Die Tage von Gezi - Martin Niessen - E-Book

Die Tage von Gezi E-Book

Martin Niessen

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Beschreibung

Der Streit um einen kleinen Park führt zu einem Aufstand gegen die islamisch-konservative türkische Regierung. Mit Toten, Tausenden Verletzten, Massenverhaftungen. Für die deutsche Architektin Kathrin ist Istanbul zur zweiten Heimat geworden. In der Revolte, die Ende Mai 2013 beginnt und bald weite Teile des Landes erfasst, gerät ihr Leben aus den Fugen. Marc, Reporter eines britischen Magazins, landet bei den ersten Auseinandersetzungen im Gezi-Park durch Zufall zwischen den Fronten. Als er dort der jungen Türkin Mine begegnet und Zeuge des brutalen Vorgehens der Polizei wird, verliert er zunehmend seine journalistische Neutralität. Mine trifft an umkämpften Barrikaden auf ihren Mann, einen Polizisten, und muss fortan auch um ihre Ehe kämpfen, die an der tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft zu scheitern droht.

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Martin Niessen

Jahrgang 1968, ist studierter Politologe und Islamwissenschaftler. Als Reporter des ZDF dreht der gebürtige Rheinländer Reportagen in aller Welt. Er berichtet aus Krisen- und Katastrophenregionen wie dem indonesischen Aceh nach dem Tsunami 2004 oder dem durch das Erdbeben 2010 zerstörten Haiti. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima war Martin Niessen 14 Monate als Korrespondent des ZDF in Japan. Seine Erinnerungen sind als eBook erschienen: »Der kleine Japaner – Im Land der aufgehenden Sonne und abrauchenden Atomkraftwerke«. Martin Niessen ist verheiratet und lebt in Hamburg und Istanbul.

MARTIN NIESSEN

DIE TAGE VON GEZI

EIN ROMAN

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Martin Niessen

Umschlagfoto © Martin Niessen

Umschlaggestaltung unimak, Hamburg

Autorenfoto © Philipp Rathmer

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

In Erinnerung an

Ahmet Atakan

Mehmet Ayvalitaş

Abdullah Cömert

Berkin Elvan

Ali İsmail Korkmaz

Mustafa Sarı

Ethem Sarısülük

Medeni Yıldırım

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Vorwort

28. Mai

29.–30. Mai

31. Mai

01. Juni

02.–04. Juni

08. Juni

11.–12. Juni

15.–16. Juni

22. Juni

Glossar

Danksagung

Der Autor im Internet

Vorwort

Es war reiner Zufall, dass ich Zeuge wurde. Zeuge einer kleine Revolte, die sich an dem Abriss eines Parks entzündete, der einem Einkaufszentrum weichen sollte und sich zu einer Bewegung auswuchs, die weite Teile eines Landes erfasste, das ich seit mehr als zwanzig Jahren kannte und das mir sehr ans Herz gewachsen war. Ich wurde letztendlich Zeuge des Erwachens einer türkischen Zivilgesellschaft und einer Lehrstunde für das, was Demokratie ist und was nicht.

Wie Marc, eine der Hauptfiguren im vorliegenden Roman, war ich am 28. Mai durch Zufall im Istanbuler Gezi-Park, als es dort zu den ersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kam. In den folgenden Tagen und Wochen erlebte ich, wie sich Menschen mit viel Kreativität, Entschlossenheit und Mut einer zunehmend autoritärer und brutaler handelnden Regierung widersetzten, deren Argumente Wasserwerfer, Tränengas und Polizeiknüppel waren. Es ging nicht mehr um das Abholzen von ein paar Bäumen, sondern – um dieses große Wort zu bemühen – um Freiheit. Zumindest um die Freiheit, über den eigenen Lebensstil zu entscheiden. »Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie viele Kinder ich zu bekommen habe, und mich nicht als Trinkerin beschimpfen lassen, weil ich abends ein Glas Rotwein trinke«, sagte mir eine Frau Mitte vierzig, die im schwarzen Businesskostüm mit Freundinnen im Gezi-Park saß und der angedrohten Räumung trotzte. »Es schmeckt nach Freiheit«, riefen Demonstranten, während ich im Tränengasnebel nur noch nach Luft schnappte.

Für eine kurze Zeit existierte mit der Kommune von Gezi in der tief gespaltenen türkischen Gesellschaft eine Utopie, in der es egal war, ob man Türke oder Kurde, Kemalist oder Kommunist, hetero oder homosexuell war, als Frau ein Kopftuch trug oder nicht. Die türkische Regierung ließ den Park mit brutaler Gewalt räumen. Aber der Geist, der dort entstand, ist aus der Flasche.

»Die Tage von Gezi« ist ein Roman, der sich vor dem realen Hintergrund der Ereignisse in Istanbul zwischen Ende Mai und Ende Juni 2013 abspielt. Die Hauptakteure in diesem Roman sind frei erfunden, ebenso ihre Handlungen, wenn auch auf persönlichen Erfahrungen oder denen von Freunden und Bekannten basierend. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan ist natürlich nicht erfunden, ebenso wenig diverse andere Mitglieder der Regierungspartei AKP und weitere Personen der Zeitgeschichte, die hier namentlich genannt werden. Und selbstverständlich finden auch Pinguine, Kochtöpfe, die »Frau in Rot«, der »Stehende Mann« und viele andere, die zu Symbolen der Widerstandsbewegung wurden, ihren Platz in diesem Buch. Genauso wie ihre Sprechchöre, Graffitibotschaften und Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Ich habe die Romanform gewählt, weil es für mich nach meinen persönlichen Erlebnissen in diesen fünf Wochen keine zwei Meinungen gab. Und ich diese eine, meine, Meinung nicht den journalistischen Prinzipien der Neutralität und Objektivität opfern wollte. Die Geschichte möge mir verzeihen.

Martin Niessen, im Mai 2014

»Demokratie ist für uns eine Straßenbahn, aus der wir aussteigen, wenn wir unser Ziel erreicht haben.« [Recep Tayyip Erdoğan]

»Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!« [Motto der Protestbewegung]

Die Tage von Gezi

28. Mai

Mine

»Wegen der paar Bäume?«

Vedat schaute auf Mine herab, die auf dem Fußboden saß und das kleine Zweimannzelt, ihren Schlafsack und eine Regenjacke in ihren Rucksack packte.

»Außerdem ist der Park total hässlich, da liegen nur Müll und Penner herum!«

Er schien irgendwie sauer zu sein. Aber sie war es auch. Gerade hatte sie ihm erzählt, dass sie im Istanbuler Gezi-Park mit einigen Freunden gegen das Abholzen von Bäumen protestieren wolle. Der Park im Zentrum der Stadt sollte dem Nachbau einer Osmanischen Kaserne mit Ladengeschäften weichen. Studenten ihrer Uni hatten eine Demo gegen die Pläne der Stadtverwaltung organisiert. An der wollte sie teilnehmen. Vedats Desinteresse in dieser Sache machte sie wütend.

»Warum willst du das nicht verstehen? Es geht nicht darum, ob der Park schön oder hässlich ist. Es geht darum, dass er eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu ist. Und Einkaufszentren haben wir wahrlich genug. Ganz im Gegensatz zu Bäumen!«

Ihre großen braunen, fast schwarzen Augen unter der wilden Mähne dunkler Locken blitzten, als sie kurz zu ihm hochschaute und dann weiter Campingausrüstung und ein paar frische Klamotten in den Rucksack stopfte. Klar, Vedat hatte es wahrlich nicht immer leicht mit ihr. Wenn Mine sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es gegen jeden Widerstand durch. Sie wusste, dass sie aufbrausend und ihm gegenüber manchmal auch ungerecht sein konnte, dass mit ihr, wenn sie sauer war, nicht gut Kirschen essen war. Aber so war sie nun mal. Meist zuckte Vedat irgendwann mit den Schultern und gab klein bei. Auch dieses Mal schlug er nach ihrem Ausbruch einen versöhnlichen Ton an.

»Musst du da denn gleich übernachten? Es reicht doch, wenn du tagsüber demonstrierst und abends zurückkommst. Ich mache mir einfach Sorgen. Der Park ist, wenn es dunkel ist, nicht sicher.«

Sie schaute wieder hoch. So leicht wollte sie es ihm nicht machen, dafür war ihr die Sache zu wichtig.

»Ich bin ja nicht allein da. Außerdem kannst du ja nach Dienstschluss nachkommen. Ein bisschen mehr Engagement für die Natur würde dir auch nicht schlecht zu Gesicht stehen!«

Um Vedats Lippen spielte trotz der harschen Worte ein Lächeln.

»Ist ja gut, du kleine Kratzbürste.«

Auch sie musste nun lachen. Genau deswegen hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war ein sehr humorvoller, zurückhaltender Mann, der ihr von Anfang an äußerst respektvoll begegnet war und bis heute ziemlich klaglos ihre Ecken und Kanten akzeptierte. Vedat war keiner dieser Machos, die sich erst verständnisvoll gaben und beim dritten Date schon den Herrn im Haus rauskehrten. Seit elf Monaten waren sie verheiratet, eine echte Liebesheirat, keine von den Familien ausgehandelte, wie es vielfach noch immer der Fall war in der Türkei. Ein knappes Jahr vorher hatten sie sich kennengelernt, über drei Ecken, über Freunde von Freunden, in einem der Musik-Clubs, die die Seitengassen der Istiklal Straße im Herzen Istanbuls zwischen Taksim-Platz und Galataturm zum Treffpunkt der Jugend der Stadt und der Welt machten. Sie hätten sonst nie zusammengefunden, so unterschiedlich, wie sie waren, genauer gesagt: ihre Herkunft war.

Sie, die Jura-Studentin aus bürgerlichem Haus, geboren und aufgewachsen im Nobelviertel Nişantaşı mit seinen internationalen Modeboutiquen und exklusiven Cafés, nicht weit vom Taksim-Platz entfernt. Die Eltern Professoren an verschiedenen Istanbuler Universitäten, der Name des Vaters, der als einer der angesehensten Radiologen im Land galt, schmückte zudem eine teure Privatklinik. Sie hatten mit Religion nicht viel am Hut, ein Wochenendhaus auf den vorgelagerten Prinzen-Inseln, wo man dem Smog und der Hektik der Stadt entkommen konnte, und ein Ferienhaus bei Bodrum an der Mittelmeerküste. In Mines Elternhaus traf sich Istanbuls Bürgertum – Ärzte, Architekten, Juristen, Künstler – zu ausgedehnten Abendessen, bei denen Rotwein und Rakı flossen, der anishaltige Schnaps, mit Wasser und Eis getrunken, worauf er sich milchig verfärbte und deswegen »Löwenmilch« genannt wurde. Mine hatte schon in jungen Jahren mit am Tisch gesessen, wenn in illustrer Runde über Gott, die Welt und große Politik diskutiert wurde.

Und er, der hochgewachsene und gut aussehende Polizistensohn aus Kasımpaşa, ausgesprochen höflich, die Sprache geschliffen und ohne den in Istanbuls Arbeitervierteln verbreiteten harten Einschlag des Ostens, der noch mit seinen Eltern, zwei Schwestern und der Großmutter väterlicherseits zusammen in einer Vierzimmerwohnung in jenem einst heruntergekommenen Stadtteil am Goldenen Horn wohnte, der erst in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren hatte, weil der derzeitige türkische Premierminister Erdoğan dort aufgewachsen und plötzlich Geld für die Restaurierung alter Häuser und für gläserne Neubauten vorhanden war. Seitdem hatte der Fußballclub von Kasımpaşa ein schickes neues Stadion und 2012 sogar den Aufstieg in die Süper Lig, die höchste Spielklasse, geschafft. Trotzdem war Kasımpaşa traditionell geblieben, um nicht zu sagen: konservativ. Die meisten Frauen trugen Kopftuch, die Männer ließen unaufhörlich die Holzkugeln der Tesbih, der Gebetskette, durch ihre Finger gleiten, Töchter heirateten früh und Söhne traten in die Fußstapfen ihrer Väter. Und so war auch Vedat der Familientradition gefolgt und Polizist geworden.

Mine wusste, dass ihre Eltern nicht sonderlich glücklich über die Wahl ihrer einzigen Tochter, aber gleichzeitig zu liberal eingestellt waren, als dass sie wirklich versucht hätten, ihr die Beziehung zu Vedat auszureden oder gar zu verbieten. Sie äußerten allerdings – und nicht nur einmal – die Befürchtung, dass es nicht gut gehen würde mit einer Professorentochter und einem Polizistensohn, zu verschieden seien die Lebensumstände und -vorstellungen. Allerdings wussten sie auch nicht von entsprechenden Negativ-Beispielen im Verwandten- oder Bekanntenkreis zu berichten, denn solche Verbindungen waren in der Türkei auch zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend rar. Auf dem Land und in religiösen Familien heirateten noch immer – und gar nicht selten – Cousins Cousinen und bei den säkularen städtischen Eliten blieb man gerne unter sich. Standesdünkel aber hätte Mine ohnehin nicht akzeptiert, von Eltern, die am Tisch mit ihren Freunden rotweinselig von Gleichheit und Brüderlichkeit fabulierten, von Religions- und Meinungsfreiheit als unveräußerlichen Menschenrechten. Eltern, die die Spaltung der türkischen Gesellschaft in einen religiösen und einen kemalistisch-laizistischen Teil als Damoklesschwert über dem Land betrachteten, um sich im nächsten Satz Sorgen um die ungleichen Geburtenraten und den Kurs der AKP-Regierung zu machen. Mine aber hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt, außerdem war sie bereits volljährig, als sie Vedat kennenlernte. Und so musste sie auch nicht mit Auszug drohen oder damit, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen, um letztendlich deren Segen für ihre Hochzeit mit Vedat zu erhalten.

Marc

»Simisimitsimiiiiiiiiit!«

Marc zuckte zusammen, als er einen mobilen Verkaufsstand für Sesamkringel passierte und der Verkäufer unvermittelt und aus vollem Hals begann, seine Ware anzupreisen. Dann lächelte er über seine Schreckhaftigkeit. Er war zum ersten Mal in dieser Stadt, seit fünf Tagen, was offensichtlich nicht ausreichte, um sich auf diese Megacity einzustellen. Er hatte schon viel früher kommen wollen, in die weltweit einzige Metropole auf zwei Kontinenten, vom Bosporus in einen asiatischen und einen europäischen Teil gespalten, mit ihrer wechselvollen Geschichte, die mal von christlichen, dann von islamischen Herrschern geprägt, aber noch viel älter war und mit einer ganz eigenen Atmosphäre, irgendwo zwischen Orient und Okzident, zwischen Antike und Moderne, vermittelte. Aber irgendetwas war ihm immer dazwischengekommen. Nun aber hatte er es endlich geschafft und sich diese eine Woche Urlaub auch wirklich verdient.

Die letzten zweieinhalb Jahre waren extrem aufreibend gewesen. Er war Reporter bei einem großen britischen Nachrichtenmagazin, sein Aufgabengebiet: die Krisenherde der Welt. Arabischer Frühling, Tunesien, Ägypten, Libyen, die Atomkatastrophe von Fukushima, das nie enden wollende Drama um Afghanistan, Indien und Gewalt gegen Frauen – das alles und noch einiges mehr waren seine Themen gewesen. Normalerweise zog er sich nach solchen Einsätzen komplett zurück, mietete sich eine Hütte am Strand einer kleinen thailändischen Insel oder im Hochland von Bali, lag den ganzen Tag in seiner Hängematte, die er immer mit dabeihatte, hörte Musik oder las. Kein Internet, keine E-Mails, keine Telefonate, keine Zeitung – für zwei oder drei Wochen war seine Welt dann sehr klein und sehr friedlich. Warum er diesmal nach der Rückkehr aus Afghanistan eine Ausnahme gemacht und sich für eine Reise in die Turbulenz einer der größten Städte der Erde entschieden hatte, konnte er schon nicht mehr genau sagen. Da waren natürlich jene Freunde in London, die so begeistert von Istanbul erzählt und die zahllosen Publikationen in Reisemagazinen und Fernsehreportagen, die die Stadt für sich entdeckt hatten, sie in Hochglanz als »Boomtown am Bosporus« feierten. Oder war es doch sein Riecher gewesen? Der ihn so häufig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein ließ? Der ihm in seiner Redaktion den Ruf des Trüffelschweins für gute Geschichten eingebracht hatte?

Die ersten vier Tage brauchte er, um sich an Geschwindigkeit und Lautstärke des Lebens in dem 15- oder 20-Millionen-Moloch – wer wusste das schon genau? – zu gewöhnen: das ständige Hupen der Autos, die auf zweispurigen Straßen zu viert nebeneinander fuhren, meist nur im Schritttempo vorwärtskamen und von ganz links nach rechts abzubiegen suchten; die zwischen ihnen hin und her sausenden Mopeds der Kuriere, die Pakete oder Essen auslieferten; das wütende Klingeln der im Stau steckenden Tram, deren Gleise in den Hauptverkehrszeiten von dicken Limousinen als Straße genutzt wurden, weil deren wohlhabende Fahrer hofften, so schneller ans Ziel zu kommen, und die fälligen Bußgelder aus der Portokasse zahlten; das tiefe Tuten der großen Containerschiffe auf dem Bosporus und dem Marmarameer und das etwas hellere der Fährschiffe, die mit dröhnenden Dieselmotoren, dichte Wolken schwarzen Rauchs ausstoßend, an den zahllosen Anlegestellen ankamen oder gerade ablegten, um den Bosporus oder das Goldene Horn zu queren; die Rufe der Los-, Maiskolben-, Röstkastanien- und Simitverkäufer und überhaupt das Gewirr von Stimmen von Millionen Menschen, die in dieser Stadt immer und überall unterwegs waren. Selbst die Flucht in Sehenswürdigkeiten wie die unterirdische römische Zisterne mit ihren Medusenköpfen, Hagia Sophia oder Blaue Moschee hatten ihm keine Ruhe beschert. Es war Hauptreisezeit und die Stadt voll mit Touristen, die zusammen mit türkischen Schulklassen die zahllosen Sehenswürdigkeiten Istanbuls mit lauter, vielsprachiger Fröhlichkeit überschwemmten. In Karaköy lagen in diesen Tagen immer mindestens zwei oder drei riesige Kreuzfahrtschiffe, morgens Tausende Passagiere ausspuckend, die in Bussen durch die Stadt jagten, um in den wenigen Stunden ihres Aufenthaltes möglichst viel Geschichte und Kultur zu inhalieren oder Nippes zu konsumieren.

Trotzdem gefiel es Marc hier. Er streifte vom Morgen bis zum Abend, das ein oder andere Mal auch bis tief in die Nacht, durch die Stadt, sog sie auf – als Mensch, ganz privat, nicht als Journalist –, ließ sich von ihr ablenken. Er genoss die vollständige Abstinenz ihm bekannter Regeln im Miteinander und Untereinander dieser unglaublichen Massen an Menschen und Fahrzeugen, die aber durch ihm unbekannte ersetzt worden sein mussten, denn irgendwie funktionierte es ja, und erstaunlich gut dazu. Er hatte gelernt, Verkehrszeichen zu ignorieren und dennoch Straßen zu queren, ohne überfahren zu werden, indem er Blickkontakt zu den Fahrern suchte. Seine Ohren und sein Gehirn konnten die Geräuschkulisse auf ein erträgliches Maß herunterfiltern und blieben doch wachsam für Besonderes und Wichtiges. Seine Augen vermochten zu fokussieren, sodass sein Blick nicht mehr haltlos durch die ständig in Bewegung befindliche Umgebung irrte. Seine Nase hatte sich an die tausend verschiedenen Gerüche gewöhnt, die den Gewürzständen und Garküchen entwichen, die es in einer Masse gab, als habe jeder Bewohner dieser Riesenstadt einen eigenen.

Überhaupt, das Essen, die Meze zum Beispiel, Vorspeisen. Auf Dutzenden kleinen Tellern serviert, die auf großen Tabletts von Kellnern an den Tisch gebracht wurden, auf dass man sich kaum entscheiden konnte zwischen Auberginenmus, marinierten Sardellen, Oktopussalat, scharfen roten Paprika mit Schafskäse gefüllt, eingelegten Artischockenböden, Kichererbsenbrei, Joghurt mit Dill oder Gurke, dicken Bohnen, grünen Bohnen in Tomatensoße, Algensalat mit Knoblauch, grünen und schwarzen Oliven – die grünen mit Walnüssen oder Mandeln gestopft, die schwarzen mit Stein oder zu einer Art Pesto püriert –, in Olivenöl gebratenem Gemüse, gegrilltem Hellim-Käse, Tränen in die Augen treibendem Salat aus kleingeschnittenen Tomaten mit frischen Kräutern und Massen an Chili, Melone mit Schafskäse oder mit Dutzenden Gewürzen, darunter Nelken und Zimt, marinierten Fischfilets. Manche Restaurants boten vierzig, fünfzig oder noch mehr Vorspeisen an, von den warmen wie mit Spinat und Schafskäse gefüllten Blätterteigtaschen, Tintenfischringen, überbackenen Champignons, frittierten Sardinen oder kleinen, sehr scharfen Frikadellen noch gar nicht redend. Meist war Marc schon satt, bevor er sich gegrillte Scholle, Dorade, Seebarsch, einen Fleischspieß oder mit Tomaten und Joghurt in eine Auflaufform geschichtetes Kebab bestellen konnte. Und dann erst die Süßspeisen: die verschiedenen Arten von Baklava, Künefe, Kadayıf, Kazandibi mit Eis, Sütlaç. Oder das frische Obst, das meist ungefragt und oft kostenlos als Abschluss einer türkischen Mahlzeit auf den Tisch gestellt wurde. Für den Preis eines derart opulenten Abendessens würde er in London fettige Fish and Chips in Zeitungspapier eingewickelt zum Mitnehmen bekommen. Es war in dieser Stadt ein Leichtes, sich schon allein kulinarisch überwältigen zu lassen.

Obwohl das Leben im Vergleich zu London günstig war, warf er mit seinem Geld nicht um sich, wollte keiner dieser Touristen sein, die glaubten, dass ihnen für zwei Wochen eine fremde Welt gehörte, in der sie sich alles leisten konnten, die gönnerhaft mit Scheinen herumwedelten und die lokalen Preise ruinierten. Er wusste mittlerweile, was ein Simit und eine kleine Plastikflasche Wasser kosteten, die er auf seinen Streifzügen als Marschproviant mit sich führte, und ließ sich nicht mehr übers Ohr hauen. Er handelte zwei Stunden lang, als er im Großen Bazar ein Backgammon-Brett mit sehr schönen Intarsienarbeiten aus Perlmutt kaufte. Am Ende konnte er den Kaufpreis um zwei Drittel des von dem Englisch sprechenden Händler genannten Startpreises reduzieren, war sich aber immer noch unsicher, ob nicht auch das noch zu viel gewesen war. Und er hatte wichtige Worte gelernt, um nervige Straßenhändler, die gefälschte Markensocken oder Polohemden überteuert anboten, abzuwimmeln: »Yok, sağ ol, abi!«, nein danke, Bruder. Es kam ihm schon fast akzentfrei über die Lippen. Jetzt, wo er einigermaßen klarkam, beschloss er, seinen Urlaub zu verlängern. Er war, obwohl gerade erst vierzig geworden, bereits viel herumgekommen, kannte Tokio, Peking, Shanghai, Singapur, Bangkok, Dhaka, Neu Delhi, Teheran, New York, Mexico City, Rio de Janeiro – alle diese Mega-Städte hatten ihre besonderen Reize. Aber Istanbul war auf eine faszinierende Art und Weise speziell. Überhaupt nicht erholsam natürlich, nicht das, was er eigentlich brauchte, im Gegenteil. Dennoch hatten ihn die Stadt und die Menschen irgendwie gepackt, er konnte es nicht erklären. Er wollte länger bleiben, so viel war ihm am Abend vorher, als er mit einer Wasserpfeife in einem Teehaus am Galataturm saß und dem Treiben in den Gassen zuschaute, klar geworden. Die Einwilligung seines Redaktionsleiters hatte er am Morgen vom Hotel aus telefonisch eingeholt und ihm die Idee, statt einer zweieinhalb Wochen zu bleiben, mit dem Satz »Gib mir zehn Tage mehr, ich schreibe auch einen Artikel über Istanbul« schmackhaft gemacht. Nun war er auf dem Weg von Galata, dem bunten, bei Touristen beliebten Viertel rund um den gleichnamigen Turm, in dem sein Hotel lag, über die Istiklal Straße zum Taksim-Platz, um im Stadtbüro von Turkish Airlines seinen Flug umzubuchen.

Mine

»Mal schauen. Aber ich glaube, ich bleibe. Die kommen sonst einfach in der Nacht und holzen die Bäume ab.«

Mine hatte fertig gepackt, zuletzt noch die Isomatte an der Seite ihres Rucksacks verschnürt, sich erhoben, ihre Arme um Vedats Nacken gelegt und ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt. Sie hatte seine Einwände nur zur Kenntnis genommen, ihren Plan aber nicht wirklich überdacht. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde, wenn es sich als notwendig erwies, im Park übernachten.

Mine war eigentlich kein sonderlich politischer Mensch. Sie las zwar Zeitungen, hatte einige Online-Nachrichtenportale abonniert und schaute abends, wenn sie Zeit hatte, auch mal die Hauptnachrichten im Fernsehen, hatte bei den letzten Wahlen aber noch nicht einmal ihre Stimme abgegeben. Warum auch? Seit sie zehn Jahre alt war, hatte Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz AKP, alle Wahlen gewonnen. Mine kannte quasi keinen anderen Premier als Erdoğan. Und dass er die letzten Wahlen – die ersten, bei der sie selbst hätte wählen dürfen – wieder gewinnen würde, daran hatte kein Zweifel bestanden. Also war sie nicht hingegangen, denn die Oppositionsparteien waren aus ihrer Sicht auch keine Alternative. Entweder waren sie, wie die Kemalisten der CHP, für den jahrzehntelangen Stillstand des Landes verantwortlich, oder, wie die nationalistische MHP, diverse sozialistische und kommunistische Splitterparteien und Kurdenverbände für die liberal erzogene Professorentochter zu radikal. Ihre Eltern hatten sich am Tag nach der Wahl besorgt gezeigt, dass die AKP, diesmal mit gut fünfzig Prozent der Stimmen, erneut die absolute Mehrheit errang und weiter allein regierte. In der Folge beklagten sie bei jeder sich bietender Gelegenheit eine schleichende Islamisierung des Landes und – meinten damit auch ihre Tochter – das mangelnde politische Engagement der Jugend. Mine empfand das als Jammern auf hohem Niveau, schließlich hatten es sich ihre Eltern in ihrer Bildungsbürgerlichkeit mit allem Komfort bequem gemacht und taten auch nicht mehr, als alle vier Jahre ein Kreuz bei der CHP zu machen. Außerdem dachte sie persönlich weniger schwarzmalerisch. Gut, die Restriktionen bezüglich des Konsums von Alkohol und die ständigen Appelle an ihre Gebärfreudigkeit – drei, besser fünf Kinder sollte eine türkische Frau nach Meinung Erdoğans zur Welt bringen – gingen auch ihr auf die Nerven. Aber hatte der nun dreimalige Premierminister nicht auch etwas bewegt im Land? In Sachen Infrastruktur etwa. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer wild fluchenden Mutter stundenlang mit dem Auto im Stau gesessen hatte, auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Arzt, so chronisch verstopft waren die Straßen gewesen. Nun fuhr sie mit der Metro eine Station von der Haltestelle Osmanbey zum Taksim-Platz und ging den restlichen Weg zu ihrer Uni, der privaten, international ausgerichteten Bilgi Universität, im Stadtteil Kurtuluş in ein paar Minuten zu Fuß. Gut, die Straßen waren zur Hauptverkehrszeit noch immer fast genauso verstopft wie früher – es gab zwar bessere Straßen, aber auch mehr Autos – und die Wagen der Metro immer voll. Aber es war doch vieles einfacher und – wie sie fand – besser geworden, und das, obwohl sich die Bevölkerung Istanbuls seit ihrer Geburt auf den heutigen Stand von vermutlich zwanzig Millionen – so genau wusste das niemand – verdoppelt hatte.

Der Schnee ihrer Kindheit war schwarz gewesen, weil es keine Zentralheizungen gab, sondern Kamine und Ölöfen, in denen in der Not auch mal alte Autoreifen verheizt wurden und uralte, klapprige Sammeltaxen und Busse ungefilterte Dieselabgase aushusteten. Nun gab es Gasheizungen und moderne Omnibusse, die Taxen fuhren mit Gasmotoren und die meisten Autos hatten Katalysatoren und Rußpartikelfilter, und so konnte sie vom Wochenendhaus der Familie auf Büyükada, der »großen Insel« im Marmarameer, sogar die Skyline der Stadt sehen, die noch vor wenigen Jahren hinter einem gelben Streifen Smog, der wie ein Vorhang ständig zwischen Himmel und Meer hing, verborgen gewesen war. Sie fand, dass Istanbul moderner und schicker geworden war. Mit seinen Einkaufsarkaden und Hochhäusern aus Glas war es ein bisschen wie London, wo sie nach dem Abitur drei Monate an einer Sprachschule verbracht hatte, weil ihre Eltern der Meinung waren, dass ihr Englisch besser sein könnte. Auch, dass junge Mädchen, wenn sie wollten, nun in den Universitäten wieder Kopftuch tragen durften, fand sie in Ordnung. Einige ihre Kommilitoninnen und Freundinnen an der juristischen Fakultät der Uni trugen Kopftücher. Solange sie es nicht müsste! Und weil sie es nicht musste, weil sie tun und lassen konnte, was sie wollte, war es für sie gut, wie es war. Sie war zweiundzwanzig, traf sich am liebsten mit Freunden, ging ins Kino, feierte und tanzte gerne, trank Alkohol. Das ging bislang eben auch unter Erdoğan.

Vedat, zwei Jahre älter als Mine, machte das alles mit. Nur wenn er sie mit zu seinen Eltern nach Hause in Kasımpaşa nahm, bat er sie manchmal, etwas anderes anzuziehen, einen etwas längeren Rock etwa. Sie tat das dann, obwohl sie insgeheim bezweifelte, dass Vedats Vater oder Mutter je an ihrer Kleidung gemäkelt hätten, die so aufreizend ohnehin nie war. Aber sie tat es dennoch gerne, hatte schließlich gewusst, dass sie einen Mann heiratete, der aus anderen Verhältnissen stammte als sie selbst. Und sie akzeptierte, dass seine Eltern eben religiöser waren als ihre, dass der Vater ständig die Holzkugeln der Tesbih durch die Finger gleiten ließ, regelmäßig zum Freitagsgebet ging, im Spind seiner Dienststelle einen Gebetsteppich hatte, um, wenn er nicht gerade auf Streife war, das ein oder andere der täglich fünf Gebete zu verrichten. Das hatte ihr Vedat erzählt. Es störte sie auch nicht, dass im Wohnzimmer über der Couch neben dem obligatorischen Bild von Kemal Atatürk, dem Staatsgründer und »Vater der Türken«, eines von Premierminister Erdoğan hing. Vedats Vater und damit auch Vedat und der Rest der Familie hatten natürlich AKP gewählt, deren Logo, eine Glühbirne, Licht und Aufbruch symbolisieren sollte, den es in Kasımpaşa ja auch tatsächlich gegeben hatte. Das war an jeder Straßenecke zu sehen. Also gab man dem Sohn des Viertels seine Stimme. Es war ihr gutes Recht, Erdoğan zu wählen, fand Mine. Auch wenn sie es eben nicht tat. Gar nicht zur Wahl gegangen war.

Die Sache mit dem Park aber fuchste Mine. Sie mochte Bäume, ihr vor der glühenden Sommersonne schützendes Grün, unter dem sie mit Kommilitonen in vorlesungsfreien Zeiten saß und schwatzte, das Rauschen der Blätter, das sie bei geöffnetem Fenster ihres Schlafzimmers auf Büyükada in den Schlaf wiegte, das leuchtend rot und gelb verfärbte herbstliche Laub. Der Gezi-Park, dem Hotel »The Marmara« – einst bestes Haus am Platz – gegenüber, war im derzeitigen Zustand sicher keine Zierde, da gab sie Vedat insgeheim recht. Er wirkte ungepflegt und vernachlässigt, die Steinplatten der vor Jahrzehnten angelegten Wege waren zersprungen, abgesunken, aufgeworfen, der Springbrunnen lief eigentlich nie und wurde als Mülleimer missbraucht. Aber es gab Bäume. Und Rasenflächen, die im August, September zwar nicht mehr grün, sondern braun waren, aber Mine und ihren Freundinnen und Freunden die Möglichkeit boten, in längeren Pausen zwischen den Vorlesungen nach einem kurzen Spaziergang den stickigen Gängen und Sälen der Uni zu entkommen. Und das sollte nun dem Nachbau einer osmanischen Kaserne weichen, mit einem kleinen Militärmuseum und integriertem Einkaufszentrum. Schnell hatte sich an der Uni eine kleine Gruppe von Studenten und auch einiger Dozenten gebildet, die dagegen waren, viele schon aus Prinzip – weil sie nicht gefragt worden waren. Die Pläne waren der Öffentlichkeit nicht vorgestellt, die Anwohner in der Planungsphase nicht beteiligt worden. Die Stadtverwaltung hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Nicht nur der Gezi-Park, der gesamte Taksim-Platz sollte umgestaltet werden, dafür musste die Verkehrsführung der mehrspurigen, zum Platz führenden Straßen geändert werden. Damit hatten Bautrupps gegen den Protest einer Bürgerinitiative und trotz laufender Gerichtsverfahren schon vor Monaten begonnen. Bagger und Lastwagen wirbelten hinter Absperrungen aus Metall Staub auf, wo der Tarlabaşı Boulevard in die Cumhuriyet Straße überging, die nach Nişantaşı führte, dem Stadtteil, in dem Mine geboren und aufgewachsen war und in dem sie nun mit Vedat eine eigene Dreizimmerwohnung bewohnte, die ihre Eltern ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten. Seit dem Beginn der Arbeiten war das ewige Verkehrschaos in der Stadt noch größer geworden. Aber Mine konnte ja die Metro benutzen.

Vedat schnürte sich im engen Flur gerade die schweren Stiefel und zog die dunkelblaue Uniformjacke über, deren Aufdruck, das wusste Mine, ihn stolz machte. Denn er war kein einfacher Streifenpolizist wie sein Vater, er war Mitglied der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinsatztruppe der Polizei, die zur Abwendung von Gefahren für die öffentliche Ordnung, vor allem bei Versammlungen und Kundgebungen eingesetzt wurde.

»Komm doch einfach dazu, wenn du mit deiner Schicht durch bist. Ruf mich an und ich sage dir, wo wir sind.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund, schulterte ihren Rucksack, zwängte sich an ihm vorbei und hatte die Wohnungstür hinter sich zugezogen, bevor Vedat noch irgendetwas erwidern konnte.

Marc

Na, prima. Marc hatte sich, bevor er losgegangen war, mit seinem Mobiltelefon ins WLAN-Netz des Hotels eingewählt und sich auf der Seite eines Kartendienstes die Lage des Turkish Airlines Büros eingeprägt, einen Screenshot des Kartenausschnitts zu machen aber dummerweise vergessen. Nun stand er am Atatürk-Denkmal mitten auf dem Taksim-Platz, rechts das Hotel »The Marmara«, vor ihm, am anderen Ende des Platzes, das geschlossene und zum Abriss vorgesehene Atatürk Kulturzentrum. Da, wo er eigentlich hin musste, nach links, versperrte ihm ein sicher hundert Meter langer Bauzaun den Weg, den ihm sein smartes Smartphone natürlich nicht angezeigt hatte. Dahinter wirbelten mehrere Bagger und Bulldozer eine ganze Menge Staub auf. Und jetzt? Die Datenroamingfunktion seines Mobiltelefons hatte er abgeschaltet, er war erstens im Urlaub und zweitens die Türkei nicht in der EU, die Preise für Internetverbindungen also horrend. Er erinnerte sich, auf der Karte eine kleine Grünfläche gesehen zu haben, die als »Gezi-Park« verzeichnet war. Vielleicht könnte er ja da durch und so die Baustelle umgehen. Er schaute sich um. Die Absperrung endete an den Stufen, die zum Park hinaufführten, er schien also offen zu sein. Marc schritt die Stufen hoch und blieb irritiert stehen. War der Park doch geschlossen? Den weiteren Weg versperrten ihm Gitter mit der Aufschrift »Polis«, dahinter, um eine kleine Hütte herum, hockten im Schatten der Bäume mehrere Dutzend Polizisten. Dann sah er aber, dass Menschen in ziviler Kleidung durch zwei kleine Durchlässe rechts und links der Absperrungen hindurchgingen. Er passierte die Absperrungen auf der linken Seite und betrat den kleinen Park, dessen betonierte Wege Risse aufwiesen und der insgesamt ungepflegt wirkte. Er musste sich links halten, erinnerte er sich, aber die Ausgänge, an denen er vorbeikam, waren allesamt vergittert. Teile einer Mauer, die den Park offensichtlich mal umgeben hatte, waren eingestürzt und gaben den Blick auf die Großbaustelle frei, die ihm den direkten Weg zum Büro der Fluggesellschaft versperrt hatte. Er ging weiter und vernahm plötzlich so etwas wie Sprechchöre, menschliche Stimmen, die gemeinsam etwas riefen. Vor sich, unter Bäumen, entdeckte er einige Zelte, zwischen die Plakate gespannt waren. »Gezi Parkı bizim!«, stand darauf. Und »Parkımızı vermiyoruz!« Was hat das zu bedeuten?, fragte sich Marc, dessen Türkischkenntnisse sich auf die Worte für »Bitte«, »Danke«, »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen« und »Nein danke, Bruder!« beschränkten. Er ging näher, seine journalistische Neugier trieb ihn. Sie im Urlaub abzulegen gelang ihm leider nicht immer. Eher viel zu selten. Es war ein Kreuz mit seinem Riecher, Trüffelschwein hin, gute Story her. Deswegen zog er sich auch immer an möglichst einsame Orte, im Idealfall ohne Telefon- und Internetverbindung, zurück – nur dass solche Orte immer seltener wurden und Istanbul garantiert nicht dazugehörte.

Ein Gruppe meist junger Menschen skandierte etwas, das er nicht verstand, aber es war offenbar eine kleine Demonstration, die dennoch von öffentlichem Interesse sein musste, denn um die Gruppe herum standen Kamerateams und Fotografen und auch einige Polizisten, die allerdings recht gelangweilt wirkten und die Schlagstöcke locker an den Schlaufen um ihre Handgelenke baumeln ließen. Die Fahrer zweier Bulldozer hockten in den Führerhäuschen, rauchten und schauten auf die Szene herab. Ein älterer Mann, der auf der Seite der Demonstranten stand, redete aufgeregt auf einen Polizisten und mehrere Männer in Anzügen ein.

»Hallo, ich bin Marc aus England. Könnt ihr mir erklären, worum es hier geht?«

Marc fragte ein junges Pärchen, das Hand in Hand am Rand der Demonstration stand.

»Sie wollen die Bäume abholzen und statt des Parks ein Einkaufszentrum bauen. Dagegen protestieren wir.«

Der flaumbärtige Junge und seine zierliche Freundin schauten ihn mit ernsten Augen an.

»Die kommen hier einfach hin und reißen unseren Park ab! Die fragen nie, sondern machen einfach!«

Das Englisch der beiden war ziemlich gut, seines hatte einen amerikanischen Einschlag, ihres war Oxford pur.

»Wir sind Studenten an einer Uni hier in der Nähe und wir haben die Nase voll. Die können nicht einfach machen, was sie wollen. Gestern ist ein Bautrupp gekommen und hat fünf Bäume abgeholzt. Wir haben uns dann vor die Bagger gestellt und sie daran gehindert, noch mehr Bäume auszureißen. Aber jetzt sind sie schon wieder da und wollen weitermachen.«

In den Augen der jungen Frau funkelte Wut.

»Ich verstehe. Und wer ist der Mann da vorn?«

Marc zeigte auf den älteren Herrn, der noch immer wild gestikulierend mit den Anzugträgern und dem Polizisten diskutierte.

»Das ist ein Abgeordneter der BDP. Er versucht, das hier zu stoppen.«

Das politische System der Türkei war nicht gerade Marcs Spezialgebiet, aber er meinte sich zu erinnern, dass die BDP eine liberale kurdische Partei war.

»Warum interessiert Sie das?«

Nun war Neugier in ihren Augen.

»Berufskrankheit. Ich bin Journalist, aber eigentlich im Urlaub hier.«

»Sie sollten hierüber mal berichten!«

»Ich sage es meinen Kollegen, danke.«

Marc verabschiedete sich. Proteste gegen das Fällen von ein paar Bäumen in einem Istanbuler Park waren nun wirklich keine Geschichte, für die es sich lohnte, kostbare Urlaubszeit zu vergeuden, so sehr ihn die Empörung des jungen Paares auch rührte. Er ging weiter und verließ den Park am entgegengesetzten Ende. Entlang des Bauzauns lief er ein Stück zurück und schlug sich dann in eine Seitenstraße, in der er das Büro der Fluggesellschaft vermutete. Nachdem er noch ein paar Mal nachgefragt und dabei auf den Ausdruck seines elektronischen Tickets mit dem Logo von Turkish Airlines gezeigt hatte, fand er es auch, betrat das klimatisierte Kundenzentrum, zog eine Nummer und setzte sich auf einen der letzten freien Stühle im Warteraum vor den Schaltern. Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Nummer endlich über einem der Schalter aufleuchtete, und eine weitere, bis er den Rückflug nach London um zehn Tage nach hinten verlegt, fast zweihundert Türkische Lira Gebühr und Aufpreis für die höhere Buchungsklasse gezahlt und ein neues Ticket ausgestellt bekommen hatte. Weil er hungrig war, suchte er sich ein kleines Restaurant in der Nähe und bestellte sich Adana Kebab, scharfes, auf einem Spieß gegrilltes Hackfleisch vom Rind, mit Reis und Salat. Dazu trank er einen Becher Ayran, ein Joghurtgetränk, das zu Fleisch und auf Wunsch mit frischer Minze gereicht wurde. Leicht gepfeffert und gesalzen, so hatte es ihm an seinem zweiten Tag ein Kellner beim Mittagessen erklärt, ein erfrischender Durstlöscher.

Nachdem er bezahlt hatte, beschloss er, den gleichen Weg zurückzugehen, um sich nicht in der Großbaustelle zu verlaufen. Als er den Park dort betrat, wo er ihn verlassen hatte, war von den Demonstranten weder etwas zu hören noch zu sehen. Dafür waren die Grünflächen zwischen den Bäumen nun von mehreren Dutzend Polizisten bevölkert, an deren Anblick ihn etwas irritierte. Erst, als seine Augen plötzlich zu tränen begannen und er diesen stechenden Geruch in der Nase hatte, den er von Einsätzen als Reporter kannte, von den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo etwa, wusste er, was ihn da irritierte: Die Männer in den dunkelblauen Uniformen und weißen Helmen trugen Gasmasken. Offensichtlich war hier gerade Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt worden. Zwei von ihnen kamen auf ihn zu. Einer zog den Helm aus, schob die Gasmaske auf die Stirn und sagte etwas auf Türkisch zu ihm. Marc zuckte mit den Schultern.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich verstehe nicht. Ich spreche kein Türkisch.«

Der Polizist antwortete erneut auf Türkisch, Marc zuckte wieder mit den Schultern und versuchte, weiterzugehen. Die Spitze eines Schlagstocks, die auf seine Brust tippte, hielt ihn zurück. Verdammt, was war hier los?

Marc schaute über die Schultern der beiden Polizisten in den Park. Die Demonstranten waren weg, die Zelte auch, nur die Reste von einigen Plakaten lagen zerknüllt auf dem Boden.

»Closed. Park closed.«

Ein dritter Polizist, Helm und Gasmaske unter den linken Arm geklemmt, war hinzugetreten und wies Marc mit drei Worten auf Englisch und seinem Schlagstock unmissverständlich den Weg. Marc fügte sich, obwohl die Sache ihn zu interessieren begann, aber man musste ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand, vor allem nicht im Urlaub. Oft genug hatte er mit den Sicherheitskräften diverser Länder zu tun gehabt, um zu wissen, dass dies nicht der Moment war, sich auf eine Konfrontation einzulassen. Er zuckte noch einmal mit den Schultern und ging dann in die Richtung, die ihm der Schlagstock wies, aus dem Park heraus und vor dem Divan Hotel nach rechts, die Straße entlang, die am Hotel Intercontinental vorbei hinunter zum Stadion von Beşiktaş und zum Dolmabahçe-Palast führte. Auf einer Treppe am nordöstlichen Ende des Parks saß eine Gruppe junger Männer und Frauen. Sie hockten auf den Stufen unter von der Polizei offensichtlich als Absperrung gespanntem Flatterband.

Er erkannte das junge Pärchen wieder, das bei den Demonstranten gestanden hatte. Sie schluchzte an seiner Schulter, er, den Arm um ihre Schultern gelegt, schaute aus geröteten Augen ins Nichts. Neben ihnen hockte ein Mann, ebenfalls kaum älter als Anfang zwanzig, presste ein Taschentuch an seine rechte Schläfe, zwischen den Fingern hindurch lief Blut über Wange und Hals und färbte den Kragen seines T-Shirts rot.

»Was ist passiert?«

Marc setzte sich zu ihnen.

»Die haben plötzlich und ohne Vorwarnung mit Tränengas geschossen, uns mit Schlagstöcken aus dem Park geprügelt und die Zelte eingerissen und mitgenommen!«

Dem jungen Mann standen immer noch Entsetzen und Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Freundin hob den Kopf.

»Aus dem Nichts haben die auf uns eingeschlagen! Wir haben nichts getan, nur dagestanden!«

Ihre Stimme war tränenerstickt, aber in ihren Augen blitzte blanke Wut.

»Sind Sie der Journalist aus England?«

Die Frage kam von einer jungen, sehr hübschen Frau mit dunkler Lockenmähne, die inmitten der Gruppe hockte. Marc nickte.

»Hi, ich bin Mine. Sie müssen uns helfen!«

Kathrin

Kathrin hatte gerade die Rechnung bestellt, als ihr Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, vibrierte und einen kurzen Piepton von sich gab. Sie saß mit ihrer Freundin Nevra in einem Café am Anleger von Heybeliada, einer der neun Inseln, die vor Istanbul im Marmarameer lagen, noch zur Stadt gehörten und Prinzeninseln hießen. Die Inselgruppe war ein beliebtes Ausflugsziel für stressgeplagte Großstädter. Es gab keinen Autoverkehr, als Fortbewegungsmittel dienten Pferdekutschen und Fahrräder. Dadurch war nicht nur die Luft besser, vor allem in den Sommermonaten, wenn sich die Hitze in den dicht bebauten Straßenschluchten des Festlandes staute, das ganze Leben auf den Inseln war irgendwie entschleunigt. Kathrin liebte es, durch die von Bäumen gesäumten Straßen mit den zumeist liebevoll renovierten Holzhäusern zu schlendern, gerade im April und Mai, wenn die üppigen Bougainvillea-Sträucher blühten und mit ihrem Magenta den Kontrast zwischen den weiß lackierten Holzfassaden und dem stahlblauen Himmel milderten. Außerdem konnte hier schon zu dieser Jahreszeit baden, wer Wassertemperaturen von achtzehn, zwanzig Grad nicht scheute. Wann immer sie vier, fünf Stunden Zeit hatte, fuhr sie raus auf die Inseln. So auch an diesem Morgen. Dienstags hatte sie nur eine frühe Vorlesung. Direkt im Anschluss war sie mit Nevra nach Heybeliada gefahren, die sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Die Sommervillen reicher Istanbuler waren auf Büyükada noch größer und prächtiger, dafür lag Heybeliada dem europäischen Teil Istanbuls am nächsten. Die Überfahrt von Kabataş war eine halbe Stunde kürzer, außerdem gab es nur zwanzig Minuten zu Fuß von der Anlegestelle entfernt einen annehmbaren Strand mit ein paar Liegen und Sonnenschirmen und einem kleinen Restaurant mit akzeptablen Preisen. Für einen halbtägigen Ausflug ans Meer, für den man nicht alles selbst mitschleppen wollte, also genau das Richtige.

Kathrin war Dozentin für Architektur und Städtebau an der altehrwürdigen, 1882 gegründeten Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, die im Stadtteil Fındıklı direkt am Bosporus lag. Schon während ihres Studiums an der Fachhochschule Köln hatte sie ein Auslandssemester an der Mimar Sinan verbracht – fünfzehn Jahre war das mittlerweile her – und schließlich über das Thema »Moderner Städtebau – Strategien für historisch gewachsene Großstädte am Beispiel Istanbuls« promoviert. Immer wieder war sie in den Semesterferien nach Istanbul geflogen, um lieb gewonnene Freunde zu besuchen und weil die Stadt sie faszinierte, das rasende Tempo, mit dem sie sich veränderte und sich gleichzeitig treu blieb. Nach dem Studium war sie dann aber erst einmal nach Hamburg gegangen, wo man die Hafencity plante und baute und Bedarf an jungen Architekten war. Ihr gefiel die Stadt, der Job aber erwies sich als Enttäuschung. Europas größtes Städtebauprojekt, wie man das neue Viertel südlich der Speicherstadt an der Elbe mit unhanseatischer Bescheidenheit gerne nannte, entpuppte sich auf den Plänen – und an ein oder anderer Stelle auch schon in der Realität – als lieblos aneinandergereihte Ansammlung ziemlich fantasieloser Wohn- und Geschäftsklötze, die moderne Adaptionen der alten Speicher darstellen sollten, dazwischen schachbrettartige Straßenzüge, die parallel zu den alten Hafenbecken verliefen. Architektonische Freiheiten und stadtplanerische Visionen, das musste sie, schon kurz nachdem sie im Team eines renommierten deutsch-iranischen Architekten angefangen hatte, feststellen, waren längst unter dem Staub deutscher Bürokratie und der Piefigkeit regionaler Politik begraben. Also heuerte sie kurz entschlossen – ein Headhunter hatte eines Abends bei ihr zu Hause angerufen – bei einem internationalen Architekturbüro an, das in Istanbul eine Dependance unterhielt und händeringend Architekten suchte. 2004 war das gewesen, die Stadt mittlerweile eine einzige Baustelle, der Stillstand der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrtausends einem ungeheuren Bauboom gewichen, der Fachleute aus der ganzen Welt aufsog. Wer war da besser geeignet als sie?

Auch zahlte sich aus, dass sie während des Auslandssemesters bereits einen Türkischkurs absolviert hatte und ihre Sprachkenntnisse in der Zwischenzeit so weit ausgebaut hatte, dass sie trotz ihrer blonden Haare und blauen Augen im Alltag als Türkin durchging. Schon nach drei Jahren, in denen sie an der Planung und Entwicklung diverser Großprojekte mitgearbeitet hatte, wurde ihr eine Gastprofessur an der Mimar Sinan angeboten, die sie annahm. Keine schlechte Karriere für ein Mädchen aus einem niederrheinischen Dorf, nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt, dachte sie immer wieder. Nur dass sie dabei ziemlich »geç kaldı« geworden war, »zu lang geblieben«, wie es die Türken nannten, wenn eine Frau mit achtunddreißig Jahren noch unverheiratet und kinderlos war.

Nun hatten Nevra und sie also Çay, starken türkischen Tee, aus kleinen Gläsern getrunken und Karadut Dondurmalı Kazandibi gegessen, karamellisierten Reispudding mit dem sehr fruchtigen, aber nicht zu süßen Eis aus schwarzen Maulbeeren, während sie auf die Fähre zurück nach Kabataş warteten. Kathrin hatte am späten Nachmittag noch einen Termin an der Uni, die praktischerweise nur eine Station mit der Straßenbahn vom Fähranleger entfernt lag. Sie nahm ihr Telefon vom Tisch und schaute auf das Display, auf dem das Symbol für eine eingegangene Kurznachricht blinkte. Sie drückte auf den Bildschirm, die Nachricht erschien. Sie war von Erol, einem befreundeten Musiker, der wie sie auf der asiatischen Seite wohnte, im zum Stadtteil Üsküdar gehörenden Viertel Kuzguncuk, das sich noch einen gewissen dörflichen Charme erhalten hatte, obwohl es direkt gegenüber von Beşiktaş lag, sehr zentral also, noch vor der ersten Bosporus-Brücke. Kuzguncuk war eine Oase der Ruhe in der tosenden Betonwüste Istanbuls. Viele Künstler und Intellektuelle hatten sich in dem seit jeher multikulturellen Viertel niedergelassen, in dem es zwischen schiefen alten Holzhäusern eine Moschee, drei Kirchen, armenisch und griechisch-orthodox, und auch eine Synagoge gab.

»Du glaubst das nicht!«

»Was?«

Nevra war sichtlich irritiert ob der Lautstärke ihres Ausrufs.

»Die Polizei ist mit Reizgas und Schlagstöcken gegen ein paar Studenten vorgegangen, die im Gezi-Park gegen das Abholzen der Bäume und den Bau dieser als Nachbau einer osmanischen Kaserne getarnten Shopping Mall protestiert haben!«

Mine

Vedat lag auf dem Sofa und schaute fern, als Mine am frühen Abend nach Hause kam. Sie hatte noch über eine Stunde lang auf den englischen Journalisten eingeredet, ihm von den Plänen der Regierung erzählt, auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum zu errichten und damit eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu dem Konsum zu opfern, wie auch schon das über einhundert Jahre alte Emek-Theater in der Istiklal Straße einer Shopping Mall weichen sollte und die Polizei Anfang April Proteste von Künstlern, darunter der griechisch-französische Regisseur Costa-Gravas, mit Wasserwerfern und Tränengas beendet und unter anderen den berühmten Filmkritiker Berke Göl festgenommen hatte. Immer wütender war sie geworden. Die Regierung verschachere die kulturelle Identität der Stadt an den Kommerz, Premierminister Erdoğan sei ein Banause, der, als man beim Bau der Metro, die einmal unter dem Bosporus hindurchführen soll, die Überreste eines alten römischen Hafen gefunden hatte, abfällig von ein paar Keramikscherben gesprochen habe. Marc, der Journalist, hatte ihr aufmerksam zugehört und sie nur gelegentlich mit einer Zwischenfrage unterbrochen. Am Ende war er aufgestanden, hatte gesagt, dass er ihren Unmut verstehe, er aber nun mal im Urlaub sei, ihr aber immerhin seine Telefonnummer gegeben und versprochen, mit den Kollegen im Istanbuler Büro des Nachrichtenmagazins, für das er arbeitete, zu sprechen.

»Und? Wie war’s?«

Vedat schaute auf, als sie ins Wohnzimmer trat.

»Ist das dein Ernst? Das fragst du mich?«, giftete Mine.

»Du müsstest doch wissen, wie es war!«

»Was? Ich? Wissen? Wieso?«, stammelte er verdutzt.

»Und was ist mit deinen Augen los? Hast du geweint?«

Mine dreht sich zur Seite und schaute in den Spiegel, der in seinem verschnörkelten Rahmen über der alten Holzkommode, einem Erbstück von ihrer Großmutter, hing, und erschrak. Ihre Haare standen noch wilder vom Kopf ab als sonst, die Partie um ihre Augen war stark gerötet und angeschwollen.

»Geweint?«

Sie wandte sich wieder Vedat zu.

»Das kommt vom Gas, das deine netten Kollegen mir ins Gesicht gesprüht haben!«

»Was?«

Vedat war aufgesprungen, auf Mine zugestürzt und hatte sie mit beiden Armen an den Schultern gepackt.

»Was ist passiert? Erzähl!«

»Ich muss mich setzen, lass uns in die Küche gehen. Ich brauche jetzt erst einmal einen Tee.«

Vedat trottete hinter Mine her, die sich auf einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch fallen ließ, während er Tee, den er wahrscheinlich wie immer direkt aufgesetzt hatte, nachdem er nach Hause gekommen war, in zwei Gläser goss, eines davon zusammen mit der kleinen Zuckerschale vor Mine stellte und sich dann neben sie auf den zweiten Stuhl setzte.

»Erzähl!«

Mine versuchte, ruhig zu bleiben. Was konnte Vedat dafür? Aber ihre Schultern, ihr ganzer Körper bebte vor Wut, Schreck und Fassungslosigkeit, als sie ihm berichtete, was im Gezi-Park passiert war. Vedat hörte sprachlos zu, bis sie fertig war.

»Und du hast davon nichts gewusst? Du bist doch bei der Polizei, das musst du doch mitbekommen haben!«

»Nein, nichts. Meine Einheit hat ganz normal Bereitschaft geschoben, wir haben den ganzen Tag in der Kaserne gehockt.«

Die gewalttätigen Übergriffe der Polizei gegen Demonstranten jeder Art waren gelegentlich Anlass für Diskussionen am Küchentisch gewesen, und immer hatte sich Vedat ihr gegenüber davon distanziert, aber nie Einzelheiten von seinen eigenen Einsätzen erzählt. Sie hatte es irgendwann aufgegeben, ihn danach zu fragen, sie bekam ohnehin immer die gleichen Antworten. Dass es sich um einige schwarze Schafe bei der Polizei handelte, die gelegentlich über das Ziel hinausschössen und so weiter.

»Versprich mir, dass du bei so etwas nicht mitmachst!«

Mine hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, ihn umarmt und geküsst, er in ihrer Umarmung genickt.

»Die haben in der Kaserne nichts davon erzählt.«

Vedat zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Und im Fernsehen haben sie auch nichts darüber gebracht.«

»Lass gut sein, du schaust einfach die falschen Kanäle.«

Sie stritten sich manchmal, wenn Mine Halk TV oder Ulusal Kanalı einschaltete, zwei kleine, unabhängige Nachrichtensender, die politisch eher links – Vedat würde sagen: »zu links« – einzuordnen waren. Er guckte, wenn nicht einen der zahlreichen Sportsender, was meist der Fall war, staatliches TRT oder CNN Türk. Meistens gab sie nach und klappte dann ihren Laptop auf, um sich die Nachrichten, die sie interessierten, aus dem Netz zu holen. Oft war das ohnehin nicht. Die türkische Politik ödete sie an, lauter testosterongeschwängerte Typen mit Schnauzbärten, die ständig nur herumschrien – egal ob im Parlament oder im Interview. Und zu Hause, bei ihren Eltern, diese endlosen Diskussionen, die nie zu etwas anderem führten als dicken Köpfen am nächsten Tag, weil mindestens genau so viel geraucht und getrunken wie geredet wurde.

»Übrigens ist unser Zelt weg. Und mein Schlafsack auch. Das haben die einfach alles an Ort und Stelle angezündet oder mitgenommen. Ich konnte nur noch meinen Rucksack retten.«

»Ich hake mal nach, vielleicht findet sich das Zeug ja noch.«

Es klang dahingesagt. Vedat war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, um in einem kleinen Restaurant unten an der Ecke Köfte mit Reis und Salat für das Abendessen zu holen. Mine telefonierte währenddessen mit ihrer Mutter, die natürlich besorgt und empört war über das, was ihre Tochter ihr über die Geschehnisse im Gezi-Park erzählte. Erst als Mine ihr tausendmal versichert hatte, dass mit ihr alles in Ordnung sei, und versprach, sich in Zukunft rechtzeitig vor dem Einschreiten der Polizei von solchen Kundgebungen zu entfernen – ganz verbieten könne und wolle sie ihrer Tochter ihr Engagement ja nicht –, beendete sie das Gespräch mit einem immer noch besorgt klingendem »Pass auf dich auf!«, just in dem Moment, als Vedat mit der Tüte vom Restaurant in der Hand zur Tür hereinkam. Sie aßen schweigend auf dem Sofa, die Plastikteller auf den Knien, und schauten sich auf DVD eine Raubkopie von »Ice Age 4« an, die Vedat zwei Tage zuvor mit nach Hause gebracht hatte. Das Telefon blieb den ganzen Abend über stumm, ebenso die Türklingel. Offensichtlich hatte ihre Mutter dem Vater nichts erzählt, der sonst sofort zurückgerufen hätte oder gleich vorbeigekommen wäre, um seine einzige Tochter einer umfassenden medizinischen Untersuchung zu unterziehen und anschließend befreundete Anwälte aus dem Schlaf zu klingeln, damit sie Istanbuls Polizeibehörden mit einer Klagewelle überzogen. Mine duschte, dann legte sie sich neben Vedat ins Bett.

»Ich gehe da morgen wieder hin!«

Sie beugte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Gutenachtkuss auf den Mund.

»Lass uns beim Frühstück darüber sprechen.«

Vedats Antwort war nur noch ein Murmeln. Dann drehte er sich um und gab schon Sekunden später nur noch die ruhigen Atemgeräusche eines Schlafenden von sich.

29.–30. Mai

Marc

Am nächsten Morgen war Marc schon recht früh wach. Er hatte sehr unruhig geschlafen, was ungewöhnlich war, schlief er doch im Urlaub in der Regel wie ein Murmeltier, acht oder neun Stunden, manchmal auch länger, als hole sich sein Körper zurück, was Marc ihm, wenn er arbeitete, insbesondere in Krisengebieten, vorenthielt. Immer wieder musste er an diese junge türkische Frau denken, Mine. Nicht nur, aber auch natürlich, weil sie mit ihren ungezähmten dunklen Locken, den großen, fast schwarzen Augen, den vollen Lippen und ihrer zierlichen, aber wohlproportionierten Figur unglaublich hübsch war. Vor allem aber wegen der Art, wie sie und wegen dem, was sie erzählt hatte. Mit den Armen gestikulierend, die Augen gerötet und geschwollen, aber vor Wut leuchtend, und in hervorragendem Englisch hatte sie ihm derart plastisch davon berichtet, mit welcher Brutalität die Polizisten gegen sie und die vielleicht fünfzig anderen Demonstranten vorgegangen war, dass er es bildlich vor sich sah: die Schlagknüppel, die auf Köpfe und Schultern trafen, in Rücken und Kniekehlen, das Tränengas, aus kürzester Entfernung in Gesichter gesprüht.

Er hatte in verschiedenen Ländern wilde Straßenschlachten erlebt, in denen Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen, mit Holzlatten, Eisenstangen, Baseballschlägern, manchmal sogar mit Messern und Schusswaffen angegriffen worden waren, dass ihm der Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas in manchen Fällen als legitimes Mittel der Selbstverteidigung vorgekommen war. Aber was er von Mine hörte, war etwas ganz anderes, die Reaktion der Einsatzkräfte schien einfach völlig überzogen. Er konnte natürlich nicht wissen, was passiert war, während er im Büro der Fluggesellschaft sein Ticket umbuchte und anschließend zu Mittag aß. Die Situation vorher aber – ein paar junge Menschen, Sprechchöre, eine Hand voll Plakate – war ziemlich harmlos gewesen, das hatte er schließlich mit eigenen Augen gesehen. Und wenig später Schwaden von Gas in der Luft, die geröteten Augen, der Junge mit der Kopfwunde.

Marc zog sich an und ging hinunter in den Frühstücksraum des Hotels, der um diese Zeit – es war erst halb acht – noch gähnend leer war, weil die meisten Touristen im Galataviertel bis in die frühen Morgenstunden in den zahllosen Bars und Clubs versumpften. Er bestellte einen Cappuccino und einen frisch gepressten Orangensaft und nahm sich den gesamten Stapel der auf einem Tischchen am Eingang ausliegenden Zeitungen mit an seinen Tisch, vier türkische, zwei englische, sogar die beiden deutschen, obwohl er die nicht lesen konnte. Nirgendwo fand er ein Foto oder auch nur ein paar Zeilen über den gestrigen Vorfall. Er zückte sein Mobiltelefon, wählte sich ins WLAN des Hotels ein und durchforstete die Online-Ausgaben der zahlreichen internationalen Medien, die er sich als Link auf die Startseite gelegt hatte. Nichts. Er fragte den Kellner, aber der zuckte nur mit den Schultern. Ob er nichts wusste oder Marcs Frage einfach nicht verstanden hatte, ließ die Geste offen.

Gegen neun verließ er das Hotel und ging über die Istiklal Straße, in der die Geschäfte fast alle noch geschlossen hatten, Richtung Taksim-Platz. Die Geschichte hatte sein journalistisches Interesse geweckt. Wie konnte es sein, dass in den türkischen Zeitungen nichts, aber auch gar nichts über einen Polizeieinsatz zu lesen war, bei dem es doch offensichtlich Verletzte gegeben hatte? Außerdem verspürte er nicht wenig Lust, Mine wiederzutreffen. Sich mit ihr zu unterhalten, war deutlich anregender als der banale Small Talk mit Straßenhändlern, Kellnern oder Touristen, auf den er sich in den ersten Tagen in Istanbul eingelassen hatte. Außerdem war sie deutlich hübscher als seine bisherigen Gesprächspartner. Auf dem Weg machte er, um sich noch nicht ganz von seinem Status als Urlauber zu verabschieden, an der Basilika St. Antonius Halt, einer etwa einhundert Jahre alten römisch-katholischen Kirche, die, eingerahmt von großbürgerlichen Häusern, etwas zurückversetzt an der Istiklal lag. Der Bau war nicht sonderlich spektakulär, wie Marc fand, aber immerhin hatte hier Paul VI. 1967 die erste Heilige Messe eines Papstes auf türkischem Boden gefeiert. Interessant war auch, dass Gottesdienste nicht nur in türkischer, sondern auch in englischer, italienischer und polnischer Sprache abgehalten wurden, weil die meisten Katholiken in Istanbul Ausländer waren. Marc selbst war nicht sehr gläubig. Klar, er war im christlichen Wertesystem aufgewachsen, aber mit Religion oder gar Kirche hatten schon seine Eltern wenig anfangen können. Er hatte allerdings einiges gelesen über die Schwierigkeiten religiöser Minderheiten in der nach offiziellen Angaben zu neunundneunzig Prozent muslimischen Türkei. Vor den Neubau nicht-islamischer Gotteshäuser waren hohe bürokratische Hürden – um nicht zu sagen: Schikanen – gesetzt, und immer wieder wurden Christen und selbst zum muslimischen Glaubensspektrum gehörige Alewiten Ziele von Übergriffen durch sunnitische Mobs, gab es gar Tote, wie den armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink, der 2007 ermordet worden war.

Einige Hundert Meter vor dem Taksim-Platz setzte er sich in die Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette, die er normalerweise mied. Aber der Cappuccino im Hotel war ziemlich dünn gewesen, und er brauchte morgens einfach eine ordentliche Koffeindosis, um in Schwung zu kommen, außerdem gab es dort kostenfreies WLAN. Also bestellte er sich einen Latte macchiato mit einem dreifachen Espresso und wählte sich ins Netz ein. Diesmal benutzte er eine Internet-Suchmaschine und wurde fündig. In einem der sozialen Netzwerke stieß er auf zwei Seiten, die sich »Diren Gezi Parkı« und »Taksim hepimiz« nannten. Die Texte waren zwar ausschließlich in türkischer Sprache, auf den zahlreichen Fotos aber erkannte er einige der Demonstranten von gestern wieder. Die Bilder waren teilweise ziemlich drastisch, sie zeigten Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken, fliehende Demonstranten mit Panik in den Augen, Menschen mit blutenden Kopfwunden und brennende Zelte. Eines war besonders. Dafür hatte Marc einen Blick. Wenn die Fotografen, die ihn bei Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten begleiteten, ihm die Fotos des Tages auf dem Laptop zeigten, wusste er meist schon, welche später von der Fotoredaktion zur Illustration seiner Artikel ausgewählt wurden. Dieses zeigte eine Frau in einem roten Kleid, mit einer weißen Umhängetasche über der rechten Schulter, der ein Polizist aus nächster Nähe eine Ladung Tränengas ins Gesicht sprühte. Der Druck des Gases ließ ihre langen Haare nach oben stehen, als hänge sie kopfüber. Es hatte sie offensichtlich völlig ohne Vorwarnung getroffen, eine Unbeteiligte, deren Körperhaltung keinerlei Abwehrreaktion erkennen ließ, die rechte Hand den Tragegurt der Tasche umfassend, die linke am ausgestreckten Arm locker herunterhängend. Hätte er einen Artikel über Polizeigewalt geschrieben, das wäre das Bild dazu gewesen. Während er seinen dreifachen Espresso mit geschäumter Milch schlürfte, schaute er wie gebannt auf dieses eine Foto. Bis das Telefon in seiner Hand erst vibrierte und dann klingelte.

Kathrin