Die Stunde der Entführer - Robert Wilson - E-Book

Die Stunde der Entführer E-Book

Robert Wilson

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Beschreibung

Sechs Familien, reich und mächtig. Sechs entführte Kinder. Und ein teuflischer Plan.

Innerhalb von 32 Stunden werden mitten in London die Kinder von sechs international äußerst einflussreichen Milliardären entführt. Gefordert werden 25 Millionen – nicht etwa als Lösegeld, sondern nur als Ausgleich für entstandene „Unkosten“. Die Eltern sind verzweifelt, die Polizei ist überfordert, hochbezahlte Berater diskutieren endlos neue Szenarien. Aber die Entführer sind ihnen immer einen Schritt voraus, ihre wahren Absichten bleiben verborgen. Nur einer weiß sich angesichts von so viel Kaltblütigkeit zu helfen: Charles Boxer. Denn wenn es darauf ankommt, kennt er keine Skrupel. Und er hat nichts mehr zu verlieren ...

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ROBERT WILSON

DIE STUNDE DER ENTFÜHRER

THRILLER

DEUTSCH VONKRISTIAN LUTZE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2015unter dem Titel »Stealing People« by Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group, Ltd, London.
Ausgabe Januar 2018 Copyright © der Originalausgabe 2015 by Robert A. Wilson Limited Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Alexander Groß Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München Covermotiv: plainpicture/Carmen Spitznagel, plainpicture/neuebildanstalt/Baeppler, Mechthild TH · Herstellung: kw Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-17940-3V004www.goldmann-verlag.de
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Für Bryony

KAPITEL EINS

15. Januar 2014, 0.30 UhrWestbourne Road, Notting Hill, London W2

Rakesh Sarkar verließ den Westway und steuerte das Geschenk seines Vaters zum einundzwanzigsten Geburtstag durch die Nebenstraßen von Bayswater, als wäre er seine eigene Großmutter. Nach dem Joint, den er geraucht hatte, löste das absurde Bild einer bebrillten kleinen indischen Lady, die über das Steuer eines Porsche 911 Carrera gebeugt saß, einen Kicheranfall aus, der ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Es hatte all seine Selbstbeherrschung erfordert, nicht aufs Gaspedal zu treten, als er auf der erhöhten vierspurigen Stadtautobahn, das glitzernde London zu seinen Füßen, von Renault Clios und Opel Corsas auf der Innenspur überholt wurde.

Grund für seine zögerliche und alle Verkehrsregeln beachtende Heimfahrt zu seiner Wohnung in Arundel Gardens war die Tatsache, dass er zunächst mit Verwandten in einem Restaurant zu Abend gegessen und Wein getrunken hatte, bevor er zur Wohnung seiner englischen Freundin in Shoreditch gefahren war, wo er mehrere Glenmorangie gekippt, einen Joint geraucht und frustrierend schnellen Sex gehabt hatte. Am nächsten Morgen musste er um fünf Uhr an seinem Trading Desk bei der Trafigura Limited in der Portman Street sein. Er war schon einmal zu spät gekommen und hatte das Praktikum nur wegen seines Vaters fortsetzen dürfen. Uttam Sarkar war Besitzer von Indiens größtem Mischkonzern, der Amit Sarkar Group.

Wegen des Alkohols und der Drogen musste er den Porsche so langsam fahren, dass der Motor sich vor Empörung fast selbst abgewürgt hätte. Deshalb war Sarkar außer sich, als ihn ein Fahrzeug überholte und ein flackerndes Blaulicht oberhalb der hinteren Stoßstange einschaltete. Sein Kichern erstarb, als er am Straßenrand hielt, das Fenster herunterließ und hektisch die feuchte Nachtluft einatmete.

Zwei Polizisten stiegen aus, schirmten ihre Augen gegen die Scheinwerfer ab und bedeuteten ihm, den Motor auszuschalten. Einer näherte sich von der Fahrerseite, der andere ging langsam um den Wagen herum. Sarkar hustete, streckte den Kopf aus dem Fenster und saugte weitere kalte Luft ein.

»Irgendwas nicht in Ordnung, Officer?«, fragte er.

»Ihre Fahrweise war ein wenig sprunghaft, Sir«, sagte der Polizist.

»Sprunghaft!« Sarkar wurde sofort wütend. »Was soll das heißen, sprunghaft? Ich bin noch nie in meinem Leben so vorsichtig gefahren.«

Der Polizist beugte sich zu ihm hinab und schnupperte. »Noch nie in Ihrem Leben so vorsichtig?«, wiederholte er. »Darf ich fragen, ob das daran liegt, dass Sie getrunken haben, Sir?«

»Nein, das habe ich nicht, Officer. Ich fahre nie, wenn ich getrunken habe. Niemals.«

»Sie haben eine Alkoholfahne, Sir«, sagte der Polizist. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts getrunken haben? Sie haben mehrfach den Mittelstreifen überfahren, was unserer Erfahrung nach auf Alkohol am Steuer hindeutet.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts getrunken habe«, sagte Sarkar, dessen Herz bis zum Hals pochte.

»Schauen Sie bitte hierher«, sagte der Polizist und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen.

Sarkar blinzelte und kam sich albern vor.

»Ihre Pupillen sind erweitert, Sir«, sagte der Polizist. »Vielleicht haben Sie Drogen genommen, was Ihre Fahrweise womöglich noch sprunghafter gemacht hat, als wenn …«

»Ich bin nicht sprunghaft gefahren. Ich habe mich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten, und wenn ich den Mittelstreifen überfahren habe, dann nur, weil auf beiden Seiten Autos parken. Wir sind in London, wissen Sie.«

»Das wissen wir, Sir. Wir sind bei der Metropolitan Police«, sagte der Polizist. »Ich muss Sie bitten, auszusteigen und sich einem Atemalkoholtest zu unterziehen, Sir.«

»Was verdammt noch mal …«

»Versuchen Sie einfach, Ihre Wortwahl und Ihr Temperament zu mäßigen, Sir. Wir machen nur unseren Job. Es geht schließlich nicht, dass Leute unter Alkohol- oder Drogeneinfluss herumkurven, oder? Am Ende fahren Sie noch jemanden tot, und wo stünden Sie dann?«

»Hören Sie«, sagte Sarkar verzweifelt, »was kostet das hier?«

»Nur ein paar Minuten, Sir … wenn Sie sauber sind.«

»Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ach wirklich?«, fragte der Polizist und runzelte die Stirn. »Sergeant, kommen Sie doch bitte mal her.«

Der andere Polizist trat neben seinen Kollegen. Zwei harte Gesichter spähten durchs Fenster auf der Fahrerseite.

»Jetzt haben Sie unsere volle Aufmerksamkeit, Sir. Wiederholen Sie einfach, was Sie wissen wollen. Was genau …«

»Ich habe Sie gefragt, was das hier kostet«, sagte Sarkar.

»Und ich habe gesagt, ein paar Minuten, wenn Sie sauber sind, und Sie haben erwidert …«

»Ich habe erwidert: ›Sie wissen schon, was ich meine.‹ Und ich glaube, das tun Sie auch.«

Die beiden Beamten sahen sich mit leicht zusammengekniffenen Augen an.

»Ich glaube, er bietet Ihnen ein Bestechungsgeld an, Sir.«

»Wie viel bieten Sie denn … als Bestechungsgeld?«

»Einen Riesen.«

»Einen Riesen, was?«, sagte der Polizist. »Eintausend Pfund.«

»Zweitausend. Tausend für jeden«, erhöhte Sarkar.

»Haben Sie das Geld bei sich, Sir?«

»Nein.«

»Und wie soll das laufen?«

»Ich habe es zu Hause. In einem Safe.«

»Ich denke, Sie fahren am besten mit dem Sergeant voraus, und ich folge Ihnen in Ihrem kleinen Sportwagen nach Hause. Wie wäre das? Wenn man betrunken ist, sollte man lieber auf Nummer sicher gehen.«

Sarkar stieg aus dem Wagen, händigte die Schlüssel aus, folgte dem Sergeant zu seinem zivilen Fahrzeug und stieg ein.

Auf der Rückbank saß eine Polizistin, die ihr blondes Haar zu einem Dutt gebunden hatte. Als er Platz nahm und die Tür zuzog, beugte sie sich zu ihm, und er spürte einen Stich in der linken Pobacke. Er jaulte vor Schock auf.

»Was war das, verdammt noch mal?«

»Verzeihung, Sir?«, fragte die Polizistin.

Der Sergeant nahm hinter dem Steuer Platz und betätigte die Zentralverriegelung.

»Ich habe einen Stich am Hintern gespürt«, sagte Sarkar.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte die Polizistin. »Und wenn Sie jetzt bitte hier reinpusten würden?«

»Nein, das werde ich nicht«, sagte Sarkar. »Sie haben mich mit irgendwas gestochen.«

»Sie gestochen?«, fragte die Polizistin empört und präsentierte ihre leeren Hände. »Wischen wir halt den Sitz ab. Wir haben hier alle möglichen Typen drin, wissen Sie. Säufer, Junkies. Manchmal lassen sie ihre Spritzen fallen.«

»Wollen Sie mir erzählen, dass ich möglicherweise auf der Spritze eines Drogenkonsumenten gesessen habe?«

»Nun, bisher ist so was noch nie vorgekommen, aber da Sie sich beschweren, denke ich, es lohnt eine Überprüfung.«

»Ich will aussteigen«, sagte Sarkar und riss an dem Türgriff.

»Bleiben Sie ganz ruhig und pusten Sie hier rein, und wenn wir überprüft haben, ob Ihr Blutalkoholpegel …«

»ICH WERDE NICHT RUHIG SEIN!«, brüllte Sarkar. »Ich werde NICHT in Ihr verdammtes Testgerät pusten. Womöglich habe ich mich an einer Spritze, die in Ihrem Wagen herumliegt, mit Aids infiziert.«

»Die Mühe können wir uns sparen«, sagte der Sergeant. »Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen … wie es aussieht.«

»Oh wirklich, Sergeant?«, fragte die Polizistin, ohne den tobenden Sarkar zu beachten. »Was für eine Übereinkunft?«

»Er hat uns zwei Riesen angeboten«, sagte der Sergeant.

Der Porsche 911 Carrera raste röhrend an ihnen vorbei und verschwand in der Nacht.

»Wo zum Teufel fährt er hin?«, fragte Sarkar, starrte dem Wagen nach und zerrte sein iPhone aus der Tasche. »Ich dachte, er sollte uns folgen und nicht die Straße runterpreschen … ich rufe meinen Anwalt an. Jetzt gibt es keine zwei Riesen mehr.«

»Sagen Sie uns einfach, wohin wir fahren sollen, ja, Sir?«, forderte der Sergeant ihn auf.

»Zur nächsten beschissenen Polizeiwache«, sagte Sarkar. »Das lasse ich mir nicht bieten. Der Wichser ist mit meinem Wagen abgehauen.«

Der Sergeant warf der Polizistin im Rückspiegel einen Blick zu und zog eine Braue hoch, worauf sie einen Schuh abstreifte, sich zurücklehnte, den Fuß hob und Sarkar so hart ins Gesicht trat, dass sein Kopf gegen die Fensterscheibe schlug.

Danach herrschte Ruhe. Die Polizistin nahm das iPhone aus Sarkars schlaffer Hand. »Ich hasse es, wenn sie anfangen rumzuschreien«, sagte sie.

»Ich dachte, du hättest ihm genug Beruhigungsmittel gegeben, um einen Elefanten auszuschalten.«

»Wir sind hier doch nicht im Kino.«

Klaus Weber, Chauffeur des Deal-O-Supermarkterben Hans Pfeiffer, saß auf dem zurückgelehnten Fahrersitz eines Mercedes S65 und lauschte Mahlers 5. Sinfonie, gespielt vom World Peace Orchestra unter Leitung von Waleri Gergijew. Bei seinen Fahrten durch Europa mit Hans Pfeiffer hatte er klassische Musik lieben gelernt. Pfeiffer lebte in der Schweiz und flog nicht gern; er tat es nur, wenn es absolut notwendig war. Außerdem sprach er nicht gern, schon gar nicht mit Leuten wie Weber, mit denen er nur mühsam ein gemeinsames Thema fand, sodass Weber reichlich Zeit hatte, Musik zu hören.

»Wie geht’s, Klaus?«, fragte Jack, der, eine Chauffeursmütze in der Hand, von seiner Limousine herübergekommen war. »Hey, ich mag die Musik.«

»Alles bestens«, sagte Weber und beugte sich über den Beifahrersitz. »Mahler.«

Obwohl er bereits den dritten Abend in Folge vor dem Chinawhite stand, hatten alle anderen Chauffeure Weber ignoriert. Er war rauchend an ihren Wagen entlanggeschlendert, doch keiner hatte das Fenster heruntergelassen. Wie Jack fuhren sie meistens Prominente von Club zu Club und verbrachten selten mehr als eine Stunde an einem Ort. Jack war der Einzige, der freundlich gewesen war.

»Lust auf einen Kaffee, Klaus?«

»Klar, aber wo kriegen wir den um diese Zeit her?«

»Tinseltown, Great Portland Street. Gleich um die Ecke. Zwei Minuten zu Fuß. Hat die ganze Nacht auf.«

Weber blickte auf seine Uhr und überlegte. »Okay, nur einen Kaffee.«

»Was zu essen gibt’s da auch. Nachos. Hamburger. Rümpf nicht gleich die Nase.«

»Was?«

»Mach dir keine Sorgen. Gehen wir.«

Weber war einer von sechs Fahrern auf der Gehaltsliste von Hans Pfeiffer. Heute Abend wartete er nicht auf seinen Chef. Diesmal parkte er ein Stück die Straße hinunter vor einem der nobelsten Nachtclubs in London, wo er den Launen von Pfeiffers neunzehnjähriger Tochter Karla Folge zu leisten hatte. Wenn sie endlich genug hatte, würde sie ihm eine SMS schicken, damit er sie abholte. Er würde die Winsley Street hinunterrollen, vor dem Chinawhite die Tür öffnen, und sie würde auf ihren Jimmy-Choo-Pumps herausgestöckelt kommen und sich zu Pfeiffers Stadthaus in Chelsea chauffieren lassen.

Webers präzise funktionierender deutscher Verstand sagte ihm, dass er nicht vor zwei Uhr von Karla hören würde, da sie heute Abend in Gesellschaft von Wú Gao unterwegs war, dem sehr schönen Sohn der chinesischen Immobilien-Erbin Wú Dao-ming. Für das Paar war es der dritte Abend hintereinander im Chinawhite, und jeder hatte eine Stunde länger gedauert als der vorherige.

»Und wie waren die vergangenen Tage mit Herrn Pfeiffer in London?«, fragte Jack.

»Ach, jeden Tag das Gleiche, weißt du«, sagte Weber, zog seinen Hugo-Boss-Regenmantel über, setzte jedoch seine Schirmmütze nicht auf. »Wir fahren rum, sehen uns Immobilien an. Sie reden. Ich höre nichts. Ich fahre nur den Wagen.«

Die Rücksitze des Mercedes waren mit einer schalldichten Glasscheibe abgetrennt. Weber hörte kein einziges Wort von dem, was Pfeiffer und Wú Dao-ming miteinander besprachen. Er hatte sie auf einer Besichtigungstour von potenziellen Grundstücken für die Errichtung von Luxuswohnungen durch London gefahren, für die es in China eine große Nachfrage gab. Pfeiffer hatte bereits vierzig Deal-O-Supermärkte in der Hauptstadt und erkannte die Investitionsmöglichkeiten, während Wú Dao-ming über die Kunden verfügte. Die Kommunikation mit Weber geschah über eine Gegensprechanlage und beschränkte sich auf kaum mehr als das Wort »Halt«. Weber achtete sorgfältig darauf, Wú Dao-ming Jack gegenüber nicht zu erwähnen. Pfeiffer bestand auf sehr strengen Sicherheitsvorschriften. Er wollte nicht, dass irgendjemand wusste, mit wem er sprach.

Karla und Wú Gao kannten sich noch nicht lange, doch sie verstanden sich gut. Sie sprachen Englisch miteinander, ihre einzige gemeinsame Sprache. Wú Gao studierte im ersten Jahr Wirtschaft an der London School of Economics, und er war es, der vorgeschlagen hatte, ins Chinawhite zu gehen. Karla studierte im ersten Jahr am Central Saint Martins College of Art and Design. Wú Gao war verrückt nach Kunst. Seine Mutter besaß eine teure Sammlung chinesischer Künstler. Karla war verrückt nach Wú Gao.

»Weißt du, auf wen ich heute warte?«, fragte Jack.

»Ist es heute Abend jemand anders?«

»Es ist immer jemand anders.«

»Raten ist nicht meine Stärke«, sagte Weber steif.

»Scarlett Johansson«, sagte Jack. »Sie ist hier, um Jonathan Glazer zu treffen, den Regisseur von Under the Skin– Tödliche Verführung, weißt du.«

Weber sah ihn mit leerem Blick an. Jack zuckte die Achseln; als sie an der Market Place Bar vorbeigingen, fasste er Webers Arm und zog ihn in eine enge Gasse, eine Abkürzung zur Margaret Street.

»Hierdurch ist es schneller«, erklärte er. »Magst du deutsche Filmregisseure?«

»Fußball ist mir lieber.«

»Sag es mir nicht … Bayern München.«

»Woher wusstest du das?«

»Es steht dir ins Gesicht geschrieben, Klaus. Arjen Robben, Franck Ribéry, Thomas Müller. Die absolute Spitzenklasse.«

Als sie an der Ryman-Filiale vorbeikamen, schnellte eine behandschuhte Hand aus dem Schatten und schlug Weber hart gegen den Hals. Er stolperte, sank auf alle viere und starrte unversehens auf die grauen Platten und die Fugen zwischen den Pflastersteinen; sein Gesichtsfeld war von dunklen Rändern begrenzt und pulsierte.

Der Mann, der gegen Webers Halsschlagader geschlagen hatte, trat aus dem Dunkel, stach eine Spritze in dessen linke Pobacke und drückte den Kolben herunter. Er hockte sich rittlings auf den Chauffeur, der auf die Ellbogen gesunken war, packte ihn um die Brust und zog ihn auf die Füße. Jack fand den Wagenschlüssel und eine Brieftasche in der Hosentasche. Sie zogen Weber den Hugo-Boss-Mantel aus, den Jack überstreifte, nahmen das Handy aus der Innentasche und kontrollierten es. Ein Wagen hielt auf der Margaret Street und setzte rückwärts auf den Bürgersteig bis zu dem Pfosten, der die Einfahrt in die Gasse versperrte. Der Kofferraum klappte auf.

Sie schleiften Weber zu dem Wagen, falteten ihn zusammen und klappten den Kofferraum zu. Der Mann mit den Handschuhen gab Jack einen kleinen Kanister, bevor er auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Jack ging durch die Gasse zurück zu Webers Mercedes. Er öffnete die Hintertür, zog ein Stück Klebeband von dem Kanister und verstaute ihn unter dem Sitz. Dann setzte er sich ans Steuer, schaltete die Mahler-Sinfonie ein, legte Webers Handy auf die Armstütze und wartete.

Um 1.45 Uhr erhielt er eine SMS von Karla, die nun aufbruchsbereit war. Er setzte die Chauffeursmütze auf und ließ den Wagen bis zum Chinawhite rollen, wo sie mit Wú Gao wartete. Er hielt und machte Anstalten auszusteigen, doch Karla erklärte ihm, er solle sitzen bleiben, und nahm mit ihrem Begleiter auf der Rückbank Platz.

Jack fuhr in westlicher Richtung los. Dann nahm er sein Handy und drückte auf den Wählknopf, wodurch das Lachgas aus dem Kanister im Fond des Wagens verströmt wurde. Nach einer Minute fingen die beiden an zu kichern und warfen den Kopf in den Nacken. Sie hielten sich an den Händen, und ihre Gesichter kamen sich näher. Jack beobachtete sie im Rückspiegel und sah, wie sie von Euphorie überwältigt wurden. Ihre Lippen berührten sich und lösten sich wieder voneinander, ihre Zungen zuckten, doch sie mussten zu heftig lachen, um sich lange küssen zu können.

Jack wendete den Mercedes und fuhr Richtung Osten, ohne dass seine Passagiere etwas davon mitbekamen. Er umrundete den Russell Square und steuerte eine kleine Nebenstraße der Gray’s Inn Road an, wo sich hinter einer hohen Mauer neben einem Lagerhaus ein Parkplatz befand. Dort hielt er und entriegelte die hinteren Türen. Zwei Männer öffneten sie von außen. Karla und Wú Gao wandten die Köpfe und sahen ihre maskierten Gesichter. Sie hätten beinahe gelächelt, bevor man ihnen chloroformierte Lappen aufs Gesicht drückte. Die maskierten Männer stiegen hinten ein und zogen die Türen zu. Jack fuhr los und bog auf die Gray’s Inn Road.

»Ruf diese Nummer an«, sagte Siena.

»Mit wem rede ich?«, fragte Jerry.

»Weiß ich nicht. Mit irgendwem. Die haben bestimmt Stoff. Wir brauchen mehr Stoff.«

»Du bist doch schon völlig hinüber, Si.«

»Hör auf«, sagte Siena. »Ich hab noch nicht mal richtig angefangen.«

Die Musik wummerte in dem Gemäuer und stieg durch die Stockwerke aus dem Keller nach oben. Sie saßen in einem kahlen Raum im obersten Stockwerk eines Hauses in der Leonard Street in Hackney. Durch die nackten Schiebefenster fiel das orangefarbene Licht der Straßenlaternen. Siena hatte die Knie bis ans Kinn gezogen. Jerry lag zu ihren Füßen. Er drehte sich um und bemerkte, dass sie keinen Slip trug.

»Was ist mit deinem Slip passiert, Si?«, fragte er.

»Werd nicht pervers, Jerry.«

»Ich kann nichts dafür. Ich lag einfach hier …«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich muss jemanden gefickt haben. Ich weiß nicht mehr. Ruf die Nummer an. Wir brauchen was.«

Die Tür ging auf. Ein Kopf mit langem blonden Haar blickte sich um und entdeckte sie.

»Hi«, sagte er.

Schweigen.

»Was dagegen, wenn ich kurz hier abhänge?«

Im Treppenhaus hinter ihm überschlug sich die Musik.

»Ich brauch bloß ein bisschen Platz.«

Siena und Jerry blickten auf, ohne etwas zu sagen.

»Ich hab ein bisschen Gras, falls das hilft.«

»Gras hatten wir schon«, sagte Jerry.

»Na gut, ich hab auch Pillen, verschiedene Farben.«

»Smarties hatten wir auch schon«, sagte Siena.

»Ich könnte auch ein paar Lines auslegen, aber es sieht nicht so aus, als hättet ihr … eine geeignete Oberfläche.«

»Die lässt sich schaffen«, sagte Siena unvermittelt begeistert und stieß Jerry mit dem Fuß an.

»Der Stoff ist sehr rein, also Vorsicht«, sagte der blonde Junge. »Ich will euch ja nicht um sechs Uhr früh von der Decke schälen.«

»Wie rein genau?«, fragte Siena.

»Seid ihr Aussies?«, fragte der blonde Typ. »Ich meine so ein kleines Näseln zu hören.«

»Sie ist Aussie«, sagte Jerry. »Ich bin aus Dalston.«

»Los, besorg eine Scheibe, Jerry. Wir brauchen eine Oberfläche, wie der Mann gesagt hat. Wie heißt du?«

»Joe«, sagte der blonde Typ.

»Ich bin Siena. Er ist Jerry«, sagte sie.

Joe setzte sich Siena gegenüber. Er war jung, wirkte fit und trug sein Haar in der Mitte gescheitelt. Er wischte die Strähnen hinter die Ohren und strich über sein Ziegenbärtchen.

»Und wie kommt es, dass du so reines Pulver hast?«, fragte Siena.

»Ich habe Freunde«, sagte Joe. »Mein Gras, das ihr abgelehnt habt, ist nicht irgendein Kraut. Und meine Pillen sind nicht irgendwelche Tabletten.«

»Was ist denn so besonders an deinem Gras?«

»Es heißt Ak-47. Ich baue es selbst an. Vielleicht nicht ganz so gut wie Super Silver Haze, aber fast. Die Samen werden aus Kalifornien eingeflogen.«

»Und die Pillen?«

»Ich hab einen Typen an der Hand, der Zugang zu einem Universitätslabor hat. Er macht Sachen, wie den Power-Wirkstoff aus Kratom zu isolieren. Kennt ihr Kratom?«

»Ich hab in Thailand davon gehört, aber es nie probiert.«

»Also, dieser Labortechniker kann das 7-Hydroxymitragynin aus den Alkaloiden in den Kratom-Blättern isolieren.«

»Was immer das Scheiße noch mal bedeutet.«

»Es bedeutet, dass er eine Methode gefunden hat, einen Wirkstoff zu extrahieren, der zehn Mal stärker ist als Morphium, ohne süchtig zu machen – hörst du, was ich sage?«

Jerry kam mit einem Stück Flachglas zurück.

»Und was ist mit dem Pulver, Joe?«, fragte Jerry, der froh war, keinen weiteren Stoff auftreiben zu müssen.

»Ich habe einen Mexikaner, der mich mit unverschnittener Ware versorgt«, sagte Joe.

»Können wir ihn kennen lernen?«, fragte Siena.

»Ich würde euch vorstellen, aber er ist unberechenbar. Er hat die Angewohnheit, Leute umzubringen, die er nicht mag, und man weiß nie.«

»Du willst mich verarschen«, sagte Siena.

»Er ist geboren und aufgewachsen in Ciudad Juárez«, sagte Joe. »Dort werden dreißigtausend Menschen pro Jahr ermordet. Es ist wie ein Kriegsgebiet, nur mit zehn Mal höherer Todesrate.«

»Sollen wir zur Sache kommen oder so?«, fragte Jerry, gelangweilt davon, dass Siena auf einen weiteren Typen abfuhr, der sie mit Drogen versorgen konnte.

Joe zog einen kleinen Beutel und eine Rasierklinge in einer Hülle aus der Tasche. Er nahm die Schutzhülle ab, schnitt den Beutel auf und schüttete ein wenig weißes Pulver auf das Glas. Mit der Rasierklinge legte er drei zweieinhalb Zentimeter lange Lines aus und reichte Siena ein Röhrchen aus Edelstahl. Sie schniefte eine Line und ließ sich dann gegen die Wand fallen. Als Jerry seine Line zog, wurde Sienas Hals immer länger, und sie stieß einen leisen Schrei aus wie ein in der Ferne spielendes Kind. Jerry sank langsam nach hinten und lag mit leicht erhöhtem Unterleib auf dem Boden.

»Oh, M-a-a-ann«, sagte er.

Joe schniefte seine Line, ohne mit der Wimper zu zucken, und legte den Kopf in den Nacken.

»Oh mein Gott«, sagte Siena. »Lass uns Party machen.«

Sie gingen in den Keller und stürzten sich in die Trance-Musik, die so intensiv war, dass man sie fast schmecken konnte. Siena tanzte dicht an Joe heran. Durch sein verschwitztes T-Shirt konnte man seine Brustmuskeln erkennen. Sie klopfte auf seine Brust und schlang die Arme um seinen Hals. Sie gingen wieder nach oben in den Raum mit dem orangefarbenen Licht. Sie kniete sich hin, drehte sich um und machte ihm deutlich, dass sie bereit war. Joe registrierte den fehlenden Slip und streifte ein Kondom über. Danach saßen sie an die Wand gelehnt.

»Lässt du mich eine von deinen Kratom-Tabletten probieren?«

»Sie sind nicht billig.«

»Ich habe Geld.«

»Sieht man dir gar nicht an.«

»Das ist mein Spiel.«

»Und … woher kommt das Geld?«

»Meine Mutter ist die Inhaberin von Casey Prospecting Limited in Westaustralien. Wir versorgen China mit Eisenerz.«

»Wow«, sagte Joe. »Weiß sie, dass du in so einem Loch rumhängst?«

»Sie weiß, dass ich in London bin.«

»Verstehe. Also, achten wir darauf, dass es keine hässlichen Zwischenfälle mit einer Überdosis gibt.«

»Man kann eine Überdosis Kratom nehmen?«

»Mit dieser Mischung schon«, sagte Joe. »Nur eine Tablette … nicht mehr.«

»Ja, Sir.«

»Wie alt bist du?«

»Was glaubst du denn?«

»Hoffentlich älter als sechzehn.«

Sie boxte ihm gegen den Arm.

»Und?«, fragte er.

»Letzte Woche war ich siebzehn«, sagte sie und küsste ihn auf den Mund. »Und du?«

»Vierundzwanzig im Oktober.«

»Dann lass uns ein bisschen Kratom nehmen.«

Er gab ihr eine Tablette, die sie mit einer Cola schluckte.

»Nimmst du keine?«

»Es ist besser, wenn ich beim ersten Mal auf dich aufpasse.«

»Du bist anders«, sagte sie. »Den meisten Typen wäre es scheißegal.«

»Ich will ja nicht, dass mir deine Mum aufs Dach steigt.«

»Hast du meine Mum schon mal gesehen?«

»Nein.«

»Sie wiegt mehr als zweihundert Pfund«, sagte Siena und keuchte dann.

»Alles in Ordnung?«

»Das Kratom kommt gerade ein bisschen an.«

Er wartete. Sie hörten auf zu reden. Sie schlief ein. Zehn Minuten später hob er sie hoch, legte sie sich über die Schulter, zog ihr das Kleid über den nackten Hintern und ging nach unten. Er begegnete niemandem.

Draußen ging er ein Stück die Straße hinunter, bis ein Wagen neben ihm hielt. Er legte Siena Casey auf die Rückbank und setzte sich neben sie. Der Wagen fuhr los.

»Alles okay?«, fragte der Fahrer.

»Perfekt«, sagte Joe.

»Super. Damit haben wir für heute Nacht vier im Sack. Nur noch zwei mehr.«

»Auch noch heute Nacht?«

»Einer später am Vormittag, eine morgen, dann sind wir fertig.«

KAPITEL ZWEI

15. Januar 2014, 6.30 UhrSt. George’s Hill Estate, Weybridge, Surrey

Irina Jermilow war früh auf. Sergej, ihr Mann, hatte es gern, dass sie angekleidet und bereit war, ihn zu verabschieden – zu welcher Zeit auch immer. Und angekleidet bedeutete richtig angekleidet, nicht bloß Jeans und T-Shirt. So war es schon immer gewesen, selbst in den Tagen, als er noch ein niederer Mafiascherge in Prag gewesen war, der in einem Hotel am Wenzelsplatz wohnte. Sie musste jeden Morgen aufstehen, sich komplett schminken und ihr bestes knallenges Minikleid und High Heels anziehen, um ihn zu dem abgetrennten Restaurantbereich zu begleiten, wo sie in auffälliger Isolation vor den Augen der Touristen und anderen Idioten frühstückten, die glaubten, dass Prag immer noch im Geiste von Václav Havel ticken würde. Zumindest behandelte er sie respektvoll. Keiner seiner Kumpel durfte seine Nutten mit an den Tisch bringen. Und manche von ihnen zeigten sich gerne mit dreien auf einmal, um zu beweisen, dass sie echte Kerle waren.

Der Koch deckte den Tisch zum Frühstück: Blini, Sauerrahm, Kaviar, Syrniki, Roggenbrot, Wurst, Aufschnitt und Rührei. Irina sah gewohnt umwerfend aus, als Sergej nach unten kam. Er flog zu einem Treffen auf hoher Regierungsebene nach Moskau und war nicht zum Plaudern aufgelegt. Vom Frühstückszimmer hatte man einen unverstellten Blick auf den St. George’s Hill Golfplatz. Aber Jermilow beachtete ihn nicht, es war ihm gleichgültig, er spielte nicht einmal Golf.

»Kommt Juri, um auf Wiedersehen zu sagen?«

»Er zieht sich gerade an«, sagte Irina. »Du weißt ja, wie er morgens ist.«

»Hat er heute ein Spiel?«

»Ja, die Unter-Zehnjährigen spielen heute Nachmittag gegen Downsend.«

»Wirst du es dir ansehen?«

»Selbstverständlich«, sagte sie und zog ihren kleinen Schmollmund.

»Manchmal hast du auch andere Dinge zu tun«, sagte Jermilow, als ob es sich dabei um Banalitäten handeln würde.

Irina sagte nichts und servierte ihm schwarzen Tee in einem Glas mit kunstvoll verziertem silbernem Halter, was so ziemlich das Einzige war, was sie morgens für ihn tat.

Sergej stopfte sich eine Serviette in den Kragen, die Krawatte, Hemd und Jackett bedeckte. Er aß. Eine Menge. Er wog zweihundertfünfzig Pfund. Seine Augen waren zu Schweinsäuglein geschrumpft, während das Gesicht drum herum breiter geworden war. Er atmete schwer durch die Nase. Mit einem Blick auf die 18-Karat-Gold-Rolex, die um sein Handgelenk spannte, vergewisserte er sich, wie viel Zeit er seinem Frühstück widmen konnte. Er schlang Blini, Sauerrahm und Kaviar hinunter, gefolgt von mehreren Syrniki, und machte sich dann über das Roggenbrot, die Eier und die Wurst her. Das Ganze spülte er mit starkem süßem Tee herunter, mit dem Irina ihn versorgte. Sie war nicht einmal halb so schwer wie er und hatte noch immer die Figur der viel versprechenden Tennisspielerin, die sie gewesen war, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.

Mittlerweile bereute sie diese außergewöhnliche Begegnung in einem Moskauer Nachtclub beinahe täglich. An seiner Begleitung und der Art, wie der Nachtclubbesitzer sich überschlug, hatte sie sofort erkannt, was für ein Typ er war. Genau genommen war es der Nachtclubbesitzer gewesen, der sie gefragt hatte, ob sie Sergej an seinem Tisch Gesellschaft leisten wolle. Sie hatte sich geweigert, und auf seinem Gesicht hatten sich Schweißperlen gebildet. Nein, sie würde nicht zu ihm gehen. Sie sei schließlich nicht irgendeine Hure. Er müsse zu ihr kommen. Und das tat er. Auf der Tanzfläche. Damals war er jung und schön, hatte die Taschen voller Geld und war erpicht, es bei jeder sich bietenden Gelegenheit für sie zu verschwenden.

Sie fuhren nach Prag, und sie sah, was er machte. Er verprügelte Leute, die seine Wucherschutzgelder nicht bezahlten. Er ließ von seinen Männern Mädchen schlagen, die nicht genug Kunden anschleppten. Sie hatte gehört, dass er Menschen folterte, deren Verwandte Spielschulden angehäuft hatten, und zahlungssäumige Schuldner tötete. Aber da war es schon zu spät. Es gab keinen Ausweg mehr, und dann war jemand gekommen, der dafür sorgte, dass sie niemals gehen würde. Juri.

Mit lautem Getrappel stürmte ihr neunjähriger Sohn die Treppe herunter, frisch gewaschen, gekämmt und in der Schuluniform der Danes Hill School, schwarze Hose, weißes Hemd, Krawatte und grüner Pullover mit V-Ausschnitt. Er ging zu seinem Vater, der ihn umarmte, auf den Hals küsste und über seinen Kopf strich. Sergej liebte seinen Sohn mit einer Intensität, die Irina überraschte. In den zwölf Jahren, die sie inzwischen zusammen waren, hatte sie von ihm nie etwas gespürt, was dieser Leidenschaft gleichgekommen wäre. Er hatte sie vielmehr in fast allen Aspekten seines Lebens eine Armeslänge auf Distanz gehalten, was seit einiger Zeit zum Glück auch für sein Sexleben galt.

Sie hatte keine wirkliche Vorstellung davon, womit er heute sein Geld verdiente. Sie wusste, er machte Geschäfte und hatte beste Kontakte zur Regierung. Außerdem wusste sie, dass er sich nicht mehr mit offen brutalen Jobs abgab wie seinerzeit in Prag. Er operierte vielmehr in jenem seltsamen Zwischenraum, den es so nur im modernen Russland gab, irgendwo zwischen Industrie, Regierung und organisiertem Verbrechen.

Sie bemutterte Juri, damit er etwas aß und fröhlich war, weil sie wusste, dass Sergej es so wünschte: Gesunder Appetit und Humor waren wesentlich. Sergej zog dann seinerseits lustige Monsterfratzen, die Juri kichern ließen, während Irina darin einen Ausdruck der gestörten Psyche ihres Mannes zu erkennen glaubte.

Schließlich rollte der Firmenwagen die Auffahrt zu dem Giebelhaus hinauf, das von einem lokalen Immobilienmakler kürzlich auf vierzehneinhalb Millionen Pfund geschätzt worden war, ein gepanzerter Mercedes mit einem schwergewichtigen Fahrer und einem Leibwächter auf der Rückbank. Genauso wurde auch Juri überallhin gebracht, nur dass der Mercedes des Jungen nicht gepanzert war. Sergej stand auf, riss die Serviette aus dem Kragen und wischte sich den Mund ab. Er winkte Juri zu sich, der von seinem Stuhl hüpfte und seinen Vater fest umarmte, die kleinen Arme um den vollen Leib gespannt, das Gesicht in dessen Bauch vergraben. Sergej küsste den Jungen auf den Kopf, löste sich von ihm und winkte Irina abwesend über die Schulter zu.

»Bis Dienstag«, sagte er.

Irina und Juri stellten sich am Fenster für das Bild auf, das Sergej Jermilow zu sehen verlangte – Mutter und Sohn, die ihm zum Abschied winkten. Der Mercedes fuhr los, und die Atmosphäre im Raum entspannte sich spürbar. Das lästige Monster war weg. Nun konnten sie anfangen, Spaß zu haben.

Eine Viertelstunde später kam ein VW Passat mit Fahrer und einem Leibwächter. Sie parkten neben der Garage und fuhren den Mercedes der Familie vor. Der Leibwächter stieg aus und sah sich nervös um, als stünde er auf einer Straße in Moskau und nicht vor einer Nobelvilla in St. George’s Hill. Er klingelte. Eilig suchte Irina Juris Laptop und seine Bücher zusammen und nahm den Koffer mit der von dem Hausmädchen frisch gewaschenen und gebügelten Sportausrüstung. Juri presste mit beiden Händen sein iPhone an die Brust. Irina drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Mit leuchtenden Augen erwiderte er ihren Blick.

Juri zeigte sich unbeeindruckt von dem furchterregenden Leibwächter, der Irina anlächelte und dabei einen Goldzahn präsentierte, ein Grinsen so ohne jeden Humor, dass sie Bedenken hatte, den Jungen seiner Obhut zu überlassen. Juri warf sich auf die Rückbank, und der Leibwächter stieg nach ihm ein. Der Wagen setzte sich in Bewegung und rollte zum Tor an der Außengrenze des exklusiven Anwesens. Juris Daumen flogen tanzend über das Display seines iPhone.

Ein paar Minuten später kamen sie auf die Byfleet Road und fuhren in Richtung Oxshott. Sie waren früh dran, um den Stoßverkehr zu Schulbeginn zu meiden. Sergej Jermilow wollte nicht, dass der Wagen seines Sohnes im Verkehr feststeckte, weil das die Fluchtmöglichkeiten einschränkte, deshalb traf Juri meist vierzig Minuten vor all seinen Schulfreunden ein.

Ein Stück die Byfleet Road hinunter rollte ein Lkw auf die Straße und blockierte beide Spuren, nachdem der Mercedes ihn passiert hatte. Auch aus der Gegenrichtung kam ihnen kein Fahrzeug entgegen. Kurz hinter dem Abzweig zum Pflegeheim Silvermere tauchte aus einer Seitenstraße auf der linken Seite ein Polizeiwagen auf, sodass Juris Fahrer anhalten musste. Im selben Moment erschien hinter ihnen ein weiterer Polizeiwagen und versperrte den Rückweg. Aus dem Wagen vor ihnen stiegen zwei Polizisten mit Schirmmützen, Schutzwesten und Pistolen im Hüftholster. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel und sah ein identisches Pärchen aus dem Streifenwagen hinter ihnen steigen. Er blickte zu dem Leibwächter, der die Achseln zuckte. Juri schaute von seinem iPhone auf und entdeckte, dass die Realität interessanter geworden war.

Voller Argwohn und mit halb zugekniffenen Augen starrte der Fahrer die sich nähernden Polizisten an. Zwischen seinen zusammengepressten Beinen steckte eine schallgedämpfte PSS-Pistole. Der Leibwächter hatte eine MP-433 Grach. Die vier Polizisten erreichten den Wagen. Sowohl bei dem Paar vorne wie auch bei dem auf der Heckseite ging einer der Polizisten ein Stück vor seinem Kollegen, der eine Hand auf die Glock 17 in seinem Holster gelegt hatte. Der vorangehende Polizist bat die Insassen des Wagens, die Türen zu öffnen, und unterstrich die Aufforderung mit einer Geste.

Selbst der Fahrer war sich nicht sicher, was seinen nächsten Schritt auslöste – Intuition aufgrund häufiger Angriffe vielleicht –, jedenfalls trat er unvermittelt die Tür auf, stieß den ersten Polizisten um und zückte seine PSS. Er hatte keine Zeit mehr, sie abzufeuern. Der zweite Polizist zog seine Glock 17 und feuerte drei Mal. Der Fahrer brach in Kopf und Brust getroffen zusammen, ohne einen Schuss abgegeben zu haben.

Im selben Moment riss der erste Polizist auf der Heckseite die hintere Tür auf und warf sich zu Boden, sodass der Schuss aus der MP-443 zwar die Scheibe zerschmetterte, ihn jedoch nicht traf. Der Polizist hinter ihm hatte die Glock schon in der Hand und schoss dem Leibwächter in den Kopf. Blut spritzte auf das Gesicht des fassungslosen Jungen, der immer noch sein iPhone in der Hand hielt. Der erste Polizist rappelte sich hoch, schlug Juri das Telefon aus der Hand, packte ihn an Pullover, Hemd und Krawatte und schleifte ihn über die Beine des leblosen Leibwächters. Juri fing an zu strampeln und zu schreien, bis einer der Polizisten von hinten ein Taschentuch auf Mund und Nase des Jungen drückte, worauf dieser zusammensackte. Der erste Polizist trug ihn über dem Arm zu dem ersten Streifenwagen, während die anderen die Türen des Mercedes zutraten und zu ihrem Wagen zurückkehrten. Sie fuhren los und machten dem unweit des Silvermere-Tierfriedhofs auf der Straße stehenden Lkw per Lichthupe ein Zeichen, eine Spur freizugeben, damit sie passieren konnten.

Der zweite Polizeiwagen kehrte um, blinkte den anderen Lkw auf der Straße aus dem Weg und fuhr in Richtung M25 weiter. Die ganze Operation hatte dreieinhalb Minuten gedauert.

Bis zum Mittag hatte Detective Chief Superintendent Oscar Hines, der neue Leiter der Spezialeinheit für Entführungsfälle und besondere Ermittlungen der Metropolitan Police, sämtliche Entscheidungen getroffen. Er hatte sie noch niemandem mitgeteilt. Er wusste, dass in den Büros seiner Abteilung seit seiner Ernennung infolge des Wechsels von DCS Peter Makepeace auf den Chefposten der Serious and Organised Crime Group Gerüchte über Kürzungen und Einsparungen brodelten. Unter solchen Umständen sah es natürlich niemand gern, wenn der neue Chef unter strikter Geheimhaltung an neuen Plänen arbeitete.

Er blickte auf die Telefonnummern auf seiner Kontaktliste und machte den ersten Anruf des Tages bei Detective Inspector Mercy Danquah, die nicht im Büro war, sondern einen Kursus in besonderen Ermittlungstechniken gab.

»Hier ist DCS Oscar Hines«, sagte er.

»Hallo, Sir. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Mercy zögernd.

»Ich möchte, dass Sie ins Büro zurückkommen und sich gleich morgen früh bei mir melden.«

»Darf ich fragen, worum es geht, Sir?«, fragte sie. »Wie Sie wissen, gebe ich hier gerade einen Kurs. Ich kann nicht einfach gehen. Ich muss irgendetwas sagen.«

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich kümmere mich um alles«, erwiderte Hines. »Sorgen Sie nur dafür, dass Sie morgen früh hier sind. Vielen Dank. Und auf Wiedersehen.«

Mercy schaltete ihr Telefon ab und blickte in die Runde der Leute, die mit ihr in der Kantine saßen. Sie starrten zurück, einige mit vollem Mund.

»Ich muss los«, sagte sie und stand auf. »Tut mir leid.«

Sie ging durch die Lobby und trat hinaus in den Regen, wo sie im Schutz der Markise ihren Geliebten Marcus Alleyne anrief.

»Ich bin’s«, sagte sie. »Was machst du heute Abend?«

»Klingt so, als würde ich vielleicht was mit dir machen, während ich eigentlich daran gedacht hatte, einen ruhigen Abend für mich allein zu verbringen«, sagte er. »Ist alles in Ordnung, Mercy?«

»Nein, alles fühlt sich verkehrt an«, antwortete sie. »Ich bestelle uns einen Tisch, und wir gehen essen. Du kommst zu mir, und wir nehmen ein Taxi. Heute Abend trinken wir.«

»Du klingst sehr … entschlossen, Mercy.«

»Es könnte für einige Zeit das letzte Mal sein, dass wir ausgehen«, sagte sie.

»Und warum?«

»Ich glaube, ich könnte bald keinen Job mehr haben.«

KAPITEL DREI

15. Januar 2014, 17.00 Uhr

Büro der LOST Foundation, Jacob’s Well Mews, London W1

Ich möchte, dass Sie meinen Vater finden«, sagte sie mit tiefer, leicht rauchiger Stimme, sehr sexy.

»Seit wann ist er verschwunden?«, fragte Boxer.

»Seit drei Tagen«, antwortete sie und lehnte sich auf dem weißen Lederstuhl zurück.

»Erst drei Tage«, sagte Boxer. »Sie wissen, dass die LOST Foundation keine …«

»Ja, ich weiß.«

»Und was machen Sie dann hier, Siobhan?«, fragte Boxer. »Sie sollten lieber das nächste Polizeirevier aufsuchen.«

»Ich möchte nicht zur Polizei gehen.«

»Gibt es dafür einen Grund?«

»Ich weiß, dass mein Vater nicht wollen würde, dass die Polizei – oder sonst jemand – in seinen Angelegenheiten herumschnüffelt.«

Boxer lehnte sich von dem kahlen Tisch zurück. In diesem Zimmer gab es keine Telefone, keine Computer, nichts was die Familien, die sie hier empfingen, stören könnte. Die junge Frau starrte ihn an und entspannte ihre breiten Schultern in der teuren Lederjacke mit überdimensioniertem Pelzkragen und Reißverschlüssen in alle Richtungen. Sie legte die Ellbogen auf die Lehne und ließ die Hände über ihren langen engen Taillenrock aus schwarzem Leder hängen, der hochgerutscht war und ihre kräftigen Waden entblößte, die von einer schwarzen gerippten Strumpfhose umhüllt waren. Sie schlug die Beine übereinander, ohne dass das Leder spannte.

»Warum sind Sie zu mir gekommen?«, fragte er und versuchte, ihr Alter zu schätzen; die teuren Klamotten täuschten effektvoll darüber hinweg, wie jung sie war.

»Sie wurden mir empfohlen.«

»Von wem?«

Schweigen. Ihr Fuß begann im Takt mit ihren Gedanken zu wippen.

»Werden Sie mir einen Namen nennen?«, fragte Boxer.

»Das ist meine Sache«, erwiderte sie.

»Nur Interesse halber, woher stammen Sie?«

»Das ist nicht relevant.«

»Nicht im engeren Sinne, ich weiß. Es hilft mir nur … kulturell. Sie klingen Englisch, aber mit einem leichten amerikanischen Akzent, und Ihrem Aussehen nach könnten Sie aus Süd- oder Mittelamerika stammen, Venezuela vielleicht. Habla español?«

»Si, mi madre era Cubana, und mein Vater ist Engländer. Ich bin eine Zeitlang in den Staaten zur Schule gegangen … mein Vater hatte geschäftliche Interessen dort.«

»Wie haben sich Ihre Eltern kennen gelernt?«

»Auf der Jacht meines Vaters.«

»Sie sagten ›era‹. Heißt das, Ihre Mutter ist tot?«

»Sie ist vor gut sechs Jahren gestorben. Brustkrebs und dann noch Leberkrebs.«

»Und wie alt sind Sie?«

»Achtundzwanzig.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Boxer aufs Geratewohl: Es war nicht leicht, das Alter von Menschen zwischen zwanzig und dreißig zu schätzen.

»Warum fragen Sie dann?«

»Lassen Sie mich nicht um jede Antwort kämpfen«, sagte Boxer. »Es ermüdet mich, und dann verliere ich das Interesse.«

»Zwanzig.«

Boxer zog die Augenbrauen hoch.

»Fast«, sagte sie.

Es klopfte, und die Tür wurde ohne Zögern geöffnet.

»Sorry«, sagte Amy und wich sofort wieder zurück. »Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«

»Was ist los?«

»Der Heizungsinstallateur in deiner Wohnung sagt, er ist fertig, möchte aber noch mal mit dir sprechen.«

»Ich ruf ihn zurück.«

»Hi, ich bin Siobhan«, sagte die junge Frau, drehte sich auf ihrem Stuhl um und streckte die Hand aus. Die unerwartete Förmlichkeit erwischte Amy unvorbereitet. Sie stolperte ein paar Schritte ins Zimmer und gab ihr die Hand.

»Meine Tochter Amy«, sagte Boxer.

»Ich lass euch mal in Ruhe weiterreden«, sagte Amy. Als sie hinausging, wandte Siobhan den Blick nicht von ihr ab.

»Woher stammt sie?«, fragte sie mit aufgerissenen Augen.

»Sehr witzig«, sagte Boxer. »Ihre Mutter stammt aus Ghana …«

»Und Sie sind Engländer«, sagte Siobhan. »Wir müssten uns gut verstehen. Hübsches Mädchen. Wie alt ist sie?«

»Wurde Ihr Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens von der Polizei gesucht?«, fragte Boxer, ohne auf ihre Frage einzugehen, weil ihm der Blick, den sie Amy zugeworfen hatte, nicht geheuer war.

»Nicht aktiv.«

»Hören Sie, warum wenden Sie sich dann nicht an die? Den Sicherheitskräften stehen ganz andere Mittel zur Verfügung als mir.«

»Mein Vater ist ein sehr verschwiegener Typ. Ich müsste bei der Polizei Informationen angeben, die mein Vater garantiert nicht in der Welt wissen wollte«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung zum Fenster. »Den Leuten, mit denen er Geschäfte macht, würde eine solche … Überprüfung missfallen. Sagt man das so?«

»Ich versteh schon«, sagte Boxer. »Sie haben meinen Kollegen Roy Chapel gesehen, er ist ehemaliger Polizist …«

»Aber ich spreche nicht mit Roy Chapel«, sagte Siobhan. »Ich spreche nur mit Ihnen. Mit sonst niemandem.«

»Es gibt jede Menge Leute, die weit qualifizierter sind als ich, Ihren Vater zu finden«, sagte Boxer. »Privatdetektive mit Kontakten in alle Bereiche, sogar ins kriminelle Milieu, falls Sie das andeuten wollten. Ich werde Ihnen einige Namen nennen. Sie können sich auf mich berufen.«

»Ich bin an niemand anderem interessiert. Ich will nur Sie.«

»Was, wenn ich nicht verfügbar bin oder … nicht interessiert?«

»Mein Vater und ich waren im Savoy Hotel abgestiegen«, überging Siobhan den kleinen Einwand. »Seit dem Tod meiner Mutter stehen wir uns sehr nahe. Er nimmt mich überallhin mit. Er verabschiedet sich nicht, um im Park eine Zigarette zu rauchen, und lässt mich dann drei Tage in einem Hotelzimmer sitzen, ohne sich in irgendeiner Form zu melden.«

Sie beugte sich vor, legte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und stützte ihr Kinn darauf. Ihr langes, dunkles glänzendes Haar fiel in Wellen bis auf ihre Schultern und rahmte ihr markantes, schönes Gesicht ein. Sie hatte einen breiten, mit rotem Lippenstift geschminkten Mund und eine kleine Lücke zwischen den sehr weißen Vorderzähnen. Ihre hellbraunen Augen unter langen, dunklen hohen Brauen zogen Boxer in ihren Bann.

Er spürte intuitiv, dass sie gefährlich für ihn war, aber auch einen unwiderstehlichen Sog in eine verborgene Dunkelheit in ihm selbst.

»Es bedeutet nicht, dass ich den Job annehme, aber wie heißt Ihr Vater?«, fragte Boxer. »Vorzugsweise sein richtiger Name und sein Alter.«

»Conrad Jensen«, sagte sie, »doch jeder nennt ihn Con … nicht dass der Spitzname irgendeine Nebendeutung hätte. Soweit ich weiß, muss man in der Sicherheitsbranche einigermaßen ehrlich sein, wenn man es zu irgendwas bringen will. Und er ist zweiundsiebzig, sieht jedoch jünger aus. Er ist groß, 1,88 Meter, schlank und fit. Im Moment hat er einen Bart, der mir nicht gefällt.«

»Haben Sie ein Foto?«

Siobhan tippte auf ihrem iPhone herum und reichte es Boxer. »Das wurde vor vier Tagen im Green Park gemacht«, sagte sie. »Er färbt sich die Haare.«

Jensen trug einen Wollmantel, einen burgunderroten Schal und einen schwarzen Filzhut. Sein Vollbart war braun-grau meliert und sorgfältig gestutzt. Boxer konzentrierte sich auf das Gesicht, das nicht so sorgenzerfurcht wirkte, wie man hätte erwarten können. Jensens dunkles Haar berührte den Kragen seines Mantels. Er hatte hohe Wangenknochen und Augen von einem intensiven Blau, die direkt in die Kamera starrten und dem Gesicht ein beinahe hypnotisches Charisma verliehen.

»Wie lange haben Sie gewartet, bis Sie wegen Cons Verschwinden jemanden angerufen haben?«

»Drei Stunden«, antwortete sie. »Er hat gesagt, er wäre in einer Stunde zurück. Ich habe versucht, nicht in Panik zu geraten.«

»Und wen haben Sie angerufen?«

»Seine Freundin Tan … die Abkürzung für Tanya. Mit Nachnamen heißt sie Birch, obwohl man das r auch gegen ein t eintauschen könnte, dann hätte man ein akkurateres Bild von ihrem Charakter.«

»Und?«

»Sie war sauer. Und vielleicht auch betrunken. Das wäre nicht ungewöhnlich«, sagte Siobhan. »Sie wird immer wütend, wenn sie herausfindet, dass wir in London sind und Dad sie nicht angerufen hat.«

»Und warum haben Sie sie angerufen?«

»Nur für den Fall, dass Dad zu einem … Sie wissen schon … Fick zu ihr gefahren war und mir nichts davon gesagt hatte.«

»Hatten Con und Tan eine solche Beziehung?«

»Waren sie Fickfreunde, meinen Sie?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«

»Ich glaube schon«, sagte Siobhan, lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ich meine, er hat sie nicht angerufen, um philosophische oder literarische Gespräche zu führen oder mit ihr ins Theater, die Oper oder auch nur ins Kino zu gehen. Es war immer Dinner in einem Lokal wie dem Locatelli’s oder dem Woseley – und dann ab zu ihr.«

»Sind Sie je mitgekommen?«

Sie runzelte die Stirn und zog einen Schmollmund. »Tan und ich haben uns nicht verstanden. Seit ich vor ein paar Jahren mal bei ihr gewohnt habe und Dad zu einem Meeting nach Amsterdam geflogen ist.«

»Wollen Sie mir davon erzählen?«

»Das geht Sie nichts an. Sie haben den Job noch nicht einmal angenommen und wollen schon die schmutzigen Details hören«, sagte sie und nahm ihr Handy wieder an sich.

»Haben Sie Geschwister?«, fragte Boxer.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Halbgeschwister?«

»Keine, die je erwähnt wurden.«

»Wen haben Sie nach der wütenden Tan angerufen?«

»Dads Anwalt, Mark Rowlands.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn aufgespürt hatte. Er war auf einer Reise den Amazonas hinunter.«

»Was hat er Ihnen geraten?«

»Mich nicht vom Fleck zu rühren, bis er sich wieder melden würde.«

»Und das hat eine Weile gedauert?«

»Ein paar Tage«, sagte sie. »Aber als er angerufen hat, hat er mir Ihren Namen genannt.«

»Glaubt Mark Rowlands, dass Ihr Vater entführt wurde?«

»Wenn, hat niemand daran gedacht, ein Lösegeld von mir zu fordern.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Boxer. »Hat Mark Rowlands Ihnen meinen Namen genannt, weil ich als freier Kidnapping Consultant arbeite oder was?«

»Wohl eher ›oder was‹, weil er mir nicht erzählt hat, dass Sie Kidnapping Consultant sind.«

»Was hat er Ihnen denn erzählt?«

»Er hat mir erzählt, dass Sie eine wohltätige Stiftung namens LOST leiten und qualifiziert sind, Leute zu finden. Und ja, er hat auch erwähnt, dass Sie Verhandlungen führen, ohne das speziell auf Entführungen zu beziehen.«

»Das ist interessant.«

»Warum?«

»Weil ich in erster Linie als Kidnapping Consultant bekannt bin. Was das Aufspüren von Personen betrifft, bin ich nicht besonders qualifiziert. Diese wohltätige Stiftung habe ich aus persönlichen Gründen ins Leben gerufen.«

»Und was für Gründe sind das?«

Er musterte sie lange und hart mit einem Blick, unter dem sie eigentlich nervös auf ihrem Stuhl hätte herumrutschen müssen. Siobhan lächelte ihn an, und ihre Zunge stieß in die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen.

»Ich erzähl Ihnen mein Geheimnis, wenn Sie mir Ihres verraten«, sagte sie.

»Als ich sieben Jahre alt war, ist mein Vater verschwunden. Ich habe nie wieder von ihm gehört«, sagte Boxer. »Ich möchte Menschen helfen, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben.«

»Tan ist früher von der Arbeit nach Hause gekommen und hat mich dabei erwischt, wie ich mit einem Jungen auf dem Sofa gevögelt habe.«

»Ich dachte, Sie wollten mir den wahren Grund dafür nennen, warum Mark Rowlands meine Dienste empfohlen hat.«

»Den wahren Grund?«

»Ich bin kein privater Ermittler. Er hat meine Beratungsqualifikation in Entführungsfällen nicht erwähnt. Ich war mal bei der Mordkommission, und Amys Mutter ist Detective Inspector. Warum also kommen Sie bei meinem Mangel an Fachkenntnissen und der reichlich vorhandenen Polizei-Kompetenz dieser brodelnden Metropole ausgerechnet zu mir?«

Schweigen.

Sie wusste es. Er erkannte, dass sie das eine wusste, was niemand über ihn wissen sollte. Er sah auch, dass man ihr gesagt hatte, das Unaussprechliche nicht zu erwähnen.

»Wie alt waren Sie?«, wechselte er das Thema.

»Wann?«

»Als Tan Sie mit dem Jungen erwischt hat.«

»Noch nicht ganz sechzehn«, sagte sie, erleichtert, vom Haken gelassen zu werden. »Aber ich glaube, das war es nicht.«

»Was war es dann?«

»Ich glaube, es war, weil wir es auf ihrem besten weißen Ledersofa getrieben haben.«

»Wenn Con also nicht Tanya getroffen hat und eine Entführung offenbar nicht wahrscheinlich ist, wohin könnte er gegangen sein?«, fragte Boxer. »Vermutlich hat Ihr Vater Geschäftspartner, und Mark Rowlands wird wissen …«

»Dad hat keine Partner. Vielleicht arbeitet er für einen Auftrag manchmal mit jemandem zusammen, aber nicht fest. Er hält Distanz. Aber es gibt jede Menge Businesstypen und andere … Leute, mit denen er Geschäfte macht.«

»Und was genau ist sein Geschäft?«

»Security für das US-Militär.«

»Aber er arbeitet nicht für eine der bekannten privaten Sicherheitsfirmen?«

»Er ist selbstständiger Unternehmer … mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Er hat sich nie hingesetzt und mir sein Geschäft erklärt. Ich höre seine Telefonate mit, wenn er im selben Zimmer ist. Ich schnappe Dinge auf. Das ist alles.«

»Irgendwelche Namen?«

»Ein paar, aber die nenne ich Ihnen erst, wenn Sie den Auftrag angenommen haben.«

Sie war beeindruckend und hatte durch Zuhören ein paar Sachen von ihrem Vater gelernt, unter jungen Menschen kein verbreiteter Zug.

»Kennen Sie das Volumen dieser Aufträge? Haben Sie irgendwann einmal Zahlen gehört?«

»Es geht nicht um Peanuts.«

»Wenn Sie im Savoy wohnen …«

»Um meine Zahlungsfähigkeit müssen Sie sich keine Sorgen machen.«

»Mach ich auch nicht. Mich interessiert das Level. Hunderttausende, Millionen, zig Millionen oder mehr?«

»Mehr«, sagte Siobhan. »Was sagt Ihnen das?«

»Es ist ein Indikator des Risikos.«

»Sind Sie risikoavers?«

»Ist das ein Ausdruck Ihres Vaters?«, fragte Boxer. »Ich bin Kidnapping Consultant. Ich setze das Leben anderer Menschen nicht aufs Spiel. So weit geht meine Aversion. Was ist mit Con?«

»Mein Vater war nie risikoavers, aber das heißt nicht, dass er leichtfertig handelt. Er hat nur … seine Interessen verfolgt.«

»Bedeutet das finanzielle und geschäftliche Interessen oder nur das, was ihn faszinierte?«

»Er versucht, sich nach Möglichkeit nicht zu langweilen, nicht mal für Geld.«

»Wo wohnen Sie jetzt?«, fragte er und fand ihre Zugeknöpftheit ermüdend, auch wenn er beeindruckt war, wie sie ihr Blatt spielte. »Sind Sie immer noch im Savoy oder ohne festen Wohnsitz?«

»Ich bin heute Morgen in eine Wohnung in Islington umgezogen. Lofting Road. Ich habe sie über eine Zeitwohnagentur gemietet.«

»Okay, das ist gut. Ich möchte nicht, dass Sie auf der Straße unterwegs sind. Wo wohnen Sie und Ihr Vater normalerweise?«

»In den letzten paar Jahren war er viel im Nahen Osten tätig«, antwortete Siobhan. »Wir haben eine Wohnung in Dubai, in der wir einige Zeit verbracht haben.«

»Also gut«, sagte Boxer. »Geben Sie mir Ihre Handynummer, dann sage ich Ihnen Bescheid.«

»Warum können Sie es mir nicht jetzt sagen?«, fragte sie, und hinter ihrer Fassade schimmerte für einen Moment Bedürftigkeit durch.

»Weil ich jetzt Nein sagen müsste, während ich später vielleicht Ja sage … das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Darauf, was meine Nachfragen ergeben.«

Sie stand auf und kramte ihre Sachen zusammen, ohne Boxer aus den Augen zu lassen. Sie überlegte, was sie sagen könnte, um ihn zu überreden. Boxer musterte sie unwillkürlich, den langen silbernen Reißverschluss, der sich über die gesamte Länge ihres Lederrocks erstreckte, mit einem blinkenden Schiebergriff über dem Saum, schwarze Stilettos mit einer silbernen Verzierung am Absatz, ihre schmalen Hüften, die breiten Schultern und ihr Haar, das auf den Pelzkragen fiel, der echt aussah.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um, ertappte ihn bei seinem Blick und deutete ihn richtig. Nicht sexuell, nur neugierig. Vielleicht sogar verwirrt. Sie packte die Klinke und entblößte eine klobige Breitling-Galactic-Uhr aus Edelstahl und ein Armband an einem breiten karamellfarbenen Handgelenk. Wenn ihr noch etwas Überzeugendes eingefallen war, hatte sie beschlossen, dass es wirkungsvoller war zu schweigen. Sie nickte ihm zu und schloss leise die Tür.

Boxer starrte ihr nach, noch immer benommen und ohnehin nicht in Topform, nachdem er in der Nacht bei einem Pokerspiel 120 000 Pfund verloren hatte. Er war im Morgengrauen nach Hause gekommen und auf seinem Bett zusammengebrochen. Um drei Uhr nachmittags war er aufgewacht und hatte sich an den gefährlichen Gedanken erinnert, den er erst am Morgen zuvor gehabt hatte (einen, den niemand je versucht sein sollte zu denken), nämlich dass das Leben gut war. Seine Beziehung zu Amy war auf einem festen Fundament aus Vertrauen gebaut und wurde immer besser, seitdem sie zusammenarbeiteten. Er war nach wie vor in Isabel verliebt, die ihn vor zwei Jahren nach der Entführung ihrer Tochter als Berater engagiert hatte, und die Leidenschaft war ungebrochen. Mercy hatte ihre Aufmerksamkeit ihrem neuen Freund Marcus Alleyne zugewandt und eine entspannte Freundschaft zu Boxer entwickelt, anstatt in der Rolle als verhinderte große Liebe zu verharren. Er verstand sich sogar besser mit seiner Mutter Esme, wobei Amy, die ihr sehr nahestand, eine entscheidende Rolle gespielt hatte. All das hatte dazu geführt, dass er seine Consulting-Aufträge sorgfältiger auswählte, weniger reiste und beinahe glücklich war, jedenfalls glücklicher als jemals zuvor.

Dann hatte er gestern Nacht beim Poker massiv verloren. Keine guten Karten, und all seine Bluffs waren gescheitert, trotzdem hatte er sich nicht vom Tisch losreißen können. Nun war Siobhan in seine Welt getreten. Er wusste, dass er nicht einmal über den Job nachdenken sollte. Die Antwort war ein kreischendes NEIN! Die Kleine sah aus wie Ärger auf Absätzen. Und trotzdem … sie hatte etwas Faszinierendes, genau wie Conrad.

Als Erstes musste er herausfinden, woher sie von seiner Bereitschaft wusste, Menschen zu töten, die ein Unrecht begangen hatten. Soweit Boxer im Bilde war, gab es in London nur einen Mann, der über dieses Wissen verfügte: Martin Fox von Pavis Risk Management, der ihm gelegentlich Aufträge zugeschanzt hatte, seit Boxer seine Festanstellung bei der privaten Sicherheitsfirma GRM gekündigt hatte. Seit er im Auftrag von Isabel und ihrem Exmann Frank D’Cruz die Verhandlungen mit den Entführern ihrer Tochter Alyshia geführt hatte, hatte Boxer nicht mehr für Pavis gearbeitet. Es hatte drei Angebote gegeben, die er jedoch abgelehnt hatte, weil ihm Fox’ vertrauliches Wissen über seine Vergangenheit nicht behagte. Fox war klug genug gewesen, ihn nicht zu bedrängen, weil er Boxers Vorbehalte spürte. Aber als Boxer jetzt – noch im Bann von Siobhans machtvollem Charisma – darüber grübelte, begann er sich zu fragen, ob Martin Fox lediglich einen indirekteren Ansatz gewählt hatte.

Boxer rief ihn an.

»Ist schon eine Weile her«, meldete sich Fox.

»Ich denke, wir sollten uns treffen«, sagte Boxer.

»Ich hatte dich schon aufgegeben.«

»Ich seh dich an unserer üblichen Bank.«

»Jetzt?«

»Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Er legte auf, zog Mantel und Schal über, klemmte seine kanadische Trappermütze unter den Arm und ging ins große Büro, wo Siobhan sich gerade eine schwarze Pelzmütze aufsetzte und eine Unterhaltung mit Amy beendete. Sie streifte schwarze fellgefütterte Lederhandschuhe über, zog die Schultern hoch, schob eine Hand in die Tasche ihres wadenlangen Regenmantels, nahm mit der anderen einen Schirm von der Garderobe, erwiderte Boxers festen Blick und stolzierte hinaus. Er wartete, bis er ihre Absätze auf den Treppenstufen hörte.

»Was hatte das jetzt zu bedeuten?«, fragte Boxer.

»Es ging um meine Ohrringe.«

»Deine Ohrringe?«

»Und sie hat mich eingeladen.«

»Wozu?«

»Eine Sarah-Lucas-Vernissage in der Whitechapel Gallery.«

»Sarah Lucas?«

»Das ist nicht dein Ding, Dad.«

»Woher weißt du das?«

»Bauchgefühl«, meinte sie achselzuckend.

»Gehst du hin?«

»Wenn ich nicht noch länger gestört werde und meine Arbeit fertig machen kann.«

»Was hältst du von ihr … von Siobhan?«

»Sie ist cool.«

»Möchtest du das weiter ausführen?«

»Wieso? Will sie, dass wir für sie arbeiten?«

»Ich. Sie will, dass ich etwas für sie tue.«

»Was denn?«

»Jemanden finden«, sagte Boxer, ging zum Fenster und beobachtete Siobhan, die aus der Gasse kam. »Ihren Vater.«

»Und was ist das Problem?«

»Ich hatte gedacht, da könntest du mir weiterhelfen«, sagte Boxer. »Irgendwas an ihr ist … nicht ganz echt. Ich hatte auf ein wenig weibliche Intuition gehofft.«

»Nicht ganz echt?«

»Ich kann es nicht erklären«, erwiderte Boxer. »Irgendwann habe ich sie gefragt, wie alt sie ist, und sie hat gesagt achtundzwanzig.«

»So kleidet sie sich jedenfalls.«

»Dann hat sie gesagt, sie wäre zwanzig … fast.«

»Genau wie ich … fast.«

»Es ist nicht ihr Alter, was mich stört. Es ist ihr Instinkt fürs Lügen, das ist bei einem Klienten nie gut. Und … da ist noch etwas.«

»Vielleicht wollte sie, dass du sie ernst nimmst.«

»Ich hab sie unbedingt ernst genommen«, sagte Boxer. »Damit hatte ich kein Problem. Sie ist mir keinen Moment lang vorgekommen wie jemand, den man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Und du?«

»Was?«

»Komm schon, Amy. Schalt deinen Verstand ein«, sagte Boxer. »Das Mädchen bedeutet Ärger, und ich kann nicht erkennen, warum. Hilf mir mit ein wenig jugendlicher Einsicht.«

»Zum Beispiel?«

»Sie fand dich offenbar attraktiv.«

»Lesbisch?«, fragte Amy spöttisch. »Sei nicht albern, Dad. Das ist eine Männerphantasie.«

»Nicht meine«, erwiderte Boxer. »Du bist reingekommen, hast dich vorgestellt, und als sie sich danach wieder mir zugewandt hat, war sie …«

»Was?«

»In einem Zustand erhöhter …«

»Erregung?«

»Für mich sah es so aus.«

»Ich hab nichts in der Richtung gespürt«, sagte Amy. »Wir haben nur geredet.«

»Und du gehst mit ihr zu dieser Sarah-Lucas-Vernissage?«

»Wie gesagt, wenn man mich hier meine Arbeit fertig machen lassen würde.«

»Ruf mich an. Erzähl mir, wie es läuft. Was macht sie … Sarah Lucas?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Hat Siobhan dir ihre Handynummer gegeben?«

Amy nickte. Boxer entlockte sie ihr. Es war eine andere als die, die Siobhan ihm gegeben hatte.

»Noch eins«, sagte er an der Tür. »Ruf im Savoy an und frag zur Sicherheit einfach noch mal nach, ob dort in den vergangenen Tagen eine Siobhan Jensen gewohnt hat.«

KAPITEL VIER

15. Januar 2014, 17.55 Uhr

Marylebone High Street, London W1

Als Boxer die Oxford Street entlangging, vergewisserte er sich instinktiv, dass ihm niemand folgte. Offenbar war alles sauber. Auf der Rolltreppe zur U-Bahn-Station Bond Street blickte er noch einmal auf und sah Siobhan ans Geländer gelehnt zu ihm hinunterschauen. Sie winkte knapp und zog eine Braue hoch. Con hatte ihr einiges beigebracht.

Im Green Park ging er zu der Bank, wo er sich immer mit Martin Fox traf. Sie war leer. Boxer wartete in der eisigen Dunkelheit und war froh, dass die Mütze mit Fleece gefüttert war.

Martin Fox kam vom Constitution Hill. Sein Büro war in Victoria auf der anderen Seite des Buckingham Palace, der jetzt erleuchtet war und den Park noch dunkler wirken ließ. Fox’ Silhouette mit Fedora, hochgeschlagenem Kragen und weitem Trenchcoat ließ ihn aussehen wie eine Karikatur seiner Zunft. Die Absätze seiner Schuhe waren mit Stahl beschlagen und klapperten zwischen den hohen kahlen Bäumen und dem glänzenden Gras über den Asphalt. Fox zögerte und wartete offenbar, ob sein Gegenüber ihm die Hand reichen würde. Das tat Boxer nicht. Fox ließ ein Stück Abstand zwischen ihnen, als er auf der Bank Platz nahm. Bis auf das ferne Dröhnen der Metropole war es still.

»Hast du gearbeitet, Charlie?«

»Seit dem D’Cruz-Job vor zwei Jahren habe ich es ruhig angehen lassen.«

»Ich habe von der … Tortur deiner Tochter gehört«, sagte Fox.

»Von wem?«

»Von deinem Kumpel beim MI6, Simon Deacon. Wir treffen uns einmal im Monat im Special Forces Club. Er meint auch, dass er dich in letzter Zeit kaum gesehen hat.«

»Ich habe mich zurückgezogen«, erwiderte Boxer. »Ehrlich gesagt habe ich möglichst viel Zeit mit Amy verbracht. Ich habe meine ›Prioritäten neu geordnet‹, wie du es wahrscheinlich nennen würdest.«

»Das verstehe ich nach allem, was du durchgemacht hast«, sagte Fox. »Wie geht es Mercy dieser Tage?«

»Sie ist immer noch in der Sondereinheit für Entführungsfälle und besondere Ermittlungen bei der Met, aber nicht mehr ganz so manisch wie vorher«, sagte Boxer. »Sie hat eine …«

»Was?«

Boxer entschied sich dagegen. Fox wusste auch so schon zu viel.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Fox, als er spürte, dass Boxer dichtmachte. »Ich hab keine Arbeit, falls du welche suchst. Seit D’Cruz bist du von der Bildfläche verschwunden …«

»Was das betrifft, geht es mir gut. Ich habe ein paar Jobs in Südamerika erledigt, um am Ball zu bleiben.«

»Für wen?«

»US-amerikanische Bekannte von mir«, sagte Boxer, ohne Namen zu nennen. Fox bohrte ständig nach Informationen.

»Nun, wegen eines Drinks sind wir auch nicht in die Kälte und den Regen rausgekommen«, sagte Fox. »Also, worum geht’s?«

»Kennst du einen Anwalt namens Mark Rowlands.«

»Nein.«

»Kennst du einen privaten Sicherheitsunternehmer namens Conrad Jensen?«

»Ich kenne den Namen.«

»Aber sonst weißt du nichts über ihn?«

»Nicht aus dem Kopf, außer dass er Aufträge für das amerikanische Militär übernimmt«, antwortete Fox.

»Was für Aufträge?«

»Security und IT, glaube ich. Details weiß ich nicht«, sagte Fox. »Warum fragst du?«

»Ich wurde angesprochen.«

»Du sollst für ihn arbeiten?«

»Du klingst überrascht.«

»Meines Wissens hat er nichts mit Entführungsverhandlungen zu tun«, sagte Fox. »Es sei denn, er expandiert in dieses Marktsegment, was ich für … unwahrscheinlich halte.«