Eine abenteuerliche Reise ins tiefste Afrika - William Quindt - E-Book
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Eine abenteuerliche Reise ins tiefste Afrika E-Book

William Quindt

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Beschreibung

Roger Robin erhält den Auftrag, einen legendären Elefantenfriedhof in Afrika zu suchen und das wertvolle Elfenbein zu bergen. Auf seiner Expedition begegnet er der faszinierenden Schönheit Yala, die ihm hilft, den geheimnisvollen Kontinent besser zu verstehen. Sie scheint mit den Wildtieren ihrer Heimat kommunizieren zu können und verfügt allem Anschein nach sogar über magische Kräfte. Rechtzeitig genug erkennt Roger, dass er im Begriff ist, ein Naturparadies unwiederbringlich zu zerstören. Auch sein Herz ist längst der faszinierenden Wildnis verfallen… William Quindt hat mit "Die Straße der Elefanten" einen mitreißenden Roman verfasst, der die Leser sofort in seinen Bann zieht. Sein überzeugendes Engagement für eine intakte Natur und nachhaltigen Tierschutz sind zugleich hochspannend und zeitlos modern. Das größte Abenteuer meines Lebens begann damit, dass ich an einem grauen, wolkenverhangenen Hamburger Oktobertag plötzlich eine gewaltige Auflehnung gegen mein allzu zahmes Leben verspürte, dass mich Platzangst, Herbstpsychose, Torschlusspanik und Ich-weiß-nicht-was überfielen und mich beutelten wie eine Hundemeute einen verstört sich duckenden und wild und wütend um sich schnappenden Fuchs. Am Tag zuvor hatte ich Geburtstag gefeiert, siebenundvierzig Jahre alt war ich geworden, drei Jahre also nur noch, und ich hatte ein halbes Jahrhundert vollendet. Ich wurde alt, gewiss, unglaublich, unfassbar alt, aber ich hatte gelacht, ich hatte getrunken, ich hatte die Platte mit den kanadischen Coureurliedern aufgelegt, ich hatte aus vollem Hals mitgesungen: »La riviere de Loup est longue et large, la riviere de Loup est large partout …« Ich hatte gelacht, ich hatte gesungen, ich hatte sehr viel getrunken, und Eva, die auf meinem Schoß saß, hatte mit mir gesungen, gelacht und gezecht. Ich war sehr ausgelassen, bis sich irgendwann, irgendwie an diesem Tag doch ein Stachel in mein Fleisch drückte: Mir wurde klar, dass ich alt wurde. Kein junger Mensch kann sich vorstellen, dass er einmal fünfzig Jahre alt wird. Und wenn auch – ganz gewiss ahnt er nicht, dass der tiefe, süße Sang seines Blutes nicht mit den Jahren versiegt, dass im Gegenteil jede Sucht seines Herzens lockender und süchtiger wird, dass die Reben des Herbstes würziger und berauschender sind als die bunten Blüten der frühlingshaft jungen Tage. Ich wurde alt – und ich hatte immer noch das gleiche heiße, süchtige Herz! Und ich fühlte mich wie ein Hund an der Kette, seitdem ich vor einem Jahr in Britisch-Guyana den guten Professor Eduard Waldmüller an Halskragen und Hosenbund aus dem Morast des Essequibo gezogen hatte. Der Herr Professor hatte seinen Lebensretter, dem es nicht allzu rosig ging in jener Zeit, mitgenommen. Seit einem Jahr lebte ich neben ihm her als sein Assistent, präparierte Tausende von Vogelbälgen, einige Dutzend Arten und Unterarten von Wasserratten und gab mir die erdenklichste Mühe, die überreichen Ergebnisse der Forschungsreise des guten Professors in den gewünschten museumsreifen Zustand zu versetzen. Ich lebte gut, denn ich wurde nicht wie ein gewöhnlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern mehr als anständig bezahlt. Ich wohnte luxuriös an der Außenalster, ich aß in guten Restaurants, zweimal in der Woche ging ich mit meinem Mädchen ins Theater oder in die Oper, ins Varieté, ins Kino oder in eine stille Weinstube. Ich wurde alt, ich verspießerte, längst hatte ich im Spiegel entdeckt, dass meine schlanke Figur sich in der Gürtelgegend behaglich und höchst reputierlich auswölbte. Ich wurde alt, denn ich lag an der Kette und spürte sie nicht, spürte einzig nur das Angenehme an meiner Situation. Ich liebte Deutschland und die Deutschen, ich war in die Stadt Hamburg vernarrt, meine Arbeit freute mich – ich war zufrieden, ein wenig stolz sogar, es schien doch, als sei ich rastloser Herumtreiber zu geregelter bürgerlicher Arbeit fähig.

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Inhalt

Vorwort

Gedanken beim Grog

Legenden vom Elfenbein

Der Papyrus-Dschungel

Heia Safari

Simba-Land

Das schwarze Mädchen

Die Steppe der Tiere

Die Legende Yala

Der Gorilla-Wald

Fieber und Traum

Die Leoparden-Berge

Zauber

Die Elefanten

Der See Uobogo

Die Schwester der Elefanten

Der unbekannte Gott

Dorothy

Kampf auf dem Elefantenfriedhof

Empörung

Die Zauberin des unbekannten Gottes

Mond über dem Elefantensee

Die Straße der Elefanten – 1–

Eine abenteuerliche Reise ins tiefste Afrika

William Quindt

Vorwort

Dies ist die Geschichte einer Wandlung. Einer Wandlung vom rastlosen Globetrotter zu einem still befriedeten Eremiten im Herzen der Wildnis. Ich, Roger Robin, schreibe jetzt die völlig unglaubhafte, völlig verrückte Geschichte meiner Argonautenfahrt zum Friedhof der Elefanten von Nomansland. Ich wollte als mehrfacher Millionär von dieser Safari zurückkehren. Doch nun ist es mein einziger Wunsch, für immer hier zu bleiben.

Sollten diese Blätter jemals nach Europa kommen, würde mir kein Mensch auch nur ein Wort meines Berichtes glauben. Aber diese Blätter werden niemals nach Europa kommen, denn ich bin ein Gefangener der Wildnis. Afrika gibt mich niemals wieder frei. Im weiten Kreis zieht sich am Horizont der Sudd, diese unwegsame, feuchte und gefährliche Wildnis aus Wasser, Sumpf, Schilf und Papyrus. Hundertfachen Tod und tausendfache Verwirrung birgt der Sudd des Bahrel-Ghazal. Gewiss, zum Kongo hin könnte ich entrinnen, aber ich müsste durch das Tal der schwarzen Mamba, die man den Attila unter den Schlangen nennt, und danach durch die Berge der Leoparden.

Ich könnte auch den Sudd mit einem guten Boot bezwingen und vielleicht den Nil erreichen, und ich könnte mit guten Waffen auch die Leopardenberge überqueren – aber ich habe kein Boot, ich habe keine Waffen, und ich will auch nicht – ich will nicht weg von dieser Stätte, an der die Jahrtausende zu mir sprechen. Und darum werden diese Blätter niemals nach Europa kommen.

Sollten sie aber dennoch jemals einem Fremden in die Hände fallen, so möchte ich diesen Fremden gleich eingangs ernstlich warnen. Ich bin kein Forscher, und ich bin kein Schriftsteller, kein Zoologe, kein Ethnograph, kein Jäger und nicht einmal Ingenieur. Ich bin ein völlig eigensinniger Mensch mit einer rauen, nüchternen Weltanschauung. Nie hielt es mich lange an einem Ort. Eine verwegene Spritztour ist mir stets lieber gewesen als ein festes Beamtengehalt. Ich habe mein Leben hindurch sehr gut die regelmäßige bürgerliche Arbeit entbehren können, aber niemals für längere Zeit das Reisen, das freie Schweifen, das Segeln – die abenteuerliche Fahrt in die Ferne. Ich bin nicht sonderlich gebildet, bin in keinem der humanistischen Fächer besonders beschlagen, habe niemals eine Universität besucht, denn ein gutes Pferd war mir immer wichtiger als Geld, Macht oder sichere Renten. Außer den kühnen Liebesbriefen an Evelyn habe ich außerdem bisher in meinem Leben überhaupt nichts geschrieben. – Nein, ich bin kein Schriftsteller, diese Geschichte wird schlecht geschrieben sein, voller Mängel und Fehler, und sie wird klingen wie eine Kette von Lügen.

Ich schreibe diese Geschichte für mich allein. Ich muss sie schreiben, denn ich bin überwältigt von dem, was ich erlebt habe. Außerdem muss ich einige Wochen still im Stuhl sitzen, denn der Groß-Sultan Kibonge hat mich angeschossen. Kibonge, der vor vielen Jahrzehnten Emin Pascha in den großen Wäldern des Kongo grausam töten ließ und den die Belgier ein Jahr später dafür hängten. Ich fand seine Kassette, sprengte sie mit dem Küchenbeil. Als der Deckel platzte, donnerten die beiden Schüsse los, mit denen der alte Eisenkasten gesichert war: Einer fuhr mir durch den rechten Oberschenkel, einer den linken Arm hinauf vom Ellenbogen bis zum Schultergelenk. Es hat nichts auf sich mit diesen Wunden, die Bleikugeln sind glatt durch das Fleisch geschlagen, ich habe keine Schmerzen und werde gewiss meine Verletzungen weit eher überwinden als den Ärger über meine dumme Sorglosigkeit.

Nun schreibe ich also. In der alten Kassette waren viele Dinge, von denen später noch die Rede sein wird, ganz oben jedoch lag ein Stapel Papier, einige hundert Pergamentbogen im alten Folioformat, gutes, schönes, teures Papier. Wenn ich ein Blatt gegen das Licht halte, sehe ich das Wasserzeichen, es ist eine Jahreszahl, es ist das Jahr, in dem Queen Victoria Prinz Albert geheiratet hat. Vielleicht ist es diese längst vergangene Jahreszahl, die mich zuerst dazu verführte, auf dieses hundert Jahre alte Papier meine Geschichte niederzuschreiben, die mir selbst wie aus den wilden und bunten Abenteuerbüchern meiner Jugend entnommen erscheint. Ein paar gute Stifte fand ich ebenfalls in dem zersprengten Eisenkasten, somit steht nichts meinen Absichten im Wege.

Während ich meinen Bericht schreibe, werden die Tage dahingehen, ich werde im Schatten sitzen und von meiner Anhöhe hinabsehen auf den See Uobogo, auf jene jahrtausendealte Straße des Urwalds, auf der die Elefanten aus dem Wald zur Tränke gezogen sind, von der Tränke in den Sudd, längst, bevor die Pyramiden standen, längst, bevor der erste Steinzeitmensch den Faustkeil erfand. Die gewaltige Sonne Afrikas wird über mich dahingehen wie ein glühend dröhnender Götterwagen, und in den Nächten wird der noch gewaltigere Sternenhimmel Afrikas sich über mir wölben, ein dunkelsamtener, glitzernder Baldachin, die Stimmen der Tiere werden durch die Nacht mein Ohr erreichen, und über ihnen allen wird die dunkle Orgel des nahe bei mir wohnenden Löwenvolkes stehen. Ich werde unter den Sternen sitzen und den Stimmen der Tiere lauschen, den süßen und den groben, den scharfen und den weichen, den liebevollen und den mörderischen – und ich werde schreiben. Ich, Roger Robin, bald fünfzigjährig, rastloser Globetrotter, ich werde das Buch meiner unglaublichen Wandlung schreiben.

Gewidmet ist es El Fil, diesem gewaltigen, unvergleichlichen Tier, für das es hundert Namen gibt: Kongla oder Koab, Sama, Unji oder Ordyon! Es soll dein Buch werden, Gewaltiger, lautlos Schreitender, Riesenstarker, Göttergleicher – dir, Elefant, soll es gehören!

Dunkel und lautlos schrittest du durch die Jahrtausende, dunkel und lautlos schreitest du jetzt in den Tod, den die Menschen dir bereiten. Dunkel bist du, stark, still und geduldig, du gehst deinen Weg und bist sanftmütig wie ein großäugiges Antilopenkind, solange man deinen Frieden nicht stört. Und verbaut, versperrt man dir deinen einsamen, stillen Weg durch Dschungel und wilden Wald, so wiegst du den schweren Kopf und suchst dir schweigend neue Wege. Unendliches gehört dazu, dich aus deiner Ruhe zu schrecken, dich zur Auflehnung, zur Empörung zu treiben. Aber auch wenn du vor Zorn glühst, begräbst du danach sofort den Streit und ziehst in Frieden und Weisheit weiter, sobald dein Weg, dein einsamer, dein heimlicher, dein eigener Weg dir wieder geöffnet ist. Du bist stark, du bist weise, du bist sanft und liebst deinen Frieden – El Fil, ich sehe in Bewunderung und in Verehrung zu dir auf, du bist wie ein Mythos.

Und es soll euch gehören, Indjinis, starke und zornige Männer aus den Bergwäldern, deren Macht ich hilflos ausgeliefert war – und die ihr mich doch verschont habt!

Und in diesem Buch soll auch dein Ruf dröhnen, Simba, goldener Löwe, und dein scharfer Schrei, Uarra Jelema, silberner, dunkelgefleckter Leopard. Die Giraffe schaukelt im Passgang, der Galopp der Gnuherde dröhnt über die Steppe, die Hyäne kreischt, und zwischen den Blättern zischt die schwarze Mamba.

Doch was wäre dieses Buch ohne Yala, die Schwester der Elefanten, der geheimnisvollen Zauberin und ekstatischen Tänzerin. Während ich schreibe, weiß ich, dass ihr nebeneinander durch die schwülen Bergwälder schreitet: du, schwarze Yala, und El Fil, dein großer grauer Bruder. Alles ist gut, Yala, denn das wilde Afrika ist in dir, du bist das wilde Afrika – und somit beginne ich nun endlich meinen Bericht.

Gedanken beim Grog

Kapitel -1-

Das größte Abenteuer meines Lebens begann damit, dass ich an einem grauen, wolkenverhangenen Hamburger Oktobertag plötzlich eine gewaltige Auflehnung gegen mein allzu zahmes Leben verspürte, dass mich Platzangst, Herbstpsychose, Torschlusspanik und Ich-weiß-nicht-was überfielen und mich beutelten wie eine Hundemeute einen verstört sich duckenden und wild und wütend um sich schnappenden Fuchs.

Am Tag zuvor hatte ich Geburtstag gefeiert, siebenundvierzig Jahre alt war ich geworden, drei Jahre also nur noch, und ich hatte ein halbes Jahrhundert vollendet. Ich wurde alt, gewiss, unglaublich, unfassbar alt, aber ich hatte gelacht, ich hatte getrunken, ich hatte die Platte mit den kanadischen Coureurliedern aufgelegt, ich hatte aus vollem Hals mitgesungen: »La riviere de Loup est longue et large, la riviere de Loup est large partout …«

Ich hatte gelacht, ich hatte gesungen, ich hatte sehr viel getrunken, und Eva, die auf meinem Schoß saß, hatte mit mir gesungen, gelacht und gezecht. Ich war sehr ausgelassen, bis sich irgendwann, irgendwie an diesem Tag doch ein Stachel in mein Fleisch drückte: Mir wurde klar, dass ich alt wurde. Kein junger Mensch kann sich vorstellen, dass er einmal fünfzig Jahre alt wird. Und wenn auch – ganz gewiss ahnt er nicht, dass der tiefe, süße Sang seines Blutes nicht mit den Jahren versiegt, dass im Gegenteil jede Sucht seines Herzens lockender und süchtiger wird, dass die Reben des Herbstes würziger und berauschender sind als die bunten Blüten der frühlingshaft jungen Tage. Ich wurde alt – und ich hatte immer noch das gleiche heiße, süchtige Herz!

Und ich fühlte mich wie ein Hund an der Kette, seitdem ich vor einem Jahr in Britisch-Guyana den guten Professor Eduard Waldmüller an Halskragen und Hosenbund aus dem Morast des Essequibo gezogen hatte. Der Herr Professor hatte seinen Lebensretter, dem es nicht allzu rosig ging in jener Zeit, mitgenommen. Seit einem Jahr lebte ich neben ihm her als sein Assistent, präparierte Tausende von Vogelbälgen, einige Dutzend Arten und Unterarten von Wasserratten und gab mir die erdenklichste Mühe, die überreichen Ergebnisse der Forschungsreise des guten Professors in den gewünschten museumsreifen Zustand zu versetzen. Ich lebte gut, denn ich wurde nicht wie ein gewöhnlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern mehr als anständig bezahlt. Ich wohnte luxuriös an der Außenalster, ich aß in guten Restaurants, zweimal in der Woche ging ich mit meinem Mädchen ins Theater oder in die Oper, ins Varieté, ins Kino oder in eine stille Weinstube. Ich wurde alt, ich verspießerte, längst hatte ich im Spiegel entdeckt, dass meine schlanke Figur sich in der Gürtelgegend behaglich und höchst reputierlich auswölbte. Ich wurde alt, denn ich lag an der Kette und spürte sie nicht, spürte einzig nur das Angenehme an meiner Situation. Ich liebte Deutschland und die Deutschen, ich war in die Stadt Hamburg vernarrt, meine Arbeit freute mich – ich war zufrieden, ein wenig stolz sogar, es schien doch, als sei ich rastloser Herumtreiber zu geregelter bürgerlicher Arbeit fähig. Blieb ich weiterhin so brav, so würde der Herr Professor für meine feste Anstellung sorgen, ich würde mir eine Dreizimmerwohnung kaufen und Eva heiraten, ein Mädel wie Milch und Blut, blonde Haare, blaue Augen, zwanzig Jahre alt, in mich verliebt wie ich in sie. Siebenundvierzig Jahre war ich, hatte eine gute Existenz und züchtete mir ein kleines Spießerbäuchlein – darum sang ich und lachte und zechte vergnügt bei der kleinen Geburtstagsfeier.

Aber am anderen Tag packte mich das heulende Elend. Alt war ich, dick wurde ich, faul war ich und bequem, es war eine Sünde, eine namenlose Schande. Ein Vierteljahrhundert lang hatte ich mich in allen mehr oder minder wilden Gegenden dieses Erdballs herumgetrieben, immer auf der Suche nach dem Schatz am Fuß des Regenbogens, immer wieder hatte ich mich gerüstet zur großen Fahrt, immer wieder hatte ich mich auf den weiten Weg begeben – dem Glück, meinen Träumen, meiner Sehnsucht nach. Und das alles, um hinter einem Präparatorentisch zu verfetten und zu vergreisen?

»La riviere de Loup …« – zum Teufel, wann würde ich endlich einmal wieder im Kanu sitzen und mit sanftem Paddelschlag zwischen den stummen Wänden der himmelhohen Douglastannen entlangtreiben? Wann würde ich endlich einmal wieder die Matrosen auf einem australischen Weizensegler das Shanty von Reuben Ranzo grölen hören? – Ein körperlicher Hunger stieg in mir auf nach dem monotonen »tanko-tank«, der Handtrommel eines Hindus, nach der zarten Schalmei kaukasischer Hirten, nach dem weinenden Banjo am nächtlichen Lagerfeuer argentinischer Gauchos, nach dem schellenklappernden Tamburin sterbender Indianervölker, nach den wilden Buschtrommeln, zu denen die getünchten Jungfrauen tanzen – devil und hell, ich war durch die Savannen geritten, durch die Urwälder gekrochen, über die Meere gesegelt, überall in der Welt hatte ich Freunde, die heute – so wie einst gemeinsam mit mir – ritten und segelten und jagten, die harte Schwielen in ihren breiten Händen hatten, sehr schlechte Manieren und goldene Herzen, die Männer waren, wie ich einer gewesen war – und die heute misstrauisch und verlegen meinem Bäuchlein, meinen manikürten Fingern, den Bügelfalten meiner Hosen und meiner blonden Puppe ausweichen würden. Verflucht – ich wurde alt. Und da nahm ich den Tisch und warf ihn mit allem, was auf seiner Platte war, an die entfernteste Wand des Zimmers. Es war mein Pech, dass just in diesem Augenblick der gute Professor Waldmüller zur Tür hereinkam. Das pulverisierte Arsen regnete auf die Dielen. Stopfnadeln, Messer und Pinzetten klirrten zu Boden. Der Balg eines Zigeunerhuhns – Opisthocomus hoazin christatus – landete zusammen mit dem eines Sezekornschen Langzungenvampirs in der Hängelampe. Die langen Ständer einer Jassana hatten sich in meinem Kittel verfangen, wütend riss ich sie los und behielt dabei eine Fußwurzel in der Hand. »Barbar!«, schrie der gute Professor schmerzlich auf. »Wüterich! Rüpel!«

Ich sah ihn an. Warum schimpfte er, ich war es doch, der den Ärger hatte, warum störte er mich in meiner schönen Wut? Und was verstand der Laboratoriumsmensch da schon von den Dingen, die mich quälten? – Also brüllte ich wütend und entschlossen zurück. Bei »Brillenschlange!«, und »Baumaffe!«, versuchte er einzulenken und die Situation zu retten, aber schon war ich allzu gut im Zeug und nicht mehr zu stoppen. Bei ›Mumiendirektor‹ klapperte er empört mit den Augendeckeln, und als ich ihn einen ›Aasjäger‹, einen ›Massenmörder‹, und die Stadt Hamburg eine Regentonne nannte – da erwachte der Stolz des Gelehrten und des Hanseaten in ihm, er schmiss mich raus, und eine halbe Stunde später waren wir in Frieden auseinandergegangen, das heißt, wir hatten uns mit den konventionellen Redensarten verabschiedet und uns keineswegs weiter beschimpft. Es war ein Abschied, wie er ernsthaften Männern würdig ist …

Ich stand auf der Straße, hatte ein gutes Zeugnis in der Tasche und meine Abrechnung – die betrug auf den Pfennig gerade mal fünfzig Mark. Aber ich hatte meinen Seelenfrieden wiedergefunden. Der gute Professor Eduard Waldmüller hatte sich fürstlich revanchiert für die kleine Gefälligkeit, dass ich ihn aus dem schlammigen Essequibo gezogen hatte – aber seine beste Tat mir gegenüber vollbrachte er doch damit, dass er mich von der Kette ließ just in der Stunde, als sie mir ins Fleisch schnitt. Vielen Dank, vielen herzlichen Dank, Herr Professor!

»La riviere de Loup …« – ich sang fröhlich in den grauen Morgen, entschlossen, noch heute ein neues Leben zu beginnen, oder vielmehr das alte, geliebte, unruhige mit neu gestärkten Nerven wieder aufzunehmen, von Stund an. Aber dazu war vor allem nötig, dass ich mich von den überaus lästigen fünfzig Mark befreite. Kann man mit fünfzig Mark ein neues Leben beginnen? Man kann das nicht – also machte ich mich auf, meine Finanzen insofern zu ordnen, als ich diesen störenden Restbestand, diesen peinlichen Fehlbetrag so schnell wie möglich verprasste.

Ich aß in meiner kleinen, feinen Weinstube, ein bisschen wehmütig, denn immerhin war es ein Abschied von gesegneten Fleischtöpfen – aber gut und ausreichend, eine Krebssuppe, gebackene Scholle, ein Kalbssteak auf Reis mit geschmorten Champignons, ein Stück Chester – trank eine Flasche Mosel dazu und zum Abschluss einen ausgezeichneten Mokka.

Dann schlenderte ich durch die Anlagen der alten Festungswälle – meine wanderlustigen Füße raschelten durch welkes Laub – hinab zu den Landungsbrücken. Der Strom tut mir gut, wenn ich uneins mit mir selbst bin. Ich bummelte ein wenig auf und ab, sah mich um, die Flussboote hatten ihren sommerlichen Betrieb längst eingestellt, aber an den Vorsetzen lagen noch Motorboote. Stolz wie ein Fürst ließ ich mich von einer solchen Wasserdroschke hinaus nach Blankenese fahren. Dort draußen kannte ich ein nettes kleines Lokal, in dem ich mir meine neunundzwanzig Arrakgrogs einverleiben wollte.

Ich trinke in zivilisierten Gegenden niemals mehr als neunundzwanzig Grogs, denn ich habe leider eine höchst unfeine Angewohnheit, die ebenso unweigerlich wie hemmungslos nach dem dreißigsten Grog zum Ausbruch kommt: Ich kann dann nämlich keine Eiersieder mehr sehen, ich meine diese schwarzen, runden, steifen Hüte, die mit Vorliebe von Kaufleuten, Maklern, Zeitungsmännern und Kriminalbeamten getragen werden. Diesen Komplex habe ich von Jimmy geerbt, meinem Kumpel, mit dem ich in Kolorado die Kühe des alten Stone brannte. Wenn Jimmy seine Schnäpse intus hatte, zog er den Colt und durchlöcherte sämtliche Eiersieder in der Umgebung, ganz gleich, ob sie am Wandhaken hingen oder auf den Glatzen ihrer Besitzer saßen. Ich bin ein zivilisierter Mensch, niemals habe ich derart raue Manieren gehabt, zudem bin ich immer ein Stück Wissenschaftler gewesen, dem das Wohl der Menschheit über alles geht, ich halte den Gebrauch einer Schusswaffe in überfüllten Restaurationsräumen für gefährlich, verantwortungslos und daher eines ernsten Mannes unwürdig, ich treibe die Eiersieder mit der Faust ein – östlich von Suez oder jenseits des Baches. Noch aber war ich in Hamburg, noch galt ich als Assistent des von mir sehr verehrten Herrn Professors Eduard Waldmüller, ich war fest entschlossen, ihm auch an diesem letzten Tage keine Schande zu bereiten – ich fuhr nach Blankenese, um meine neunundzwanzig Grogs zu trinken, keinen mehr, aber auch keinen weniger! –

Das ist das Ideal einer Grogstube, dieses kleine, flache gelbweiße Holzhaus auf dem Ponton der Landungsbrücke. Wenn man am Fenster sitzt, sieht man nichts als den weiten Himmel und den breiten Strom. Der Himmel war grau, die Luft war diesig, die Flut drückte stetig in die Elbe hinein, die Wellen klatschten schwer und stark gegen Strand und Brückenbalken. Die Decke war niedrig, der große Ofen glühte, der Raum war überheizt, wie es sich für eine echte Hamburger Grogstube gehört. Nur wenige Menschen saßen still hinter ihren Gläsern. Ich hatte den guten Ecktisch für mich, von dem ich durch zwei Fenster stromauf- und stromabwärts sehen konnte, ich setzte mich hinter den Tisch, ich begann mit Würde und gesammeltem Ernst die feierliche Handlung des einsamen Grogtrinkens.

Wenn ich einmal trinke – ich bin nie ein Säufer gewesen, ich trinke höchst selten einmal so, dass man es Saufen nennen darf – brauche ich die ersten zehn Gläser stets dazu, mein verlorenes seelisches Gleichgewicht wiederzufinden – allein zu diesem Zweck trinke ich nämlich. Der kleine Kellner in der blitzsauberen weißen Jacke brachte mir die Flasche, die Zuckerdose und das erste Glas mit heißem Wasser – ich mischte und trank. Ja, die ersten zehn Gläser waren sehr nötig an jenem Tag, denn ich war gar nicht so froh und aufgeräumt, wie ich mir selbst vormachte, ich war ziemlich down, richtiggehend betrübt, mir war zumute wie einem Jungen, der seine ersten Fensterscheiben zertrümmert hat und der weiß, dass man ihn erkannt hat, obwohl er gerannt ist wie ein Bürstenbinder. Ja, ich hatte, wie man so sagt, den Moralischen: Ich schämte mich meiner Wüstheit, ich trauerte um meine gut bezahlte und durchaus nicht ungeliebte Arbeit, um meine schönen Zimmer an der Außenalster, um mein ruhiges bürgerliches Leben. Ich war so traurig, dass ich mich vor mir selbst ekelte. So alt konnte doch gar kein anständiger Mensch werden, wie ich es schon innerlich war! Oh, wie war ich kleinmütig, wie war ich furchtsam, wie war ich erfüllt von Reue und bleicher Sehnsucht nach meinem vergangenen Wohlleben, das ich mir selbst – höchst mutwillig, so schien es mir jetzt – für immer zerstört hatte. Bei den ersten vier, fünf Grogs drehte ich den Kopf wie ein Schlangenhalsvogel und schielte nach dem Telefon hinter meinem Rücken. Ich wusste genau: Wenn ich jetzt den Professor anrief, wenn ich ihm nur ein paar ganz wenige gute Worte sagte oder ihm eine Kleinigkeit von Sumpffieber oder Malaria und ihren Rückfällen vorschwindelte, dann würde er sich einmal verlegen räuspern, sich höflichst wegen des Vorfalls bei mir entschuldigen und mich bitten, doch wieder an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren – und morgen würde alles wieder beim Alten sein. So leicht war es, kinderleicht, der Professor hatte ein weites Herz, wenn das einer wusste, so wusste ich es, denn so oft und so reichlich wie ich hatte ihn gewiss noch kein Mensch in seinem Leben angepumpt. Und er hat mir immer gegeben, um was ich bat, und er hat es nicht ein einziges Mal als Vorschuss verbucht – sicherlich: Er war ein wahrhaft edler Mensch!

Aber ich bezwang mich doch, ich ging nicht an den Apparat, und so beim neunten Grog hatte ich mich dann auch wieder leidlich in der Hand. Was war denn los? Hatte ich denn gar kein Schamgefühl mehr? Schluss war eben Schluss, weil ich es so wollte! Ich konnte nicht länger hinter dem Präpariertisch sitzen, ich konnte nicht länger leben wie ein Spießer, ich brauchte Bewegung, Abwechslung, Reise, Abenteuer – sollte mein Bäuchlein noch dicker werden, sollte ich noch mehr vergreisen? Mein Leben lang gehörte ich dem Wind, ich gehörte der Weite, sicherlich, ganz gewiss sogar war ich ein Narr, aber ich gehörte nun eben nicht zu den Menschen, die Dienstjahre sammeln, die sich mit dreißig Jahren in eine Lebensversicherung einkaufen, die in ihrem Leben nur eine große Furcht haben: dass die Sparkasse, bei der ihr bisschen Geld liegt, Pleite macht. Hinaus – der Wind fuhr über den großen Strom, das Wasser des Meeres klopfte gegen meine Wand, die Möwen schrien grell und scharf – ich schüttelte mich wie ein alter Hühnerhund, der aus dem Brackwasser kommt: Ich war bereit!

Schluss also endlich mit der Arbeit und gemächlichem Lebensgenuss. Immer noch war ich jung, immer noch war ich stark, immer noch hatte ich das alte heiße, süchtige Herz. Immer noch hatte ich die alte Sehnsucht: den fernen Horizont zu erreichen – um hinter ihm den neu sich erstreckenden Horizonten entgegenzuziehen. Und immer noch hatte ich den alten, vagen, rührenden Kinderglauben: Irgendwo in der weiten Welt, irgendwo liegt und wartet dein Schatz auf dich, dein großer, funkelnder, goldener Schatz, der Schatz deines Kapitäns Kid …

»Fifteen men an the dead man’s ehest – yo – ho ho! And a bottle of rum!« Schluss also jetzt endlich und ein für alle Mal mit dem bürgerlichen Leben, für das ich doch nicht taugen wollte, Schluss mit der feinen Wohnung, mit den Bügelfalten und den Seidenhemden, mit dem Rheinweintrinken und dem Opernbesuch, Schluss mit – verdammt noch mal – Schluss mit – ja doch, Schluss, jawohl, Schluss auch mit Eva …

Eva – oje! – jetzt musste der nette Kellner ziemlich fix hin- und herlaufen, damit ich wenigstens etwas heißes Wasser zum Arrak trank. Schluss mit Eva – verdammt und zugeschnürt, was war ich doch für ein Esel gewesen! Hatte ich denn gar nicht an das süße kleine Mädchen gedacht, hatte ich vergessen, wie sehr sie mich liebte, wie zärtlich sie zu mir war, wie sie an mich glaubte und an unsere Zukunft in der Dreizimmerwohnung im Schwanenwik? Ich Narr, ich Dummkopf, o ich Verbrecher – wieder verdrehte ich meinen Kopf wie der Vogel Wendehals nach dem Telefon.

Aber wiederum telefonierte ich nicht. Nach dem zehnten Grog – das ist strenge Regel bei mir – setzt nämlich mein Weltschmerz ein. Jawohl, mein Weltschmerz, ein tiefer, abgrundschwarzer Pessimismus, der mich zu solcher Stunde ganz ausfüllt und mich nahe an den Zustand heulenden Elends bringt. Ich habe nämlich immer ein lachhaftes Unglück in der Liebe gehabt, daraus resultiert dieser Weltschmerz, dieser Pessimismus, dieser dunkle Trübsinn – und ganz im tiefsten Grund heißt er Evelyn …

Ich will damit nicht sagen, dass ich jemals irgendwann ein Säulenheiliger gewesen bin, ein tumber Tor in der Liebe, eine Art Balduin Bählamm schönen Frauen gegenüber – Gott sei Dank, so war es nicht, niemals, nein – aber nicht eine der Frauen, die ich je geküsst habe an den Ufern der sieben Meere, nicht eine war die Frau meiner Sehnsucht.

Auch Eva nicht, nein, auch sie nicht, schon rein äußerlich nicht. Rein äußerlich liebe ich große, sehr schlanke, etwas herbe, etwas hagere dunkle Frauen mit dem gelblichen Teint der Brünetten. Die kleine Eva aber war eben klein, war blond, in zwanzig Jahren würde sie vielleicht mollig sein. Sie war ein lieber, feiner kleiner Kerl, ich hatte sie sehr gern, aber jetzt, beim vierzehnten, fünfzehnten Grog, wusste ich plötzlich sehr genau, dass ich sie nie geliebt hatte, wie man eine Frau lieben soll. Sie gehörte zu mir, sicher, aber man gehört ganz einfach einer Frau, die man liebt, oder? Ich gehörte der kleinen Eva nicht, ich gehörte noch immer der Frau meiner Sehnsucht.

Arme, kleine, süße blonde Eva! Ich würde ihr morgen etwas vorschwindeln, dass ich eine dringende Reise machen müsse im Auftrag des Herrn Professors oder doch so etwas Ähnliches, ich würde aus ihrem Gesichtskreis verschwinden, sie würde eine Weile unruhig sein, dann eine Weile traurig, vielleicht, vielleicht auch zornig, und dann – über kurz oder lang – dann würde ein anderer kommen, und sie würde mich vergessen. Frauen vergessen gut und schnell, ich war ein Mann, ich konnte nicht und niemals vergessen, ich brauchte nur zehn Grogs zu trinken, dann wusste ich, dass immer noch mein Herz Evelyn gehörte, dass ich niemals eine andere Frau geliebt hatte, dass ich den anderen Frauen eigentlich nur gefällig gewesen war, dass ich aber im tiefsten Grunde Evelyn niemals betrogen hatte. Evelyn – sie ist schuld, dass Roger Robin, der Herumtreiber, beim Grog manchmal heulen möchte wie ein Kettenhund unter dem Mond.

Evelyn – unsere Väter wohnten drei Jahre Haus an Haus bei Lancashire – ja, wie lange ist das nun her. Sie hatte Collies, langhaarige, schottische Schäferhunde. Mein Bobtail, der gute alte Cop, nahm sich unter ihnen immer aus wie ein alter Aletrinker aus Bloomsbury zwischen den Bridgedamen von Mayfair. Evelyn war schlank, war sehnig, war dunkel wie eine Südfranzösin und kühl und diszipliniert wie eine Pfarrerstochter aus Hammerfest. Sie ritt, immer sah ich sie in Reithosen, ich habe sie niemals in einem Kleid gesehen. Im Sommer trug sie dunkelrote Blusen, im Winter weiße Sweater – Evelyn ist schuld, dass ich mein Leben lang nur die Amazone geliebt habe …

Ich liebte sie, wir ritten durch die Heide und durch das Moor. Ich war siebzehn, ich berechtigte zu großen Hoffnungen, mein guter Vater glaubte steif und fest daran, dass ich einmal berühmt werden würde wie Charles Darwin, und meine albernen Lehrer bestärkten ihn in seinen aberwitzigen Träumen. Ich war siebzehn, ich ritt neben Evelyn, ich wurde zwanzig an ihrer Seite. Nie leuchtete mir die Welt wie in diesen Jahren. Vater Wind und Mutter Erde, Schwester Feuer, Bruder Tier – Evelyn ritt neben mir dahin, das Sattelzeug quietschte, und die Heide Schottlands war die Landschaft unserer Herzen. Evelyn war stumm, sie ritt, mein Herz verströmte sich. Manchmal wurden ihre Augen warm und tief unter meinen Worten, unter den Gesängen meiner Seele – einmal haben sie mir entgegengebrannt. Dieses eine Mal glaubte ich am Ziel meiner Sehnsucht angekommen zu sein. Aber als ich ihr danach aufs Pferd half, als sie dann wieder im Sattel saß, sah sie mich von oben herab an, und sagte in der einzigen Sprache, in der man solche Dinge sagen kann: »C’est a? C’est tout? C’est l’amour? C’est une blague, c’est une fadesse, c’est tristesse, c’est ordinaire, c’est une cochonnerie! L’amour? Jamais pour moi – ich reite!«

So war sie, so war Evelyn. Dass ich mich nach ihr verzehrte, hat sie nicht gesehen, sie sah nur ihre Pferde, ihre Hunde. Meine Briefe, mit denen ich sie mir zurückerobern wollte, hat sie beschimpft, hat sie niemals verstanden. Und als ich einmal – es war auf ihrem Hof vor dem Pferdestall, es war nach Mitternacht, die Sterne funkelten, die weiche Sommernacht schwamm in Düften, fern sangen Mädchen einen Honeymoon-Song – als ich nach ihr griff, schlug sie mich mit der Peitsche, hetzte die Hunde auf mich. So war Evelyn. Einen Eisblock kann man auftauen, wenn man ihn ans Herz nimmt – was aber tut man mit einem Mädchen, das Kamerad sein will und niemals mehr?

Der neunzehnte Grog, der zwanzigste Grog, langsam verschwand mein Weltschmerz, meine Trauer um Evelyn, und die kleine Eva war schon so gut wie ganz vergessen. Draußen war es dunkel geworden, schwarz stand der Abend hinter den Fenstern, ich sah den Strom nicht mehr, nicht den Himmel, nur ein paar ferne Lichter sah ich, aber auch nur dann, wenn ich mich vorbeugte und scharf hinausspähte. Sonst sah ich auf der glänzend schwarzen Scheibe, die nun wie ein Spiegel wirkte, nur mein Gesicht. Ich trank Grog und sah mir in die Augen. Ein langes britisches Gesicht, eine ziemlich hohe, gewölbte Stirn, von der die blonden Haare in starken Ecken zurücktraten, die Schläfen ergraut. Ein paar Narben über den Backenknochen: ein Schlagring in Rio de Janeiro, ein Messer in Neapel, ein angeschossener Löwe in Kenia – ein festes Kinn, ein männlicher Mund, eine ziemlich unverschämte Nase – ich mochte es gern, dieses Gesicht, es hatte sich gut ausgenommen unter dem Stahlhelm und unter dem Stetson der Cowboys, unter dem Tropenhut und unter dem Zylinder, aber am besten gefiel es mir immer noch unter einer guten grauen, diskret karierten Reisemütze.

Der neunzehnte Grog, der zwanzigste Grog – plötzlich sah ich in meinem Gesicht, durch mein Gesicht, hinter meinem Gesicht ein anderes Gesicht. Ich erschrak fast: Es war das tausendfach zerknitterte, runzelreiche Gesicht eines uralten Affen mit stechenden, schwarz brennenden, sehr bösen Augen und von einer weißen Mähne struppig umrandet. Aber als ich mir die Augen rieb, als ich fester hinsah, verschwand das Gesicht, und ich hörte Schritte. Es war keine Vision, draußen auf der Brücke gingen ja ab und zu Menschen – vielleicht hatte ein alter Mann, ein Seebär an Land, mir eine Weile neidisch auf die gute Buddel gesehen.

Zweiundzwanzig Grogs, dreiundzwanzig, vierundzwanzig Grogs – ich trank sinnig und bedächtig. Wenn ich erst den zwanzigsten Grog hinter mir habe, ist das Trinken reinstes Wohlgefallen und eine echte Freude. Verschwunden ist dann aller Weltschmerz, alle Traurigkeit, Lebensfreude lässt mein Herz schneller schlagen, Lebenskraft meine Muskeln förmlich zucken. Ich war endlich wieder frei, ich rüstete mich zu neuer, großer Fahrt. Noch wusste ich nicht, wohin sie mich führen würde, das alles hatte Zeit bis morgen, heute trank ich, morgen erst kamen Reise und Abenteuer und Fremde … Im Hafen lag ein Kanadier, wenn ich es schaffte, mit ihm abzulegen, dann war ich fein heraus, wie hieß doch gleich das kleine Polizeifort, in dem ich beim Poker den einzigen Royalflush meines Lebens in der Hand hatte? Ach was, heute genoss ich tief die Vorfreude und fütterte mit ihr mein hungriges Herz … Kanada, das wäre was! Nach den letzten Jahren, die ich unter dem Äquator verbracht hatte, wieder die großen, schweigenden Wälder des Nordens, Eis und Schnee, das Heulen der Wölfe unter den kalt und tödlich fern glitzernden Sternen. Und nach dem Winter der Frühling in Kanada … Die großen Ströme, das Kanu, die Paddel …«

»La riviere de Loup est longue et large, la riviere de Loup est large partout …« Hinter mir klappte eine Tür, der kleine Kellner kam heraus, blickte sich suchend um und trat dann zu mir heran. »Herr Roger Robin wird am Telefon verlangt!«, sagte er und sah mir fragend in die Augen. Ich erhob mich: »Roger Robin bin ich!«, sagte ich mit Würde. »Und der da anruft, das ist Professor Waldmüller, der Arsenikfritze, der Mumiendirektor. Der will mich in seine Leichenhalle zurückholen, damit ich seine Schandtaten wieder gutmache. Aber jetzt werde ich dem Herrn mal gründlich meine Meinung sagen. Wenn man schon ein Mörder ist, dann betrügt man den lieben Gott nicht noch damit, dass man die armen Opfer seiner Mordswut naturgetreu präparieren lässt und sie im Museum ausstellt. Selbst eine südamerikanische Wasserratte, eine ganz gemeine Wasserratte aus den Sümpfen des Essequibo, hält von ihrer bescheidenen persönlichen Existenz weitaus mehr als von dem so wichtigen zoologischen Anschauungsunterricht für deutsche Studenten!«

Damit war ich schon in der Zelle und nahm den Hörer. »Hier ist Robin!«, sagte ich: »Herr Professor, Sie wissen, dass ich Sie außerordentlich hochschätze, aber wenn Sie denken, ich …« Eine scharfe Stimme schnitt mir das Wort ab, und es war nicht die Stimme meines guten alten Eduard, es war ganz unzweifelhaft die Stimme einer Frau.

»Reden Sie kein Blech, Robin!«, sagte sie. »Warum kommen Sie nicht zu mir heraus? Warum sitzen Sie da in der Kneipe und saufen Grog? Sie wissen doch, dass ich etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen habe!«

»Sie mit mir?«, fragte ich zunächst verdutzt, doch dann stieg gleich Empörung in mir auf. »Ich habe mit keinem Menschen etwas zu besprechen, Wichtiges schon gar nicht! Ich trinke Grog, verstehen Sie, so viel Grog, wie mir guttut und wie ich nötig habe. Neunundzwanzig, wenn Sie es genau wissen wollen! – Wer ist denn überhaupt die alte Eule, die da so hässlich in mein Ohr krächzt?«

»Robin!«, sagte die harte Stimme, und ich konnte hören, dass die Frau sehr wütend war. »Robin, wenn Sie besoffen sind, dann legen Sie gefälligst auf, verstanden? Fahren Sie nach Hause, ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, der heute mit der Post angekommen sein muss.«

»Ihre Briefe interessieren mich nicht«, rief ich fröhlich ins Telefon, aber dann wütete ich: »Und Frechheiten will ich nicht hören! Ich trinke Grog, verstehen Sie das? Und ich habe erst vierundzwanzig getrunken, mir fehlen noch fünf. Ich wünsche keine Störungen – und wer zum Teufel sind Sie eigentlich, Sie alte Krähe?«

»Roger Robin!«, kam es da auf einmal sehr ernst und eindringlich an mein Ohr. »Sie werden keine fünf Grog mehr trinken. Sie haben schon mehr als genug. Sie werden jetzt sofort zu mir herauskommen, und bei mir werden Sie Mokka trinken, eimerweise meinetwegen, so viel, bis Sie wieder nüchtern sind. Ich habe Ihnen geschrieben, der Brief liegt bei Ihnen, ich muss mit Ihnen sprechen. Ich bin Dorothy Stainton. Cyrill ist gestorben, und Sie hätten es verhindern können! Sie müssen mir jetzt Cyrill ersetzen, ich verlange das von Ihnen!«

Es ist nicht wahr, dass ich Cyrills Tod hätte verhindern können. Wenn zwei Jäger in Zentralafrika von einer tollwütigen Kaffernbüffelherde, die vor einem Steppenbrand flieht, über ein steiles Flussufer geschleudert werden, wenn sie halb tot unten ankommen, zusammen mit einigen Dutzend wahnsinniger, röhrender, schlagender Stiere, und der eine rappelt sich heraus, von Glück und Zufälligkeiten unterstützt, und den anderen schnappen die Krokodile, kaum dass er einen Fuß im Wasser hat – dann ist der Entkommene wohl nicht gerade hundertprozentig schuld an dem Tod des anderen. – Aber es hat mir um Cyrill Stainton immer sehr leidgetan, er war ein toller Kerl, er hing rührend an seiner fernen Mutter, die ihn nach Afrika geschickt hatte, ich weiß nicht, warum. Sie schrieb ihm wunderbare, prachtvolle Briefe, mir übrigens auch, später, als ich ihr alles mitgeteilt hatte, schonend natürlich, wie man das so macht, was wissen denn die Leute hier schon von Afrika, von Steppenbrand, Krokodilen und Büffeln, ich habe etwas von einem Meteorstein geschrieben, der den schlafenden und glücklich träumenden Cyrill neben mir am Lagerfeuer erschlug …

Dorothy Stainton – so ungefähr zwanzig Grogs verflüchtigten sich bei diesem Namen sofort aus meinem Hirn. Dorothy Stainton war in Hamburg, sie hatte mir geschrieben, ausgerechnet an diesem Tage, an dem ich mich mit meinem guten Brötchengeber verkrachen musste, endlich also sollte ich Cyrills Mutter kennenlernen, bisher hatte ich sie nie gesehen, nicht einmal ein Bild von ihr.

Dorothy Stainton – ich machte vor dem schwarzen Apparat eine ernsthafte Verbeugung, ich lispelte höflich und ergeben: »Entschuldigen Sie bitte. Ich wusste nicht … Ihren Brief habe ich leider noch nicht gelesen. Aber selbstverständlich stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung!«

Die harte Stimme nannte einen Straßennamen, eine Hausnummer, ich musste beides wiederholen, schrieb es schnell auf, die Stimme kommandierte noch einmal: »Ich erwarte Sie sofort, Roger Robin!« Ich verbeugte mich und beteuerte, dass ich keinen Augenblick zögern würde – dann legte ich auf, trat aus der Zelle heraus, stand ziemlich blöde vor der Tür, starrte geistesabwesend auf das bunte Plakat, das einen Schnaps mit dem kuriosen Namen ›Ratzeputz‹ anpries und zupfte verlegen an meinem Ohrläppchen. Nun war mir alles klar: Warum ich den Tag hindurch so merkwürdig gereizt gewesen war, warum ich so viele Grogs gebraucht hatte, um mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Das war nicht, weil ich bereits so verbürgerlicht war, so verfettet – ich hatte es gespürt, dass etwas über meinem Kopf hing … Bruch, nun war es heruntergefallen: Eine Mutter wollte von mir hören, wie ihr Sohn gestorben war.

Der Kellner trat zu mir heran. Ich zeigte ihm den Zettel: »Wie komme ich bloß von hier aus zu dieser Straße? Mir ganz unbekannt!« – Der Kellner sah mich an, sah den Zettel an, sah wieder mich an, dann sagte er: »Es sind vierundzwanzig Grogs, mein Herr! Vom Bahnhof aus ist es ganz einfach, von hier, glaube ich, finden Sie nicht hin, es ist sehr dunkel, und es sind vierundzwanzig Grogs, mein Herr! Gehen Sie zum Bahnhof, den Weg können Sie nicht verfehlen, nehmen Sie dort eine Taxe, dann kommen Sie bestimmt und sicher hin. Vierundzwanzig Grogs, mein Herr!«

Legenden vom Elfenbein

Kapitel -2-

Als ich dem Fahrer den Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt hatte und in die Taxe kletterte, wurde mir das Absurde meiner Situation klar: Wie um alles in der Welt konnte Dorothy Stainton wissen, dass ich beim Grog saß? Wie kam sie dazu zu wissen, in welchem Lokal ich zechte? Merkwürdig, mehr als merkwürdig … Sie hatte mir geschrieben, sagte sie, gut und schön, der Brief würde zu Hause auf meinem Schreibtisch liegen, ich hatte keinen Grund, an Dorothys Worten zu zweifeln – wie aber, wie nur war sie zu der Kenntnis gekommen, dass ich in Blankenese saß und trank?

Der Wagen holperte die schlechte Straße entlang, eine Mischung aus Feldweg und Chaussee, spärlich beleuchtet und zu beiden Seiten dicht von hohen Bäumen gesäumt. Ich hatte keine Zeit, das Rätsel zu lösen, das mich quälte, nach kurzer Zeit schon hielt der Wagen mit hellem Quietschen, ich stieg aus. Es war sehr dunkel, hundert Meter rechts, hundert Meter links entfernt brannte je eine Laterne, ich stand vor einer hohen schwarzen Baumwand, die sich stöhnend und weinend in sich bewegte im abendlichen Oktoberwind.

Ich gab dem Fahrer ein Geldstück, er wendete eilig. Für einen Augenblick sah ich ein eisernes Tor, ein Schild mit der Nummer, die auf meinem Zettel stand. »Halt doch, Junge!«, rief ich dem Fahrer zu. »Leuchte mir mal und hupe kräftig, bitte!« Aber vielleicht hatte der Mann mich nicht verstanden, vielleicht hatte er verkehrt verstanden, gewiss hatte ich ihm zu viel Geld gegeben, und er dachte nicht daran, jetzt noch auf Reklamationen einzugehen – er gab Gas und flitzte davon.

Da stand ich also in der Dunkelheit einer nächtlichen Landstraße und tappte durch das raschelnde Herbstlaub, das breit und hoch die Fahrbahn säumte, an das Tor heran. Aber nun hatten sich meine Augen bereits an das Dunkel gewöhnt, jetzt erkannte ich deutlich die weißen Zahlen auf dem viereckigen Schild, ich ahnte die Klinke, ich griff danach – in dem Augenblick, in dem ich sie niederdrückte und erkannte, dass die Tür unverschlossen war, flammte in etwa fünfzig Meter Entfernung eine starke Lampe auf. Ich ging durch die Tür und blieb dann eine kleine Weile stehen, um mich zu orientieren. Ich stand auf einem breiten Gartenweg, der fußhoch mit den raschelnden Blättern entlaubter Birken bedeckt war. Bäume links und rechts, Bäume bis an das ferne Haus, an dem die Lampe brannte. Ich senkte den Blick, um nicht vom Licht geblendet zu werden, und stapfte ohne Eile den nun leicht einzuhaltenden Weg hinauf. Ich fühlte mich fröhlich und ruhig. Es ist eine gute, herbe, kräftige Luft da an der Elbe hinter Blankenese, das Rauschen in den Bäumen war wie eine süße, lang entbehrte Musik, meine Füße zogen sich genießerisch durch das raschelnde Laub. Ich weiß noch genau, dass unten auf dem nahen Fluss ein Steamer röhrte, zweimal, ganz lang, ganz laut, und je näher ich dem Haus kam, desto schöner leuchteten rings um mich her die starken Farben des nordischen Herbstes auf. Gelb und rötlich flammende Blätter bedeckten den Weg, im satten Blaugrün standen Kiefern mir zur Seite, weiß leuchteten die schmalen Stämme fast blattloser Birken, und der Grasstreifen vor der Haustür glühte hell wie naher Frühling.

Auf diesem Grasstreifen blieb ich stehen und sah zum Haus. Die Milchglasglocke hing über einer eichenen Pforte mit schwerem Eisenbeschlag, ein paar Treppenstufen führten von ihr zum Rasen hinab, links und rechts neben der Pforte lagen Fenster, hoch, schmal, dunkel. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und sah an der Front hinauf. Erdgeschoss, erstes Stockwerk, zweites Stockwerk, Mansarden, ein rotes Ziegeldach. Es war ein altes Haus, ein gutes, sehr solide gebautes altes Haus – aber es war ungepflegt, verkommen. Von den Fensterrahmen blätterte breit die weiße Farbe ab, große Flecken dunkelten an der hellen Wand, herabgefallener Putz. – Dorothy Stainton, hier also wohnte sie, die merkwürdige Mutter des guten Jungen Cyrill – woher, zum Teufel, hatte sie nur wissen können, dass ich unten auf der Landungsbrücke beim Grog saß?

Eine Eule schrie über den kahlen Bäumen in meiner Nähe, scharf, hart, überaus grausam. Ich nahm die Treppenstufen unter die Füße, die schwere Eichentür öffnete sich leicht unter meinem ersten Druck. Gleichzeitig erlosch das Licht an der Außenwand, während die starken Birnen einer schmiedeeisernen Ampel in der Diele hell erglühten. Ich wollte grinsen über den kindlich raffinierten Schalttrick, aber das Lächeln erstarb mir vor Verwunderung auf den Lippen. Ich stand nicht in einem Haus, in einem Landhaus hinter Blankenese, ich stand in einem regelrechten Museum. An den Wänden breiteten sich die fantastischen Geweihe prähistorischer Riesenhirsche. Ein tasmanischer Beutelwolf, prächtig ausgestopft, aber mit lächerlich grünen Augen, stand genau dem Eingang gegenüber und fletschte mich an mit gelben Zähnen. Ich blieb verblüfft stehen und sah mich um. Vier Türen führten von der Diele ab, um jeden Rahmen legte sich ein Paar Elefantenstoßzähne, lang, stark, edel schimmernd, sie hätten jedem Museum zur Zierde gereicht. Eine Treppe mündete ebenfalls in den Vorraum, auch hier kreuzten sich gewaltige Stoßzähne, mit breiten goldenen Bändern umwunden. Die Luft roch streng nach Mottenkugeln. An der Wand mir zur Rechten breitete sich eine erlesene Sammlung von Paradiesvögeln, leuchtete, funkelte in allen Farben der Erde und des Himmels – nun grinste ich doch: Roger Robin, das Leben ist bunt und lohnt sich!

Da erhellte sich plötzlich die Treppe, gurgelnd und grunzend und zeternd kam es jählings heruntergetrappelt auf flinken Pfoten, brandete in die Diele: ein Rudel bunter Meerkatzen. Ein Blaumaul, eine schmalrückige Weißnase, eine Rotohr-, eine Vollbart- und eine Diadem-Meerkatze. Sie sahen mich, sie erstarrten, mit lautem Schreckgeschnatter drehten sie um und preschten, kreischend vor Angst, die Treppe wieder hinauf. Ich sah ihnen nach – und vergaß sie im gleichen Augenblick: Auf der untersten Treppenstufe stand ein herrlicher blauer Angorakater und sah mich ruhig und prüfend aus großen Augen an, die die Farbe rauchgedunkelten Bernsteins hatten. Er sah mich an, ich sah ihn an, mir war, als wenn ich dem Herrn dieses verwunschenen Hauses gegenüberstand. Ich nahm langsam und respektvoll meine Mütze vom Kopf.

Gewiss hätte ich noch eine Verbeugung gemacht und dem blauen Angoraherrn meine tiefste Ergebenheit versichert, aber über die Treppe herab krähte plötzlich eine scharfe Stimme, die aggressive, harte, kämpferische Stimme, die ich aus dem Telefon der Grogstube kannte: »Was stehen Sie denn da unten herum und halten Maulaffen feil? Kommen Sie rauf, Roger Robin!« Und wie zur Unterstreichung dieses Befehls erlosch das Licht in der Diele, es wurde dunkel, nur die Treppe blieb in rötlichem Schein, vielleicht brannte im oberen Stockwerk eine kleine Lampe, oder eine Tür stand geöffnet.

Nun hätte ich große Lust gehabt, erst einmal die angrenzenden Räume zu durchwandern. Hinter einer Portiere hatte ich einen Kopf gesehen, wenn mich nicht alles täuschte, war es der eines Wollnashorns – Diceros antiquitatis – eines Tieres also, das es eigentlich gar nicht gibt, eines vorgeschichtlichen Tieres, das die Wissenschaft nur darum so gut kennt, weil das Eis Sibiriens ein paar Stücke konserviert hat. Aber eine sibirische Eisleiche in diesem Hause … Und dennoch, vielleicht war es gar nicht so sonderbar, alle Räume hier schienen zum Bersten voll mit Tiergerippen, schon sah ich die absonderlichsten Gehörne und Geweihe sich aus der hellen Treppenmündung recken –, aber was nützten mir die raresten Raritäten, wenn ich keine Zeit hatte, sie mir anzusehen? Von oben krähte die unangenehme Stimme: »Kommen Sie endlich!« – Rings um mich her war es dunkel, nur die Treppe schwamm in mattem Licht, ich stieg langsam hinauf, und der Schatten des bernsteinäugigen Angoraprinzen huschte mir lautlos voraus.

In die obere Diele fiel Licht aus einer offenen Tür, ich folgte dem Kater, der darauf zuschnürte, lautlos und mit stolz erhobenem Schweif. Aber auf der Schwelle blieb ich zum zweiten Mal verdattert stehen. Ein Zimmer wie ein Zelt, Wände und Decke mit Teppichen behangen, bunte, teure, indische, türkische, arabische Brücken und Gebetsteppiche, auf dem Fußboden lagen bis zu fünf und sechs übereinander. Sessel, eine Couch, Rauchtisch, ein elektrischer Kamin glühte, Katzen strichen umher, eine Perserkatze, mein Angorafürst, Siamesen, ein Cream-Kater, einige getigerte Hauskatzen – an der gegenüberliegenden Wand stand vor der halb geöffneten Tür The Blue Boy von Gainsborough und scheuchte die letzte der bunten Meerkatzen in das anstoßende Gemach.

The blue boy: ein schlanker, zierlicher Page im Spitzenkragen, mit Puffhosen und Wams aus blauer Seide. Als die Tür ins Schloss fiel und die Gestalt sich umdrehte, da sah ich über den zerknitterten und keineswegs sauberen Spitzen das runzelreiche Gesicht einer uralten Äffin mit stechenden bösen, schwarz brennenden Augen und von einer weißen Mähne struppig umrandet. Und da wusste ich mit einem Schlag alles: Das war ja das Gesicht hinter der schwarzen Fensterscheibe, das mich beim Grog fast erschreckt hatte! The blue boy war Dorothy Stainton, sie kannte mich von irgendwo her, hatte vielleicht Bilder von mir gesehen, sie hatte mich da unten sitzen und trinken sehen – daher also der merkwürdige Telefonanruf!

Die schmale kleine Gestalt kam stracks auf mich losmarschiert, baute sich vor mir auf, stemmte beide Hände in die Hüften, schöne, schlanke, weiße Damenhände, wie Gainsborough sie auch nicht schöner gemalt hat, legte den Kopf etwas zur Seite und fauchte mich an: »Da sind Sie also, Sie Säufer! Wollen Sie mir nun endlich einmal ehrlich sagen, wie mein Cyrill ums Leben gekommen ist?«

Ich stotterte verlegen: »Aber das habe ich Ihnen doch damals geschrieben …«

Sie schrie mir scharf und gellend ins Gesicht: »Angelogen haben Sie mich, Sie unverschämter Lümmel! Cyrill am Lagerfeuer von einem Meteorstein erschlagen, Sie Tagedieb, Sie Nichtsnutz, für was halten Sie mich eigentlich? So frech haben Sie mich angelogen, derart schamlos, dass Sie mir sogar schrieben, Cyrill hätte von mir geträumt, glücklich und voll Sehnsucht … Sie … Sie, wenn Sie mir jetzt nicht sofort die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, Robin, ich haue Ihnen eine runter, dass Sie nicht wissen, ob Sie Männchen oder Weibchen sind! Haben Sie gelogen oder haben Sie nicht gelogen?«

»Natürlich habe ich gelogen«, sagte ich ergeben. »Aber …«

»Warum haben Sie mich belogen?«, kreischte sie.

»Ich kannte Sie doch nicht, Lady Dorothy!«, stotterte ich ziemlich fassungslos. »Und ich wusste nicht …«

»Was wussten Sie nicht, Robin?« – die scharfe Stimme schnitt schärfer als ein Rasiermesser.

»Dass Sie so klug und tapfer sind, Dorothy!«, stammelte ich im mühsamen Bestreben, mit einem Kompliment diese verrückte Situation zu retten. Dabei sah ich in die Augen dieser alten, dürren, weißhaarigen Zwergin, und diese Augen waren glänzend schwarz, waren furchtlos und brannten in heller, wacher Klugheit – und da wusste ich, kaum, dass die Worte aus meinem Munde waren, dass ich nur die Wahrheit gesprochen hatte.

»Ihr Glück!«, sagte The Blue Boy. »Setzen Sie sich doch endlich, Sie Tölpel!« Dabei stieß sie mir ihre kleine Faust so heftig gegen den Magen, dass ich fast in den hinter mir stehenden Sessel hineinfiel. Schon aber saß sie mir gegenüber, schlug die mageren Beinchen übereinander, faltete die schönen Hände um das Knie, forschte: »Wie also war das mit Cyrill?«

»Es waren die Kaffernbüffel«, sagte ich. »Sie rannten auf uns los und jagten uns über das Flussufer.«

»Kaffernbüffel bringt man mit einem guten Schuss aus der Richtung!«, schimpfte sie wütend.

»Für gewöhnlich gewiss«, bestätigte ich ihr und sprach nun ganz offen – ach, mit dieser kleinen, komischen alten Frau konnte man besser reden als mit den meisten Männern. »Aber es war eben keine gewöhnliche Herde, es war sozusagen ein ›Altherrenrudel‹, Sie wissen: Einzelgänger, die aus der Herde ausgestoßen sind oder sie verlassen haben. Büffel mögen aber auf die Dauer nicht allein leben, auch sie finden sich und schließen sich zu neuen Trupps zusammen. Die sind natürlich weit gefährlicher, wilder und sturer als eine gewöhnliche Herde. Ich habe das ganze Magazin meiner Mauser auf sie losgebrannt, sie wichen nicht einen Millimeter, denn sie waren auf der Flucht vor einem Steppenbrand, Dorothy. Es blieb uns nichts anderes übrig – wir mussten über den Flussrand!«

»Und Cyrill?«, fragte die scharfe Stimme knapp und klar.

»Cyrill schoss nur einmal, er war nämlich gerade dabei, seine Waffe zu reinigen und hatte nur den einen Schuss im Magazin. Dann sah er, dass die Büffel nicht aufzuhalten waren und wandte sich zum Fluss. ›Kommen Sie, Robin‹, rief er mir zu. ›Kleines Turmspringen!‹ Er sprang, die Büchse in der Hand, das haushohe Flussufer hinunter – und kam nicht wieder hoch.«

»Krokodile«, sagte die alte Frau, und in ihrem Gesicht zuckte keine Runzel.

»Ja, Krokodile, der Fluss war voll davon. – Ich stand und starrte, dann musste ich springen, denn die Büffel fegten mich einfach über die Uferkante und kamen zur gleichen Zeit mit mir herunter. Ich kam gut an und hinüber.«

»Kein Krokodil?«, fragte Dorothy.

»Eins!«, grinste ich. »Aber das kam zu spät, da hatte ich schon den rettenden Ast in der Hand und zog mich hinauf. Es schnappte meinen Absatz, auf den Millimeter genau nur meinen Absatz und riss ihn mir mitsamt der Sohle vom Schuh.«

Dorothy sah mich an, dann sagte sie: »Feiner Junge, mein Cyrill!«

»Verdammt feiner Junge!«, bekräftigte ich aus ehrlichem Herzen. Und dies war unsere Trauerfeier für ihren Sohn, für ihren einzigen Sohn – es war schon eine Frau, diese Dorothy Stainton …

Wir saßen einander gegenüber in den großen Ledersesseln und sahen uns lange Minuten in die Augen. Ich glaube, wir sind uns in diesen Minuten nähergekommen als andere Menschen sich im jahrelangen engen Zusammenleben. Sie sah aus wie eine alte Äffin, ihr Aufzug war absurd, ihr Milieu lächerlich romantisch aufgeputzt, aber sie war ein Mensch, den kennenzulernen sich verdammt lohnte, beim Ganges und beim Nil, sie war eine tolle Frau, Dorothy …

Dann zog sie mit einem Ruck den Rauchtisch zwischen uns. »Ganz nüchtern sind Sie immer noch nicht, Robin«, sagte sie ruhig und merkwürdig sanft. »Da, bedienen Sie sich, echte Ware aus merry old England!« Sie stand auf und zauberte von irgendwoher aus den Teppichfalten eine dampfende Kanne, eine Tasse, Zuckerdose und Silberlöffel. »Und hier ist der versprochene Mokka!«, sagte sie, stellte die Tasse vor mich auf die Messingplatte und schenkte ein. »Halten Sie den Mund!«, fuhr sie mich grob an, als ich beteuern wollte, dass das bisschen Grog mich keineswegs irgendwie nachteilig beeinflusst hätte. »Sie trinken jetzt drei von diesen Tassen! Ohne Widerrede gefälligst! Ehe Sie nicht mit der letzten Tasse zu Ende sind, rede ich kein Wort mit Ihnen!«