Die Sünde des Abbé Mouret - Émile Zola - E-Book

Die Sünde des Abbé Mouret E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

Der fünfte Teil des satirischen Rougon-Macquart-Zyklus: Im Mittelpunkt steht der junge Priester Serge Mouret, den man bereits als Kind im vorherigen Band "Die Eroberung von Plassans" kennengelernt hat, und der an einer Nervenkrankheit leidet. Auf einem Landgut, auf dem er sich von seiner Krankheit erholt, verliebt er sich in Albine, die Tochter des Besitzers. Doch als seine Erinnerung zurückkehrt, lässt er Albine im Stich...-

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Emile Zola

Die Sünde des Abbé Mouret

 

Saga

Die Sünde des Abbé Mouret ÜbersetztElisabeth Eichholtz OriginalLa faute de lʼabbé MouretCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1875, 2020 Emile Zola und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726683318

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

ERSTES BUCH

KAPITEL I

Die Teuse stellte beim Eintreten ihren Besen und ihren Flederwisch an den Altar. Sie hatte sich etwas verspätet, weil sie die Halbjahreswäsche einweichen mußte. Sie durchquerte die Kirche, um das Angelus 1 zu läuten; in ihrer Eile hinkte sie noch mehr und riß die Kirchenstühle um.

Neben dem Beichtstuhl hing das Glockenseil von der Decke herab, nackt, abgewetzt, mit einem dicken Knoten am Ende, der vom Zugreifen so vieler Hände speckig geworden war; und in regelmäßigen Rucken zog sie an dem Seil, hängte sich mit ihrer ganzen Leibesfülle daran, ließ sich dann mitschwingen, rollte gleichsam in ihren Röcken hin und her; dabei saß ihr die Haube schief auf dem Kopf, und das Blut brachte ihr breites Gesicht schier zum Bersten.

Nachdem die Teuse ganz außer Atem ihre Haube mit einem leichten Klaps wieder zurechtgerückt hatte, kehrte sie zurück und fegte vor dem Altar noch einmal kurz aus. Hier setzte sich der Staub jeden Tag hartnäckig zwischen den schlecht aneinandergefügten Bohlen fest. Der Besen durchstöberte die Ecken mit gereiztem Brummen. Sie nahm dann die Decke vom Altartisch und ärgerte sich, als sie feststellte, daß das große obenauf liegende Tuch, das schon an die zwanzig Mal ausgebessert war, ausgerechnet in der Mitte eine neue schadhafte Stelle hatte; man konnte das doppelt gelegte zweite Tuch sehen, das so hauchdünn, so durchsichtig war, daß der geweihte Stein durchschimmerte, der in den Altar aus bemaltem Holz eingelassen war. Sie klopfte den Staub von diesem durch den Gebrauch vergilbten Linnen, fuhr mit dem Flederwisch nachdrücklich den Altaraufsatz entlang, an den sie wieder die Kanontafeln stellte. Sie stieg auf einen Stuhl und befreite sodann das Kreuz und zwei der

Leuchter von ihren gelben Kattunüberzügen. Das Kupfer war mit matten Flecken übersprenkelt.

„Na“, murmelte die Teuse halblaut, „die haben eine Säuberung verflixt nötig! Die muß ich mit Putzzeug blank reiben.“

Sie humpelte, verrenkte sich dabei fast die Hüften und trat mit einem Bein so heftig auf, daß die Fliesen hätten zerbrechen können, als sie dann das Meßbuch aus der Sakristei holte, das sie, ohne es zu öffnen, auf das Pult auf der Epistelseite stellte, den Schnitt der Mitte des Altars zugekehrt. Und sie zündete die beiden Kerzen an. Dann nahm sie ihren Besen, blickte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, daß der Haushalt des lieben Gottes gut aufgeräumt war. Die Kirche schlief; nur das Glockenseil neben dem Beichtstuhl schaukelte noch zwischen Gewölbe und Fußboden mit langen, geschmeidigen Bewegungen.

Abbé Mouret war soeben in die Sakristei heruntergekommen, einen kleinen kalten Raum, der vom Eßzimmer nur durch einen Flur getrennt war.

„Guten Morgen, Herr Pfarrer“, sagte die Teuse und stellte ihren Besen weg. „Na, heute früh haben Sie aber gefaulenzt! Wissen Sie, daß es Viertel sieben ist?“ Und ohne dem jungen Priester, der lächelte, Zeit zum Antworten zu lassen, fuhr sie fort: „Ich muß Sie ausschelten. Die Altardecke hat schon wieder Löcher. So ein Unverstand! Wir haben nur eine zum Wechseln, und seit drei Tagen verderbe ich mir schier die Augen damit, sie auszubessern . . . Wenn Sie so weitermachen, wird der arme Jesus schließlich noch ganz nackt und bloß sein.“

Abbé Mouret lächelte noch immer. Er sagte fröhlich:

„Jesus braucht nicht soviel Wäsche, meine gute Teuse, ihm ist immer warm, er wird immer königlich empfangen, wenn man ihn nur recht liebhat.“ Dann ging er auf ein kleines Waschbecken zu und fragte: „Ist meine Schwester aufgestanden? Ich habe sie nicht gesehen.“

„Mademoiselle Désirée ist schon lange unten“, erwiderte die Magd, die vor einer alten Anrichte kniete, in der die geweihten Gewänder verwahrt wurden. „Sie ist schon bei ihren Hühnern und ihren Kaninchen . . . Sie hat gestern auf Küken gewartet, die nicht gekommen sind. Sie können sich ja vorstellen, was für eine Aufregung das ist!“ Sie unterbrach sich und sagte: „Das goldene Meßgewand, nicht wahr?“

Der Priester, der sich andächtig die Hände gewaschen hatte, wobei seine Lippen ein Gebet murmelten, nickte.

Die Pfarre besaß nur drei Meßgewänder, ein violettes, ein schwarzes und eins aus Goldstoff. Dieses Goldstoffgewand, dessen man sich an den Tagen bediente, an denen Weiß, Rot oder Grün vorgeschrieben war, nahm eine außergewöhnliche Bedeutung an. Die Teuse hob es gottesfürchtig von dem mit blauem Papier bespannten Brett, auf das sie es nach jeder heiligen Handlung bettete; sie legte es auf die Anrichte und nahm vorsichtig die feinen Leinentücher fort, die die Stickereien schützten. Ein goldenes Lamm schlief dort auf einem goldenen Kreuz, umgeben von breiten goldenen Strahlen. Der in den Falten zerschlissene Stoff ließ winzige Fusseln herabfallen; die erhabenen Ornamente waren vom Zahn der Zeit angenagt und schwanden dahin. Im Hause umgab man dieses Meßgewand mit ständiger Sorge, mit schreckerfüllter Zärtlichkeit, da man sah, wie es so Goldfaden um Goldfaden zerfiel. Der Pfarrer mußte es fast täglich anlegen. Und wenn einmal die letzten Goldfäden abgenutzt waren, wie sollte man es dann ersetzen, wie die drei Meßgewänder kaufen, an deren Stelle es benutzt wurde.

Die Teuse breitete über dem Meßgewand die Stola, die Manipel, das Zingulum, die Albe und das Schultertuch aus. Doch sie schwatzte weiter, wobei sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf wandte, die Manipel kreuzweise über die Stola zu legen und das Zingulum wie eine Girlande anzuordnen, so daß es den verehrten Anfangsbuchstaben des heiligen Namens Maria bildete.

„Es taugt nicht mehr viel, dieses Zingulum“, murmelte sie. „Sie werden sich entschließen müssen, ein neues zu kaufen, Herr Pfarrer . . . Das ist nicht so schlimm, ich würde Ihnen gern selber eins weben, wenn ich nur Hanf hätte.“

Abbé Mouret antwortete nicht. Er bereitete auf einem kleinen Tisch den Kelch vor, einen großen alten Kelch aus vergoldetem Silber mit einem Bronzefuß, den er soeben hinten aus einem billigen Holzschrank hervorgeholt hatte, in dem die geweihten Gefäße und Tücher, das heilige Öl, die Meßbücher, die Leuchter und die Kreuze eingeschlossen waren. Er legte ein sauberes Kelchtüchlein über den Kelch, stellte auf dieses Tüchlein die Patene aus vergoldetem Silber, die eine Hostie enthielt und die er wiederum mit einer kleinen Palla bedeckte. Als er den Kelch verhüllte, indem er die beiden Falten des Velums aus Goldstoff, aus dem gleichen wie das Meßgewand, erfaßte, rief die Teuse: „Warten Sie, es ist kein Korporale in der Bursa . . . Ich habe gestern abend alle schmutzigen Kelchtüchlein, Pallas und Korporale genommen, um sie zu waschen, extra natürlich, nicht mit der Wäsche . . . Ich habe es Ihnen noch nicht gesagt, Herr Pfarrer: Ich habe eben die Wäsche eingeweicht. Sie ist ganz schön schmutzig! Sie wird besser werden als letztes Mal.“

Und während der Priester ein Korporale in die Bursa schob und die mit einem goldenen Kreuz auf goldenem Grund verzierte Bursa auf das Velum legte, fuhr sie munter fort:

„Übrigens, das hätte ich ja bald vergessen! Vincent, dieser Schlingel, ist nicht gekommen. Soll ich ministrieren, Herr Pfarrer?“

Der junge Priester sah sie streng an.

„Nun! Das ist keine Sünde“, redete sie weiter mit ihrem gutmütigen Lächeln. „Ich habe schon einmal zur Zeit von Herrn Caffin bei der Messe ministriert. Ich ministriere besser als diese Lausbuben, die wegen einer Fliege, die in der Kirche herumfliegt, wie Heiden lachen . . . Lassen Sie man gut sein, mag ich auch eine Haube tragen, sechzig Jahre alt sein und dick wie ein Turm, ich achte den lieben Gott mehr als dieses Gesindel, diese Kinder, die ich erst neulich wieder überrascht habe, als sie hinter dem Altar Bockspringen machten.“

Der Priester sah sie weiter an und schüttelte ablehnend den Kopf.

„Ein Nest, dieses Dorf“, brummte sie. „Keine hundertfünfzig Seelen . . . Es gibt Tage wie heute, da würden sie keinen Menschen in Les Artaud finden. Selbst die Wickelkinder gehen in die Weinberge! Was die bloß alle in den Weinbergen machen, du liebe Güte! Weinstöcke, die unter den Kieselsteinen hervorwachsen und ausgetrocknet sind wie Disteln! Und eine gottverlassene Gegend ist das, eine Meile von jeder Landstraße entfernt! – Wenn nicht ein Engel herabsteigt, um bei Ihrer Messe zu ministrieren, Herr Pfarrer, werden Sie nur mich haben, wahrhaftig, oder eines der Kaninchen von Mademoiselle Désirée, mit Verlaub zu sagen!“

Doch gerade in diesem Augenblick stieß Vincent, der Jüngste von Brichets, leise die Tür der Sakristei auf. Seine struppigen roten Haare, seine schmalen, funkelnden Augen ärgerten die Teuse.

„Aha, da ist ja der gottlose Bengel!“ rief sie. „Ich möchte wetten, daß er irgendwas ausgefressen hat! – Na, komm schon, Lausejunge, wo doch der Herr Pfarrer Angst hat, daß ich den lieben Gott schmutzig mache!“

Als Abbé Mouret den Jungen sah, nahm er das Schultertuch. Er küßte das gestickte Kreuz in seiner Mitte, legte das Tuch einen Augenblick auf sein Haupt; dann schlug er es über den Kragen seiner Soutane zurück, legte die Bänder übereinander und band sie fest, das rechte über das linke. Danach streifte er, mit dem rechten Arm beginnend, die Albe über, das Sinnbild der Reinheit. Vincent, der sich niedergehockt hatte, rutschte um ihn herum, zupfte die Albe zurecht und paßte darauf auf, daß sie auf allen Seiten gleichmäßig herabfiel, bis auf zwei Fingerbreit vom Boden. Dann reichte er dem Priester das Zingulum, der es sich fest um die Lenden schlang, um so an die Fesseln zu erinnern, mit denen der Erlöser in seiner Passion beladen war.

Die Teuse blieb stehen, war eifersüchtig, gekränkt und bemühte sich zu schweigen; doch sie konnte es sich nicht verkneifen, gleich wieder anzufangen:

„Bruder Archangias war da . . . Kein Kind ist heute bei ihm in der Schule gewesen. Er ist wie ein Windstoß davongebraust, um diesem Kroppzeug in den Weinbergen die Ohren langzuziehen . . . Sie müßten mal zu ihm gehen. Ich glaube, er hat Ihnen etwas zu sagen.“

Abbé Mouret gebot ihr mit der Hand Schweigen. Er hatte die Lippen nicht mehr aufgetan. Er sprach die heiligen Gebete, während er die Manipel nahm und sie küßte, bevor er sie unterhalb des Ellbogens über seinen linken Arm legte, als ein Zeichen, das das Wirken der guten Werke anzeigte, und während er die Stola, das Sinnbild seiner Würde und seiner Macht, nachdem er sie gleichfalls geküßt hatte, auf seiner Brust übereinanderlegte.

Die Teuse mußte Vincent helfen, das Meßgewand zu befestigen, das sie mit Hilfe dünner Bänder festband, so daß es nicht nach hinten zurückrutschen konnte.

„Ach herrje! Ich habe die Meßkännchen vergessen!“ stammelte sie und stürzte zu der Anrichte. „Los, schnell, du Schlingel!“

Vincent füllte die Meßkännchen, kleine Fläschchen aus ungeschliffenem Glas, während sie sich beeilte, ein sauberes Lavabotuch aus einem Schubfach zu nehmen.

Abbé Mouret, der den Kelch mit der linken Hand am Knauf hielt, die Finger der rechten Hand auf der Bursa, grüßte tief, ohne sein Barett abzunehmen, ein schwarzes Holzkruzifix, das über der Anrichte hing. Der Junge verneigte sich ebenfalls; die mit dem Lavabotuch bedeckten Meßkännchen in der Hand, verließ er dann als erster die Sakristei, gefolgt von dem Priester, der die Augen gesenkt hielt und in tiefer Andacht dahinschritt.

KAPITEL II

Die leere Kirche war ganz weiß an diesem Maienmorgen. Das Glockenseil neben dem Beichtstuhl hing wieder reglos herab. In einem farbigen Glas rechts vom Tabernakel brannte an der Wand das Ewige Licht gleich einem roten Fleck. Nachdem Vincent die Meßkännchen auf den Kredenztisch gestellt hatte, kniete er links unten an der Altarstufe nieder, während der Priester, nachdem er mit einem Kniefall auf die Fliesen das Allerheiligste gegrüßt hatte, zum Altar hinaufstieg und das Korporale ausbreitete, in dessen Mitte er den Kelch stellte. Dann schlug er das Meßbuch auf und ging wieder hinunter. Ein erneuter Kniefall ließ ihn zusammensinken; er bekreuzigte sich mit lauter Stimme, faltete die Hände vor der Brust und begann das große göttliche Drama mit einem vor Glauben und Liebe ganz bleichen Gesicht.

„Introibo ad altare Dei.“

„Ad Deum qui laetificat juventutem meam“, murmelte Vincent vor sich hin, der die Responsorien aus dem Wechselgesang und dem Psalter verschluckte, dabei den Hintern auf den Fersen hatte und damit beschäftigt war, der Teuse nachzusehen, die in der Kirche herumstrich.

Die alte Magd betrachtete mit beunruhigter Miene eine der Kerzen. Ihre Besorgnis schien sich zu verdoppeln, während der Priester tief gebeugt, die Hände von neuem gefaltet, das Confiteor sprach. Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen, schlug sich ebenfalls an die Brust und behielt die Kerze weiterhin im Auge.

Die leise Stimme des Priesters und das Brummeln des Ministranten wechselten noch eine Weile ab.

„Dominus vobiscum.“

„Et cum spiritu tuo.“

Und während der Priester die Hände ausbreitete und sie dann wieder faltete, sprach er mit Salbung:

„Oremus..“

Die Teuse konnte nicht mehr an sich halten. Sie ging hinter den Altar und langte zu der Kerze hinauf, deren Docht sie mit der Spitze ihrer Schere kürzer schnitt. Die Kerze tropfte. Zwei große Wachstränen waren schon herabgelaufen. Als sie wieder vorkam und dabei die Kirchenstühle zurechtrückte und sich davon überzeugte, daß die Weihwasserbecken nicht leer waren, war der Priester zum Altar hinaufgestiegen und betete leise, die Hände auf den Rand der Altardecke gelegt. Er küßte den Altar.

Hinter ihm blieb die kleine Kirche bleifahl von den blassen Farbtönen des Morgens. Die Sonne stand erst am Rand des Ziegeldaches. Das Kyrie eleison durchlief wie ein Schauer diesen stallähnlichen, gekalkten Raum mit der flachen Decke, deren getünchte Balken man sehen konnte. An jeder Seite ließen drei hohe Fenster mit hellen, gesprungenen, zum größten Teil zerbrochenen Scheiben ein kreidig grelles Licht ein. Die frische Luft von draußen drang hier roh herein und legte das ganze Elend des lieben Gottes in diesem entlegenen Dorfe bloß. Im Hintergrund, über der großen Tür, die nie geöffnet wurde und deren Schwelle von Unkraut überwuchert war, ging eine hölzerne Empore, zu der man auf einer Leitertreppe hinaufstieg, von einer Mauer zur anderen und krachte an den Festtagen unter den Holzschuhen. Der Beichtstuhl neben der Treppe, dessen Seitenwände aus den Fugen geraten waren, war zitronengelb gestrichen. Ihm gegenüber befand sich neben der kleinen Tür das Taufbecken, ein ehemaliger Weihwasserkessel, den man auf einen Fuß aus Mauerwerk gesetzt hatte. Außerdem standen rechts und links in der Mitte der Kirche zwei winzige, von Holzgeländern umgebene Altäre. Den linken, der Maria geweiht war, schmückte eine große Gottesmutter aus vergoldetem Gips, die majestätisch eine goldene Krone auf ihrem kastanienbraunen Haar trug: sie hielt auf ihrem linken Arm einen nackten, lächelnden Jesusknaben, dessen Händchen die gestirnte Erdkugel emporhob; sie schritt inmitten von Wolken dahin und hatte geflügelte Engelsköpfe zu ihren Füßen. Der Altar zur Rechten, an dem die Totenmessen gelesen wurden, wurde von einem Christus aus gemalter Pappe überragt, der ein Gegenstück zur Muttergottes bildete; der Christus, der die Größe eines zehnjährigen Kindes hatte, rang auf schreckliche Weise mit dem Tode, sein Kopf war hintübergesunken, seine Rippen traten hervor, sein Leib war eingefallen, seine Glieder verrenkt und blutbespritzt. Dann war da noch die Kanzel, ein viereckiger Kasten, zu dem man über einen Tritt mit fünf Stufen hinaufstieg und der sich gegenüber einer in ein Nußbaumgehäuse eingeschlossenen Standuhr erhob, deren dumpfe Schläge die ganze Kirche erschütterten, gleich dem Schlagen eines ungeheuer großen, irgendwo unter den Fliesen verborgenen Herzens. Das ganze Kirchenschiff entlang setzten die vierzehn Kreuzwegstationen, vierzehn plump kolorierte, mit schwarzen Leisten eingerahmte Bilder, mit dem Gelb, dem Blau und dem Rot der Passion Flecken auf das grelle Weiß der Wände.

„Deo gratias“, stammelte Vincent nach der Verlesung der Epistel.

Das Liebesmysterium, die Darbringung des heiligen Opfers bereitete sich vor. Der Ministrant nahm das Meßbuch, das er nach links auf die Evangelienseite trug, und achtete dabei darauf, die Blätter des Buches nicht zu berühren. Jedesmal, wenn er am Tabernakel vorüberkam, machte er schief einen Kniefall und verrenkte sich fast dabei. Wieder auf die rechte Seite zurückgekehrt, blieb er dann bei der Verlesung des Evangeliums mit verschränkten Armen stehen. Der Priester hatte ein Kreuzeszeichen über das Meßbuch gemacht und sich dann selber bekreuzigt: auf der Stirn, um zu sagen, daß er sich niemals des Gotteswortes schämen würde; auf dem Mund, um zu zeigen, daß er immer bereit sei, seinen Glauben zu bekennen; auf seinem Herzen, um zu bedeuten, daß sein Herz Gott allein gehöre.

„Dominus vobiscum“, sagte er, wandte sich um, und sein Blick ertrank im kalten Weiß der Kirche.

„Et cum spiritu tuo“, erwiderte Vincent, der wieder niedergekniet war.

Nachdem der Priester das Offertorium hergesagt hatte, deckte er den Kelch ab. Einen Augenblick lang hielt er in Höhe seiner Brust die Patene mit der Hostie, die er Gott darbot, für sich, für die Anwesenden, für alle Gläubigen, ob lebend oder tot. Als er sie dann, ohne sie mit den Fingern zu berühren, an den Rand des Korporale hatte gleiten lassen, nahm er den Kelch, den er sorgfältig mit dem Kelchtüchlein ausrieb. Vincent hatte von dem Kredenztisch die Meßkännchen geholt, die er nacheinander darreichte, das Kännchen mit dem Wein zuerst, danach das Kännchen mit dem Wasser. Der Priester brachte nun für die ganze Welt den halbvollen Kelch dar, den er in die Mitte des Korporale zurückstellte, wo er ihn wieder mit der Palla bedeckte. Und nachdem er noch einmal gebetet hatte, kam er zurück und ließ sich in ganz dünnem Strahl Wasser über die äußersten Spitzen des Daumens und des Zeigefingers einer jeden Hand gießen, um sich von den geringsten Flecken der Sünde zu reinigen. Als er sich mit dem Lavabotuch abgetrocknet hatte, goß die wartende Teuse das auf das Meßkännchentablett gelaufene Wasser in einen Zinkeimer an der Ecke des Altars.

„Orate, fratres“, begann der Priester mit lauter Stimme von neuem, den leeren Bänken zugewandt, die Hände in einer Gebärde des Rufes an die Menschen guten Willens ausbreitend und wieder faltend. Und sich zum Altar zurückwendend, fuhr er mit gesenkter Stimme fort.

Vincent murmelte einen langen lateinischen Satz vor sich hin, in welchem er sich verlor.

Da drangen gelbe Flammen zu den Fenstern herein. Die Sonne kam beim Rufe des Priesters zur Messe. Sie beschien in breiten goldenen Streifen die linke Wand, den Beichtstuhl, den Marienaltar, die große Standuhr. Ein Krachen erschütterte den Beichtstuhl; von einem Glorienschein umgeben, lächelte die Muttergottes im blendenden Glanz ihrer Krone und ihres goldenen Mantels mit ihren gemalten Lippen zärtlich dem Jesusknaben zu; beschwingt schlug die Standuhr die Stunde mit rascheren Schlägen. Es schien, als bevölkere die Sonne die Bänke mit den Staubteilchen, die in ihren Strahlen tanzten. Die kleine Kirche, der weißgetünchte Stall, war gleichsam angefüllt mit einer lauwarmen Menge. Draußen hörte man die leisen Geräusche des glücklichen Erwachens der Flur: Gräser, die vor Wohlbehagen seufzten, Blätter, die in der Wärme trocken wurden, Vögel, die ihre Federn glätteten und ein erstes Mal kurz mit den Flügeln schlugen. Sogar die Flur kam mit der Sonne herein: an einem der Fenster reckte sich eine große Eberesche in die Höhe, warf Zweige durch die zerbrochenen Scheiben hinein und streckte ihre Knospen aus, als wolle sie in das Innere schauen; und durch die Spalten der großen Tür sah man die Gräser der Freitreppe, die in das Kirchenschiff einzudringen drohten. Allein der große Christus, der im Dunkel geblieben war, brachte mitten in dieses aufsteigende Leben den Tod, die Todesqual seines mit Ockergelb beschmierten, mit Lack bespritzten Fleisches. Ein Sperling setzte sich an den Rand eines Loches; er guckte, flog dann fort; doch fast sogleich erschien er wieder und ging in ruhigem Flug zwischen den Bänken vor dem Marienaltar nieder. Ein zweiter Sperling folgte ihm. Bald kamen von allen Zweigen der Eberesche Sperlinge herab und hüpften seelenruhig auf den Fliesen umher.

„Sanctus, Sanctus, Sanctus, Dominus Deus Sabaoth“, sagte der Priester halblaut mit leicht vorgeneigten Schultern.

Vincent schellte dreimal. Doch durch dieses plötzliche Geklingel erschreckt, flogen die Sperlinge mit so lautem Schwirren auf, daß die Teuse, die vor einer Weile in die Sakristei zurückgegangen war, schimpfend wieder zum Vorschein kam.

„Diese Lumpen! Sie werden alles schmutzig machen . . . Ich wette, Mademoiselle Désirée hat ihnen wieder Brotkrumen hingestreut.“

Der furchtbare Augenblick nahte. Leib und Blut eines Gottes würden gleich auf den Altar herabkommen. Der Priester küßte die Altardecke, faltete die Hände, machte mehrmals das Kreuzeszeichen über der Hostie und dem Kelch. Die Gebete des Kanons fielen nur noch in einer Verzückung von Demut und Dankbarkeit von seinen Lippen. Seine Haltung, seine Gebärden, sein Tonfall besagten, wie wenig er war, welche Ergriffenheit er empfand, für eine so große Aufgabe auserwählt zu sein. Vincent kniete hinter ihm nieder; er faßte das Meßgewand mit der linken Hand und hob es leicht an, die Schelle bereithaltend. Und die Ellbogen auf den Rand des Altartisches gestützt, die Hostie zwischen Daumen und Zeigefinger jeder Hand haltend, sprach der Priester über ihr die Wandlungsworte:,,Hoc est enim corpus meum.“ Nachdem er das Knie gebeugt hatte, hob er die Hostie dann langsam empor, so hoch er konnte, und folgte ihr mit den Augen, während der Ministrant, anbetend kniend, dreimal schellte. Danach konsekrierte der Priester den Wein: „Hic est enim calix“, hatte die Ellbogen dabei wiederum auf den Altar gestützt, beugte grüßend das Knie und hob den Kelch empor, folgte ihm gleichfalls mit den Augen, wobei die rechte Hand den Knauf fest umschlossen hielt und die linke den Fuß stützte. Der Ministrant gab zum letzten Mal drei Zeichen mit der Schelle. Das große Mysterium der Erlösung war soeben erneuert worden, das hochheilige Blut floß ein weiteres Mal.

„Na, wartet, na, wartet“, schimpfte die Teuse und suchte mit ausgestreckter Faust die Sperlinge zu verscheuchen.

Doch die Sperlinge hatten keine Angst mehr. Dreist waren sie, über die Kirchenstühle schwirrend, mitten im Schellengeklingel zurückgekommen. Das wiederholte Geklingel hatte sie sogar in Freude versetzt. Sie antworteten mit leisem Piepsen, das die lateinischen Worte gleichsam mit dem perlenden Gelächter losgelassener Gassenjungen unterbrach. Die Sonne wärmte ihnen die Federn, die liebliche Armseligkeit der Kirche entzückte sie. Sie waren dort zu Hause, wie in einer Scheune, in der man eine Luke offengelassen hat, tschilpten, zausten sich und machten einander die auf dem Fußboden gefundenen Krümel streitig. Einer von ihnen setzte sich auf den goldenen Schleier der Muttergottes, die dabei lächelte; ein anderer durchstöberte flink die Röcke der Teuse, die durch diese Frechheit außer sich geriet.

Der Priester am Altar, der in tiefster Demut die Augen auf die heilige Hostie gerichtet hielt und Daumen und Zeigefinger jeder Hand aneinandergelegt hatte, hörte nichts von diesem Einfallen des lauen Maienmorgens in das Kirchenschiff, nichts von dieser steigenden Flut aus Sonne, Grün und Vögeln, die überströmte bis zum Fuße des Kalvarienberges, wo die verdammte Natur mit dem Tode rang.

„Per omnia saecula saeculorum“, sagte er.

„Amen“, antwortete Vincent.

Als das Paternoster zu Ende gesprochen war, hielt der Priester die Hostie über den Kelch und brach sie mittendurch. Dann löste er von der einen Hälfte ein Teilchen ab, das er in das kostbare Blut gleiten ließ, um die innige Vereinigung anzuzeigen, die er mit Gott durch die Kommunion eingehen würde. Er sprach mit lauter Stimme das Agnus Dei, sagte ganz leise die drei vorgeschriebenen Gebete her, bekannte seine Unwürdigkeit; und während er die Ellbogen auf den Altar stützte und die Patene unter das Kinn hielt, nahm er die beiden Teile der Hostie zugleich zu sich. Nachdem er die Hände in inbrünstiger Andacht in Höhe seines Gesichts gefaltet hatte, sammelte er mit Hilfe der Patene die von der Hostie abgebröckelten heiligen Teilchen, die er in den Kelch schüttete. Da ein Teilchen an seinem Daumen haftengeblieben war, streifte er es mit der Spitze seines Zeigefingers ab. Und sich mit dem Kelch bekreuzigend, die Patene wieder unter sein Kinn haltend, trank er das ganze kostbare Blut in drei Schlucken, ohne die Lippen vom Rande des Kelches zu lösen, und vollzog so bis zum letzten Tropfen das göttliche Opfer.

Vincent war aufgestanden, um die Meßkännchen wieder vom Kredenztisch zu holen. Doch die Tür des Flurs, der zum Pfarrhaus führte, öffnete sich angelweit, schlug gegen die Wand zurück und gab den Durchgang einem schönen Mädchen von zweiundzwanzig Jahren mit kindlichem Gesicht frei, das etwas in seiner Schürze verborgen hielt.

„Es sind dreizehn!“ rief sie. „Alle Eier waren gut!“ Und die Schürze halb öffnend, ließ sie eine ganze Brut krabbelnder Küken mit ihren sprießenden Flaumfedern und den schwarzen Punkten ihrer Augen sehen: ,,Seht doch! Sind die aber niedlich, die Süßen! – Oh, das kleine Weiße, das den anderen auf den Rücken klettert! Und das da, das Gesprenkelte, das schon mit den Flügeln schlägt! – Die Eier waren wirklich gut. Nicht ein taubes!“

Die Teuse, die nun doch bei der Messe half, indem sie Vincent die Meßkännchen für die Reinigung reichte, wandte sich um und sagte laut:

„Seien Sie doch still, Mademoiselle Désirée! Sie sehen doch, daß wir noch nicht fertig sind.“

 

Ein starker Geruch nach Hühnerhof drang durch die offene Tür und wehte wie ein Ferment des Werdens in die Kirche, in den warmen Sonnenschein, der auf den Altar fiel.

Désirée blieb einen Augenblick stehen, ganz glücklich über das kleine Völkchen, das sie trug, und sah Vincent zu, wie er den Wein der Reinigung eingoß, sah ihrem Bruder zu, wie er diesen Wein trank, damit nichts von dem heiligen Leib und Blut in seinem Munde bliebe. Und sie stand noch immer da, als er zurückkam, den Kelch mit beiden Händen haltend, um sich über Daumen und Zeigefinger den Wein und das Wasser der Reinigung gießen zu lassen, das er beides gleichfalls trank. Doch die Henne, die ihre Kleinen suchte, kam glucksend an und wäre beinahe in die Kirche hineinspaziert. Da ging Désirée mit mütterlichen Worten für die Küken davon, gerade in dem Augenblick, als der Priester mit dem Kelchtüchlein, nachdem er es an seine Lippen gedrückt hatte, erst über die Ränder, dann über die Innenseite des Kelches wischte.

Es war das Ende, die Danksagung an Gott. Der Ministrant holte ein letztes Mal das Meßbuch, trug es wieder nach rechts. Der Priester legte das Kelchtüchlein, die Patene, die Palla auf den Kelch zurück; dann kniffte er von neuem die beiden breiten Falten des Velums zurecht und legte die Bursa darauf, in die er das Korporale zusammengefaltet hineingelegt hatte. Sein ganzes Wesen war ein glühender Dank. Er bat den Himmel um die Vergebung seiner Sünden, die Gnade eines gottgefälligen Lebens, das Verdienst des ewigen Lebens. Er blieb versunken in dieses Liebeswunder, in dieses immerwährende Opfer, das ihn jeden Tag mit dem Fleisch und Blut seines Heilandes speiste.

Nachdem er die Gebete gelesen hatte, wandte er sich um und sprach:

„Ite, missa est.“

„Deo gratias“, antwortete Vincent.

Nachdem der Abbé sich umgedreht hatte, den Altar zu küssen, wandte er sich wieder um, hielt die linke Hand unterhalb der Brust und erteilte mit der ausgestreckten rechten Hand der von der Heiterkeit der Sonne und vom Lärm der Sperlinge erfüllten Kirche den Segen.

„Benedicat vos omnipotens Deus, Pater et Filius, et Spiritus Sanctus.“

„Amen“, sagte der Ministrant und bekreuzigte sich.

Die Sonne schien stärker, und die Sperlinge wurden kühner. Während der Priester auf der linken Kanontafel das Schlußevangelium nach Johannes las, das von der Ewigkeit des Wortes kündet, setzte die Sonne den Altar in Flammen, ließ die Stuckmarmorfelder weiß erglänzen, verzehrte den Schein der beiden Kerzen, deren kurze Dochte nur noch zwei düstere Flecken bildeten. Das sieghafte Gestirn umfing mit seinem Glorienschein das Kreuz, die Leuchter, das Meßgewand, das Velum, all dieses unter seinen Strahlen verblassende Gold. Und als der Priester den Kelch nahm, eine Kniebeuge machte und den Altar verließ, um bedeckten Hauptes in die Sakristei zurückzukehren, ihm voran der Ministrant, der die Meßkännchen und das Lavabotuch zurücktrug, blieb das Gestirn allein Herr über die Kirche. Die Tür des Tabernakels mit seinem Glanz entzündend, die Maienfruchtbarkeit preisend, hatte sich nun sein Schein auf die Altardecke gelegt. Wärme stieg von den Fliesen auf. Das getünchte Mauerwerk, die große Muttergottes, der große Christus selber wurden von den steigenden Säften durchschauert, als sei der Tod überwunden durch die ewige Jugend der Erde.

KAPITEL III

Die Teuse beeilte sich, die Kerzen auszulöschen. Doch sie hielt sich mit dem Verscheuchen der Spatzen auf. Als sie das Meßbuch in die Sakristei zurücktrug, fand sie daher auch Abbé Mouret nicht mehr dort vor; der hatte sich die Hände gewaschen und dann die geweihten Gewänder verwahrt. Er war schon im Eßzimmer und trank im Stehen eine Tasse Milch zum Frühstück.

„Sie sollten wohl Ihre Schwester davon abhalten, Brot in die Kirche zu werfen“, sagte die Teuse beim Hereinkommen. „Im letzten Winter ist sie auf diesen hübschen Einfall gekommen. Sie hat gesagt, den Spatzen sei kalt, und der liebe Gott könne sie wohl ernähren . . . Sie wird es schließlich noch dahin bringen, daß wir mit ihren Hühnern und Kaninchen zusammen schlafen, passen Sie nur auf.“

,,Dann hätten wir es wärmer“, erwiderte fröhlich der junge Priester. „Sie schimpfen immerzu, Teuse. Lassen Sie doch unsere arme Désirée ihre Tiere liebhaben. Sie hat keine andere Freude, das liebe unschuldige Kind.“

Die Magd pflanzte sich mitten im Zimmer auf.

„Oh, Sie!“ legte sie los. „Sie würden es zulassen, daß die Elstern in der Kirche ihre Nester bauen. Sie sehen nichts, Sie finden alles vortrefflich . . . Ihre Schwester kann froh sein, daß Sie sie zu sich genommen haben, als Sie aus dem Priesterseminar kamen. Ich möchte wohl wissen, wer ihr sonst erlauben würde, auf einem Hühnerhof herumzupatschen?“ Dann sagte sie gerührt und in einem ganz anderen Ton: „Gewiß, es wäre ein Jammer, wollte man sie hindern. Sie ist ohne jeden Falsch. Sie ist ja kaum wie eine Zehnjährige, obgleich sie eins der kräftigsten Mädchen des Ortes ist . . . Denken Sie nur, ich bringe sie abends noch zu Bett, und ich muß ihr wie einem kleinen Kind Geschichten erzählen, damit sie einschläft.“

 

Abbé Mouret hatte seine Tasse Milch im Stehen ausgetrunken, seine Finger waren etwas rot geworden von der kühlen Luft im Eßzimmer, einem großen grau gestrichenen Raum mit Fliesenfußboden, in dem außer einem Tisch und Stühlen keine anderen Möbel standen.

Die Teuse nahm die Serviette fort, die sie zum Frühstück auf einer Ecke des Tisches ausgebreitet hatte.

,,Sie machen kaum Wäsche schmutzig“, murmelte sie. „Man könnte meinen, Sie könnten sich nicht hinsetzen, Sie seien immer im Begriff fortzugehen . . . Ach, wenn Sie Herrn Caffin gekannt hätten, den armen verstorbenen Pfarrer, an dessen Stelle Sie getreten sind! Das war ein empfindlicher Mann! Seine Verdauung würde nicht funktioniert haben, wenn er im Stehen gegessen hätte . . . Er war aus der Normandie, aus Canteleu, wie ich. Bedanken brauch ich mich nicht bei ihm, daß er mich in diese gottverlassene Gegend gebracht hat. Du mein Gott, was haben wir uns in der ersten Zeit gelangweilt! Der arme Pfarrer hatte recht unangenehme Geschichten bei uns zu Hause gehabt . . . Na, Herr Mouret, haben Sie denn keinen Zucker in Ihre Milch genommen? Hier sind die beiden Zuckerstücke.“ Der Priester stellte seine Tasse hin.

„Ja, ich glaube, ich habe es vergessen“, sagte er.

Die Teuse sah ihn an und zuckte die Schultern. Sie wickelte eine Scheibe Schwarzbrot, die ebenfalls auf dem Tisch liegengeblieben war, in die Serviette. Da der Pfarrer gerade hinausgehen wollte, lief sie ihm nach, kniete nieder und rief:

„Warten Sie, Ihre Schuhbänder sind noch nicht einmal zugebunden . . . Ich weiß nicht, wie Sie das mit Ihren Füßen in diesen Bauernschuhen aushalten. Sie, wo Sie doch so zart sind, wo Sie doch aussehen, als seien Sie tüchtig verwöhnt worden! – Der Bischof muß Sie ja ganz genau gekannt haben, daß er Ihnen die ärmste Pfarre des Departements gegeben hat.“

,,Aber“, sagte der Priester und lächelte wieder, „ich selber habe ja Les Artaud ausgesucht . . . Sie sind ganz schlimm heute früh, Teuse. Sind wir nicht glücklich hier? Wir haben alles, was wir brauchen, wir leben in paradiesischem Frieden.“

Da ließ sie das Schimpfen, lachte nun auch und entgegnete:

 

„Sie sind ein heiliger Mann, Herr Pfarrer . . . Sehen Sie sich mal meine Wäsche an, wie speckig die ist. Das ist besser, als daß wir uns streiten.“

Er mußte ihr folgen, denn sie drohte ihm, ihn nicht fortzulassen, wenn er ihr nicht Komplimente über ihre Wäsche machte. Er ging aus dem Eßzimmer und stieß sich im Flur an einem Gipsbrocken.

„Was ist denn das?“ fragte er.

„Nichts“, erwiderte die Teuse mit schrecklicher Miene. „Das Pfarrhaus fällt ein. Aber Sie fühlen sich wohl, Sie haben ja alles, was Sie brauchen . . . Ach Gott, an Rissen fehlt es nicht. Sehen Sie sich mal diese Decke an. Die ist wohl rissig genug! Wenn wir nicht demnächst erschlagen werden, müssen wir unserem Schutzengel eine große Kerze anzünden. Da es Ihnen aber schließlich so gefällt . . . Das ist wie mit der Kirche. Seit zwei Jahren schon hätten die zerbrochenen Fensterscheiben erneuert werden müssen. Im Winter erfriert der liebe Heiland ja. Und dann könnte dieses Spatzengelump nicht mehr rein. Ich werde schließlich noch Papier über die Fenster kleben, das sage ich Ihnen.“

„Ja, das ist eine Idee“, murmelte der Priester. „Man könnte Papier darüberkleben . . . Was die Wände angeht, die halten besser, als man glaubt. In meinem Schlafzimmer hat sich der Fußboden nur vor dem Fenster geworfen. Das Haus wird uns alle überleben.“

Da er der Teuse eine Freude machen wollte, ging er mit in den kleinen Schuppen bei der Küche und bewunderte in lauten Tönen, wie vortrefflich die Wäsche war; er mußte sogar daran riechen und die Finger hineinhalten.

Ganz entzückt zeigte sich nun die alte Frau von der mütterlichen Seite. Sie schimpfte nicht mehr, holte eine Bürste und sagte:

„Sie werden doch wohl nicht mit dem Schmutz von gestern auf Ihrer Soutane aus dem Haus gehen! Wenn Sie sie über das Treppengeländer gelegt hätten, wäre sie jetzt sauber . . . Sie ist noch gut, diese Soutane. Nehmen Sie sie nur immer hübsch hoch, wenn Sie über ein Feld gehen. Die Disteln zerreißen alles.“

Sie drehte ihn hin und her wie ein Kind und schüttelte ihn mit den heftigsten Bürstenstrichen von Kopf bis Fuß durch.

„Na, na, nun istʼs genug“, sagte er, indem er sich ihr entwand. „Passen Sie auf Désirée auf, nicht wahr? Ich werde ihr sagen, daß ich fortgehe.“

Doch in diesem Augenblick rief eine helle Stimme:

„Serge! Serge!“

Désirée kam angelaufen, ganz rot vor Freude, mit bloßem Kopf, die schwarzen Haare im Nacken zu einem mächtigen Knoten zusammengeschlungen, Hände und Arme bis zu den Ellbogen hinauf mit Mist beschmiert. Sie machte bei ihren Hühnern sauber. Als sie sah, daß ihr Bruder im Begriff war, mit seinem Brevier unter dem Arm fortzugehen, lachte sie lauter und küßte ihn schallend, wobei sie die Hände nach hinten hielt, um ihn nicht zu berühren.

„Nein, nein“, stammelte sie, „ich würde dich schmutzig machen . . . Oh, hab ich einen Spaß! Du mußt dir die Tiere ansehen, wenn du zurückkommst.“ Und sie lief davon.

Abbé Mouret sagte, er werde um elf Uhr zum Mittagessen nach Hause kommen. Er ging fort, und die Teuse, die ihn bis zur Schwelle begleitet hatte, rief ihm noch ihre letzten Ermahnungen nach.

„Vergessen Sie nicht, Bruder Archangias zu besuchen . . . Gehen Sie auch bei Brichets vorbei; die Frau war gestern hier, immer noch wegen dieser Heirat . . . Herr Pfarrer, so hören Sie doch! Ich habe die Rosalie getroffen. Die wünscht sich nichts sehnlicher, als den langen Fortuné zu heiraten. Reden Sie mit Vater Bambousse, vielleicht wird er jetzt auf Sie hören . . . Und kommen Sie nicht erst um zwölf zurück, wie neulich. Um elf Uhr, hören Sie, um elf Uhr, ja?“

Aber der Priester wandte sich nicht mehr um.

Sie ging ins Haus zurück und murmelte zwischen den Zähnen:

„Wenn einer glaubt, daß der auf mich hört! – So was ist noch keine sechsundzwanzig Jahre und handelt nur nach seinem eigenen Kopf. Gewiß, was seine Heiligkeit angeht, so würde er darin einem Sechzigjährigen noch was vormachen; aber er hat ja noch gar nicht gelebt, er weiß ja noch nichts, es macht ihm keine Mühe, artig wie ein Englein zu sein, der Liebe.“

KAPITEL IV

Als Abbé Mouret spürte, daß die Teuse nicht mehr hinter ihm war, blieb er stehen, glücklich, endlich allein zu sein. Die Kirche war auf einer kleinen Anhöhe erbaut worden, die in sanfter Neigung bis zum Dorf hin abfiel; längs erstreckte sie sich gleich einem verlassenen Schafstall, dessen Wände von breiten Fenstern durchbrochen waren und dem die roten Dachziegel ein heiteres Aussehen verliehen. Der Priester wandte sich um und warf einen Blick auf das Pfarrhaus, ein graues altes Gemäuer, das unmittelbar an der Längsseite des Kirchenschiffes klebte; dann ging er rechts hinauf, als fürchtete er, von dem unversieglichen Geschwätz, das seit dem Morgen in seinen Ohren summte, wieder gefangen zu werden; erst vor dem großen Portal, wo man ihn von der Pfarre aus nicht erblicken konnte, glaubte er sich in Sicherheit. Die Fassade der Kirche, die ganz kahl, von Sonne und Regen zernagt war, wurde von einem engen Käfig aus Mauerwerk überragt, in dessen Mitte sich das schwarze Profil einer kleinen Glocke abzeichnete; das Ende des Glockenseils war zu sehen, das sich in den Dachziegeln verlor. Sechs zerborstene, an einer Seite halb verschüttete Stufen führten zu der rissigen, von Staub, Rost und Spinnweben zerfressenen hohen runden Tür, die so kläglich in ihren losgerissenen Angeln hing, daß es aussah, als müßte sie beim ersten Windstoß eingedrückt werden. Abbé Mouret, der zärtliche Liebe für diese Ruine hegte, lehnte sich mit dem Rücken an einen der Torflügel auf der Freitreppe. Von dort aus umfaßte er mit einem Blick die ganze Gegend. Die Augen mit den Händen schirmend, suchte er den Horizont ab.

Im Mai sprengte ungeheurer Pflanzenwuchs den steinigen Boden. Kolossale Lavendelsträucher, Wacholderbüsche, Teppiche aus herben Kräutern stiegen die Freitreppe hinan, pflanzten Sträuße aus düsterem Grün sogar auf die Dachziegel. Das erste Drängen der Säfte drohte die Kirche im harten Buschholz der knorrigen Pflanzen davonzutragen. In dieser Morgenstunde herrschte mitten in den Wehen des Werdens ein brünstiges Brausen, ein langes, schweigendes Mühen, das die Felsen erschauern ließ. Doch der Abbé fühlte die Glut dieses mühseligen Gebärens nicht; er glaubte, die Stufe schwanke, und lehnte sich an den anderen Türflügel.

Das Land erstreckte sich zwei Meilen weit, abgeschlossen durch eine Mauer gelber Hügel, auf denen Nadelwälder schwarze Flecken bildeten; schreckliches Land mit ausgedorrter Heide, mit felsigen Graten, die den Boden zerrissen. Die wenigen Zipfel pflügbarer Erde breiteten blutige Lachen aus, rote Felder, auf denen sich Reihen dürftiger Mandelbäume, grauhäuptiger Oliven, Streifen von Weinstöcken, die mit ihren braunen Stämmen das Land schraffierten, aneinanderreihten. Man hätte meinen können, eine ungeheuerliche Feuersbrunst wäre darüber hinweggezogen, die Asche der Wälder auf die Höhen streuend, die Wiesen verbrennend und ihren Glanz und ihre Gluthitze in den Mulden zurücklassend. Kaum brachte dann und wann das blasse Grün eines Getreidevierecks eine zartere Note hinein. Der Horizont blieb wild, ohne ein Wasserrinnsal, verdurstete und stob beim geringsten Lufthauch in großen Staubwolken auf. Und ganz am Ende erblickte man durch eine eingestürzte Ecke der Hügel am Horizont eine saftig-grüne Ferne, einen Streifen des Nachbartals, das die Viorne fruchtbar machte, ein Fluß, der aus den Schluchten der Seille herabgekommen war.

Geblendet schaute der Priester hinab auf das Dorf, dessen spärliche Häuser wild durcheinander zu Füßen der Kirche herumstanden. Erbärmliche Häuser aus Lehmsteinen und Fachwerk längs eines schmalen Weges hingeworfen, ohne eigentliche Straßen. Es waren etwa dreißig, die einen im Dunghaufen zusammengesackt, schwarz von Elend, die anderen geräumiger, heiterer mit ihren rosa Dachziegeln. Auf den dem Felsen abgerungenen Grundstücken breiteten sich Gemüsebeete aus, die von Hecken durchschnitten wurden. Zu dieser Stunde war Les Artaud ausgestorben; nicht eine Frau am Fenster, nicht ein Kind, das sich im Staub sielte; allein Scharen von Hühnern liefen hin und her, scharrten im Stroh, suchten sogar an den Schwellen der Häuser, deren offengelassene Türen gähnten und der Sonne freundlich Einlaß gewährten. Ein großer schwarzer Hund, der am Eingang des Dorfes auf seinem Hinterteil saß, schien es zu bewachen.

Eine Schlaffheit machte Abbé Mouret allmählich benommen. Die steigende Sonne badete ihn in einer solchen Wärme, daß er sich an die Kirchentür sinken ließ, überkommen von glücklichem Frieden. Er sann über dieses Dorf der Artauds nach, das dort in den Steinen wie eines der knorrigen Gewächse des Tals gewachsen war. Alle Dorfbewohner waren miteinander verwandt, alle trugen denselben Namen, so daß sie von der Wiege an Beinamen bekamen, um sich voneinander zu unterscheiden. Ein Vorfahre, ein Artaud, war hierhergekommen und hatte sich in dieser Heide festgesetzt wie ein Paria; dann war seine Familie gewachsen mit der wilden Lebenskraft der Gräser, die das Leben aus den Felsen saugen; die Familie war schließlich zu einer Sippe, einer Gemeinde geworden, in deren Jahrhunderte zurückreichende Verwandtschaften man sich nicht mehr zurechtfand. Sie heirateten untereinander in schamlosem Durcheinander; man hätte nicht ein Beispiel anführen können, daß ein Artaud eine Frau aus einem Nachbardorf heimgeführt hätte; nur die Mädchen gingen manchmal davon. Die Artauds wurden geboren, die Artauds starben, diesem Fleckchen Erde verhaftet, auf ihrem Dunghaufen wuchernd, langsam, mit der einfachen Selbstverständlichkeit von Bäumen, die wieder aus ihrem Samen emporsprossen, ohne eine klare Vorstellung von der weiten Welt jenseits dieser gelben Felsen, zwischen denen sie ihr Leben fristeten. Und doch gab es unter ihnen schon Arme und Reiche. Da Hühner verschwunden waren, wurden die Hühnerställe des Nachts mit schweren Vorhängeschlössern verschlossen; ein Artaud hatte eines Abends einen Artaud hinter der Mühle umgebracht. Es war ein Volk für sich auf dem Grunde dieser trostlosen Hügeleinfassung, ein aus dem Erdboden geborenes Geschlecht, eine Menschheit von dreihundert Köpfen, die die Zeiten von vorn begann.

Er jedoch trug in sich den ganzen toten Schatten des Priesterseminars. Jahre hindurch hatte er die Sonne nicht gesehen. Selbst jetzt noch kannte er sie nicht, weil er die Augen geschlossen auf die Seele gerichtet hielt und nur Verachtung für die verdammte Natur hatte. Lange Zeit hatte er in den Stunden der Andacht, wenn er in Betrachtung versunken sich niederwarf, eine Einsiedlereinöde erträumt, irgendeine Höhle in einem Berg, wo ihn nichts Lebendiges, weder Wesen noch Pflanze noch Wasser, von der Betrachtung Gottes ablenken würde. Das war ein Aufwallen reiner Liebe, ein Grauen vor dem körperlichen Empfinden. Dort hätte er, für sich allein sterbend, dem Licht den Rücken zugewandt, geharrt, bis er nicht mehr wäre, bis er sich verloren im erhabenen Weiß der Seelen. Der Himmel erschien ihm ganz weiß, von einem lichtvollen Weiß, als schneite es Lilien, als flammte alle Reinheit, alle Unschuld, alle Keuschheit. Doch sein Beichtvater schalt ihn, wenn er ihm von seinem Verlangen nach Einsamkeit, von seinem Bedürfnis nach göttlicher Reinheit erzählte; er gemahnte ihn an die Kämpfe der Kirche, an die Notwendigkeit des Priesteramtes. Später war der junge Geistliche nach seiner Priesterweihe auf seine eigene Bitte hin nach Les Artaud gekommen, in der Hoffnung, seinen Traum tiefster menschlicher Demütigung zu verwirklichen. Inmitten dieses Elends, auf diesem unfruchtbaren Boden würde er die Ohren vor dem Lärm der Welt verschließen können, würde er in der Schläfrigkeit der Heiligen leben. Und wirklich lebte er nun schon seit mehreren Monaten mit einem ständigen Lächeln auf den Lippen; kaum daß ihn hin und wieder ein Schauer vom Dorf her verwirrte; kaum daß ein heißerer Biß der Sonne ihn im Nacken packte, wenn er auf den Pfaden dahinging, ganz im Himmel, ohne das fortwährende Gebären zu vernehmen, in dessen Mitte er wandelte.

Der große schwarze Hund, der Les Artaud bewachte, war zu Abbé Mouret heraufgekommen. Er hatte sich ihm zu Füßen auf-sein Hinterteil gesetzt. Doch der Priester blieb in die Lieblichkeit des Morgens versunken. Am Abend zuvor hatte er mit den Rosenkranzexerzitien begonnen; er schrieb die große Freude, die sich auf ihn herabsenkte, der Fürsprache der Muttergottes bei ihrem göttlichen Sohne zu. Und wie verächtlich die Güter der Erde ihm erschienen! Mit welcher Dankbarkeit fühlte er sich arm! Da er seinen Vater und seine Mutter infolge eines Dramas, dessen Schrecken er noch nicht kannte, am selben Tage verloren, hatte er bei seinem Eintritt in den geistlichen Stand einem älteren Bruder alles Vermögen überlassen. Er war nur noch durch seine Schwester mit der Welt verbunden. Von einer Art frommer Zärtlichkeit für ihren schwachen Verstand erfaßt, hatte er sich ihrer angenommen. Das liebe unschuldige Geschöpf war so kindisch, so sehr kleines Mädchen, daß sie ihm mit der Reinheit jener Armen im Geiste versehen zu sein schien, denen das Evangelium das Himmelreich verheißt. Indessen beunruhigte sie ihn seit einiger Zeit; sie wurde zu kräftig, zu gesund; sie roch zu sehr nach Leben. Doch das verursachte kaum Unbehagen. Er verbrachte seine Tage in dem inneren Dasein, das er sich geschaffen, nachdem er alles verlassen hatte, um sich ganz hinzugeben. Er verschloß das Tor seiner Sinne, suchte sich von den Erfordernissen des Leibes frei zu machen, war nur noch eine durch die Betrachtung des Göttlichen entzückte Seele. Die Natur bot ihm nur Fallen, nur Unrat dar; er setzte seinen Ruhm darein, ihr Gewalt anzutun, sie zu verachten, sich von seinem menschlichen Schmutz loszumachen. Der Gerechte muß von Sinnen sein, nach dem, was die Welt sagt. Daher betrachtete er sich auch als einen auf die Erde Verbannten; er hatte nur die himmlischen Güter im Auge und verstand nicht, daß man eine Ewigkeit an Glückseligkeit wegen ein paar Stunden vergänglicher Freude aufs Spiel setzen konnte. Seine Vernunft betrog ihn, sein Verlangen log. Und wenn er an Tugend zunahm, so vor allem durch seine Demut und seinen Gehorsam. Er wollte der Geringste sein von allen, wollte allen unterworfen sein, damit der göttliche Tau auf sein Herz fiele wie auf staubtrockenen Sand; er bekannte sich bedeckt mit Schmach und Wirrnis, auf ewig unwürdig, von der Sünde errettet zu werden. Demütig sein heißt glauben, heißt lieben. Er gehörte nicht einmal mehr sich selbst, war blind, taub, totes Fleisch. Er war ein Ding Gottes. Da trug ihn aus dieser tiefsten Erniedrigung, in die er sich versenkte, ein Hosianna über die Glücklichen und Mächtigen empor, in das Leuchten eines Glückes ohne Ende.

 

In Les Artaud hatte Abbé Mouret so das Entzücken des Klosterlebens gefunden, das er ehemals bei jedem Lesen in der „Nachfolge Christi“ so glühend ersehnt hatte. Mit keiner Faser seines Wesens hatte er bisher kämpfen müssen. Er war vollkommen vom ersten Niederknien an, ohne Ringen, ohne Erschütterung, wie vom Blitzstrahl getroffen durch die Gnade, im völligen Vergessen seines Fleisches. Verzückung des Nahens Gottes, die einigen jungen Priestern zuteil wird; glückselige Stunde, da alles schweigt, da die Begierden nichts sind als ein unermeßliches Verlangen nach Reinheit. Bei keiner Kreatur hatte er Trost gesucht. Wenn man glaubt, daß eine Sache alles ist, kann man nicht wankend werden, und er glaubte, daß Gott alles war, daß seine Demut, sein Gehorsam, seine Keuschheit alles war. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie man von der Versuchung wie von einer abscheulichen Folter sprach, die die Heiligsten auf die Probe stellt. Er lächelte nur. Gott hatte ihn niemals im Stich gelassen. Er schritt in seinem Glauben dahin wie in einem Harnisch, der ihn gegen den geringsten üblen Hauch schützte. Er entsann sich, daß er mit acht Jahren manchmal in den Winkeln vor Liebe geweint hatte; er wußte nicht, wen er liebte; er weinte, weil er irgend jemand liebte, der ganz weit fort war. Immer war er ergriffen gewesen. Später hatte er Priester werden wollen, um dieses Bedürfnis übermenschlicher Liebe zu befriedigen, das seine einzige Qual ausmachte. Er sah nicht, wo er hätte mehr lieben können. Er tat so seinem Wesen, seiner natürlichen Veranlagung, seinen Jünglingsträumen, seinen ersten Mannesbegierden Genüge. Wenn die Versuchung kommen sollte, so erwartete er sie mit der Abgeklärtheit eines unwissenden Seminaristen. Man hatte den Mann in ihm getötet, er fühlte es, er war glücklich, sich ausgesondert zu wissen, ein entmanntes, vom Natürlichen abweichendes Geschöpf, das durch die Tonsur gezeichnet war als ein Lamm Gottes.

KAPITEL V

Indessen erwärmte die Sonne die große Tür der Kirche. Goldene Fliegen summten um eine große Blume, die zwischen zwei Stufen der Freitreppe hervorsproß. Ein wenig benommen, entschloß sich Abbé Mouret, weiterzugehen; da schnellte der große schwarze Hund mit heftigem Gebell auf die Gittertür des kleinen Friedhofes los, der sich links von der Kirche befand. Gleichzeitig rief eine rauhe Stimme:

„Aha, du Taugenichts! In der Schule fehlst du, und auf dem Friedhof findet man dich! – Keine Widerrede! Seit einer Viertelstunde beobachte ich dich.“

Der Priester trat näher. Er erkannte Vincent, den ein Bruder der christlichen Schulen derb an einem Ohr hielt. Der Junge hing über einem Abgrund, der am Friedhof entlangführte und auf dessen Grunde der Mascle floß, ein Wildbach, dessen weiße Wasser sich zwei Meilen weiter in die Viorne stürzten.

„Bruder Archangias!“ sagte der Abbé sanft, um den schrecklichen Mann zur Nachsicht zu ermahnen.

Doch der Bruder ließ das Ohr nicht los.

„Ach, Sie sind es, Herr Pfarrer“, brummte er. „Stellen Sie sich vor, dieser Lump verkriecht sich immer auf dem Friedhof. Ich weiß nicht, was für schlimme Streiche er hier aushecken mag . . . Ich müßte ihn loslassen, damit er sich da unten auf dem Grund den Schädel einschlägt. Das geschähe ihm ganz recht.“

Der Junge gab keinen Laut von sich und klammerte sich an das Gestrüpp, die Augen duckmäuserisch geschlossen.

„Geben Sie acht, Bruder Archangias“, begann der Priester von neuem. „Er könnte ausrutschen.“ Und er selber half Vincent, wieder hochzukommen. „Nun, mein kleiner Freund, sag mal, was hast du denn da gemacht? Man soll doch nicht auf Friedhöfen spielen.“

Der Schlingel hatte die Augen wieder aufgemacht, entfernte sich furchtsam aus der Nähe des Schulbruders und stellte sich unter Abbé Mourets Schutz.

„Ich werde es Ihnen sagen“, murmelte er und blickte zu dem Priester hoch mit seinem pfiffigen Gesicht. „In den Brombeersträuchern unter diesem Felsen ist ein Grasmückennest. Seit mehr als acht Tagen beobachte ich es schon . . . Und weil die Jungen ausgekrochen sind, bin ich heute morgen hergekommen, nachdem ich bei Ihrer Messe ministriert habe . . .“

„Ein Grasmückennest!“ sagte Bruder Archangias. „Na, warte, warte!“ Er holte von einem Grab einen Erdklumpen und warf ihn in die Brombeersträucher. Doch er verfehlte das Nest. Ein zweiter, geschickter geschleuderter Klumpen stieß die zerbrechliche Wiege um und warf die Jungen in den Wildbach. „So“, fuhr er fort und schlug die Hände aneinander, um sie zu säubern, „jetzt wirst du vielleicht nicht mehr wie ein Heide hier umherschleichen . . . Die Toten werden dich nachts an den Füßen ziehen, wenn du weiter auf ihnen herumläufst.“

Vincent hatte gelacht, als er das Nest untertauchen sah, nun blickte er um sich, zuckte die Achseln wie jemand, dem nichts heilig ist.

„Ach was, ich habe keine Angst“, sagte er. „Die Toten, die rühren sich nicht mehr.“

Der Friedhof hatte wirklich nichts Erschreckendes. Es war ein kahles Gelände, auf dem sich schmale Wege unter dem wuchernden Gras verloren. Hier und dort erhoben sich kleine Erdbuckel. Ein einziger, ganz neuer Stein, der Stein des Abbé Caffin, stand dort und bildete einen weißen Ausschnitt in der Mitte. Nichts sonst als herausgerissene Arme von Kreuzen, vertrockneter Buchsbaum, alte zerbrochene, von Moos zerfressene Steinplatten. Kaum zweimal im Jahr wurde hier jemand begraben. Der Tod schien nicht zu Hause zu sein auf diesem öden Boden, wohin die Teuse jeden Abend kam, um ihre Schürze mit Gras für Désirées Kaninchen zu füllen. Eine riesige Zypresse, die an die Tür gepflanzt worden war, ließ allein ihren Schatten über die menschenleere Flur wandern. Diese Zypresse, die man drei Meilen in der Runde sah, war in der ganzen Gegend unter dem Namen „die Einsiedlerin“ bekannt.

 

„Das ist alles voller Eidechsen“, sagte Vincent, der die rissige Mauer der Kirche betrachtete. „Da würde man einen mächtigen Spaß haben . . .“ Doch mit einem Satz war er draußen, als er sah, wie Bruder Archangias mit dem Fuß ausholte.

Der Bruder machte den Pfarrer auf den schlechten Zustand der Gittertür aufmerksam. Sie war ganz vom Rost zernagt, eine Türangel ausgerissen, das Schloß zerbrochen.

„Man müßte das ausbessern“, sagte er.

Abbé Mouret lächelte, ohne zu antworten. Und sich an Vincent wendend, der sich mit dem Hund herumbalgte, fragte er:

„Hör mal, Kleiner, weißt du, wo Vater Bambousse heute früh arbeitet?“

Der Junge warf einen Blick auf den Horizont.

„Er muß auf seinem Feld Les Olivettes sein“, antwortete er und zeigte nach links. „Außerdem kann Voriau Sie führen, Herr Pfarrer. Der weiß sicher, wo sein Herr ist.“ Dann klatschte er in die Hände und rief: „He! Voriau! He!“

Der große schwarze Hund zögerte einen Augenblick, wedelte mit dem Schwanz und suchte in den Augen des Jungen zu lesen. Dann lief er mit Freudengebell zum Dorf hinab. Abbé Mouret und Bruder Archangias folgten ihm plaudernd. Hundert Schritte weiter verließ Vincent sie heimlich, ging wieder zur Kirche hinauf und behielt die beiden dabei im Auge, bereit, sich hinter einen Busch zu werfen, falls sie den Kopf wandten. Mit der Geschmeidigkeit einer Natter schlich er sich wieder auf den Friedhof, dieses Paradies, wo es Nester, Eidechsen und Blumen gab.

Indessen sagte Bruder Archangias, während Voriau auf der staubigen Landstraße vor ihnen her lief, mit seiner ärgerlichen Stimme zu dem Priester:

„Hören Sie mir bloß auf, Herr Pfarrer! Brut von Verdammten, diese Kröten da! Man sollte ihnen die Rippen zerbrechen, um sie Gott wohlgefällig zu machen. Sie wachsen im Unglauben auf wie ihre Väter. Seit fünfzehn Jahren bin ich nun schon hier, und ich habe aus keinem einzigen von ihnen einen Christen machen können. Sobald ich sie nicht mehr unter der Fuchtel habe, ist es aus! Dann denken sie bloß noch an ihre Erde, ihre Weinberge, ihre Olivenbäume. Keiner, der den Fuß in die Kirche setzt. Viehzeug, das sich mit den steinigen Feldern herumschlägt! – Mit Stockschlägen muß man denen beikommen, Herr Pfarrer, mit Stockschlägen!“ Dann fügte er, wieder Atem schöpfend, mit einer schrecklichen Gebärde hinzu: „Sehen Sie, mit diesen Artauds ist es wie mit den Brombeersträuchern, die hier die Felsen zerfressen. Ein Wurzelstock hat genügt, um das Land zu vergiften. So was klammert sich an, so was vermehrt sich, so was lebt trotz allem. Das Feuer des Himmels wird dareinfahren müssen wie in Gomorrha, um das auszubrennen.“ „Man darf niemals an den Sündern verzweifeln“, sagte Abbé Mouret, der in seinem inneren Frieden mit gemächlichen Schritten dahinging.

,,Nein, die da sind des Teufels“, begann der Bruder noch heftiger. „Ich bin Bauer gewesen wie sie. Bis zu meinem achtzehnten Jahr habe ich die Erde gehackt. Und später in der Anstalt habe ich gefegt, Gemüse geputzt, die gröbsten Arbeiten verrichtet. Ihre harte Arbeit mache ich ihnen nicht zum Vorwurf. Im Gegenteil, Gott sind jene lieber, die in der Niedrigkeit leben . . . Aber die Artauds führen sich auf wie Tiere, sehen Sie! Sie sind wie ihre Hunde, die nicht zur Messe gehen, die sich über Gottes Gebote und über die Kirche lustig machen. Sie würden ihre Äcker ficken, so sehr lieben sie sie!“

Voriau blieb mit hocherhobenem Schwanz stehen und nahm seinen Trott wieder auf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die beiden Männer ihm noch immer folgten.

„Es gibt tatsächlich beklagenswerte Mißstände“, sagte Abbé Mouret. „Mein Vorgänger, Abbé Caffin . . .“

„Ein armer Mann“, unterbrach der Bruder. „Er ist aus der Normandie zu uns gekommen, nach einer schlimmen Geschichte. Hier hat er nur ans gute Leben gedacht; er hat alles drunter und drüber gehen lassen.“

„Nein, Abbé Caffin hat gewiß getan, was er konnte; aber man muß zugeben, daß seine Bemühungen nahezu fruchtlos geblieben sind. Meine Bemühungen selber bleiben meist ohne Ergebnis.“

Bruder Archangias zuckte die Achseln. Er schritt einen Augenblick schweigend dahin, seinen großen mageren, wie mit der Axt zugehauenen Körper in den Hüften verrenkend. Die Sonne schlug ihm in den Nacken, auf das gegerbte Leder, und ließ sein hartes Bauerngesicht, das scharf war wie eine Säbelklinge, im Schatten.

„Hören Sie, Herr Pfarrer“, begann er schließlich wieder. „Ich bin zu gering, um Ihnen Vorhaltungen zu machen; allein, ich bin fast doppelt so alt wie Sie, ich kenne die Gegend, was mir das Recht gibt, Ihnen zu sagen, daß Sie mit Milde nichts erreichen werden . . . Verstehen Sie, der Katechismus genügt. Gott hat kein Erbarmen für die Gottlosen. Er verbrennt sie. Halten Sie sich daran.“ Und da Abbé Mouret den Kopf gesenkt hielt und den Mund nicht auftat, fuhr er fort: „Die Religion geht vom Lande fort, weil man eine zu gutmütige Frau aus ihr macht. Sie ist geachtet worden, solange sie als gnadenlose Gebieterin gesprochen hat . . . Ich weiß nicht, was man Ihnen in den Priesterseminaren beibringt. Die neuen Pfarrer weinen wie die Kinder mit ihren Pfarrkindern. Gott scheint ganz verändert zu sein . . . Ich möchte schwören, Herr Pfarrer, daß Sie nicht einmal mehr Ihren Katechismus auswendig können?“

Verletzt durch diesen Willen, der sich ihm so roh aufzudrängen suchte, hob der Priester den Kopf und sagte mit einiger Schroffheit:

„Es ist gut, Ihr Eifer ist lobenswert . . . Aber haben Sie mir nichts zu sagen? Sie sind heute morgen ins Pfarrhaus gekommen, nicht wahr?“

Bruder Archangias erwiderte grob:

„Ich hatte Ihnen zu sagen, was ich Ihnen gesagt habe . . . Die Artauds leben wie ihre Schweine. Ich habe noch dazu gestern erfahren, daß Rosalie, die Älteste von Vater Bambousse, schwanger ist. Alle warten sie das ab, bevor sie heiraten. Seit fünfzehn Jahren habe ich nicht eine gekannt, die nicht in die Kornfelder gegangen wäre, bevor sie zum Traualtar ging . . . Und sie behaupten noch lachend, das sei hierzulande so Sitte.“

„Ja“, murmelte Abbé Mouret. „das ist ein großes Ärgernis . . . Ich suche gerade Vater Bambousse, um mit ihm über diese Angelegenheit zu sprechen. Es wäre jetzt wünschenswert, daß die Heirat so bald wie möglich stattfindet . . . Der Vater des Kindes scheint es, ist Fortuné, der älteste Sohn von Brichets. Unglücklicherweise sind die Brichets arm.“

„Diese Rosalie!“ fuhr der Bruder fort. „Sie ist gerade achtzehn Jahre alt. So was wird schon auf der Schulbank verdorben. Es ist keine vier Jahre her, da hatte ich sie noch. Sie hatte schon damals Schweinereien im Kopf . . . Jetzt habe ich ihre Schwester Catherine, eine Göre von elf Jahren, die verspricht noch schamloser als ihre ältere Schwester zu werden. Die findet man in allen Löchern mit diesem Nichtsnutz Vincent . . . Gehen Sie mir doch, man kann sie noch so sehr an den Ohren ziehen, das Weib bricht doch immer in ihnen durch. Sie haben die Verdammnis in ihren Röcken. Geschöpfe, gut genug, auf den Mist geworfen zu werden mit ihren Schweinereien, die alles vergiften! Da wäre man eine schöne Last los, wenn man alle Mädchen bei ihrer Geburt erdrosselte.“

Der Abscheu, der Haß gegen das Weib ließen ihn wie einen Fuhrknecht fluchen. Nachdem Abbé Mouret ihm mit ruhigem Gesicht zugehört hatte, lächelte er schließlich über seine Heftigkeit. Er rief Voriau, der auf ein benachbartes Feld gelaufen war.

„Da, sehen Sie!“ rief Bruder Archangias und zeigte auf eine Gruppe von Kindern, die unten in einer Schlucht spielten. „Da sind ja meine Taugenichtse, die in der Schule fehlen, weil sie angeblich ihren Eltern in den Weinbergen helfen! – Sie können sicher sein, dieses Flittchen, die Catherine, ist mitten darunter. Sie rutscht zum Spaß die Abhänge runter. Sie werden sehen, wie ihr die Röcke über den Kopf fliegen. Da, was habe ich Ihnen gesagt! – Bis heute abend, Herr Pfarrer . . . Na, wartet, wartet, ihr Lumpen!“

Er lief davon, sein schmutziges Beffchen flatterte ihm über die Schulter, seine weite schmierige Soutane riß die Disteln aus. Abbé Mouret sah, wie er mitten in die Kinderschar hineinfuhr, die wie ein Schwarm aufgescheuchter Spatzen davonstob. Doch es war ihm gelungen, Catherine und ein anderes Kind bei den Ohren zu packen. Er brachte sie zum Dorf zurück und hielt sie dabei mit seinen dicken behaarten Fingern fest und überschüttete sie mit Schimpfworten.