der Techniker wollte nicht kapieren.

»Idiot, die Kleine«, fauchte der Wissenschaftler.

»Klar.« Der Techniker schluckte seinen Ärger hinunter. Mit den Eierköpfen legte er sich nicht an. Er hatte gesehen, was sie aus einem machen konnten.

»Geht’s schärfer?«

Der Techniker drehte nochmals an den Reglern. Das Flimmern ließ nach und die Querstreifen verschwanden. Die Männer konnten das kleine Zimmer, das Bett, den Stuhl erkennen. Im Hintergrund bewegte sich etwas.

»Da.« Einer der Männer deutete mit dem Zeigefinger auf den Monitor. Nun konnten sie das Mädchen sehen.

Dreißig Augenpaare musterten ihr Kindergesicht.

»Süßes kleines Monster«, bemerkte ein Wissenschaftler.

»In zehn Stunden«, bemerkte ein anderer.

»Was?«

»Na, Monster.« Sein Kollege grinste. »Ham, ham.« Er fletschte die Zähne und lachte. Seine Kollegen stimmten mit ein.

Während die Männer ihren Tod beschlossen, presste Ivana dreißig Kilometer weiter westlich ihre Erstklässler-Stupsnase gegen die Scheibe ihres Zimmerchens und blickte in den winzigen Garten. Die Zweige des alten Apfelbaumes bogen sich im Wind. Eine warme Brise vertrieb den Winter aus dem Land. Der Schnee begann zu schmelzen. Es roch nach nasser Erde. Heute war ihr Geburtstag.

Um ein Uhr klopfte der Postbote und brachte ein Paket. Ivanas Mutter nahm es in Empfang und stellte den braunen Karton vorsichtig auf den Küchentisch. Als sie sah, dass es an Ivana adressiert war, lächelte sie. Es musste von Igor sein. Er hatte den Geburtstag seiner kleinen Schwester nicht vergessen, obwohl er schon seit Jahren im Westen lebte, wo er mit allen möglichen Jobs versuchte, das magere Einkommen der Familie aufzubessern.

»Mama, was ist das?«, fragte Ivana, als sie das Päckchen sah.

»Ich glaube, es ist ein kleines Geschenk für dich, mein Schatz«, erwiderte ihre Mutter. »Aber warte noch ein bisschen mit dem Aufmachen. Wenn Papa zu Hause ist, packen wir es gemeinsam aus, ja?«

An diesem Abend fiel es Ivana besonders schwer, auf ihren Vater zu warten. Immer wieder warf sie ungeduldige Blicke auf die große Küchenuhr, deren Zeiger nur widerwillig auf die erhoffte Stunde zustrebten. Sie saß am Küchentisch und betrachtete das Paket. Mit der Hand streichelte sie über das raue Packpapier. Wenn sie ihre Nase nahe genug dranhielt, duftete es nach Reise und Abenteuer. Als ihre Mutter für einen Moment nach draußen ging, nahm sie es, hielt es ans Ohr und schüttelte es.

Nichts.

Das Mädchen seufzte und stellte das Paket zurück auf den Küchentisch. In der rechten Ecke klebten exotische Briefmarken, und dort, wo der Name des Absenders stand, hatte der Regen die Schrift unleserlich gemacht.

Den ganzen Nachmittag hatte Ivana das Geschenk nicht aus den Augen gelassen. Das Paket erschien ihr groß und ungeheuer kostbar. Igor hatte bestimmt lange dafür sparen müssen, dachte sie, auch wenn Mama immer sagte, dass er nun im Westen, im Paradies, lebe. Dort, wo die Sonne unterging, musste es liegen, dieses sagenumwobene Reich. Weit weg von Belarus, diesem verwünschten Land, in dem seit dem seltsamen Unfall im nahen Tschernobyl Kühe zweiköpfige Kälber zur Welt brachten.

Als der Vater endlich nach Hause kam, sprang Ivana auf und fiel ihm in die Arme. Sein von Sorgen gealtertes Gesicht wurde weich, als er seine Tochter umarmte und küsste. Ivana nahm ihn bei der Hand und zerrte ihn in die Küche, in der es warm und gemütlich war, während draußen ein kalter Frost eingesetzt hatte. Der Vater schüttelte den letzten Rest der Kälte ab, die wie ein eisiger Schleier an ihm hing, stülpte die alte, schwere Jacke über eine Stuhllehne und setzte sich zu seiner Familie an den Küchentisch. Ein zärtliches Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Ivanas Begeisterung sah. Einen Augenblick später schob ihm das Mädchen den Grund dafür entgegen.

»Seltsam, dass Igor nichts von dem Geschenk erzählt hat«, sagte er zu seiner Frau und strich Ivana sanft über das Haar. »Er hat doch erst letzte Woche angerufen.«

Ihre Mutter zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte er uns überraschen.«

»Mach es auf, meine Kleine«, antwortete der Vater und betrachtete die blauen Kinderaugen seiner Tochter. Die Mutter lächelte und rückte ihren Stuhl näher an Ivana. Dann schnitt sie mit einer Schere die Schnüre auf und reichte Ivana den Karton. »Jetzt bist du dran, alles Gute zum Geburtstag, mein Engel.«

Kaum hatte Ivana den Karton aufgeklappt, hielt sie den Atem an. Eine kleine schlanke Puppe lag vor ihr, eingeschweißt in einer geblümten Hartplastikverpackung. Das Mädchen war sprachlos. Das war eine Puppe, wie keines der anderen Kinder im Dorf sie besaß: blond, mit großen Augen, in ein rosa Kleidchen gehüllt und mit zerbrechlichen Puppenschuhen an den kleinen Füßen. Ivanas Augen glänzten vor Freude.

»Baaarbiiie«, las die Mutter den Text auf der Verpackung und lächelte. »Na, mach sie auf.« Sie gab Ivana die Schere.

Ivana machte sich an der Plastikverpackung zu schaffen. Es war nicht einfach, das harte Material zu zerschneiden. Sie rutschte ab, versuchte es erneut und rutschte wieder ab.

Die Mutter nahm Ivanas Hand und führte sie. Gemeinsam setzten sie die Schere an. Ivana lächelte. Die Mutter strich ihr übers Haar. »Langsam, Engelchen«, sagte sie.

Dann ließ sie die Schere zuschnappen.

Ivanas Großmutter war eine Frau, die schon vieles erlebt hatte. Nun war sie weit über siebzig und blickte mit ruhiger Gelassenheit auf die verbleibenden Jahre. Wie an den meisten kalten Tagen stand die alte Frau auch heute in ihrer kleinen Küche und wärmte sich an dem eisernen Kohlenofen. Die wollene Jacke bis zum Hals zugeknöpft, rührte sie den Teig für das süße Brot, welches Ivana so liebte, und warf alle paar Minuten einen Blick aus dem Fenster, auf das der Nachtfrost eisige Blumen gemalt hatte. Gleich würde, so wie jeden Tag, ihre Kleine kommen, um den Vormittag mit ihr zu verbringen.

Doch Ivana kam nicht.

Als das Mädchen um elf Uhr immer noch nicht da war, ahnte die alte Frau, dass etwas nicht stimmte. Der Wind heulte durch das traurige kleine Dorf, als sie sich ihren Schal umband und sich auf den Weg machte, um nach dem Rechten zu sehen. Es war ein kurzer Fußmarsch zum Haus ihrer Tochter. Doch schon nachdem sie vor die Türe getreten war, spürte sie die beißende Kälte. Über Nacht hatte der Frühling noch einmal den Rückzug angetreten. Eisige Luft aus den Tiefen Sibiriens strich über das Land und fuhr ihr durch Schal, Mantel und Kleid. Die Greisin ging schneller.

Mit eiligen Schritten stapfte sie über die Lehmrinnen, die sich anstelle einer Straße durch das Dorf zogen. Wie schäbig heute alles aussieht, fuhr es ihr durch den Kopf. Verkommen, dreckig und . . . so einsam. War es nicht so? Als hätten alle über Nacht das Weite gesucht. Die Großmutter schüttelte den Kopf. Doch das Gefühl blieb, etwas stimmte nicht. Nicht einmal der bissige Hund der Nabokovs schlug an, als sie sich an dem Haus des Bauern vorbeischlich. Es kam der alten Frau vor, als würde sie durch ein Geisterdorf gehen. Ein Dorf voller verdammter Seelen.

Noch einmal schüttelte sie den Kopf und balancierte vorsichtig über eine tiefe Rinne. Was für Gedanken! Ihre Fantasie ging wieder einmal mit ihr durch.

Sie war nur noch zwei Häuser vom Heim ihrer Tochter entfernt. Ihr Blick streifte über die schmalen Vorgärten, die wackeligen Zäune, die vor den Häusern aufgeschichteten Brennholzstapel, welche im Winter bis zu den Fenstern reichten und nun kaum noch kniehoch waren.

Alles war so wie immer, und doch fehlte etwas.

Die alte Frau grübelte, blickte einmal um sich. Sie hörte das Rascheln eines Busches, durch den der Wind fuhr. Irgendwo in der Ferne knallte die Brise einen Fensterladen zu, ein Hund heulte kurz auf und verstummte sogleich.

Ansonsten – nichts.

Ein unheimliches Gefühl beschlich sie. Eine Angst, die aus dem Bauch strömte und ihr Rückgrat emporkroch. Die dunklen Fenster der verlassenen Häuser starrten sie an. Kein Licht schimmerte hinter den Scheiben, kein Lachen, kein Streit, auch keine freundliche Unterhaltung drang zu ihr. Alle menschlichen Töne schienen von der Erde getilgt zu sein.

Die Großmutter beschleunigte ihre Schritte. Sie stürzte über die Pfützen, rannte die letzten Meter der Straße entlang zum Haus ihrer Tochter und klopfte gegen die Tür.

Niemand antwortete ihr.

Die Großmutter klopfte noch einmal.

Nichts.

Ihre Fäuste trommelten gegen das Holz.

Die Schläge verhallten im Haus.

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen.

Eilig trat die Greisin ein und rief nach ihrer Tochter.

Wieder kam keine Antwort.

Die Großmutter zwang sich voranzugehen. Schritt für Schritt drang sie tiefer in das Haus ein.

»Hallo?«, rief sie und nötigte ihre zittrige Stimme zur Ruhe:

»Wo ist mein großes Enkelkind?«

Als sie auch diesmal keine Antwort bekam, begriff sie. Es war die Stille, welche ihr beinahe den Atem nahm. Diese mörderische, dunkle Stille. Sie hatte das unheimliche Schweigen schon bemerkt, als sie am Haus der Nachbarn vorbeigeschlichen war.

Oder bereits zuvor? Heute Morgen, in ihrer eigenen kleinen Hütte? War es ihr nicht aufgefallen, dass niemand einen Motor anließ, dass kein Kind auf dem Weg zur Schule lachte, dass sich eine seltsame Dunkelheit, die jeden Ton schluckte, wie ein Leichentuch über die wackeligen Hütten ihres Dorfes ausgebreitet hatte?

Ja, sie hatte es geahnt, seitdem sie heute Morgen die schwere Wolldecke zurückgeschlagen und ihre alten Füße aus dem Bett gestreckt hatte. Etwas war über das Dorf hergefallen. Man konnte es in jedem Winkel spüren. Auf der Anhöhe hinter dem Karpfenteich, in der Gasse des Schmieds, vor dem alten Schulgebäude, dessen Tor verschlossen blieb.

War sie denn blind und taub gewesen, es nicht früher zu begreifen? Hatten ihre alten Sinne sie genarrt? War diese Stille nicht von so einschneidender Schärfe gewesen, dass sie selbst den Toten noch Schauer über den Rücken jagte?

Die alte Frau zitterte. Nun bemerkte sie, dass es auch hier, im Inneren des Hauses ihrer Tochter, eiskalt war, als ob jemand vergessen hätte, heute Morgen zu heizen. Wo waren nur alle? Wo war ihre Tochter? Ihr Enkelkind? Ihre Ivana? Eine lähmende Angst fasste sie an der Kehle, wollte sie zu Boden ringen. Wo war die Kleine? Die Kraft schwand ihr aus den Armen und Beinen. Ihre Hand glitt von der Klinke der Küchentür.

Doch dann riss sie sich zusammen. Mit einem Ruck drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Blankes Entsetzen ergriff sie.

Sie konnte sich nicht rühren, nicht sprechen, nicht schreien, nicht weinen. Sie erstarrte, inmitten der Apokalypse.

Weit weg hörte sie ein Ticken. Die Küchenuhr. Eine Sekunde, zwei . . .

»Ivana«, murmelte die Greisin. Die Kleine lag am Boden. Sie umklammerte eine Puppe. Ihr Gesicht war eine entstellte Fratze – die Lippen schwarz, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Und ihre Zähne – sie glänzten lang, scharf und blutrot. Neben dem Mädchen kauerte die Mutter, leblos, als wäre sie von einem Moment auf den anderen verwelkt. Eine breite Wunde klaffte an ihrem Hals, wie von einem stumpfen Messer oder einem . . . Biss? Daneben, auf dem Steinboden, der Vater. Auf seinem eingefallenen Gesicht ein Ausdruck grenzenlosen Grauens.

Die alte Frau stolperte, taumelte einen Schritt zurück und stolperte wieder. Sie hielt sich an der Wand fest. Stützte sich gegen einen Türpfosten. Und endlich brüllte sie. Sie brüllte, weinte und schrie, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte.

Eine Stunde verging. Dann rückte das Team vor. Schweigsame Gestalten in Schutzanzügen. Schwere Atemgeräte auf den Schultern. Automatische Gewehre in den Händen. Der Wind hatte sich gelegt.

Im Dorf herrschte Stille.

ERSTER TEIL

IM WESTEN

1New York, USA. Fünfundzwanzig Jahre später

Das Glas klirrte gegen die Wand. Explodierte wie eine Granate. Ein Scherbenhagel ging auf den blank polierten Parkettboden nieder. Sekunden später krachte die Flasche gegen die Mauer. Es regnete Wein. Rote Streifen liefen die Wand hinab. Jack Wildas Blick irrte durch die Wohnung. Was noch?

Er fand nichts. Nichts, was genug Krach machen konnte, nichts, was klirren und explodieren konnte, nichts, was die verdammten Geister aus seinem Hirn treiben würde.

Er schrie. Drosch seine Faust gegen die Wand. Taumelte.

Seine Knie knickten ein.

Als sein Kopf auf den Boden knallte, wurde es ihm schlagartig klar. Es würde niemals enden. Das war sein letzter Fluchtversuch gewesen: drei Monate Europa. Drei Monate grenzenloser Freiheit. Drei Monate, die sogar Mutter Theresa Schauer der Wollust über den Rücken gejagt hätten. Drei Monate, die jede Erinnerung auslöschen mussten.

Und trotzdem . . .

Trotzdem hatten ihn die Erinnerungen verfolgt. Nicht für eine Sekunde hatte er diesen Mühlstein abstreifen können, der ihn immer tiefer ins Wasser hinabzog.

Vor zwei Stunden war er nach New York zurückgekehrt. Zurückgekehrt in ein Leben, das er mit Geistern teilte. Es war sinnlos, so weiterzumachen. So sehr er sich auch bemühte. War er nicht in ein neues Leben geflohen? Hatte er nicht seinen Job, seine Missionen in sonnenverbrannten Ländern, sein altes Leben hinter sich gelassen?

Jack krümmte sich am Boden, versuchte, auf allen vieren ins Bad zu kriechen. Es gelang ihm nicht. Er wälzte sich zur Seite und blieb wie betäubt liegen. Das fahle Licht der Nacht kroch durch das große Südfenster in den Salon. Es kam Jack unnatürlich hell vor. Der Blizzard hatte New York erreicht. Wahrscheinlich schneite es jetzt auch in Manhattan.

Seine Gedanken schweiften ab. Wieder kam es ihm so vor, als hätte er die Wüsten Afrikas niemals verlassen. Noch immer dachte er an die Toten, an die Schüsse, an das Blut. Die Bilder hatten sich in sein Gehirn geätzt. Und da lag er nun und wand sich auf einem unbezahlbaren Perser in seinem Zehn-Zimmer-Apartment in einem alten Backsteingebäude am Rand des Financial District. Dr. Jack Wilda, dessen Lebenslauf alle Ostküstenideale verkörperte, die seit den Zeiten der Gründerväter Generation um Generation beflügelten. In dem Jahr, als Clinton seine Affäre mit Lewinsky beendete, graduierte Jack in Harvard. Sprang auf den Dotcom-Boom auf, brachte es (tage- und nächtelang ohne Pause schuftend) innerhalb kürzester Zeit zum Millionär und blieb es auch noch, als die Internetblase platzte und von den meisten Dotcoms nur noch rauchende Trümmer übrig blieben. Danach verschwand Wilda von der Bildfläche, um nach einigen Jahren wieder nach New York zurückzukehren, wo er bald einer der begehrtesten Junggesellen der Stadt wurde. Niemand, der den athletischen Mann, dem das Lachen so leicht zu fallen schien, kennenlernte, konnte ahnen, dass dieser vom Glück verwöhnte New Yorker Socialite ein gebrochener Mensch war, dessen Gedanken Tag und Nacht um seine ermordete Familie kreisten. Doch Jack machte sich nichts vor.

All sein Geld, seine Freunde, die Frauen, die seinen Geschmack und seine Großzügigkeit schätzten, konnten weder die Leere in seinem Inneren ausfüllen noch ihm über die Panikattacken hinweghelfen, die ihn oft und ohne Vorwarnung heimsuchten. So sehr er sich auch bemühte, noch immer zitterten seine Hände, wenn er einen Auspuff knallen hörte, noch immer vermied er Menschenansammlungen und noch immer warf er jede seiner Mätressen nach einer Nacht wieder raus.

»Warum?« Er schrie und es hallte von den Wänden wieder. Der Ton brach und verklang irgendwo zwischen dem Salon und einem der weitläufigen Gästezimmer. In einem Zehn-Millionen-Dollar-Penthouse gibt’s wenigstens keinen Stunk mit den Nachbarn, fuhr es ihm durch den Kopf.

»Nicht, solange dir das ganze verdammte Haus gehört«, meldete sich gleich darauf eine flüsternde Stimme. Jack erkannte sie sofort. Die Stimme der Vernunft. Obwohl sie nicht mehr war als ein Flüstern im Hinterkopf, war es Jack doch unmöglich, sie zu ignorieren. »Du besoffenes Schwein«, schallte es hinter seiner Stirn. »Reiß dich zusammen!«

Jack war unfähig zu antworten. Heute Nacht würde er nicht mit seiner Vernunft sprechen. Heute nicht. Heute führten Verzweiflung, Angst und Wut das große Wort. Mr. Vernunft hatte den Kürzeren gezogen. Das letzte Restchen Selbstbeherrschung war zum Fenster hinausgeflogen, als Jack heimgekehrt war und für einen Moment gedacht hatte, sie würde auf ihn warten. Wie damals. Verdammtes Déjà-vu.

Hundsgemeine mentale Fallschlinge.

Das muss der Moment gewesen sein, als sich Mr. Vernunft verabschiedet hatte. Nun, zwei Flaschen Rotwein später, meldete er sich zurück. Beschissenes Timing.

Jack verlor den Faden. Seine Gedanken drifteten davon. Die Wände um ihn herum schwankten, bogen sich, schienen zu wispern: »Niemals mehr, nie mehr.« Wo war Mr. Vernunft jetzt, fragte sich Jack und versuchte, die Stimmen zu überhören.

Da knurrte es in seinem Kopf: »Alkoholinduzierter Kontrollverlust, Dr. Wilda. Nicht wahr?«

»Ja und?«, stöhnte Jack.

»Nette Art zu verrecken«, entgegnete Mr. Vernunft.

»Ich verrecke nicht, Arschloch.«

»Am eigenen Erbrochenen«, erklärte die Stimme.

»Verpiss dich, ich erbreche nicht.«

»Hendrix’ letzte Worte.«

»Ich erbreche . . .«

»Von Bon Scott ganz zu schweigen«, unterbrach Mr. Vernunft.

»Bon wer?«

»Scott. AC/DC? Der wollte auch nicht erbrechen und . . .«

»Und was?«

». . . ist daran krepiert.«

»Danke für den Hinweis, aber ich . . .« Jacks letzte Ganglien schalteten auf Stand-by. Sein Magen zog sich zusammen und er übergab sich. In einer gewaltigen Flutwelle strömte alles heraus. Die Wut, die Verzweiflung, die Angst. Er spie es auf den Boden, achtete nicht auf das Blut an seinen Knöcheln oder die Tränen in seinen Augen. Ein letztes Mal schüttelte es ihn. Dann wurde es still.

»Ich lebe noch«, stöhnte er.

Mr. Vernunft schwieg. Kann ja nicht eine Antwort auf alles haben, dachte Jack. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Als er wieder aufwachte, fiel ein kühles, weißes Licht durch die mit Eiskristallen beschlagenen Fenster in den Salon. Durch die dicken Backsteinmauern hörte Jack den Wind pfeifen, der um den Block heulte und den Schnee in dichten Schauern gegen die Fassade trieb.

Für einen Augenblick verharrte er am Boden. Dann raffte er sich auf. Er fühlte sich leer, benommen, ein lebender Toter. Mit schleppenden Schritten wankte er an das große Südfenster. Hinter den tausend Schneeflocken, die in einem wirren Tango zu Boden stürzten, konnte er die Umrisse der Freiheitsstatue erkennen. Er starrte in das Schneetreiben. Es kam ihm vor, als würde ganz New York unter einem Leichentuch verschwinden.

Mit einem Stöhnen drehte Jack sich um, wankte ins Bad, riss sich sein Hemd vom Leib, spülte seinen Mund aus und kehrte in den Salon zurück. Er wischte das Erbrochene auf, schmiss die feuchten Fetzen weg. Und blickte auf.

Der Anrufbeantworter blinkte. Jack stand auf, um die Nachricht abzuhören.

»Hey, Sportsfreund. Die verlangen jetzt hundert Prozent Aufschlag. Kannst du mich zurückrufen? Ciao.« Amar Ciplas Stimme verstummte.

Jack drückte den Delete-Knopf. Vielleicht würde er sich ein andermal darum kümmern. Nicht heute.

Sein Blick fiel auf den Schreibtisch. Der Laptop lockte. Jack zögerte, überlegte. Dann setzte er sich, öffnete ihn, tippte sein Passwort ein und drückte die Enter-Taste.

Für einen Moment schloss er die Augen. Eine grenzenlose Müdigkeit durchflutete ihn und er fragte sich einmal mehr, ob es all das noch wert wäre. Ob er so weitermachen sollte. Oder ob er einfach . . .

Der Bildschirm flackerte und Jack weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen. Nein, er hatte kein Recht dazu. Nicht er.

Mit einem Ruck griff er nach der Maus und führte sie an einen Ordner. »Meine Bilder« stand darauf.

Noch einmal zögerte er.

Die Zeit vor dem Computer verging, ohne dass Jack sich regte.

Er konnte sich nicht von seinem Stuhl und dem fahlen Licht des Bildschirms lösen. Es war sein Herdfeuer, an dem er sich wärmte, sein Zuhause, das ihn willkommen hieß.

Die Bilder, dachte Jack. Ich hätte sie schon lange löschen sollen. Nur ein leichter Druck seines Zeigefingers und sie wären weg. Für immer aus seinem Leben. Doch er konnte sich nicht dazu aufraffen, noch nicht. Einen Blick wollte er sich noch gönnen. Nur einen Blick. Er öffnete den Ordner.

Fotografien erschienen auf dem Bildschirm. Jack lächelte. Er setzte die Maus auf das erste Foto.

Klick, eine fröhliche, dunkelhaarige Frau erschien. Ihre Augen lachten.

Klick, ein neues Bild, Jack und die Frau in einem warmen Land. Die Aufnahme war voller Sonne, sie umarmten sich.

Klick. Dem Foto folgt ein weiteres. Die Frau hatte Jack losgelassen. Er stand jetzt neben ihr. Sie berührten sich. Sie waren Kameraden, Freunde, Liebende. Die Frau blickte direkt in die Kamera, froh, glücklich, selbstbewusst. Der Jack, den er auf dem Foto sah, schien jung zu sein. Sein blondes Haar voller, seine Haut gebräunt, sein Lachen breit. Groß und stolz stand er im Sand. Er und die junge Frau steckten in beigen Militärhosen und Jacken, wie sie Touristen und Großwildjäger in Filmen trugen. Wüstenuniformen, wie geschaffen für eine Safari, eine Tour durch die Sahara, honigsüßes Abenteuer.

Jack starrte auf den Bildschirm. Er kannte das Bild gut, er konnte seine Augen schließen und sich jedes Detail ins Gedächtnis rufen. Die Strahlen der Sonne, den weißen Jeep, der im Hintergrund vor einer Düne stand, und natürlich sie, wie sie sich an ihn lehnte. Adrianas Haar, die braunen Augen und die kleine, kaum erkennbare Rundung ihres Bauches.

Jack atmete ein. Seine Augen wollten nicht von dem Bild lassen. Er hob seine Hand und strich mit dem Zeigefinger über den Bildschirm, über den Körper der Frau, über ihren Bauch. Das metallische Scheppern eines Heizungsventils riss ihn aus seinen Betrachtungen. Er fuhr herum. »Fuck«, murmelte er. Dann stand er so unvermittelt auf, dass der Stuhl mit einem Krachen umfiel.

Er knurrte noch einmal »Fuck«, bevor sich seine Wut in ein abfälliges Grinsen verwandelte.

Ohne ihn auszuknipsen, knallte Jack den Laptop zu. Erschrocken fuhren die Schaltkreise herunter. Die Festplatte verstummte. Das Summen des Computers erlosch. Es wurde still.

Jack ging mit raschen Schritten durch den Salon zum Fenster und blickte wieder in das nicht enden wollende Schneetreiben. Sein Herz raste.

Wieder hatte er geglaubt, ihr Lachen zu hören, ihre Berührung zu spüren. So wie an dem Tag, an dem sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte.

Er dachte an sein Leben, wie es hätte sein sollen, wie es vor mehr als sechshundert Tagen auch noch war. Er dachte an seine viel zu große Wohnung mit dem unbenutzten Kinderzimmer und dem kleinen Bett, das für immer leer bleiben sollte.

Jack drückte seinen Kopf gegen das kalte Glas der Fensterscheibe. Sein Atem blieb daran hängen. Schwach fiel das gelbe Licht seiner Schreibtischlampe durch das Fenster nach außen, in das weiße Dämmern der anbrechenden Nacht. Weit über dem Häusermeer, jenseits der Wolken, aus denen Schauer auf Schauer auf die Stadt hinabrieselte, ging ein dicker, hämischer Mond auf.

2Am nächsten Tag

»Wilda, Wilda. Jack Wilda«, murmelte der alte Mann und ging in seinem Büro auf und ab. »Wilda?«, wiederholte er noch einmal den Namen, den ihm sein Kabinettschef vor wenigen Minuten am Telefon genannt hatte. War dieser Wilda wirklich seine einzige Chance? Sollte er alles auf diese Karte setzen?

Eine Windbö knallte wie ein Schlag gegen die Fensterscheiben des UNO-Hauptquartiers. Der Mann schenkte dem Toben des Sturms keine Beachtung.

Santa Cruz griff nach einer Fernbedienung und knipste einen Fernseher an. Ein fernes Donnern übertönte für einen Moment die Stimme des Moderators, dann vernahm er es deutlich: »Wir geben nun weiter an Walther Cobald. Walther, kannst du mich hören?«, fragte der Moderator.

»Ja, Harold, ich höre dich gut.« Ein Mann mit schütteren Haaren, der sein Gesicht in den Wind streckte, erschien am Bildschirm. Der CNN-Reporter öffnete seine Lippen zu einem breiten Grinsen, das eine blendend weiße Zahnreihe zur Geltung brachte. »Ich stehe vor dem New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen«, setzte er an. »Seit Wochen warten wir auf den Frühling, aber es ist eisig kalt an diesem 25. März um 10:00 Uhr morgens.«

Weit oben in seinem abgeschirmten Büro zog Aragon de Santa Cruz die Augenbrauen hoch. Das letzte, was er von CNN hören wollte, war ein Wetterbericht. Er musste nur aus dem Fenster auf die gebückten, in Daunenjacken gehüllten Gestalten sehen, die achtunddreißig Stockwerke tiefer zwischen den Übertragungswagen zitterten, um zu wissen, dass sich der Blizzard der letzten Nacht immer noch nicht verzogen hatte. Wenn er sich bemühte und seine alten Augen anstrengte, konnte er da unten an der First Avenue sogar die im Wind flatternden Fahnen und den CNN-Wagen ausmachen, dessen Satellitenschüssel wie das Geweih einer seltenen Dinosaurierrasse in den grauen New Yorker Himmel ragte. Daneben standen die Übertragungswagen von Fox News, BBC und einem Dutzend anderer Stationen.

Der Reporter, der vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen gegen die Kälte und den beißenden Märzwind ankämpfte, wusste nichts von dem alten Mann, der ihn im Fernseher beobachtete. Er strich sich das dünne Haar aus der Stirn, das die eisige Brise durcheinandergewirbelt hatte, und fuhr mit seiner Reportage fort: »Die Kälte hält das diplomatische Uhrwerk nicht auf. Hier in New York werden heute die eigens angereisten Staats- und Regierungschefs die neue Biowaffenkonvention unterschreiben. Während des Kalten Krieges haben die Supermächte Ebola, Pest, Anthrax und andere Seuchen gezüchtet, um sie als biologische Kampfmittel einzusetzen. Heute lagern die Bestände in Laboratorien, oft unter prekären Sicherheitsbedingungen. Die neue Biowaffenkonvention, an der seit den 1970er-Jahren gefeilt wurde, soll nun Abhilfe schaffen. Endlich konnte man sich auf einen Vertrag einigen, der die Überwachung der Bestände an biologischen Kampfmitteln erlaubt. Nach schwierigsten Verhandlungen haben sich auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die sowohl die Technologien als auch die Labore zur Produktion von biologischen Kampfmitteln übernommen hatten, bereit erklärt, der Konvention zuzustimmen. Aus internen Quellen hört man, dass sogar der belarussische Staatschef Valentin Mirakov angereist ist, um die Übereinkunft zu unterzeichnen. In der Vergangenheit wehrte sich Belarus gegen jegliche Kontrollmechanismen. Die Welt blickt nun hoffnungsvoll auf New York. Vieles hängt von der Umsetzung dieser neuen Konvention ab. Und vieles hängt von den Personen ab, denen die Kontrollen anvertraut werden. Walther Cobald, CNN – United Nations.«

Santa Cruz schaltete den Fernseher aus. Er wusste, CNN irrte sich. Ganz gewaltig sogar. Doch was konnte er tun? Regungslos blieb der alte Mann mitten im Zimmer stehen.

Eine tiefe Stille legte sich über das Büro, schlich sich in jede Ecke, füllte den ganzen Raum so aus, sodass Santa Cruz meinte, seinen Herzschlag hören zu können. Vielleicht bin ich mit achtundsechzig Jahren doch zu alt für den Job, dachte er sich, während sein Blick wieder das Bild seiner Frau suchte. Er fand es, nahm den Silberrahmen vom Schreibtisch und hielt ihn sich vors Gesicht. »Bin ich zu alt? Was denkst du, Schatz?«, murmelte er und gestand sich im selben Moment ein, dass er sich keine Antwort auf diese Frage geben würde. Nicht, solange er, Aragon de Santa Cruz, Generalsekretär der Vereinten Nationen, noch eine Pflicht zu erfüllen hatte.

Nicht, solange er ein Mandat hatte.

Und doch spürte er, wie die endlosen Stunden der Arbeit und das ständige Leben nach einem festgesetzten Protokoll an seinen Nerven fraßen. Trotzdem entwich ihm nur selten ein Wort der Beschwerde. Bis zu dem Treffen mit den Belarussen zumindest. Vierzig Jahre lang hatte ein UNO-Generalsekretär nach dem anderen an dem Biowaffenvertrag gesessen. Dutzende Sonderbeauftragte hatten versucht, die Verhandlungen am Leben zu halten. Hunderte Botschafter waren die langen Hallen, deren abgetretene graue Teppichbeläge den Klang aller Schritte verschluckten, entlangmarschiert, um weiter und immer weiter zu verhandeln. Experten, Professoren und Diplomaten hatten Formulierungsvorschläge unterbreitet, sie tausendmal überarbeitet und trotz einer Vielzahl an Rückschlägen nie aufgegeben.

Und jetzt?

Jetzt, da man endlich einen fertigen Vertrag vorliegen hatte, jetzt, da die Reporter in Scharen antanzten und CNN schon Hintergrundberichte sendete, jetzt sollte man sich nicht auf einen Namen einigen können?

Santa Cruz schüttelte den Kopf und stellte das Foto seiner Frau zurück an seinen Platz.

In diesem Moment klopfte es und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.

»Hansen.« Santa Cruz bemerkte den Kopf seines Kabinettschefs im Türrahmen.

Ohne zu zögern stürmte Sven Hansen in das Arbeitszimmer des Generalsekretärs. »Diese Kretins«, schimpfte er, dann hielt er abrupt an. »Kretins«, wiederholter er.

Der Generalsekretär trat einen Schritt zurück und musterte seinen Kabinettschef. Sven Hansen, der groß gewachsene Norweger, ähnelte mit seinem kurz geschorenen, grauen Haupthaar einem spätantiken römischen Soldatenkaiser. Seit Jahren war er der engste Mitarbeiter von Santa Cruz. Jahre, die an Krisen nicht gerade arm gewesen waren. Rezessionen, Armut, Aufstände, Bürgerkriege. All das war Alltag. Aber auf dieses Treffen mit den Belarussen, das vor einer halben Stunde geendet hatte, waren beide nicht vorbereitet gewesen. Dreißig Minuten – und die Arbeit von Jahrzehnten war den Bach hinuntergegangen.

»Diese belarussischen Schwachköpfe.«

»Der Präsident?«, fragte Santa Cruz.

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass er die Entscheidung getroffen hat«, warf Hansen ein.

»Sie meinen die Tochter . . .?«

»Ja, sie ist die treibende Kraft hinter der Blockade.«

Der Generalsekretär nickte. Marija Mirakov, die Tochter des Präsidenten, war eine Erscheinung gewesen. Eine Königskobra, die nur darauf lauerte zuzubeißen. Während der Unterredung hatte Santa Cruz sie aus den Augenwinkeln beobachtet. Seine Augen waren über ihr Gesicht gewandert, bis ihr Blick dem seinen begegnete und er in zwei dunkle Augen starrte, denen nicht ein Hauch menschlicher Wärme innewohnte.

»Das heißt, die Berichte über Marija Mirakov sind korrekt?«

»Jeder einzelne. Marija Mirakov ist die Strippenzieherin in Belarus.«

»Keine Opposition?«

»Keine Chance. Das Ganze ist ein Familienbetrieb«, erklärte Hansen. »Keine Opposition, keine freien Medien, keine internationale Überwachung. Das Ganze ist der perfekte wet Dream jedes Möchtegerndiktators.«

Der Generalsekretär stand mitten im Zimmer. Er schien ruhig zu sein, nur seine Hände zitterten leicht. Hansen wusste, dass sich so sein Ärger äußerte. Der Mann hatte auch allen Grund dazu. Die UNO hatte hundertzweiundneunzig Mitgliedsstaaten. Achtzig mussten zustimmen, damit der Biowaffenvertrag in Kraft treten konnte. Die Zustimmung der Entwicklungsländer, die seit den 1960er-Jahren eine automatische Mehrheit in der Generalversammlung hatten, war essenziell. Doch jetzt hatte Belarus die G77, den Klub der Entwicklungsländer, in letzter Minute davon überzeugt, den Vertrag nicht zu unterschreiben. Zumindest solange der UNO- Generalsekretär nicht einem Wissenschaftler aus einem Entwicklungsland die Kontrolle über die Waffenarsenale übertragen hatte. Das war die Bedingung. Oder wohl der Sargnagel des Vertrages. Denn wo man einen solchen Wissenschaftler finden konnte, stand in den Sternen.

»Der fette Präsident und sein Fräulein Tochter wollen Zeit schinden«, erklärte der Kabinettschef.

»Genau die haben wir nicht, Hansen«, bemerkte der Generalsekretär. »Wenn wir den Vertrag jetzt nicht durchboxen, schaffen wir es nie.«

Hansen neigte zustimmend den Kopf. »So ist es.« Seine Stimme hatte sich beinahe in ein Murmeln verwandelt. »Ich wette, die brauchen Zeit, um die Beweise verschwinden zu lassen.«

»Sie glauben immer noch . . .?«, sagte der Generalsekretär.

»Ich bin mir sicher.«

»Ach Hansen. Belarus ist ein armes – bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise –, es ist ein armes Drecksloch.«

»Richtig.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Mirakovs in den letzten Jahren Geld übrig hatten, um es in Biowaffen zu investieren.«

Der Kabinettschef setzte eine verständnisvolle Miene auf. Für einen Moment ähnelte er mit seinem geschorenen Kopf und den aufmerksamen blauen Augen einem buddhistischen Mönch. Dann verhärtete sich sein Gesicht wieder. »Es ist ein Drecksloch, da haben Sie recht, Generalsekretär«, wiederholte er.

»Na also.« Der Generalsekretär glaubte, die Sache sei erledigt.

Doch er hatte sich getäuscht, denn ohne zu zögern setzte Hansen nach: »Aber ein diktatorisch regiertes Drecksloch. Und ich bin mir sicher, dass die Familie, die über diesen Vorhof zur Hölle herrscht, ein schmutziges Geheimnis hat, das sie vor der Welt verborgen halten will.« Hansen ging im Arbeitszimmer des Generalsekretärs auf und ab, während sich Santa Cruz an seinen Arbeitstisch lehnte. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte er auf seinen Kabinettschef.

»Ich rede nicht von einem Chemielabor für Volksschüler, Generalsekretär«, fuhr Hansen fort. »Wenn unsere Vermutungen richtig sind, steht irgendwo in Belarus eine Biowaffenschmiede der Sicherheitsstufe vier.«

»Ein sowjetisches Erbstück?«

»Genau. Was die Sowjets damals aus dem Boden gestampft haben, hätte einen Massenvernichtungs-Nobelpreis verdient. Die besten Wissenschaftler arbeiteten am Biowaffenprogramm. Dementsprechend exzellent waren die Forschungsergebnisse. Wird uns jeder Geheimdienst bestätigen. Aber wie weit die damals entwickelten Waffen mittlerweile gediehen sind . . .«, Hansen zuckte mit den Schultern, ». . . davon haben wir keine Ahnung.«

»Hansen, ich kann mir nicht helfen, aber Sie sprechen wie ein Kalter-Krieg-General«, wandte Santa Cruz ein. »Wer braucht denn heute noch all dieses Zeug, künstliche Pockenepidemien und ähnlichen Wahnsinn? Wir leben in der Zeit der asymmetrischen Kriegsführung. Die Zeit der Massenarmeen ist vorbei.« Santa Cruz zerschnitt die Luft mit dem Zeigefinger. »Fakt ist, ich begreif einfach nicht, warum diese Blockierer den Vertrag nicht unterzeichnen wollen.«

»Eben weil es in Belarus noch ein Labor geben muss«, entgegnete Hansen.

»Und? Es wird nicht das einzige Labor sein, das den Kalten Krieg überlebt hat. Das kann doch kein Grund sein.«

Hansen blieb stehen, blickte sich um. Das Arbeitszimmer des Generalsekretärs war geräumig und hell, obwohl Santa Cruz jeden Quadratmeter mit Büchern und Andenken seiner Reisen angefüllt hatte. In der Mitte des Zimmers entdeckte Hansen, was er suchte. Mit einem Stöhnen ließ er sich in das breite, weiße Sofa fallen, das dem Arbeitstisch des Generalsekretärs gegenüberstand. »Mein Rücken bringt mich noch um«, krächzte er. Für einen Augenblick, als er spürte, wie seine Muskeln sich entspannten, lockerte sich seine Miene, um sich einen Moment später wieder zu verhärten. »Dieses Labor ist eine Brutstätte des Todes, Generalsekretär«, sagte er mit beschlagener Stimme. Santa Cruz runzelte die Stirn.

»Starke Worte, Hansen«, sagte der Generalsekretär. »So etwas bin ich von Ihnen nicht gewohnt. Ich glaube, ich will etwas mehr darüber hören.«

»Von allen bekannten Laboratorien, in denen einmal sowjetische Koryphäen Spanische Grippe und Pest gezüchtet haben, können wir mehr als die Hälfte abhaken«, ratterte Hansen seinen Bericht herunter. »Die einen sind geschlossen und die Wissenschaftler abgehauen, die anderen produzieren heute superbleichende Zahnpasta oder andere Wohltaten. Und dann . . .«

»Gibt es da noch ein dreckiges Dutzend?«

»Nicht einmal. Eher ein halbes Dutzend.«

»Und über die wissen wir nichts?«

»So ist es. Nicht wo sie liegen, nicht wofür sie verwendet worden sind, nada. Alles, was wir haben, sind Hinweise, eine Handvoll Andeutungen aus alten Akten.«

»Andeutungen, in denen auch von einem Labor in Belarus die Rede ist?«

Hansen nickte.

Der Generalsekretär klaubte eine Büroklammer von seinem Schreibtisch und begann, sie gerade zu biegen.

»Woher haben Sie diese Informationen?«

Hansen musste nur ein Kopfschütteln andeuten und der Generalsekretär verstand. Auf seine eigene Anweisung hin hatte sein Kabinettschef gewisse Freiheiten. Freiheiten, die man nur einem Mann wie Hansen übertragen konnte. Und die dieser, da war sich Santa Cruz sicher, zu nutzen wusste. Zum Besten der Organisation und damit zum Besten der Welt. Schlussendlich war es Hansens Sache, wie er an seine Informationen kam. Der Generalsekretär verzichtete darauf nachzubohren. Stattdessen fragte er: »Was wissen Sie also?«

»Wenig«, gestand Hansen.

»Und die anderen sind besser informiert?« Santa Cruz schnippte die Büroklammer zurück auf seinen Schreibtisch.

»Von wegen. Niemand hat den blassesten Schimmer. Nicht die CIA, nicht der MI6 oder der deutsche Nachrichtendienst. Nichts als Gerüchte, Vermutungen. Aber nehmen wir mal an, ich habe recht und Belarus verfügt über dieses Labor, das biologische Waffen herstellen kann. Und in diesem Labor gibt es irgendetwas, was die Präsidentenfamilie vor uns verheimlichen will. Dann müssen wir damit rechnen, dass Mirakov den Vertrag auf ewig blockiert.«

»Ich weiß nicht, Hansen. Ich weiß nicht.« Der Generalsekretär ging nun nervös im Zimmer auf und ab. »Zugegeben, niemand lässt sich gerne in die Karten schauen. Aber im Ernst. Was wollen die Mirakovs mit dem Zeug? Kein Mensch würde heute noch biologische Waffen auf die Menschheit loslassen.« Santa Cruz blieb stehen und fixierte Hansen. »Sie könnten doch alles wegkippen. Reinen Tisch machen.«

Der Generalsekretär erntete ein Kopfschütteln seines Kabinettschefs. »Jeder Diktator hat gerne ein Ass im Ärmel. Nicht erst seitdem die Amerikaner im Irak einmarschiert sind. Die Nordkoreaner basteln an der Bombe. Die Iraner versuchen, es ihnen gleichzutun. Die Araber und die Russen setzen auf die Ölwaffe und das belarussische Regime kann sich eben nur eine Pockenepidemie aus der Teströhre leisten. Deshalb werden die Mirakovs weiter blockieren. Das Einzige, was uns übrigbleibt, ist, sie zu überraschen und ihre Bedingung erfüllen.«

Der Generalsekretär senkte den Kopf.

Wie sollte man diese Bedingung erfüllen? Hansen und er waren die möglichen Kandidaten nach dem Treffen durchgegangen. Fazit: Es gab keinen akzeptablen Wissenschaftler aus einem Entwicklungsland, der sich mit Biowaffen auskannte und die Kontrolle über die weltweiten Arsenale übernehmen konnte. Ja, es gab staatshörige Forscher und korrupte Spezialisten, aber nicht den Namen des einen unabhängigen Forschers, den sie jetzt brauchten. Sie hatten keinen Namen. Und die Familie Mirakov wusste das.

Der Generalsekretär schluckte. Denn es gab noch eine Chance, diese letzte aller Möglichkeiten. Diesen einen Vorschlag Hansens, den er beinahe verdrängt hatte. Den er verdrängen wollte. Eine Notlösung, ja sicher, aber – da hatte Hansen recht – auch die einzige Lösung. Ungern stimmte der Generalsekretär Hansen zu: »Also gut, wir wissen zu wenig über diese Laboratorien, und wenn der Vertrag nicht unterschrieben wird, werden wir niemals mehr erfahren.«

»Zeit für Plan B?«

»Plan B«, kam es leise zurück, wie ein Echo. Schließlich ein Stöhnen. »Nun gut, Plan B.«

»Ich glaube nicht, dass wir viele andere Optionen haben«, bemerkte Hansen.

»Als einen heruntergekommenen Ex-Blauhelm, von dem Sie glauben, dass er uns einen akzeptablen Wissenschaftler an Land ziehen kann.«

»Das wäre der Plan, Generalsekretär«, bemerkte Hansen trocken. Der Generalsekretär durchquerte den Raum und blieb vor dem Ostfenster stehen. Am Horizont braute sich ein frisches Gewitter zusammen. Die Silhouette des kleinen Mannes zeichnete sich scharf vor den Wolkengebirgen ab, die der Wind über die Ostküste blies. Er überlegte einen Augenblick, dann wandte er sich an seinen Kabinettschef. »Also, dann erzählen Sie mir von diesem Wilda.«

Ein Ruck fuhr durch Hansen. Er hob den Kopf, öffnete den Mund. Und zögerte. Die Sätze kamen ihm nur stockend über die Lippen. »Jack Wilda war einer von uns: politischer Analyst und Blauhelm mit Harvard-Ausbildung. Er hat die UNO ein paar Monate, bevor Sie an Bord kamen, verlassen. Wilda war einer unserer Besten. Die Hälfte der Jungs, die heute in der politischen Abteilung sitzen, hat ihr Handwerk bei ihm gelernt. Soviel ich weiß, war sein Vater Brite und seine Mutter Österreicherin. Sie ist in den 1980er-Jahren bei einem Attentat auf eine Wiener Synagoge umgekommen. Mehr habe ich nie aus ihm herausbekommen. Der Rest steht in seiner Personalakte: College in Cambridge, graduiert mit Auszeichnung. Danach hat er sich aus lauter Abenteuerlust bei der Fremdenlegion gemeldet und ist zwei Jahre später in Harvard aufgetaucht.«

»Klingt abenteuerlich«, bemerkte Santa Cruz.

»Wilda konnte sich jedes Abenteuer leisten. Sein Vater hat ihm ein Vermögen hinterlassen und er hat es stetig vermehrt. Nicht immer koscher. Unter anderem arbeitet er mit Amar Cipla, diesem indischen Halsabschneider, zusammen.«

Der Generalsekretär hatte interessiert zugehört. Nun drehte er sich ganz um, nahm die Brille von der Nase und begann, sie mit einem Kleenex zu putzen. »Und welchen Eindruck haben Sie von Wilda?«

Hansen dachte kurz nach. »Er hätte alles werden können. Hatte Talent, war clever.« An dieser Stelle stockte Hansen und strich sich über den Kopf, als wollte er einen hässlichen Traum verscheuchen. Dann fuhr er aber doch fort: »Wir haben ihn unter anderem im Sudan eingesetzt. Die Mission schien für ihn ein Spiel mit hohem Einsatz zu sein. Wilda war unangepasst und hatte eine Tendenz, jede Hierarchie zu ignorieren. Trotzdem war er einer unserer Besten. Aber er kam einer Ölfirma in die Quere.« Hansen blinzelte. »Petrotan«, sagte er nur.

Wie ein zäh fließender, grauer Fluss kehrten die Erinnerungen zurück: Der Manager, der damals die Operationen für Petrotan im Sudan leitete, hatte die Drecksarbeit der sudanesischen Regierung und ihrer Miliz, den Dschandschawid, überlassen. Sie hatten das Land, das Petrotan zur Ölförderung brauchte, geräumt. Und sie waren dabei nicht zimperlich vorgegangen. Tausende Einwohner wurden vertrieben, und wer nicht schnell genug rennen konnte, bekam eine Kugel in den Kopf oder wurde in seiner Hütte verbrannt.

»Wilda hat sich damals um die Flüchtlinge gekümmert, die vor den Dschandschawid flohen«, erklärte Hansen. »Er hat Bericht um Bericht losgeschickt, um Petrotan zu stoppen. Ohne Erfolg. Eines Nachts erhielt ich dann einen Anruf. Eine Freiwillige von ›Ärzte ohne Grenzen‹ war lebensgefährlich verletzt worden.« Hansen stockte kurz. »Wir haben damals alles versucht, um sie aus dem Sudan herauszubekommen und in die nächste westliche Klinik zu überweisen – aber keine Chance. Die Ölfirma und die sudanesische Regierung haben jede Hilfe verweigert. Die Frau starb in der Wüste. Es war . . .« Noch einmal unterbrach der Kabinettschef seine Erklärung für einen kurzen Moment. Er blickte dem Generalsekretär direkt in die Augen. »Es war Wildas Frau.«

»Wilda war mit seiner Frau auf Mission?«

Hansen nickte. »Sie erwartete ein Kind. War im vierten Monat schwanger. Noch zwei Wochen und sie wären nach New York zurückgekehrt.«

Der Generalsekretär sagte nichts. Doch Hansen spürte, dass er ihm konzentriert zuhörte. »Dass wir seine Frau nicht retten konnten«, fuhr er fort, »hat Wilda fertiggemacht. Er kehrte als seelischer Krüppel in die Staaten zurück. Zwar hat er noch versucht, seinen Job anzutreten, aber er war gereizt, misstrauisch, litt unter Panikattacken. Nach zwei Monaten hat er seinen Abschied eingereicht. Die Ärzte stellten ihm ein Attest aus. PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung.«

Santa Cruz setzte sich seine blank geriebene Brille wieder auf und schielte über die Gläser. »Und dieser Mann, der, so wie Sie es mir schildern, Anweisungen ignoriert, keine Hierarchien akzeptiert und unter PTBS leidet, soll uns helfen?«

»Er ist der Einzige von uns, der Zugang hat«, bestätigte Hansen. »Ach Gott«, fluchte Santa Cruz. »Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass wir uns auf dieses wandelnde Wrack verlassen müssen?«

Hansen zuckte mit den Achseln. »Er kann den Kontakt herstellen. Mehr verlangen wir ja nicht.«

Eine Weile sprach niemand. Dann brach Santa Cruz die Stille. »Was sollen wir jetzt Ihrer Meinung nach tun?«

»Jetzt, Generalsekretär, jetzt müssen wir uns entscheiden.«

3

Hinauf damit. Er griff nach der Hantel. Wuchtete sie in die Höhe. Sein Bizeps brannte. Die Sehnen spannten.

Noch einmal.