Die strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen - Hermann Lang - E-Book

Die strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen E-Book

Hermann Lang

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Beschreibung

Im Zentrum steht das Beziehungsgeschehen zwischen Mutter, Vater und Kind (die sogenannte Triade), das von Geburt an die menschliche Subjektivität und Identität entscheidend formt. Bildet sich dieses fundamentale Gefüge nur in Ansätzen, verzerrt oder überhaupt nicht, so entsteht eine »Pathologie«, vor allem in Form früher Störungen wie Borderline-Syndrom, Psychosomatose und Psychose, aber auch Anorexie.  Neben den frühen Störungen wie Borderline-Syndrom, Psychosomatose und Psychose oder Anorexie zeigt der Schizophrene die Probleme am radikalsten, denn er bleibt strukturell in einer narzisstisch einschließenden und zugleich entgrenzenden Dyade (Zweierbeziehung) hängen, sei es in einer Mutter-Sohn-, Mutter-Tochter- oder in einer Vater-Sohn- bzw. Vater-Tochter-Konstellation. Hermann Lang erklärt psychische Störungen und ihr Entstehen in der Familie und zeigt, was Patchwork-Familien, Alleinerziehende usw. beachten müssen. Ein besonderer Akzent liegt auf den Aufgaben des konkreten und »funktionalen« Vaters. Zielgruppe: - Psychoanalytiker - PsychotherapeutInnen - Alle, die beruflich mit früher Kindheit zu tun haben »Das Buch erfüllt höchste Ansprüche und ist über seine spannenden plausiblen Falldarstellungen dennoch immer gut zu verstehen. Es ist ein hilfreiches Buch, das ein neues Verständnis, neue Aspekte eröffnet - ich möchte es darum uneingeschränkt allen psychoanalytischen Arbeitenden, aber auch Pädagogen empfehlen.« Hans Hopf, Dezember 2013

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Hermann Lang

Die strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Klett-Cotta

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von fotolia © Karsten R.

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94721-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10255-0

Für Alice und die Kinder Katja, Claudia, Saskia, Toniound im Gedenken an meine Mutter

|9|Einführung

Der Mensch ist, medizinisch bzw. psychologisch gesehen, ein »bio-psycho-soziales« Wesen. Nicht minder der kranke Mensch – was zuweilen im Furor des cartesianischen Dualismus vergessen wird: Sei es beispielsweise zu einer Zeit, als die »Holy Seven« – Psychosomatosen, wie Ulcus ventriculi, Asthma bronchiale, Neurodermitis etc. – als rein psychogen verursacht gesehen wurden, sei es, dass heute fast grosso modo für psychische Erkrankungen eine organische Kausalität angesetzt wird. So die gegenwärtig gängige Fokussierung auf neurobiologische Gegebenheiten, die beispielsweise Depression als »chemical imbalance« konzipiert und entsprechend, wie Klerman et al. (1994) anmerken, ein »psychotopic treatment« in simpler Analogie zur Gabe von Insulin bei Diabetes begreift. Oder sei es, dass die klassische Zwangsneurose auf ein Ungleichgewicht der Schleifensysteme im kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelsystem zurückgeführt wird.

Bei solchen Extrempositionen wird die wechselseitige Interaktion des Bio-psycho-sozialen übersehen. Sie ist grundlagentheoretisch schon dadurch gefordert, dass einmal menschliches Erleben und Verhalten organische Korrelate hat und zum anderen sich gerade das Gehirn als abhängig von der psychosozialen Welt erweist und psychosoziale Faktoren ihrerseits das neurochemische Substrat beeinflussen können. Es mag paradox klingen, dass ausgerechnet jetzt die moderne Neurobiologie die umgekehrte Kausalrichtung ins Spiel brachte: dass nämlich zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen biologische Spuren hinterlassen (Übersicht z. B. bei Bauer 2004 u. Grawe 2004) und seelisches Erleben körperliche Strukturen sowie das neurochemische Substrat verändern kann. Ein psychosoziales Trauma kann ähnliche funktionelle Hirnveränderungen mit einer dramatischen Abnahme des neokortikalen und subkortikalen Metabolismus erzielen wie eine ausgedehnte organische Läsion (Markowitsch 2002, Förstl 2002). Beziehungserfahrungen beeinflussen die Genregulation beispielsweise hinsichtlich langfristiger Bewältigung von Stress, und das selbst bei Ratten (Meaney 2004). Keine Frage, dass sich beispielsweise bei »endogenen Depressionen« Störungen im Gleichgewicht der Neurotransmitter finden. Deshalb können Psychopharmaka, die den Mangel an Serotonin beheben, gezielt angewendet werden. Aber das besagt nicht, dass diese Störungen im Transmitterhaushalt kausal anzusetzen sind, ebenso gut kann es sich um »mediating mechanisms« (Lipowski 1989) oder um Folgeerscheinungen der Erkrankung handeln. So muss Anfälligkeit für Depression nicht nur genetisch bedingt sein. Frank et al. (1989) sind der Auffassung, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit im |10|Gehirn Narben hinterlassen können und deshalb für Depression sensibilisieren. Eine entsprechende Übersicht über die neuesten Forschungen hinsichtlich dieser Zusammenhänge zwischen früher Traumatisierung, permanenten biologischen Veränderungen in Form einer neurobiologischen Sensitivität und der daraus resultierenden Prädisposition für eine psychische Erkrankung im Erwachsenenalter findet sich bei Gabbard (2005). Es scheint so, dass gerade die Neurowissenschaft belegen kann, »wie recht Freud hatte, bestätige sie doch die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und die Existenz unbewusster Vorgänge« (Grawe 2004, S. 25).

Wenn psychische Vorgänge mit neuronalen Prozessen korrelieren, dann korrelieren auch veränderte psychische Vorgänge mit veränderten neuronalen Prozessen. Wenn es heute als nachgewiesen gilt, dass psychische Prozesse durch Psychotherapie wirksam und dauerhaft verändert werden können, dann resultiert daraus, dass erfolgreiche Psychotherapie dauerhaft neuronale Prozesse und Strukturen verändert. »Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert« (Grawe 2004, S. 18). »Psychotherapy is fundamentally a learning process for its patients, and as such is a way to rewire the brain. In this sense, psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to treat mental illness« (LeDoux 2002, S. 299). Wenn Patienten mit Hilfe einer Psychotherapie von ihrer Depression genesen, sind beispielsweise beim Schlaf-EEG die gleichen Veränderungen zu registrieren wie bei einer medikamentösen Behandlung. Eine durch Lebensbedingungen ausgelöste Depression erfordert nicht unbedingt eine psychosoziale Behandlungsmethode, und eine in erster Linie biologisch verursachte muss nicht zwangsläufig somatisch behandelt werden. Schwartz (1997) konnte beispielsweise bei Zwangsstörungen belegen, dass es möglich ist, allein durch Psychotherapie systematische Veränderungen in Gehirnfunktionen zu erreichen.

Es scheint so, dass aufgrund eines fundamentalen Zusammenhangs zwischen cerebralen und mentalen Vorgängen gestörte neurochemische Prozesse durch psychotherapeutische Interventionen zu beheben sind und umgekehrt psychosozial bedingte Störungen auf psychopharmakologische Maßnahmen ansprechen. Wir liegen wohl am richtigsten dann, wenn wir eine zirkuläre Wechselwirkung, einen »Gestaltkreis«, annehmen, wie das Schlüsselwort des deutschen Pioniers der psychosomatischen Medizin von Weizsäcker (1947) lautet, einen Gestaltkreis zwischen Psychosozialem bzw. Subjektivem und Organischem, ständige Rückkopplungen, wobei Faktoren der neurobiologischen und psychischen Ebene sich wechselseitig und ständig beeinflussen. So kann eine Neigung zu Impulsdurchbrüchen, wie wir sie bei Borderline-Patienten finden, auf frühkindliche Deprivationserfahrungen zurückgehen, die nun ihrerseits ihre Spuren in einer gestörten Serotoninregulation hinterlassen haben und die nun wiederum das neurotische Verhalten des Erwachsenen miterklären kann.

|11|Mentale Prozesse können also zweifellos körperliche Vorgänge beeinflussen. Ein solcher Zusammenhang ist auch für frühe Störungen wie schizophrene Erkrankungen zu sehen, die in der folgenden Abhandlung zunächst im Zentrum stehen werden. Jüngst haben Leichsenring et al. (2005) die Effektivität psychodynamischer Psychotherapie bei schizophrenen und anderen psychotischen Störungen nachweisen können. Hinsichtlich früherer Forschungsergebnisse analoger Effektivität im deutschen Sprachraum sei u. a. auf das von Schwarz und Maier herausgegebene Buch »Psychotherapie der Psychosen« von 2001 oder die verschiedenen Publikationen von Mentzos verwiesen. Auch hier müssen wir auf ein bio-psycho-soziales Geschehen schließen, und dies gerade angesichts dessen, dass – um mit Wynne (1999, S. 13) zu sprechen – »die psychiatrische Literatur seit mehr als zwei Jahrzehnten von unzähligen Abhandlungen über genetische und andere biologische Abnormitäten überschwemmt (wird), die offenbar das Konzept von der schizophrenen Erkrankung festlegen und den Behandlungsansatz auf die Verabreichung von Medikamenten beschränken«.

Diese ausschließliche Sicht der Schizophrenie als »Hirnkrankheit« übersieht beispielsweise deren »situative Formbarkeit«, wie schon Kurt Schneider (1967), keineswegs ein Freund psychodynamischer Denkweisen, erkannte. So berichtet Mentzos (1993) über eine 30-jährige Juristin, die völlig klar die stattgefundene Bundestagswahl diskutiert; in dem Augenblick aber, als das Gespräch auf die Beziehung zu ihrer Mutter kommt, in Sekundenschnelle in ein katatonieform-autistisches Bild gerät, das sich rasch wieder gibt, als sie danach gefragt wird, ob sie der neuen Regierung eine gute Prognose stelle. In bestimmten Situationen, wie beispielsweise in Kriegszeiten, können Schizophrene »Kompetenzen« entwickeln, die man zuvor für unmöglich gehalten hätte. Und andererseits scheint charakteristisch, dass es gerade nicht »unspezifische« Stressoren, wie etwa Kriegserlebnisse, Erschütterungen und Schicksalsschläge allgemeiner Art sind, die eine Psychose auslösen, sondern insbesondere problematische Beziehungserfahrungen, wie eine gestörte Nähe-Distanz-Regulation, und dies häufig in Lebensabschnitten wie der Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter, »in denen fällige Individuationsprozesse unvermeidbar werden, die typischerweise mit Konflikten der Loyalitäten und mit Ablösungsängsten einhergehen, die traumatische Formen annehmen und sich nun auch in schizophrenen Symptomen zeigen können« (Stierlin 2002, S. 302).

Keine Frage, dass bei Psychosen erbgenetische Faktoren gegeben sind, die beispielsweise für eine konstitutionelle Vulnerabilität hinsichtlich einer adäquaten Informationsverarbeitung verantwortlich sind – aber das, was genetisch übertragen wird, ist noch nicht die klinische Krankheit selbst. Das bedeutet, dass weitere Faktoren, wie »Umweltstressoren« oder andere Komponenten hinzukommen müssen, damit aus der »Prädisposition« die eigentliche Erkrankung wird. Besteht diese Prädispositon |12|z. B. in einer erhöhten Sensibilität gegenüber Umweltreizen, wird das betroffene Subjekt es besonders schwer haben, sich zurechtzufinden, wenn es auf ein primäres Umfeld trifft, das mehrdeutig, verwirrend oder widersprüchlich miteinander kommuniziert, ihm feindselig oder »overinclusive« begegnet. Ein auf diese Weise »abnormer Kommunikationsstil« (Wynne und Singer 1965) kann so in besonderer Weise zur Entwicklung von schizophrenen Denkstörungen beitragen. Keineswegs familien- oder gar psychodynamisch orientiert, hat das bekannte Expressed Emotions (EE)-Konzept (Leff et al. 1982) gezeigt, dass es bei psychotischen Patienten vor allem dann zu Rückfällen kommt, wenn ihnen wichtige Angehörige mit Kritik, Feindseligkeit und emotionaler Überinvolviertheit begegnen – und die Auswirkungen sind umso destruktiver, je enger der entsprechende Kontakt war und je geringer das Ausmaß sonstiger sozialer Bezüge sich darstellte.

Zwillings- und Adoptionsstudien haben eine genetische Disposition aufweisen können. Zugleich aber konnten gerade Adoptionsstudien eine Wechselwirkung zwischen genetischen und Umweltfaktoren belegen. So zeigten in der bekannten Studie von Tienari et al. (1994) adoptierte Kinder mit einem hohen genetischen Risiko einen niedrigeren Grad an Denkstörungen, wenn sie bei Adoptiveltern aufwuchsen, die selbst einen niederen Grad an abnormen Kommunikationsmustern aufwiesen. Ein »gesundes« Familienmilieu kann demzufolge vor der Erkrankung »schützen«, auch wenn die leiblichen Eltern an Schizophrenie erkrankt waren. Wir müssen also davon ausgehen, dass ein Kind, wie u. a. Robbins (1993) gezeigt hat, das eine genetische Disposition zur Schizophrenie hat, in seiner psychosozialen Entwicklung durch die Art früher Objektbeziehungen mitgeformt wird. Eine beispielsweise durch eine genetische Disposition bedingte konstitutionelle Hypersensitivität (Grotstein 1977 a, b) oder eine Schwäche der neuromodularen Organisation (Fleck 1992) treten in Wechselwirkung mit frühen Objektbeziehungen (Robbins 1993) und traumatisierenden Umweltkonstellationen. Hartwich (2006, S. 17) fasst entsprechend zusammen: »Die Umweltbedingungen erhalten damit gestaltenden Einfluss auf die von der Disposition mitgeformten Strukturen. Es kommt zu einer zirkulären wechselseitigen Formung, die im Zeitablauf von Kindheit über Jugend und frühem Erwachsenenalter sowohl somatischen als auch psychischen Faktoren ausgesetzt ist. Bildlich gesprochen kommt es zu einem spiraligen Verlauf, dieser kann durch ›Umwuchten‹ von mehr psychisch oder mehr somatisch bedingten Faktoren ›aus der Bahn geraten‹ und in einen psychotischen Schub ausklinken.«

Mit Alanen (2001, S. 61) ist zu erinnern: »Soziale Interaktion und Beziehungen mit anderen Menschen sind Teil der menschlichen Biologie«. Sie sind nicht nur entscheidend für die psychosoziale Entwicklung eines Menschen, sondern auch für die Reifung von dessen grundlegenden cerebralen Funktionen (vgl. u. a. Hüther 2005). So verwundert es nicht, dass diese Entwicklung massiv geschädigt wird, wenn eine |13|entwicklungs- und reifungsfördernde Umwelt fehlt. So kann es schon, wie die bekannten Untersuchungen des amerikanischen Ehepaars Harlow an Rhesusaffen zeigten, zu schwerwiegenden Folgen im Sozialverhalten dieser Primaten kommen, wenn eine Mutterentbehrung vorliegt (vgl. Lang und Faller 1998). Erst recht gilt dies natürlich für das menschliche Subjekt, ist es doch, im Vergleich zum Tier, noch viel weniger durch Instinkte in seinem Verhalten vorprogrammiert. Es sei hier nur an die Versuche erinnert, die hinsichtlich der Sprachfähigkeit des Menschen durchgeführt wurden. So sollen der im siebten vorchristlichen Jahrhundert lebende ägyptische König Psammetichos und später der Stauferkaiser Friedrich II. versucht haben, Kinder isoliert, ohne jegliche Ansprache, aufwachsen zu lassen, um zu sehen, welche Sprache sie dann von Natur aus sprechen würden. Vom Experiment des Stauferkaisers wird überliefert, dass die Kinder allesamt frühzeitig starben. Solche »Kaspar-Hauser-Experimente«, wie auch das Schicksal der sogenannten »Wolfskinder«, belegen die fundamentale Bedeutung von Beziehung und Kommunikation für die genuine Entwicklung eines Menschen. Mit Alanen (2001, S. 62) können wir jetzt im Rückbezug auf unsere Thematik zusammenfassen: »Wenn die Schizophrenie mit Störungen der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung einhergeht, wie dies durch psychologische Forschungen nahe gelegt wird, dann ist es nur natürlich anzunehmen, dass zwischenmenschliche Beziehungen zu dieser Pathogenese nicht nur auf einer psychischen, sondern auch auf einer biologischen Ebene beitragen.«

Die zentralen zwischenmenschlichen Beziehungen schlechthin stellt das familiäre System dar. Die Familie ist der primordiale Sozialraum, der von der frühen Kindheit bis zur Pubertät, Adoleszenz und beginnenden Reifezeit, zentral auf den Werdenden einwirkt. Entgegen der weit verbreiteten Idee vom Bedeutungsverlust der Familie als zentraler Sozialisationsinstanz, zeigen neuere sozialpsychologische Untersuchungen, dass die Ausbildung eines gesunden Selbstwertgefühls und einer stabilen Identität ganz entscheidend auf psychologischen Kommunikationsprozessen innerhalb der Familie beruht – und dies in einem Maße, in dem diese Aufwertung der Kernfamilie zugleich zu ihrer Überlastung führen kann. »Reduziert auf die Kernfunktion der Persönlichkeitsbildung gewinnt sie (die Familie) eine ebenso enorme wie fragile Bedeutsamkeit« (Dornes 2007; vgl. auch Dornes 2006). Ja, »Familie ist in« heißt es in einem »Spiegel Spezial« mit dem bezeichnenden Titel »Sehnsucht nach Familie«. Sehnsucht nach Familie vielleicht deshalb, weil die »klassische Familie« mehr und mehr zerbröckelt. Wurden in den 50er Jahren noch 98 % aller Kinder in eine Familie mit Vater und Mutter geboren, so lebt heute fast jedes dritte Kind nicht in einer solchen Konstellation, sondern stattdessen ohne Vater oder ohne Mutter oder mit unverheirateten Eltern oder mit neuer Familie im sogenannten Patchwork-Modell. Was heißt hier noch Familie? Rechnen Alleinerziehende noch dazu, gar das schwule Paar mit Kind oder eine Konstellation, bei der der biologische Vater der Samenbank |14|entstammt? Das traditionelle Familienbild ist in vielerlei Hinsicht Vergangenheit. In ihrem jüngst erschienen Buch mit dem bezeichnenden Titel »Die Familie ist tot – Es lebe die Familie« sieht Elisabeth Roudinesco (2008) dies so: Die Familie bleibt bestehen, aber sie wird künftig eine ganz andere sein.

Wenn es richtig ist, was ebenfalls Familientheorie und Familientherapie hervorheben, dass die Familie der soziale Mikrokosmos ist, worin mitmenschliche Kommunikation erlernt wird und sich die eigene Identität herausschält – wie kann dies genuin bei dieser »Veranderung« und den genannten Varianten noch geschehen? Es müsste sich hier eine Struktur zeigen, die in ihrem Fundamentalgefüge auch solche »Abweichungen« konstitutiv mitumfasst.

Als eine solche familiäre Basalstruktur hat sich nun uns eine Konstellation gezeigt, die wir »strukturale Triade« nennen. Ich habe diesen Begriff bereits 1976 (Lang 1976 a) in meiner medizinischen Dissertation »Zur Rolle und Position des Vaters bei Schizophrenen« eingeführt.

Es ist nun unsere Auffassung, dass psychische bzw. psychogene Störungen wesentlich mit einer fragilen, »verzerrten« oder gar »gescheiterten« Herausbildung der »strukturalen Triade« und deren Schicksal zu tun haben. Was etwas im Wesen ist, lässt sich besonders genuin dann aufweisen, wenn es fehlt. So gerät zunächst die »Psychose Schizophrenie« ins Zentrum der Überlegungen, denn bei dieser frühen Störung hat sich gezeigt, dass beim später Erkrankten die Bildung dieser primordialen Triade scheiterte, der Übergang von der durch die Natur vorgegebenen biologischen Trias Vater, Mutter, Kind zu dieser psychosozialen Konstellation defizient war.

Neben psychotischem Erleben erweist sich das Phänomen problematischer Triangulierung am eklatantesten bei der »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Sie wird deshalb ebenfalls im Fokus unserer Überlegungen stehen. Ebenso gehören »schwere Psychosomatosen« zu den sogenannten frühen Störungen (vgl. u. a. Mentzos 2000). »Schwere Depressionen« (Melancholien) wären hier auch aufzulisten. Auf diese Syndrome bin ich an anderer Stelle ausführlich eingegangen (Lang 1990; 2000 a, b; 2002 a; 2007 b; 2010 a, 2011). Es sei hier auf diese Publikationen verwiesen. Ganz analog zu den anderen frühen Störungen hat sich auch hier als »Grundstörung« eine defiziente Triangulierung, verbunden mit einer charakteristischen Symbolisationsschwäche, herausgestellt.

Will man sich nun der familiären Ursprungswelt gerade Schizophrener nähern, ist zu bedenken, dass die Routineexploration häufig nicht weiter als bis zur Krankenblatteintragung »geordnete Familienverhältnisse« (Ernst 1956) gelangt. Kisker und Strötzel (1961/62) waren in ihren Untersuchungen auf eine ausgeprägte innerfamiliäre Kaschierungstendenz gestoßen. Die Familienforschung im engeren Sinne (vgl. u. a. Boszormenyi-Nagy 1973) weist darauf hin, dass der Kranke oft durch eine tiefgreifende Loyalität an die Familie gebunden ist, welche die »Preisgabe« von Informationen |15|über diese »Sozialisationsagentur« als »Verrat« erscheinen lässt. Paul Matussek (1958) hat auf die Tendenz schizophrener Patienten aufmerksam gemacht, belastende Situationen zu verschweigen. Im Gegensatz zu Melancholie und Neurose sieht er in dieser Verschlossenheit eine Spezifität schizophrener Struktur.

In Anbetracht dieser Schwierigkeiten bei einem explorierenden Zugang und angesichts des hohen Komplexitätsgrades, der diesem primären Beziehungsgefüge eignet, schien uns eine Untersuchung nur anhand von Einzelfällen möglich. Will man es im Sinne eines »strukturalen« Ansatzes, der im ersten Kapitel dargestellt wird, nicht bei der Betrachtung des Erscheinungsbildes belassen, sondern nach den Tiefenstrukturen fragen, auf die dieses Erscheinungsbild verweist, bedarf es der Interpretation – einer Interpretation allerdings, die in ihrem hermeneutischen Kreisgang nur konsistent greifen kann, wenn umfangreiches »Material« zur Verfügung steht, ein umfassender Kontext gegeben ist. Somit war geboten, dass vorrangig solche »Fälle« als empirische Basis herangezogen werden konnten, die aus längerfristigem regelmäßigem psychotherapeutischem Umgang gleichsam mikroskopisch bekannt sind. Eine Ausnahme macht der »Fall Schreber«. Angesichts der Fülle an Informationen, die von und über Schreber vorliegen, schien uns diese Ausnahme vertretbar. Gleichwohl gilt es mit Jaspers (1965, S. 662) festzuhalten: »Es bleibt der Grundtatbestand, dass durch psychotherapeutisches Eingreifen und Erfahrung von Wirkung und Gegenwirkung im Umgang mit Kranken Erkenntnisse möglich werden, die in bloßer Betrachtung, vor der Gefahr des therapeutischen Versuches, nie zu gewinnen sind.«

Dies gilt natürlich erst recht für den »bestanalysierten von allen Patienten«, für Freuds »berühmtesten Fall«, den »Wolfsmann«, der uns im Borderline-Kapitel als paradigmatische Fallgeschichte begegnen wird. Neben literarischen sind es heute immer mehr filmische Gestalten, die psychoanalytische Konzepte illustrieren können. Gunda, die Protagonistin aus Michael Verhoevens »Gundas Vater«, dient uns hier als weitere Referenz.

Auf die Jaspersche Feststellung müssen wir vor allem dann achten, wenn wir Folgendes bedenken: Ein entscheidendes Kriterium für die Stringenz des Aufweises einer familiären Genealogie früher, insbesondere schizophrener Störungen sehen wir darin, dass es zumindest in großen Linien gelingt, eine Verschränkungsreihe herauszuarbeiten, die von der familiären Sozialisation über die prämorbide Verfassung zur Auslösesituation und psychotischen Symptomatik selbst reicht. Will man diesen Strukturzusammenhang aufzeigen, ist man zu umfangreichen Krankengeschichten gezwungen, gilt es doch dann, den biographischen Entstehungsbedingungen der typischen Symptome bis in feinere Verzweigungen nachzugehen.

Danken möchte ich zuallererst meiner Frau Alice, die geduldig die Entstehung dieses Buches begleitet hat. Einmal mehr zeigten die Gespräche mit ihr, wie Recht |16|doch Kleist hatte, als er auf die »allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden« hinwies. Danken darf ich Frau Lehmann und Frau Heigold, die wertvolle Schreibhilfe bei der Erstellung dieses Buches geleistet haben. Danke auch den Patienten, denn erst durch ihre Mitarbeit wurden die hier zu thematisierenden therapeutischen Erfahrungen und ihre Reflexion möglich. Danken darf ich Herrn Dr. Beyer vom Verlag Klett-Cotta für die hervorragende Kooperation und Sorgfalt bei der Veröffentlichung des Manuskripts, ebenso Frau Monika Riedlinger für ihre sorgfältige redaktionelle Betreuung.

|17|Kapitel 1 Der methodische Ansatz

Die Frage nach dem Modus des Verständnisses von Fremdseelischem – für den Psychiater und Psychotherapeuten die epistemologische Frage schlechthin – hatte Dilthey mit dem Modell des »Einfühlens« bzw. »Hineinversetzens« beantwortet. Das Verstehen eines anderen »Lebens«, eines »anderen Lebenszusammenhangs«, scheint nur möglich, wenn der Zusammenhang, der im eigenen Erleben liegt, immer gegenwärtig ist. Dann können wir uns in einen anderen hineinversetzen, uns in ihn einfühlen. Die Grenze des Einfühlbaren wird zur Grenze des Verstehbaren selbst. Angesichts der Tatsache, dass eine solche Einfühlungstheorie die Grundlage intersubjektiven Verständnisses bildet, ist es nur folgerichtig, wenn angesichts sich aufdrängender Bruchstellen im Verstehen eines lebensgeschichtlichen Zusammenhangs das kausale organizistisch orientierte Erklärungsprinzip gefordert wird. Im Gefolge Diltheys hatte Jaspers die im Bewusstsein unmittelbar gegebene lebensgeschichtliche Erinnerung zum entscheidenden Kriterium für Selbst- und Fremdverstehen aufgewertet.

So hatte die Gegnerschaft Jaspers Freud gegenüber zweifellos einen sachlichen Grund (vgl. Lang 2008 a). Das »Unbewusste« – Freuds originellste Entdeckung – konnte hier keinen Platz finden. Dergestalt »bleiben Phänomenologie wie verstehende Psychopathologie im Bewusstsein« (Jaspers 1965). Epistemologisch gesprochen: Gesetzt, man billigt dem »Unbewussten« eine eigene Realität zu – und dessen Rhetorik, auf die ich anderenorts (Lang 1973) ausführlich eingegangen bin, ist dafür Beleg –, dann muss sich neben der Alternative »intuitives Verstehen« und »kausales Erklären« eine dritte Erkenntnismöglichkeit abzeichnen. Es ist der Begriff der Interpretation, der jetzt relevant wird und dem auch wir in dieser Untersuchung folgen wollen. In legitimer Deutungs- und »Übersetzungsarbeit« (Kimmerle 1988), der eine eigene »Konsistenz« (Janzarik 1988) zukommt, soll jetzt erst das Zugrundeliegende, das Eigentliche, erfasst werden, das über alles nur subjektiv Vermeinte und »Eingefühlte« hinausreicht. Interpretation ist gefordert, wenn Heidegger (1957, S. 35) in »Sein und Zeit« solches als »Phänomen« bezeichnet, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, »was sich zunächst und zumeist gerade |18|zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht«. »Der Vorgang des Interpretierens«, schreibt Peters (1973 a, S. 84), »bringt somit Wesentliches zum Vorschein, was im Objekt zwar enthalten, aber nicht auf den ersten Blick sichtbar ist.« Es gilt »über das Erscheinungsbild hinaus die Verbindungen zu den Gründen seines Auftretens zu suchen; dies führt zu neuen Fragen, neuen Informationen, evtl. zur Erkenntnis eines anfänglichen Missverstehens und zu weiteren Fragen nach den Gründen dafür. So baut sich allmählich ein neues, vollständigeres und verständlicheres Modell des Erscheinungsbildes auf (…)« (S. 87). Es versteht sich von selbst, dass dabei die Forschung »nach den lebensgeschichtlichen, situativen, ökonomischen und sozialen Implikationen eines Zustandsbildes« ins Zentrum der Betrachtung rückt.

Gesetzt also, auch das psychoanalytische Interpretationsverfahren bilde neben der unmittelbaren Erfahrung von Erinnern bzw. Einfühlen und naturwissenschaftlichem Erklären eine weitere Erkenntnismöglichkeit, dann drängt sich die Frage auf, ob nicht auch jener Gegenstandsbereich, den es erschließt, von anderer Art ist als eine in bewusster Intention erfahrene »Entwicklung einer Persönlichkeit« oder ein Mechanismus quantitativer Abläufe, den ein kausales Erklären auf den Begriff bringt. Die weitere Frage schließt sich an, ob das bisher übliche Verrechnen der Psychoanalyse als Neurosenpsychologie nicht zu kurz greift. Im Hinblick auf das Verständnis psychotischer Symptomatik ist ein rein neurosenpsychologischer Ansatz sicherlich irrig. Die Psychose ist gewiss nicht, wie Schultz-Hencke (1952) meinte, eine »Neurosenvariante«. Ebensowenig lässt die Psychose sich aber andererseits, wie z. B. Janzariks Kritik an der nosologischen Orientierung der Klinischen Psychiatrie dargestellt hat, hinreichend durch eine somatogenetische Konzeption »erklären« (1973). Typische Schizophrene zeigen »eine dem Wesen biologischer Abläufe an sich fremde Gebrochenheit« (Janzarik 1968, S. 128).

Wenn wir in dieser Studie – mit Ausnahme der Überlegungen im 8. Kapitel – die Bedeutung von biologischen Faktoren quasi vernachlässigen, so nicht aus mangelndem Interesse an dieser Fragestellung. Die hier eingenommene Perspektive ist eher, um mit Wynne und Singer (1965) zu sprechen, Folge einer »Forschungsstrategie« – angesichts der ungeheueren Komplexität des »Gegenstandes«, mit dem es der Psychiater und Psychotherapeut zu tun hat und somit beinahe ein unumgängliches Muss. Die hier abzuhandelnde Thematik als solche weist freilich auch diese Richtung. Es kann schon in Anbetracht dessen nicht um eine Konzeption der frühen Störung in toto gehen. Wenn bei aller gebotenen Zurückhaltung auch pathogenetischen Fragen nicht ausgewichen wird, dann in dem Sinne, dass die aufzuzeigenden Bedingungen als »mitbedingende« zu verstehen sind.

Von hohem Interesse für unseren methodischen Ansatz ist der Begriff »Struktur«. |19|Er ist von großem Interesse deshalb, weil wir unseren Ansatz struktural-analytisch nennen wollen. Was meint eine solche Kennzeichnung?

In »Dynamische Grundkonstellationen in endogenen Psychosen« unterscheidet Janzarik (1959, S. 13) zwei Grundaspekte des Seelischen: Dynamik und Repräsentation. Vom »endothymen Grund« der Dynamik hebt sich die »Repräsentation als jenes ab, das die Kontinuität seelischer Dynamik determiniert, artikuliert und differenziert. Eine Erlebniswelt, in der Impulse und Gefühle ohne repräsentative Inhalte bestünden, an die sie gebunden und auf die sie gerichtet sind, die Kontinuität seelischer Dynamik ohne eine von repräsentativen Gehalten erzwungene, wenn auch im Einzelnen vielleicht nur primitive Artikulation, wäre trotz der auch dann noch bestehenden biologisch vorgeformten dynamischen Ordnungen als menschliche Erlebniswelt nicht denkbar.«

Janzarik erwähnt, dass der in seiner Konzeption verwendete Begriff der Repräsentation bereits von Ernst Cassirer mit psychologischer Intention benützt worden sei. In Cassirers Philosophie spielt zweifellos der Begriff der Repräsentation eine überragende Rolle. Wenn Janzarik davon spricht, dass ohne die artikulierende Funktion der repräsentativen Bestände menschliche Erlebniswelt undenkbar wäre, so liefert uns Cassirer hierfür einen ausgezeichneten Beleg, ist es doch die Sprache, das Kennzeichen des Menschen schlechthin, die ihre Entstehung der Repräsentation verdankt. Weiß nämlich das Bewusstsein, dass das Präsente »repräsentiert«, erfasst es dergestalt den sinnlichen Eindruck als Symbol, dann kehren wir in das Reich der Sprache ein, »wo es gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner Gegenwart, in seiner einfachen ›Präsenz‹ (aufgehen zu lassen, ihn) als Darstellung, als ›Repräsentanten‹ eines anderen zu nehmen (…) Der Moment, in dem irgendein einzelner sinnlicher Eindruck symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden wird, ist immer wie der Anbruch eines neuen Weltentages« (1929, S. 131).

Diesen symbolischen Repräsentanten bestimmt nun Cassirer als Form, als »symbolische Form«. Und diese Repräsentation wird zur universalen Funktion. Denn in allem, was der Mensch zu verstehen sucht, stößt er auf bereits Geformtes, Artikuliertes, stößt er auf bereits Symbolisiertes und auf symbolische Zusammenhänge. Im Gegensatz zur unmittelbaren Beziehung von Rezeptiv- und Effektivsystem, wie sie überall im Tierreich begegnet, findet sich der Mensch mit einem »Bindeglied« konfrontiert, findet er sich in eine neue Dimension von Wirklichkeit hineingestellt, die als Symbolsystem bezeichnet wird. Ein Symbol »repräsentiert« nur dann, wenn es selbst Teil eines Gefüges ist, es in einem System seinen Ort hat.

Die Nähe zum strukturalistischen Denken ist unverkennbar, steht doch hier der Begriff der in einem systematischen Gefüge angeordneten symbolischen Repräsentationen ganz zentral. Das wird schon in Saussures »Cours de Linguistique Générale«, die den Ausgangspunkt der strukturalistischen Bewegung bilden, ganz klar. |20|Ein Sprachsymbol hat nur eine repräsentative Funktion vermöge der Beziehungen, die es innerhalb eines Gefüges eingeht. Und nur auf diese Weise geordnet, gewinnen dann die einzelnen Repräsentationen formative Kraft. Ohne die artikulierende und differenzierende Funktion dieser Repräsentationen, von Saussure »signifiants« genannt, bliebe das Denken »eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt wäre« (1964). Und auch für Claude Lévi-Strauss, den Begründer des sogenannten Pariser Strukturalismus, hat diese prägende Kraft der »symbolischen Funktion«, die er gleich Saussure als Gefüge geordnet sieht, überragende Bedeutung. Sie ist für ihn gewissermaßen das »Organ« einer spezifischen Funktion, dazu bestimmt, unartikulierte Elemente, wie Triebe, Gefühle, Bilder und Erinnerungen, zu strukturieren (vgl. Lévi-Strauss 1958).

Diltheys Ausgangspunkt bei der Frage nach den Kriterien einer »Verstehenden Psychologie« war die innere Selbstvergewisserung des Menschen, die in seinen eigenen Erlebnissen liegt. Es war dieser subjektzentrierte Ansatz eines unmittelbaren »Sich-selbst-Inneseins«, der nicht nur nachhaltig, vermittelt durch Jaspers, die Psychiatrie beeinflusste, es war auch dieser Ansatz, der dem von Dilthey in die Psychologie eingebrachten Strukturbegriff die Richtung wies. »Struktur« wurde fortan als individuelle Struktur gesehen und als solche, wie die ganzheitspsychologischen Auffassungen belegen, weiter entwickelt.

Davon unterscheidet sich nun der strukturalistische Ansatz im Grundsätzlichen. Sein Ausgangspunkt waren nicht die Psyche und die individuelle Struktur, sondern die Sprache. Und wegweisend wurde hier die Scheidung der Sprache in »langue« und »parole«. Hinter der individuellen Aktualisierung des Sprechakts wird ein kollektives Beziehungssystem, eine Struktur sichtbar, worin jedes Element durch seine Umgebung und Stellung bedingt ist. Wenn ich spreche, mich an einen Anderen oder Andere wende, dann vermag ich das nur auf der Basis eines schon allen gemeinsamen Codes1, aus dem und von dem her jeweils geschichtlich Begegnung möglich ist. Nur so kann dann in dem Wort, das sich an den Anderen und die Anderen wendet, ein gemeinsamer Horizont des Verstehens, ein Horizont von gemeinsamem Sinn mitgesetzt sein. Kurz: Struktur im strukturalistischen Ansatz ist von vornherein dadurch, dass die Sprache zum alles überragenden Paradigma wird, ein soziales Phänomen, ein Grund, der von vornherein die individuelle Psyche transzendiert. Rückt man demnach den strukturalistischen Strukturbegriff ins Zentrum der Reflexion, dann ist mit ihm von Anfang an eine mitweltliche Verschränkung gegeben. Wohl sind die Organe des Menschen, wie Lenneberg (1972) zeigen konnte, |21|auf Sprache schon angelegt, doch ist es erst, wie Tellenbach ausführt, »die Belehrung durch den Mitmenschen (die Mutter), welche die in ihnen vorgebildete Sprache zur ›Muttersprache‹ auszubilden imstande ist« (1974 b, S. 173). Solches vermag dieser Mitmensch Mutter freilich nur, weil die Sprache, die er lehrt, sich in eine Sprache eingebunden findet, die die Sprache einer ihn mitumfassenden Gemeinschaft ist.

Die Diskussion der Heideggerschen Bestimmung des menschlichen Subjekts als »In-der-Welt-Sein« kann hier vertiefen. Gehen wir vom Begriff der »Geworfenheit« aus. Hiermit wird ein Moment des der eigenen Verfügbarkeit Entzogenen angesprochen. Damit ist gegeben, dass das Dasein schon immer sich ständig an die (mitmenschliche) Welt ausliefert, »faktisch« mit Anderen existiert. Es ist deshalb nicht in sein Belieben gestellt, wie es innerweltlich Seiendes erschließt. Dieses Erschließen leistet die ontologisch-existenziale Bestimmung der Befindlichkeit. »Die Befindlichkeit erschließt zunächst das Dasein in seiner Geworfenheit und Angewiesenheit auf die mit seinem Sein je schon erschlossene Welt, sie ist selbst die existenziale Seinsart, in der es sich ständig an die ›Welt‹ ausliefert, sich von ihr angehen läßt (…)« (Heidegger 1957, S. 139). In der Befindlichkeit bzw. ihrer ontisch-existenziellen Erscheinungsweise der Stimmung und Gestimmtheit, ist, wie Tellenbach kommentiert, »das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen: Welt, Mitdasein und (eigene Existenz)« (1974 a). »Erst mit der Stimmung«, fährt Tellenbach fort, »ist alles Erkennen, Verstehen und Erleben des Daseins, alles Bedeuten und Erscheinen der Welt, ihr Bedeutungszusammenhang insgesamt in spezifischer Weise erschlossen – so ursprünglich, dass Heidegger sagen kann, im Vergleich dazu trügen die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens viel zu kurz!« (1974 a, S. 43 f.).

Nun ist die Befindlichkeit nur eine der drei existenzialen Strukturen, in denen sich das Sein des Daseins hält. Gleichursprünglich mit ihr konstituiert sich das »Verstehen«. Befindlichkeit hat je schon ihr Verständnis, und Verstehen ist immer schon Gestimmtes. »Erklären« wie »Erkennen« sind bereits Derivate dieses ursprünglich erschließenden Verstehens. Das gestimmte Verstehen birgt in sich die Möglichkeit der Auslegung und Aussage. Nun ist die befindliche Verständlichkeit vor Auslegung und Aussage, die dieses Verstehen zueignen, immer schon gegliedert. Dieses gliedernde oder artikulierende Existenzial des gestimmten Verstehens nennt Heidegger Rede. Die Rede, das existenzial-ontologische Fundament der Sprache, liegt aller Auslegung und Aussage schon zugrunde. Das Bedeutungsganze der Welt erscheint als das in der »redenden Artikulation Gegliederte« (1957, S. 161). Bedeutungen sind nicht, auf welche Weise auch immer, vorgängig gegeben, sondern sind als sinnhafte das »Artikulierte des Artikulierbaren« (S. 161). So kann Heidegger folgern, dass die Rede als ursprüngliche Artikulation der Verständlichkeit des Daseins ein Existenzial |22|der Erschlossenheit darstellt und dergestalt mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich ist.

Ist die Sprache im Sinne der Rede aber dergestalt mit Befindlichkeit verklammert, wie es ja in der Kennzeichnung »gleichursprünglich« zum Ausdruck kommt, dann eignen auch ihr jene Attribute wie »Unverfügbarkeit«, »Ausgeliefertsein«, die sich mit dem Existenzial der Befindlichkeit verknüpfen. Und das wird auf ontisch-existenzieller Ebene sofort klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ebensowenig wie für das Erbe, das man zu übernehmen hat, auch für die Sprache, die diese Welt artikuliert, in der wir uns geworfen vorfinden, die Möglichkeit der Wahl besteht. Wenn wir sprechen, ein Gespräch führen, machen wir die Erfahrung, dass wir uns dabei in ein Geschehen verwickeln, das einer eigenen Gesetzlichkeit folgt. Die Worte, die uns einfallen, die Worte, die wir assoziieren, fügen uns in Bezüge ein, die über die Bedeutungen, die wir ihnen beizulegen vermeinen, hinausweisen. Es ist nicht in unser Belieben gestellt, die Bedeutung eines Wortes zu fixieren, Neologismen in den Sprachgebrauch einfließen zu lassen, und ohne dass wir es zu ändern vermöchten, sterben Worte ab. »Denn«, um mit Gadamer (1967, S. 74) zu sprechen, »was ist bewusstloser und selbstloser als jener geheimnisvolle Bezirk der Sprache, in dem wir stehen und der was ist zu Worte kommen lässt, so dass Sein ›sich zeitigt‹?«

Wenn in unseren methodologischen Betrachtungen die Sprache in den Blickpunkt rückt, dann nicht unbedingt deshalb, weil sie in den folgenden Untersuchungen sofort zum zentralen Thema würde. Es geht zunächst um die Sprache als Paradigma. Wie in das biologische Erbe sind wir ebenso in Sprache und, wie vor allem Wilhelm von Humboldt, Heidegger und Gadamer gezeigt haben, in »Welt« als ein durch Sprache artikuliertes Bedeutungsganzes »geworfen«. Wenn wir nach Heidegger (1957) »aus dem Erbe« existieren, so ist hiermit vor allem auch jener Sachverhalt angesprochen, dass wir aus »geschichtlichen« Faktizitäten heraus Bestimmung finden, hinter die wir als »Geworfene« nicht zurückkönnen. An anderer Stelle habe ich ausführlich dargestellt, wie eine solche aus dem »Erbe« kommende geschichtliche Konstellation zum pathologischen Geschick werden kann (1976 b). Und es war hier die Sprache, die diese Vermittlung leistete. Ohne Weiteres wäre in dieser kleinen Arbeit auch ein Bezug auf Heidegger möglich gewesen, so wenn er in »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« (1963, S. 35) schreibt: »Erst die Sprache leistet Gewähr, dass der Mensch als geschichtlicher sein kann.« Das bedeutet: Nicht der Mensch verfügt über die Sprache, sie verfügt eher über ihn, er ist ihr überantwortet.

»Die Sprache ist in ihrem Wesen weder Ausdruck noch eine Betätigung des Menschen (…) Die Sprache erwirkt und ergibt erst den Menschen.« Anderenorts (1976 c) habe ich ausgeführt, dass diese Sätze – sie finden sich in Heideggers »Unterwegs zur Sprache« (1959, S. 11 f.) – ohne Weiteres das Motto einer strukturalistischen, besser noch post-strukturalistischen Schrift abgeben könnten. Hier wie dort tritt das Subjekt, |23|das Ich, zurück und findet sich von einem es Um- und Übergreifenden, einer Struktur, bestimmt. Für den strukturalistischen Ansatz bildete, wie erwähnt, die Sprache das Paradigma. Der Aufbau ihrer Struktur wurde zum Modell schlechthin. Hinter dem einzelnen Sprechakt hatte Saussure ein kollektives Beziehungssystem, genannt »langue«, sichtbar gemacht, worin sich jedes Element durch seine Umgebung und Stellung bedingt findet. Das Schachspiel kann die Organisationsform der »langue« verdeutlichen. Die einzelnen Elemente sind hier keineswegs durch ihre konkrete Substantialität bestimmt; sinnvoll werden sie allein durch die Funktion, den Wert, den sie dank der Spielregeln haben. Nehmen wir an, ein Springer zerbräche im Laufe einer Partie. Nun, er ist durch ein beliebiges, ihm völlig ungleiches Holzklötzchen zu ersetzen, ist prinzipiell austauschbar – vorausgesetzt, dass man diesem Holzklötzchen denselben Wert beilegt, es den vereinbarten und konstant geltenden Regeln gemäß Verwendung findet.

Ganz analog zu diesem Sprachkonzept analysiert Lévi-Strauss Sozialstrukturen. Das Phänomen »Verwandtschaft« wird zu einem System von Positionen, dessen überindividuelle Struktur allein Konstanz verbürgt, während im Inneren die Individuen selbst, die »Elemente«, sich verschieben und ihre wechselseitigen Stellungen tauschen können – unter der Voraussetzung freilich, dass ihre Relationen untereinander respektiert bleiben. In Anbetracht der absoluten Vorrangigkeit der Struktur gegenüber den in ihr enthaltenen Elementen wird das Subjekt selbst, das ja nichts anderes als ein solches Element darstellt, zum beliebig austauschbaren Objekt, das den Regeln des Systems entsprechend funktioniert.

Im Lichte einer hermeneutisch-anthropologischen Sichtweise erscheint es freilich problematisch, ob der Mensch als geschichtlicher sich tatsächlich mittels einer solchen Methode verstehen lässt – einer Methode, die ihn letztlich zum topologischen Moment eines universalen Kohärenzsystems reduziert. Gleichwohl ist zu fragen, ob nicht der strukturalistische Ansatz, trotz seines positivistischen Gewandes, Denkanstöße für eine Erfahrung von Wirklichkeit zu geben imstande ist, die wir, der Tradition des cartesianischen Egozentrismus folgend, für gewöhnlich verfehlen. Wir hatten ja gesehen, dass dieser Weise der Dezentrierung des Subjekts bzw. Egos von Heideggers Denken her eine Parallele begegnet. Anders gesagt: Fühlen wir uns strukturalistischen Forschungsergebnissen verpflichtet, dann insoweit, als sie gewissermaßen das Filter einer letztlich an Heidegger und Gadamer orientierten »Hermeneutik« passieren können.

Wenn wir also unseren Ansatz »struktural« nennen, dann nicht in dem Sinne, dass wir gleich Lévi-Strauss der Meinung sind, dass es letztlich mathematisierbare Strukturen seien, die den Einzelnen verrechnen könnten. Sofern ist »struktural« zugleich als »poststruktural« zu verstehen. Um was es uns unter dem Titel »struktural« geht, ist der Aufweis von fundamentalen Strukturen – Strukturen allerdings, die den |24|Einzelnen implizierend transzendieren, Strukturen, die ihm eine Position zuweisen, der er sich, ob er will oder nicht, zu stellen hat.

Aus dieser »strukturalen« Perspektive, für die bereits phänomenal die Erfahrung mit der Sprache die Leitschiene vorgibt, gilt es die Psychoanalyse Sigmund Freuds in Augenschein zu nehmen. Diese Verbindung herzustellen fällt umso leichter, als der Lehre Freuds ein genuin strukturaler Zug innewohnt.2Dieser Zug, Freud hat ihn, wenn auch auf ganz anderem Felde, ebenso mit Heideggers Kritik des philosophischen Egologismus gemein (vgl. Lang 1976 c) – dieser Zug ist die Dezentrierung des Subjekts. So wird verständlich, warum Lacan davon spricht, dass die psychoanalytischen Termini »nur dann geklärt werden können, wenn man ihre Äquivalente im aktuellen Sprachgebrauch der Anthropologie, ja der neuesten Probleme der Philosophie aufsucht, die die Psychoanalyse oft nur aufzugreifen braucht« (Lacan 1966; dt.: 1973). Freud hatte zeigen können, »dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Hause« (GW XII, S. 11). Diese Entthronung eines bewussten Ego, von Freud selbstbewusst »kopernikanische Wende« genannt, ging Hand in Hand mit der Herausstellung eines unbewussten Grundes. Dieser Grund ist für uns wesentlich Geschichte. »Struktural« in unserem Sinne bedeutet deshalb wiederum nicht, dass wir uns auf statisch-ahistorische Modellvorstellungen versteifen würden. Psychoanalyse im Sinne einer hermeneutischen Wissenschaft, wie ich sie anderenorts (Lang 2000 a, b) darzustellen suchte, hat hier einen korrigierenden Einfluss.

Umgekehrt wird strukturales Denken zum Korrektiv psychoanalytischer Orthodoxie. Denn jetzt kann nicht mehr vorzüglich der individuelle Triebkonflikt bzw. die charakteristische in sich konfliktuöse Entwicklungsreihe der Einzelpersönlichkeit, wie sie die Libidotheorie phasenhaft schildert, wegweisend sein. Jetzt kann es nicht mehr darum gehen, Eltern lediglich zu Projektionsfiguren und Projektionsgebilden intrapsychischer »Trieb-Besetzungen« zu machen. Eine solche Änderung der Einstellung wird Konsequenzen haben müssen, so beispielsweise für das Verständnis des Ödipuskomplexes, den wir, wie Freud, ins Zentrum unserer Betrachtungen rücken. Kritisch werden wir dabei auch den gängigen psychodynamischen Psychosekonzeptionen zu begegnen haben. Die einseitige Betrachtung z. B. der Schizophrenie unter dem Gesichtspunkt der analytischen Ich-Psychologie ließ psychische Phänomene von vornherein als Phänomene des Ausdrucks einer tieferliegenden individuellen Interiorität erscheinen, deren gestörte Verfassung allein für das Krankheitsbild verantwortlich ist.

»Das ›Ich‹ der okzidentalen Psychoanalyse spricht die Sprache einer beständigen, |25|identischen, das Individuum gegen den Mitmenschen abgrenzenden Instanz.« In der Arbeit »Das Problem des Maßstabs in der transkulturellen Psychiatrie« (1972, S. 424 f.), der wir dieses Zitat entnehmen, stellt Tellenbach jene blinde Selbstverständlichkeit in Frage, mit der okzidentalen Denktraditionen entstammende psychologische Theoreme eingesetzt werden, um anhand dieser generell das Spezifische psychischer Störungen zu erfassen. Ein solches zentrales Theorem ist nun gerade die egologische Ausrichtung. Dass es in der Neurosen- und (erst recht) Psychosentherapie um eine Stärkung des Ich geht, ist seit Langem eine gängige Formel. Sehen wir uns indessen die japanische Morita-Therapie an, beachten wir die anthropologisch orientierten Arbeiten Kimuras zur Mitmenschlichkeit in der Psychiatrie, und lesen wir Wulffs psychiatrischen Bericht aus Vietnam, dann scheint es fragwürdig, um mit Tellenbach zu sprechen, dieses egologische Theorem »in blinder Selbstverständlichkeit« zu einem Parameter zu machen. Kurz: Wir glauben, in der Berücksichtigung transkultureller Aspekte auch unseren struktural-analytischen Ansatz abschließend verdeutlichen zu können.

Denn hier wie dort ist auf eine Sichtweise abgezweckt, der noch anderes in den Blick kommt als eine Zentrierung auf das individuelle Ich. So ist es Ziel der Morita-Therapie ein »chronisch vergrößertes Ego« (vgl. Cerny 1967) abzubauen, da gerade das Ich als Quelle der Leiden gilt. Psychisch oder geistig zu erkranken ist nach Kimura nicht Sache eines beziehungslosen Individuums, sondern bedeutet Kranksein an der Mitmenschlichkeit. Nicht der quasi extramundane Einzelmensch erkrankt, es ist vielmehr die Situation, das situative Zwischen, das der Einzelne gemeinsam mit Anderen teilt, das sich gestört zeigt. Wulff (1972) und Pfeiffer (1967) hatten bei vietnamesischen und indonesischen Patienten interessanterweise das Fehlen der bei uns so charakteristisch scheinenden Ich-Störungen feststellen können. Mitentscheidend für das hier gegebene subjektdezentrierte Weltverhältnis scheint die Sprache zu sein. Je nach Situation ändert sich das Pronomen, das der Japaner als »Ich« gebraucht. »Das, was jeweils bestimmt, wer ich bin, liegt offenbar nicht in mir selbst, sondern immer außerhalb von mir in der Mitwelt, wo ich jeweils bin« (Kimura 1971, S. 5). Das Selbst des Japaners findet sich so nicht in seinem Innern, sondern »immer draußen im Verhältnis zu anderen.«

Je nach Rollensituation, in die der Einzelne durch das Verhältnis zum jeweiligen Gesprächspartner versetzt ist, bestimmt sich auch das vietnamesische »Ich«. Wie im Japanischen hat auch hier die »entsubjektivierte« Infinitivform Vorrang. »Nicht die Einheit der Einzelperson als ›Individuum‹ ist es, die ›selbstverständlich‹ immer schon ›da‹ und gegeben ist, sondern, wenn überhaupt etwas, sind es die Ablaufgesetze der Welt-, Sozial- und Familienordnung, die sich in Ritualen, Umgangsformen, Sprach- und Ausdrucksklischees vergegenständlicht haben« (Wulff 1972). Individuation und Selbstverwirklichung werden so zu einer Aufgabe. »Am Anfang |26|aber«, schreibt Kimura (1971, S. 9), »steht das Dazwischen, und das individuelle Selbst kommt erst nachher.«

Für Wulff und teilweise Kimura ergibt sich diese transkulturelle Erfahrung, die wir mit unserem Ansatz in Einklang sehen (Lévi-Strauss war Ethnologe!), aus einer schroffen Absetzung der asiatischen von unserer europäischen Sprache. Zweifellos begünstigt das in den europäischen Sprachen anzutreffende Subjekt-Prädikat-Gefüge einen denkerischen wie wissenschaftlichen Egozentrismus. Die Heideggersche Destruktion der Metaphysik und Transzendentalphilosophie hat dies klar gezeigt. Doch kann, ist hier zu fragen, eine Sprache schon deshalb »metaphysisch« oder »egologisch« genannt werden, nur weil in ihr metaphysisch spekuliert und egozentrisch konzipiert wird? Beweist nicht gerade die Heideggersche Spätphilosophie, dass auch in unserer Sprache anderes möglich ist? Wir können uns belehren lassen. Das belegte Heidegger in jenem Gespräch mit einem Japaner, das den Mittelpunkt des Buches »Unterwegs zur Sprache« bildet. Einer solchen Belehrung können auch wir folgen, sofern wir uns transkulturellen Perspektiven öffnen. Wenn auch gemeinhin Saussure als Vater der strukturalistischen Methode gilt, so war es doch erst Lévi-Strauss, der sie auf eine breitere Ebene hob. Was er vorlegte, war ein ungemein weit gespanntes ethnologisches Material. Es war die Begegnung mit anderen Kulturkreisen, die auch den Blick für den strukturalistischen Ansatz Saussures eröffnet hat (vgl. Lang 2008 d). Und so scheint es auch kein Zufall gewesen zu sein, dass gerade Gregory Bateson zur Zentralgestalt moderner Kommunikationstheorie und Familienforschung wurde. Es gilt abschließend noch auf eine weitere Tendenz hinzuweisen, die wir unserem Ansatz verwandt glauben.

Gregory Bateson, heute vor allem als der Entdecker des »Double-bind-Phänomens« (vgl. Lang 1986 c) bekannt, hatte die wissenschaftliche Szene mit Arbeiten – u. a. in Kollaboration mit seiner Gattin Margaret Mead – über ozeanische und balinesische Kulturen betreten. Dieser transkulturelle Einsatz, der sich später in eine mit kybernetischen Modellen angereicherte ökologische Perspektive ausdifferenziert findet, lässt den Einzelnen von vornherein als eingebettet in einen größeren Zusammenhang erscheinen. Es ist dieser Ansatz der Einbettung in ein das individuelle Feld übersteigende System, das der Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Schule, deren Begründer Bateson ist, zugrunde liegt. In den Untersuchungen dieser Gruppe begegnet das Subjekt dergestalt in Kommunikationsstrukturen verwoben, dass sein Ich-Bewusstsein durch und durch davon bestimmt ist und dieses Kommunikationsgefüge schließlich »ein Eigenleben hat, demgegenüber die einzelnen Individuen weitgehend machtlos sind« (Watzlawick u. a. 1968, S. 48). Nicht mehr der Einzelne ist Ort therapeutischer Intervention, solches ist vielmehr das System, das Mehrpersonensystem, dessen Glied der Patient ist. Die entscheidende Annahme der Familienpsychotherapie besteht nach Zuk und Rubinstein darin, dass »die Geisteskrankheit |27|eines Familienmitgliedes ein Symptom oder Aspekt einer größeren, in sich verzahnten Familienpathologie ist« (1975, S. 43). Eine Rückbesinnung auf Freud im Lichte struktural-hermeneutischer Perspektive wird freilich zu verhindern haben, die Komplexität frühgestörter Wirklichkeit in ein kybernetisches Modell hinein zu nivellieren. Hier schließen wir uns Stierlin an, der bemerkt, dass die Familienkonzepte, die er vertrete, »sowohl system- als auch individuumorientiert« seien: »Sie erfassen die Familie als Ganzes, tragen jedoch auch (vergangenen und gegenwärtigen) Handlungen, Verpflichtungen, Rechten und Bedürfnissen der einzelnen Mitglieder Rechnung« (1975 a, S. 232).

»(E)in menschliches Leben hat sein Zentrum stets außerhalb seiner selbst.« Dieser Satz eines Existenzial-Anthropologen – er stammt von Gabriel Marcel (1951) – soll ein Fingerzeig dafür sein, dass unser struktural-analytischer Ansatz auch einer anthropologischen Orientierung folgt und das gerade auch dann, wenn wir Verwandtes in transkulturellen und familientherapeutischen Sichtweisen erblicken.

Diesen Hintergrund gilt es zu beachten, wenn wir uns nun der familiären Verankerung des früh gestörten Patienten zuwenden. Auf dieser methodischen Basis wird sofort verständlich, dass es in der Folge nicht nur um die Subjektivität des betroffenen Subjekts, die Person des Vaters oder die Person der Mutter gehen kann. Vater oder Mutter – das bedeutet auch und vor allem »Position«, Ort einer Struktur und Funktion, die es innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu erfüllen gilt. Das reale personale Vater- oder Muttersein ist somit Aufgabe, formal vorgezeichnet durch eine menschliches Dasein wesenhaft bestimmende Struktur.

Wenn also jetzt die Familie des Kranken ins Zentrum der Betrachtung rückt, ist dieses Verhältnis immer mitzusehen. Es wird zu zeigen sein, dass gerade dann, wenn dieses Verhältnis der Verweisung auf eine umfassendere Struktur gestört oder gar nicht existent wird, ein pathogenes Moment ins Spiel kommt. Wird der Vater zum entscheidenden Vermittler von »Welt«, so ist beispielsweise zu beachten, dass er zunächst selbst vermittelt begegnet, vermittelt durch das »primordiale« Objekt Mutter. Dieser Aspekt wurde in der psychodynamischen, wenn als individuell-psychologisch orientierte Literatur verstanden, weitgehend vernachlässigt. Der Vater wurde zu »handgreiflich« gesehen. So war es nur konsequent, dass er beispielsweise in psychogenetischen Interpretationen der schizophrenen Psychose kaum in Erscheinung trat. Situiert man im Gegensatz dazu »Vater«, »Mutter« und »Kind« in einen sie umgreifenden Zusammenhang, sieht man »struktural«, dann begegnet auch die Psychose »Schizophrenie« als ein »Prozess«, der – unter Mitbedingung erbgenetischer Faktoren – weder autochthon isoliert in einem umweltlosen Individuum entsteht, noch allein einer »schizophrenogenen« Mutter oder einem »schizophrenogenem« Vater anzulasten ist.

Eine erste Verdeutlichung dieses Ansatzes soll die Diskussion der Rolle der Familie |28|in der Psychosenkonzeption Freuds bringen. Wenn im Folgenden Fallstudien idealtypisch die empirische Basis für unseren Forschungsansatz bilden, folgen wir hier einer alten psychiatrischen, psychoanalytischen und systemischen Tradition (vgl. z. B. Simon 1993), hat doch, wie Peters feststellt, der Psychopathologe »durchweg mit einem Gegenstandsbereich von hohem Komplexitätsgrad zu tun, der durch naturwissenschaftliche und statistische Methoden nur marginal und sehr unvollkommen erfassbar ist« (1978, S. 10). Freilich haben wir darüber hinaus eine Reihe von Autoren, die zu dem Thema Beiträge geleistet haben, herangezogen. Eine solche Berücksichtigung kann unterstreichen, dass es uns letztlich nicht um die Erfassung eines individuellen Falles zu tun ist, sondern vielmehr um den Aufweis einer basalen Strukturierung bzw. Strukturabwandlung des betroffenen Subjekts, die ihrerseits im Konditionalgeflecht eines defizitären Gefüges ankert, dessen Glied das Subjekt ist.

|29|Kapitel 2 Zur Rolle der Familie in der Psychosenkonzeption Sigmund Freuds

Der methodische Ansatz dieser Studie nennt sich »struktural-analytisch«; »analytisch« verweist auf die Lehre der Psychoanalyse. So scheint es geboten, zunächst den Beitrag in Betracht zu ziehen, den der Begründer dieser Forschungsrichtung zu unserer Fragestellung geleistet hat. Wir haben an anderer Stelle (Lang 1992 a) der Vaterkonzeption Sigmund Freuds nachgefragt. Es ist von Nutzen, an die damaligen Überlegungen anzuknüpfen.

Es hatte sich zu unserer eigenen Überraschung gezeigt, dass ganz im Gegensatz zur Entwicklung, welche die psychoanalytische Bewegung später nahm, das Thema des Vaters das Freudsche Œuvre zentral durchzieht, während die Mutter psychologisch blass blieb. Sie bildete das »Objekt«, dessen sich das Kind in seinen phasenabhängigen Bedürfnissen »bedient«, das Objekt, auf das es seine libidinösen oder eifersüchtig-feindseligen Regungen richtet. Was nun die Effekte der Mutter auf das Kind angeht, so nennt Freud hier, wie Richter (1972, S. 46) anmerkt, »fast ausschließlich stereotype Faktoren, die sich aus der Mutterrolle selbst ergeben«. Es ist eben die Mutter, die gebärt, stillt und abstillt, die Mutter, deren Penislosigkeit bestimmte Ängste hervorruft. Bleibt auf diese Weise die Mutter quasi kulissenhaft im Hintergrund, so scheint sich nun das Schicksal des Einzelnen weit mehr in der Beziehung zum Vater zu gestalten und zu entscheiden.

Freud ging bekanntlich vom Studium der Konversionshysterie aus. Im Bestreben, die Erinnerungen der Patienten soweit wie möglich zurück zu verfolgen, stieß er schließlich auf Situationen, die in der frühen Kindheit spielten – Situationen, die sich als sexuelle Verführungsszenen darboten, wobei die Rolle des Verführers fast immer dem Vater zufiel. Freud kam zu dem Schluss, in diesen frühkindlichen Erlebnissen sexueller Verführung durch den Vater bzw. seinen Substituten auf die eigentliche Quelle der späteren Neurose gestoßen zu sein. Es ist bekannt, dass Freud diese Theorie einer paternalen Traumatisierung schließlich mehr und mehr in Zweifel zog. Er gelangte mehr und mehr zu der Auffassung, dass es sich dabei um fantasierte Traumata handelte. Der Vater, bislang perverse Gestalt traumatisierender Realität, wird zum zentralen Objekt unbewusster Fantasien libidinösen und aggressiven Inhalts. Wie wir heute anhand der Briefe an Fließ wissen, verdankte Freud die entscheidenden Einsichten in diesen Sachverhalt, der nichts anderes darstellt als die Entdeckung des Ödipuskomplexes, seiner Selbstanalyse. In einem Brief, datiert vom 15.10.1897, heißt es: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit (…) Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus (…) Die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keim und in der Fantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt« (1962, S. 193).

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