Die tausend Verbrechen des Ming Tsu - Tom Lin - E-Book
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Die tausend Verbrechen des Ming Tsu E-Book

Tom Lin

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Beschreibung

1869, als der Westen der USA durch den Bau der Eisenbahnstrecken erschlossen wird. Der chinesische Gangster und Hitman Ming Tsu ist auf einem Rachefeldzug: Weil er Ada, eine weiße Frau, heiraten wollte, wurde er von deren Vater, einem Eisenbahnbaron, beinahe umgebracht und an eine Eisenbahngesellschaft als Arbeitssklave verkauft.

Aber Ming Tsu lässt sich nicht unterkriegen, schließlich ist er ein professioneller Killer mit sehr eigener Moral. Mit Hilfe eines greisen Chinesen, genannt »Der Prophet«, und einer gemischten Zirkustruppe, deren Personal zu veritablen Wundern fähig ist, liquidiert er nach und nach seine Peiniger. Er arbeitet sich dabei zielstrebig nach Kalifornien vor, wo er Ada wiederzutreffen hofft. Dort erwartet ihn ein explosiver und unerwarteter Showdown …

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Ähnliche


Cover

Frontispiz

Titel

Tom Lin

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Volker Oldenburg

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Thousand Crimes of Ming Tsu bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, Inc.Die Karte wurde erstellt von Jeffrey L. Ward.Die Übersetzung des Romans wurde im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien der VG Wort gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5284.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Copyright © 2021 by Tom Lin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Gregg Kulick, © Hachette Book Group, Inc.

eISBN 978-3-518-77437-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Eltern

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

ERSTER TEIL

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ZWEITER TEIL

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DRITTER TEIL

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60

EPILOG

Danksagung

Informationen zum Buch

ERSTER TEIL

1

Das Töten machte ihm schon lange nichts mehr aus. Die Stadt Corinne lag hinter ihm, mit ihren Spielhöllen, Saloons und Bars voll wütender Männer. Vor nicht einmal zwei Stunden hatte Ming einen Mann getötet, und schon wichen die Erinnerungen daran dem Feuer der Fantasie. In vielleicht vierundzwanzig Stunden würde er das nördliche Horn des Salzsees umrunden, das monströse Schimmern der Gleise am Horizont würde sich, je näher es kam, als Eisen und Holz zu erkennen geben. Jetzt lag nur der See vor ihm.

Schließlich sank die Sonne hinunter aufs Wasser, drückte eine Weile gegen ihr Spiegelbild, bevor sie unterging. Ming schlug sein Lager auf, machte Feuer, zog die Stiefel aus und wischte unzählige zerquetschte Salzfliegen von seinen Socken. Ein schwacher Fäulnisgeruch hing in der Luft.

Der Mann, den Ming getötet hatte, hieß Judah Ambrose, ein ehemaliger Anwerber der Central Pacific mit einem dieser neuen Revolver am Gürtel, die nicht mit Bleikugeln und Schwarzpulver, sondern mit Patronen geladen wurden. Ming hatte so eine Waffe schon gesehen, aber noch nie eine in der Hand gehabt, bis er sich über Judahs Leiche beugte und dem Toten den Revolver abnahm. Der Hahn war noch gespannt, der Abzug bereit für den Druck eines Fingers. Judahs Finger. Judah hatte einmal geschossen, bevor Ming ihn tötete. Die Kugel hatte Ming um einen halben Meter verfehlt. Jetzt, am Lagerfeuer, schwenkte Ming die Trommel aus, zählte vier scharfe Patronen und eine leere Hülse. Die Waffe war einen Haufen Geld wert. Er würde sie behalten, selbst wenn er keine neue Munition auftrieb.

Er drehte die Waffe im schwachen Mondlicht hin und her, betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild auf dem stahlblauen Lauf. Die Scheite im Feuer verbrannten zu Holzkohle und dann zu Asche, der Mond sank unter den Horizont, und der Morgen drängte sich in seine Träumereien. Er nahm an, dass er geschlafen hatte, und das genügte.

Durstig leerte er die Feldflasche und brach auf. Gegen Mittag waren es nur noch anderthalb Meilen bis zur Baustelle der Union Pacific. Die Entfernung zur Baustelle der Central Pacific, westlich vom Horn des Sees, schätzte er auf etwa fünfzig Meilen. Im Schatten eines Felsvorsprungs zog Ming ein zerkratztes Fernglas aus seinem Bündel und sondierte das Camp der Union Pacific. Die irischen Kolonnen arbeiteten an einem Hangstück, legten eins-zwei-drei Schwellen, schlugen eins-zwei-drei Nägel ein. In das rhythmische Klingen der Hämmer mischten sich Rufe und Schreie von Männern. Zehn, zwölf Pferde standen angebunden an Pfosten. Hin und wieder senkten sie die langen Hälse, um zu trinken. Andere gingen mit den patrouillierenden Aufsehern mit, deren Augen sich unter breitkrempigen Hüten verbargen. Ein Feuer brannte fast unsichtbar in der sonnenbeschienenen Wüste. Ming senkte das Fernglas, spuckte auf seinen Daumen, reinigte, so gut es ging, die vordere und hintere Linse. Als er wieder hindurchblickte und feststellte, dass die Sicht nicht besser geworden war, richtete er das Glas nach Westen, folgte möglichen Routen durch die Einöde. Er brauchte ein Pferd.

Er schwenkte zurück zum Camp. Eine Lok kam und hielt am Ende der Trasse. Arbeiter kletterten auf die Zugmaschine, die Luft über dem Kessel flimmerte in der Hitze. Einige Minuten später fuhr die Lok zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ming ließ das Fernglas sinken, verstaute es in seinem Bündel.

Er würde sich ihnen bei Dunkelheit nähern. Jetzt gab es Arbeit zu tun. Ein Mann muss vorbereitet sein.

Bei einem Büschel Salzgras grub er mit den Händen in der Erde, bis es unter seinen Nägeln kalt und feucht wurde. Er spähte in das Loch. Lackglänzendes Wasser sickerte von unten in die Kuhle. Er tauchte den Finger in das kalte Wasser und kostete. Salzig, aber trinkbar. Mit kräftigen Schaufelbewegungen vergrößerte er das Loch, bis die leere Feldflasche liegend hineinpasste. Die Flasche füllte sich tropfenweise mit Wasser. Als sie fast voll war, verschloss er sie, verstaute sie in seinem Bündel und grub das Loch wieder zu. Zum Schluss strich er die Erde glatt.

Ein Körper muss sich spurenlos durch die Welt bewegen.

Er ging in den Schneidersitz, zog einen geschliffenen, etwa fünfzehn Zentimeter langen Schwellennagel aus der Scheide an seinem Schenkel und legte ihn in den Staub. Aus seinem Bündel holte er einen Wetzstein und ein Fläschchen Öl. Er zog den Nagel mit sanften Strichen über den Stein, schärfte die Spitze zur tödlichen Waffe. Dann löste er seinen Gürtel, schob das Ende unter seinen Stiefel, zog ihn mit der freien Hand stramm. Mit schnellen Bewegungen ließ er den Nagel über das Leder gleiten. Das Metall bekam einen matten Glanz, und schließlich war es spiegelblank.

Der Schatten des Felsvorsprungs wurde länger. Ming zog den Revolver, reinigte ihn, füllte die Kammern mit Schwarzpulver und Gries. Dünne sichelförmige Bleispäne fielen, als er die etwas zu großen Kugeln eine nach der anderen in die Trommel presste. Dann entnahm er seinem Bündel eine Handvoll Zündhütchen. Sie funkelten im Licht der Abendsonne wie kleine, vom Himmel gefallene Messingsterne. Er steckte auf jedes Piston ein Hütchen, dann schwenkte er die Trommel ein und schob den Revolver ins Holster.

Ming lehnte sich an den Felsen, schloss die Augen und dachte an das blasse Gesicht seiner Liebsten, die so unendlich weit weg war. Er dachte daran, was er bei ihrem Wiedersehen sagen würde, an ihr Gesicht, wenn sie ihm die Tür öffnete, stellte sich vor, wie sie strahlend in seine Arme springen würde.

Ada, Baby, würde er sagen, jetzt ist alles gut.

Er stellte sich vor, dass er sie langsam und zärtlich küssen würde, sich dafür entschuldigen würde, dass es so verdammt lange gedauert hatte, aber sieh, würde er sagen, und dann würde er die Ärmel hochziehen und ihr all die Narben, die Brandwunden, die noch nicht verheilten Schnitte zeigen. Siehst du?, würde er sagen, ich bin durchs Feuer gegangen, um nach Hause zu kommen.

Er merkte, dass er lächelte, und öffnete kopfschüttelnd die Augen. Die Kälte der Wüstennacht war schneidend und brannte in seinem Gesicht. Der Mond stand hoch am Himmel und schien hell genug, dass er das Fernglas hervorholte und das Camp beobachtete. Es war menschenleer. Zweifellos hatten sich die Männer zum Kartenspielen und Trinken in ihre Zelte zurückgezogen. Licht sickerte unter den Leinwänden hindurch, legte sich über den dunklen Sand. Die leisen Geräusche von Männern und Glücksspiel wurden hinaus in die Nacht getragen, das Klappern von Knochenwürfeln, das Klirren von Gläsern auf Tischen. Es stimmte, was die Leute sagten. Die Union Pacific stellte jeden ein, solange er kein Chinese war. Die Eisenbahn wurde von Veteranen, Spielern und Dieben gebaut.

Schließlich wurden die Lampen gelöscht, die Zelte wurden eines nach dem anderen blauschwarz. Als Ming sich sicher war, dass alle schliefen, verstaute er das Fernglas und machte sich auf den Weg, unermüdlich und leise, bis er das Camp eine halbe Stunde später erreichte. Ein zunehmender Dreiviertelmond hing tief über dem Horizont. Die Pferde standen ruhig, die Sättel lehnten an den Pfosten. Ming schlich sich an eines heran, band es los, sattelte es. Er blickte hinauf zu den Sternen, fand den Westen und gab dem Pferd die Sporen. Die Gleise flogen als zwei glatte Linien neben ihm dahin, zerfielen zu einem Gewirr aus halb losen Bahnschwellen, verstreuten Nägeln, schimmernden Eisensträngen. Dann waren die Gleise weg. Nur noch ödes Land peitschte vorbei, und er ritt nach Westen, hinaus in die weiße, uralte, ewige Salzwüste.

2

Als der Morgen kam, hielt Ming das Pferd an, stieg ab und schickte das Tier mit einem kräftigen Klaps auf die Hinterhand davon. Hier draußen in der Wüste gab es nirgends Wasser für ein Pferd. Es würde nach Hause finden. Ming ging nach Westen, bereit, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, hinter ihm der Salzsee, vor ihm ein flimmernder See, glatt und vollkommen wie alle Trugbilder, eine quecksilbrige Fata Morgana. Mit jedem seiner Schritte zog sich das schimmernde Wasser zurück, und die Luftspiegelung wich salzigem Boden, der weich und gummiartig war. Das Salz blieb an seinen Sohlen haften, machte sie schwer, und etwa jede Viertelmeile blieb er stehen, um die zähe weiße Masse abzuschlagen.

Die Sonne stand grau und milchig am dunstigen Himmel. Ihm war, als hörte er Tangaren und Fliegenschnäpper singen, aber es flogen keine vorbei. Nichts atmete in dieser Wüste. Im Nordwesten tönte die Melodie von Hammerschlägen auf Eisen: die Baustelle der Central Pacific. Das Dröhnen der Schläge glitt über die Luftspiegelung hinweg, ungedämpft trotz der Entfernung, als arbeiteten die Männer nur ein paar Meter weit weg. Er hatte sich die Wangen mit Ruß geschwärzt, aber das grelle Licht der perlmuttfarbenen Ebene verbrannte ihm trotzdem die Augen. James Ellis, sein nächstes Ziel, würde dort sein. Und der Prophet.

Auch seine alten Arbeitskameraden würde er dort wiedersehen, auch wenn er sich nicht mehr an ihre Namen erinnerte, falls er sie je gekannt hatte.

In Salzwüsten wie dieser erkennt das menschliche Auge nur, was in der Ferne liegt: eine Bergkette mit ihren Hügeln und Tälern, den gemalten Himmel. Aber aus der Nähe wird die Landschaft trivial und nichtig, hart und flach und folgenschwer. Im hingekritzelten Schatten von Wüstensalbei und Salzgras stellt man fest, dass alles erodiert, sogar das eigene Vermögen stillzustehen. Diese Ebenen sind älter als der Atem.

Ming hatte seit fast einem Tag nicht mehr geschlafen. Seine Augen waren trocken und entzündet, aber er war nicht müde. Er kannte dieses Gefühl gut. Als er vor fast zwei Jahren zum ersten Mal in die Sierra Nevada gekommen war, hatte die Sonne seine Augen blank gescheuert, und er war fast eine Woche lang schneeblind gewesen. Hier, im salzigen Ödland, entwickelte sich eine andere Schneeblindheit. Über hundert Meilen kein Schattenfleck. Er blieb stehen, trank einen Schluck aus der Feldflasche. Sie war fast leer. Er blinzelte kurz nach Westen, dann schloss er die Augen und ging weiter. Durch seine Lider sah er ein gespenstisches Fotonegativ, ein schwarzer Horizont drückte sich an einen grau-weißen Himmel.

Mit geschlossenen Augen verlor er sich in Erinnerungen. Judah Ambrose’ Waffe lag schwer in seinem Bündel, ein neues, ungewohntes Gewicht. Er hatte lange gebraucht, um ihn aufzuspüren. Wochen-, monatelang war er von Ort zu Ort gezogen, hatte in finsteren Herbergen den rauen Kerlen, die staubig die trockene Landschaft des Westens durchquerten, leise Fragen gestellt. Ambrose war im Vorteil gewesen. Die Nachricht von Mings Flucht hatte sich rasch bis weit nach Osten verbreitet, und als Ming aus den Bergen kam, war Ambrose längst aus Reno getürmt.

Aber ein Dreckskerl wie Ambrose hinterließ Spuren, wie eine Schlange, die ihre Haut abstreift. Von einem Kriegsveteranen in Wadsworth erfuhr Ming, dass Ambrose einen neuen Namen angenommen und seine Stellung bei der Central Pacific gekündigt hatte, um nach Osten zu gehen, wohin, konnte der Veteran allerdings nicht sagen. Ein Eisenbahner in Lovelock, der so besoffen war, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, erzählte Ming, Ambrose – der sich jetzt hinter dem Namen Theodore Morgan verbarg – habe in Corinne vier Dutzend Kriegsveteranen für die Union Pacific angeheuert. Inzwischen war genug Zeit vergangen, Ambrose war unvorsichtig geworden. Er steckte freudig die Provision ein, fuhr in die Stadt und gab seinen neuen Reichtum für Huren und Whisky aus, bis ihm das Geld ausging. Dann stieg er auf billigere Huren und Fusel um, ließ in jeder Bar im Ort anschreiben und soff auf Kosten der Wirte, bis er der verhassteste arme Schlucker in Corinne war. Ming fand ihn in der letzten Bar, die ihn noch als Gast duldete, vornübergesackt an einem Tisch, den Kopf in den Händen vergraben, neben sich eine halb leere Whiskyflasche und seine Waffe.

»Ambrose«, rief Ming.

Sein Gegenüber hob den Kopf und wurde bleich. Seine Hand flog zur Waffe, er drückte ab, aber er war zu betrunken und fahrig, der Schuss ging weit daneben.

Ming antwortete mit drei Schüssen in Ambrose’ Brust, drückte ihm den Stiefel auf die Kehle und fragte, wo die anderen seien: Ellis, Dixon, Kelly. Ambrose’ Blut tropfte auf den Boden, in seinem Gesicht lag panische Angst, abgeschwächt vom Alkohol, aber fast kindlich in ihrer Reinheit. Es war schwer zu glauben, dass die kleine, jämmerliche Gestalt, die unter Mings Stiefel starb, der Mann war, der ihm so viel Leid zugefügt hatte.

Ambrose erzählte, dass Ellis noch immer Vorarbeiter bei der Central Pacific sei. Kelly sei, so sein letzter Stand, in Reno zum Richter ernannt worden. Von Dixon wisse er nichts, er habe seit Langem nicht mal seinen Namen gehört. Das sei die Wahrheit, sagte er. Er schwor es. Ming hatte damit gerechnet, dass Ambrose ihn verfluchen, sich heftiger wehren oder ihn höhnisch und herausfordernd angrinsen würde. Aber letzten Endes hatte er einfach nur Angst.

»Danke«, sagte Ming. Dann zückte er den Schwellennagel und schlitzte ihm mit der messerscharfen Spitze blitzschnell die Kehle auf.

Niemand sprach ihn an, als er die Stadt verließ.

Jetzt öffnete er kurz die Augen, und sofort versengte die grelle Landschaft seine Hornhaut. Er konnte nicht sagen, wie weit er gekommen war, seit er das Pferd losgemacht hatte. Seine Augen brannten, und er wusste, dass er sich, wenn er nicht völlig erblinden wollte, einen Tag ausruhen musste. Er ging mit geschlossenen Augen weiter, ohne zu denken, in einem Zustand bewusster, qualvoller geistiger Leere. Aber nicht einmal hinter geschlossenen Augen gab es Dunkelheit, es blieb ein Feld aus milchigem Licht. Als er die Augen Stunden später wieder öffnete, war Nachmittag, und er starrte unwillkürlich in die riesige Sonnenscheibe, die langsam Richtung Erde glitt. Der Tag war alt und matt geworden. In der Ferne machte Ming schroffe Felsen aus und darunter mehrere Höhleneingänge. Dort würde er sein Nachtlager aufschlagen.

3

Ming erreichte die Höhlen, als der Tag in den Abend überging, und schlug in einem länger werdenden Schatten ein feuerloses Lager auf. Die Sonne stahl sich rot wie eine offene Wunde hinab zum Horizont und verweilte einen Augenblick über der Luftspiegelung, bevor sie in den falschen Wellen unterging. Es war, als rieben Sandkörner, Salz und Licht in seinen Augen, aber er konnte wieder schmerzfrei sehen. Er würde einen Tag lang rasten. Die Schatten der Felsen huschten dunkler und dunkler nach Osten, über die Salzwüste, durch die er gekommen war. Darüber ging der Mond auf, voll, bis auf ein schmales Scheibchen an der Flanke, wie eine Kugel, die in eine Revolverkammer gepresst wird. Im kalten blauen Licht studierte Ming die Karte, die er in sein Notizbuch gezeichnet hatte, maß mit dem Finger Entfernungen ab, legte Zwischenstationen fest, machte sich klar, wo Rechnungen zu begleichen waren. Dann blätterte er weiter bis zu seiner Namensliste. Mit einem Bleistiftstummel strich er den Namen Judah Ambrose durch. Noch drei Namen hier draußen im amerikanischen Ödland: James Ellis, Charles Dixon, Jeremiah Kelly. Dann über die Sierra nach Kalifornien zu den letzten beiden Namen auf der Liste, die Porter-Brüder: Gideon, dem Mings Mädchen versprochen gewesen war, und sein Bruder Abel. Und am Ende wartete sein Schatz auf ihn.

Ming leerte die Feldflasche. Das salzige Wasser brannte auf seinen aufgesprungenen Lippen. Weiter innen gab es Wasser, er konnte es riechen. Er ging in die Höhle hinein, bis die Luft kühl und feucht wurde, und entdeckte im spärlichen Mondlicht einen kleinen Tümpel mit eiskaltem, nach Kreide schmeckenden Wasser. Er füllte die Feldflasche, trank sie in einem Zug leer, füllte nach. Dann ging er zurück, rollte nahe beim Höhleneingang seine Schlafdecke aus und legte sich hin. In der Nacht träumte er in kurzen Schlafphasen von Männern, die ihm den Tod wünschten, von der schweren Arbeit des Gleiselegens, von seiner Ada, die so weit weg, ihm so vertraut war. Am grauen Morgen wurden die Sterne vom Himmel gespült, die Salzwüste fing die Strahlen der Morgensonne auf und machte daraus ihr eigenes funkelndes Sternenfeld. Als es draußen unerträglich hell wurde, zog sich Ming tiefer in die Höhle zurück und schlief im Halbdunkel, ohne zu träumen.

Als er aufwachte, war wieder Nacht. Die Schneeblindheit hatte zu seiner Erleichterung nachgelassen. Er trat in den Eingang der Höhle. Die Dunkelheit breitete sich kalt und wartend vor ihm aus. Er blickte wieder auf die Namen in seinem Notizbuch. Vielleicht hatten die Dummköpfe in Corinne noch nie von Judah Ambrose gehört und hielten den Toten in der Spelunke für Theodore Morgan. Die anderen fünf Namen wirbelten ihm durch den Kopf. Ellis, Dixon, Kelly, Abel und Gideon Porter. Vielleicht könnte er sie erledigen, ohne dass es jemand mitbekam.

Wunschdenken. Irgendjemand, der Ambrose’ wahre Identität kannte, hatte bestimmt schon an Ellis telegrafiert, und der würde die anderen benachrichtigen, dass Ambrose tot war, gestorben durch Mings Hand.

Er packte zusammen, fand den Polarstern und brach nach Westen auf. Das rhythmische Hämmern in der Ferne war verstummt. Die Männer schliefen jetzt in ihren Zelten. James Ellis und auch der Prophet. Ming lächelte. Den einen würde er töten, der andere würde ihn nach Hause führen.

In der Ferne zeichneten sich vor dem sternenüberfluteten Himmel die Umrisse einer zerklüfteten Berglandschaft ab. Der Boden wurde fester, seine Sohlen hinterließen klare Abdrücke. Bei Tagesanbruch erreichte er die Ausläufer der Silver Island Mountains am westlichen Rand der Salzwüste. Das Lärmen der Hämmer erhob sich mit der aufgehenden Sonne. Er war dem Ziel deutlich näher. Bevor die gleißende Hitze kam, überquerte Ming einen schmalen Pass und begann mit dem Abstieg. Unter einem Eschen-Ahorn setzte er sich in den Staub, holte das Fernglas hervor, richtete es auf den Horizont. Im Morgendunst machte er die geisterhaften Formen von Männern und Lokomotiven aus. Es waren nur noch wenige Meilen bis zur Baustelle der Central Pacific. Weiter unten am Berghang fand er eine kleine Höhle, in der sich vielleicht unbemerkt Feuer machen ließ. Dort schlug er sein Lager auf.

In der klirrenden Kälte der Nacht saß Ming mit den Rücken an der Höhlenwand und stierte ins Feuer. Eine unwillkommene Erinnerung überfiel ihn. Er war in der Opiumhöhle, verschluckt von wohliger Dunkelheit, in den Händen eine warme, schwere Pfeife, in deren Keramikkopf noch ein Rest nicht verbranntes Opium klebte. Er war nüchtern und klar bei Verstand und hatte erst vor wenigen Stunden einen Mann getötet. Jetzt lag er still in der Opiumhöhle, zählte mit den Fingerspitzen die Blüten und Blätter auf dem mit filigranen Ornamenten verzierten Pfeifenrohr. Er wusste, dass es wie immer mehrere Tage dauern würde, bis er die Höhle verlassen und in die Welt oben zurückkehren konnte, mehrere Tage, bis die Gesetzeshüter die vergebliche Suche satthatten.

Zwischen den selig träumenden Chinesen in den Opiumhöhlen war er unsichtbar. Er erinnerte sich an den dichten Nebel, blaue Rauchkringel, die sich in der Luft miteinander verflochten und wieder lösten, und er erinnerte sich an den Moment, als er den Kopf zur Seite drehte und zum ersten Mal Ada sah, ihr strahlendes, gerötetes Gesicht, die schönste Frau, die er je gesehen hatte und die Blicke, Fragen und Aufmerksamkeit auf sich zog. Wegen ihr war er in der Opiumhöhle nicht mehr sicher. Er erinnerte sich, wie er sie gebeten hatte zu gehen, wie sie sich verlegen entschuldigt und erklärt hatte, eigentlich habe sie gar kein Opium rauchen wollen, sie sei nur gekommen, um etwas Neues zu probieren, egal was, denn über den Rest ihres Lebens sei bereits entschieden worden. Und er erinnerte sich daran, wie er sie angesehen hatte und ihm kurz der Atem stockte, an das verschmitzte Lächeln, das über ihr Gesicht huschte, als sie sagte, sie glaube, er könnte dieses Neue sein. Tatsächlich?, hatte er erwidert, und sie hatte gesagt: Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam von hier verschwinden, Mister? Zwei verliebte Dummköpfe.

Ming versuchte, sich Adas Gesicht vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Ihre Züge kräuselten sich in seiner Fantasie, wie ein Spiegelbild in unruhigem Gewässer. Die Schatten ihrer Wangenknochen, wenn sie lächelte, das Grün ihrer Augen.

An manchen Nachmittagen schien das Sonnenlicht dickflüssig wie Honig vom Himmel, legte sich in den kalifornischen Hügeln über das fahle Gras. Hand in Hand gingen sie spazieren, zogen ungestört ihre kleinen Runden, in endlosem, behaglichem Schweigen. Wenn nichts zu tun war, saßen sie den ganzen Tag zu Hause an dem kleinen, schiefen Fenster und blickten hinaus auf die atmende Landschaft. Er rief sich die Form ihrer Lippen ins Gedächtnis, den Klang ihrer Stimme in stillen, mondlosen Nächten. Ihren verschleierten Blick im Spiegel, wie sich die Falten ihres Nachthemds auf ihrer Haut abzeichneten. In seiner Magengrube regte sich ein namenloser Schmerz. Er fühlte, dass sich mit jedem erinnerten Detail ein anderes verflüchtigte. Ihr Andenken zerfiel, wenn er es berührte, wie Silberstaub auf Schmetterlingsflügeln.

Falsch. Er hätte nicht an sie denken dürfen. Es war gefährlich, sich in Erinnerungen zu verkriechen. Das Neue löscht das Alte aus, wenn sie einander begegnen. Ming durchsuchte seinen Geist nach einer anderen Erinnerung, aber er fand nur ihr sich ständig wandelndes Gesicht, das ihm vor so langer Zeit so vertraut gewesen war. Ihre Herzen schlugen wie wild nach der gemeinsamen Flucht, endlich Mann und Frau, sie atemlos, mit einem breiten, diebischen Grinsen. Ihr Körper lag schwer auf seinem, der Wind fegte durchs Zimmer, draußen vor dem Fenster flüsterten Grashüpfer –

Mehr Erinnerungen blitzten auf, ungebeten und unerwünscht, eine Sturzflut aus Bildern und Empfindungen. Hände, die ihn an den Füßen brutal aus dem Bett zerrten, Stimmen, die er nur teilweise erkannte, von Männern, die er jetzt nie mehr vergessen würde. Seine Arme, schützend um den Kopf gelegt, um die Schläge abzuwehren, die auf ihn niedergingen. Der Schatten ihres zarten Körpers, barfuß im Mondlicht auf dem Flur, verschluckt von den dunklen Gestalten, die die Treppe hinaufstürmten. Schläge und Tritte von allen Seiten, aber seine Gedanken waren nur bei ihr. Wo war sie hingelaufen? War sie in Sicherheit? Und unter dem Chaos sein unerschütterlicher Söldnerinstinkt, sein kühler Verstand, der ihn dazu trieb, während sie weiter auf ihn einprügelten, unter das Bett zu greifen und nach der dort versteckten Waffe zu tasten, obwohl er wusste, dass es dafür zu spät war, dass er keine Chance hatte, denn die anderen waren einfach zu viele.

Die Erinnerungen kamen langsamer, waren jetzt gestochen scharf. Hände stießen ihn mit dem Gesicht zur Wand, jeder Knochen in seinem wehrlosen Körper tat weh. Der Lauf eines Revolvers presste sich kalt an seine Schläfe, ihr verzweifeltes Flehen auf dem Flur, sie sollten ihn am Leben lassen. Schließlich gab ihr Vater nach, wies seine Leute an, zurückzutreten. Der Lauf löste sich von seiner Schläfe, und der Hahn wurde entspannt. Und jetzt erinnerte er sich an das grausame Gesicht, das in seinem blutvernebelten Blickfeld auftauchte, an den angewiderten Ausdruck darin, an den barschen Befehl: Dixon, komm her und leg Silas’ Köter Handschellen an.

Schweißgebadet riss er die Augen auf. Sein Atem ging schwer, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Die Nachtluft war kalt und klar. Das Feuer war erloschen. Draußen vor der Höhle schlichen die Sterne in Bögen über den Himmel. Die Nacht war dünn und blau. Der Vollmond hing tief am Osthimmel. Er wickelte sich in seine Decke und schlief traumlos.

4

Nur ein paar Stunden später wachte er auf, weder erholt noch erschöpft, nur wach. Als der Morgentau im Sonnenlicht verdampfte, erblickte er auf der Baustelle der Central Pacific eine dicht gedrängte Gruppe Gleisbauer. Er bewegte sich langsam auf sie zu.

Nach einer Weile sah er sie deutlicher, die Reishüte, die Zöpfe, die im Takt der Hammerschläge schwangen. Als er näher kam, hörte er durch den Lärm ihr rhythmisches Zählen. Gesprochen wurde nicht. Und als er schließlich bei ihnen war, schienen sie ihn gar nicht zu bemerken, und falls ihn welche erkannten, zeigten sie es nicht. Wortlos stellte er sich zu ihnen. Die Männer machten ihm Platz, gaben ihm einen Vorschlaghammer zum Eintreiben der Nägel. Vielleicht starrten ihn ein paar neugierig an, diesen Fremden, der keinen Zopf trug und auf mysteriöse, stille Weise Gefahr ausstrahlte. Dann schloss sich die Reihe wieder, und im Nu war er in der Gruppe verschwunden.

Der Vorarbeiter saß Pfeife rauchend in etwa fünfundzwanzig Meter Entfernung auf einem kleinen Wall aus gelber Erde. Er war groß, spinnenhaft und hager. Jetzt erhob er sich, schlenderte hinüber zu den gesichtslosen, schuftenden Chinesen. Er bewegte sich staksig und ungelenk wie eine Marionette. In der Hand trug er einen abgegriffenen Hackenstiel aus Hickoryholz. Ming erkannte James Ellis sofort.

Ellis bückte sich mit der Pfeife im Mund, um eine Schwelle zu begutachten. Hinter ihm ritt ein anderer Vorarbeiter herbei und hielt sein Pferd an. Er war klein, selbst zu Pferd kaum größer als Ellis, mit weichen Gesichtszügen. Ming kannte ihn nicht. Der Mann grüßte Ellis, blickte aus kleinen, dunklen Augen hinüber zu den arbeitenden Chinesen. Die Hämmer fielen eins, zwei, eins, zwei. Ming versenkte mit zwei Schlägen einen Nagel, ging weiter zur nächsten Schwelle, lauschte unauffällig dem Gespräch der beiden Männer.

»Sie sind schneller als gestern«, sagte der Mann zu Pferd.

»Ja«, erwiderte Ellis. »Sie sollten das Tempo bis nächste Woche durchhalten.«

»Glaubst du?«

»Na ja, sieben Meilen weiter vorne muss noch aufgeschüttet werden. Aber ein paar Jungs arbeiten schon dran.«

»Werden sie rechtzeitig fertig?«

»Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.« Ellis lachte leise.

Der andere Mann lachte auch, und es gab eine kurze Gesprächspause. Ming hielt den Kopf gesenkt, den Blick fest auf die Schienen gerichtet. Eins, zwei, eins, zwei. Der Hammer war schwer und vertraut in seinen Händen.

»Ich wollte mit dir über den Lohn sprechen, James«, sagte der Mann zu Pferd. »Was zahlst du deinen Leuten?«

»Fünf.«

»Mr Alloway will nur noch drei pro Tag zahlen. Die Arbeit sei jetzt leichter, sagt er, und ich bin seiner Meinung.«

»Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte Ellis.

»Und wennschon«, sagte sein Kollege grinsend. »Wenn ihnen drei Dollar zu wenig sind, sollen sie zum Meer laufen und nach Hause schwimmen, verdammt noch mal. Der neue Lohn gilt ab morgen.«

»In Ordnung«, sagte Ellis achselzuckend. Er wandte sich an die Chinesen. Ming stellte sich hinter die anderen, versuchte Ellis’ Gesicht zu entnehmen, ob er ihn erkannte. Er wünschte sich, er hätte sich wieder einen Zopf wachsen lassen. Als er zum ersten Mal in die Sierra gekommen war, hatte Ellis ihm den Zopf mit der Axt abgeschnitten, damit er Ming von den anderen unterscheiden konnte. Aber Ellis schien ihn gar nicht wahrzunehmen.

Mehrere Chinesen stellten sich zu der Gruppe. Ellis räusperte sich. »Jungs, ihr leistet gute Arbeit, sauber und schnell.«

»Danke«, sagte ein Chinese in der ersten Reihe. »Stimmt es, was der Herr gesagt hat? Drei Dollar?« Er sprach ruhig und selbstbewusst, in fließendem und doch fremd klingendem Englisch. Vielleicht war er deshalb der Wortführer der Gruppe. Ming betrachtete eingehend sein Gesicht. Es sagte ihm nichts. Er erinnerte sich nicht an ihn.

Die Männer sahen Ellis stumm an. Manche stützten sich auf ihre Hämmer. Andere hockten auf den Fersen, blickten mit zusammengekniffenen Augen durch das weiße Licht zu den beiden Vorarbeitern auf.

»Ihr seid so schnell, dass Mr Alloway findet, er bezahlt euch zu viel«, verkündete Ellis, ohne die Frage des Chinesen zu beantworten.

Dunkle Schatten huschten über die Gesichter der Arbeiter.

»Mr Ellis«, sagte der Chinese mit dem fließenden Englisch. »Das ist furchtbares Denken.« Sein Tonfall war ein melodischer Singsang.

Ellis’ Gesicht bekam einen harten Ausdruck. »Ab morgen gibt’s drei pro Tag.«

»Mr Ellis«, kam die singende Erwiderung, diesmal nachdrücklicher.

Der andere Vorabeiter nickte Ellis kurz zu, gab Druck mit den Fersen, und wenig später waren Tier und Reiter verschwunden.

»Mr Ellis«, sagte der Wortführer ein drittes Mal.

Eine lange Pause trat ein. Ellis griff die Spitzhacke fester und schob den Unterkiefer vor. Gewaltbereitschaft lag spürbar in der Luft. Aber dann verließ die Männer der Mut, und stumpfe Resignation machte sich breit.

»Zurück an die Arbeit, Jungs«, befahl Ellis und drehte sich um.

Das rhythmische Schlagen setzte wieder ein. Ellis ging davon. Ming ließ den Hammer fallen und zog den Revolver. Ein paar Chinesen neben ihm bemerkten es und wichen zurück. Die anderen Hämmer fielen weiter auf zwei. Ming zielte auf Ellis’ Rücken, spannte mit dem Daumen den Hahn. Niemand sagte etwas. Die Hämmer schlugen eins, zwei, eins, zwei. Ellis war fünfzig Meter entfernt.

»Ellis, du Hurensohn«, rief Ming schließlich. »Erkennst du mich nicht?«

James Ellis schaute sich blinzelnd um und zog einen kurzen Augenblick lang verwundert die Stirn kraus. Dann trat ein entsetzter Ausdruck in sein Gesicht. Hinter Ming fielen die Hämmer eins, zwei, eins, zwei, eins, und auf zwei schoss er.

Der Knall ging im Chor der Hämmer unter. Ellis fiel vornüber. Auch die übrigen Chinesen stellten die Arbeit ein. Rufe ertönten. Ming steckte die Waffe weg, stapfte zu dem Toten, der mit dem Gesicht im Staub lag. Blut sickerte aus dem kleinen Loch in seinem Nacken. Er drehte Ellis auf den Rücken, um zu sehen, was von seinem Gesicht übrig war. Blut und Knochen glitzerten im Sonnenlicht. Mit schnellen Griffen durchsuchte er Ellis’ Taschen. Etwas Geld. Aber keine Informationen über Dixon, Kelly oder die anderen.

Er stand fluchend auf. Die Chinesen guckten zu ihm hinüber. Die Aufregung hatte sich gelegt. Ming zog Ellis an den Füßen über den Wall auf die andere Seite, wo er nicht zu sehen war. Dann ging er zurück zu den Arbeitern.

»Wo ist der Prophet?«, fragte er.

Die Männer schwiegen. Ming blickte durch die Reihen, auf der Suche nach einem Gesicht, das er einst gekannt hatte.

»Prophet«, rief er. »Ich bin’s.«

Ein Chinese tastete sich langsam nach vorne. Die Männer traten auseinander, um ihn durchzulassen. Die Augen des Mannes waren durch uralte Blindheit weiß geworden. »Mein Kind«, sagte er. »Da bist du endlich.« Der alte Mann lächelte herzlich.

»Bringt ihn her«, sagte Ming. Niemand rührte sich. Er zog die Waffe, zielte auf die Gruppe. »Bringt ihn her«, wiederholte er.

Ein junger Chinese fasste den Propheten am Arm und führte ihn nach vorne. Ming nahm die ausgestreckte Hand des alten Mannes, der junge Chinese trat zurück.

»Prophet«, sagte Ming. »Erinnerst du dich an mich?«

»Nein«, murmelte der Prophet. »Aber ich weiß, warum du hier bist. Ich soll dich führen, nicht?«

»Gehst du mit?«

Der Prophet bejahte. Ming richtete die Waffe auf den Mann, der vorhin mit Ellis gesprochen hatte, und fragte ihn, wie weit es nach Lucin sei.

»Zwei Tage zu Fuß«, sagte der Mann. »Richtung Nordwesten.«

»Danke«, sagte Ming. Er ließ den Revolver einmal um den Finger wirbeln und steckte ihn wieder ins Holster.

Ming und der Prophet gingen etwa eine Meile Richtung Norden, dann bogen sie nach Westen, folgten dem Verlauf der fernen Bahngleise. Nebel bedeckte die Landschaft. Sie zogen unbeirrt und schweigend durch die dichten Schwaden, bis am nächsten Morgen die Sonne aufging. Als sie schließlich nach Lucin kamen, suchte ihnen Ming am Ortsrand eine Herberge und mietete von Ellis’ Geld ein Zimmer. Der Prophet setzte sich im Schneidersitz auf den harten Eichenboden, starrte durch die Wände auf die glitzernde Sonne. Ming strich den Namen James Ellis in seinem Notizbuch. Noch vier. Anschließend ging er im Zimmer umher, wartete schlaflos und voller Spannung auf den Einbruch der Nacht und einen neuen Tag.

5

Am nächsten Tag ließ Ming aus einem Pfund Blei Kugeln gießen und kaufte von Ellis’ restlichem Geld zwei Pferde und ein Gewehr. Am späten Nachmittag kam er in die Herberge zurück. Der Prophet saß noch so da wie vorhin, im Schneidersitz, leicht entrückt. Falls er von Mings Rückkehr Notiz nahm, zeigte er es nicht. Er aß weder noch trank er. Noch immer schwiegen die beiden Männer. Ming wetzte den Schwellennagel, bis er glänzte. Anschließend reinigte er gründlich den Revolver und ölte ihn. Die Schatten draußen wurden lang, dann wurden sie vom Abend verschluckt. Ming legte sich voll bekleidet aufs Bett und schlief sofort ein.

Mitten in der Nacht weckte ihn der Prophet. »Mein Kind«, flüsterte er, »mach dich bereit und kämpfe.« Der alte Mann stand an seinem Bett, die weißen Augen starrten in den blauen Staub.

Unten gab es Lärm. Leute stampften die Treppe herauf. Aufgebrachte Stimmen – drei, vielleicht vier Männer –, johlend, angriffslustig, betrunken. Die Stufen knarrten unter ihrem Gewicht. Sie erreichten den ersten Stock. Die schweren Schrittgeräusche verstummten. Ming zog den Revolver, schlich neben die Tür. Draußen befahl jemand den Männern leise, still zu sein.

»Ich nehme deinen Platz ein«, flüsterte der Prophet. Der alte Mann legte sich aufs Bett, ein falscher Körper.

Ming blickte auf seine Waffe. Sechs Schuss.

Auf der anderen Seite wurde eine Laterne ans Schlüsselloch gehalten. Ein dünner Lichtstrahl geisterte durch das staubige Zimmer. Die Laterne wurde weggezogen, und jemand spähte durchs Schlüsselloch.

»Ich glaub, ich seh ihn. Er liegt im Bett«, sagte ein Mann mit gedämpfter Stimme.

»Okay, ganz leise jetzt«, sagte ein anderer.

Der Türknauf drehte sich und blockierte.

»Hector«, zischte jemand. »Die verdammte Tür ist abgeschlossen.«

Ming hörte ein klimperndes Schlüsselbund. Kurz darauf sprang das Schloss auf.

»Okay«, flüsterte der Mann, der Hector hieß. »Seid ihr bereit?«

Gedämpfte Jas ertönten.

»Halt«, sagte eine Stimme, die Ming als die des Wirts erkannte. »Sind Sie sicher, dass er der Richtige ist?«

»Ganz sicher. Sie haben selbst gesagt, er sei ein großer Chinese.«

»Also, groß war er eigentlich nicht«, protestierte der Wirt halbherzig. »Nur größer als ein normaler Chinese.«

»War ein anderer Gelber bei ihm?«

»Ja, ein blinder alter Kuli.«

»Dann ist er es. Er muss es sein.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

»Los, Jungs, schnappen wir uns den Hurensohn«, sagte Hector und drehte den Knauf.

Die Tür öffnete sich langsam in den Flur. An der Wand gegenüber erschien ein Rechteck aus Licht. Ming sprang vor die Tür und trat sie auf. Eine Gestalt taumelte zurück, stürzte rückwärts die Treppe hinunter, schlug unten mit dem Kopf ans Geländer. Das musste Hector sein. Vor ihm rang ein Mann taumelnd mit dem Gleichgewicht. Die Tür stieß gegen den Mann dahinter. Ming drückte die Revolvermündung auf das dünne Holz und schoss. Es gab einen kurzen, überraschten Schmerzensschrei, und ein Körper fiel schwer auf den Holzboden. Mit einer flüssigen Bewegung der linken Hand spannte Ming den Hahn und feuerte ein zweites Mal durch die Tür, diesmal nach unten, wo der Angeschossene lag. Noch vier Schuss. Der Mann vor ihm hatte sich wieder gefangen und die Waffe gezogen. Ming schoss aus der Hüfte, traf ihn in den Oberschenkel, und der Mann sackte zusammen. Die Kugel, die er im Fallen abfeuerte, flog hoch über Mings Kopf hinweg ins Zimmer und schlug in die Decke. Noch drei Schuss. Der Wirt stürzte auf die Tür zu. Ming trat geschickt zur Seite, rammte ihm den Ellbogen ins Gesicht, und der Wirt ging zu Boden. Der Mann mit dem Beinschuss hob die Waffe und zielte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Mings Oberkörper.

»Schieß«, rief der Prophet aus dem Zimmer.

Der Mann gehorchte und schoss in dem Moment, als der Wirt sich benommen aufrappelte. Die Kugel traf den Unglückseligen unterm Schlüsselbein, und er brach zusammen.

»Gut gemacht«, sagte der Prophet.

Der Mann mit dem Beinschuss fluchte und zielte erneut auf Ming, aber Ming kam ihm zuvor und schoss ihm in den Kiefer. Noch zwei Schuss. Hinter sich hörte Ming eine sonderbare Melodie. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, woher sie kam. Der Prophet sang vor sich hin. Ming trat hinaus auf den Flur, ging zu dem Angeschossenen hinter der Tür, der sich vor Schmerzen am Boden wand, und tötete ihn. Noch ein Schuss. Er richtete den Revolver auf die gekrümmte Gestalt am Fuß der Treppe, spannte den Hahn und erschoss auch diesen Mann.

Bis auf den Gesang des Propheten war es totenstill. Der alte Mann stand oben an der Treppe und schien Ming zu beobachten. Er sang ein altes Lied.

Ming blickte zu ihm hinauf. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte der Prophet. »Meine Stunde war noch nicht gekommen.«

»Ich danke dir«, sagte Ming.

»Ich habe nichts getan.«

Auf der Theke lag ein abgerissener Steckbrief. Darauf wurde eine Belohnung von eintausend Dollar für die Festnahme und Auslieferung von M. Tsu geboten, Mörder von James Ellis von der Central Pacific Railroad Company, von Judah Ambrose aus Salt Lake und anderen, dem verantwortlichen Sheriff unbekannten Personen. Chinese, Haarfarbe: schwarz, trägt keinen Zopf. Augenfarbe: schwarz. Größe: 1,80. Gewicht: 80 Kilo. Ein gesuchter Mörder und Bandit aus Sacramento, Kalifornien, größer als die meisten Chinesen. Vorsicht: Gefährlich und äußerst gewaltbereit. Unterwegs mit einem greisen, blinden Kuli. Die Belohnung wird ausgezahlt nach Übergabe des Gesuchten an Sheriff Charles Dixon, Unionville.

»Unionville«, sagte Ming mit höhnischem Grinsen.

Dixon hatte sich also verraten. Wahrscheinlich hatte Adas Vater ihn nach Mings Flucht dorthin geschickt und ihn beauftragt, sich nach dem mordenden Chinesen umzuhören. Und der Mistkerl hatte es in Unionville sogar bis zum Sheriff gebracht.

»Eine Horde Geldgieriger«, sagte der Prophet von oben und riss Ming aus seinen Gedanken.

»Ja.« Ming betrachtete die Zeichnung auf dem Steckbrief. Dieser Mann sah ihm überhaupt nicht ähnlich. »Charles Dixon hat sie geschickt«, sagte er. »Der korrupte Sheriff, von dem ich dir in der Sierra erzählt habe. Erinnerst du dich?«

»Nein«, antwortete der alte Mann.

»Dann hab ich mich wohl geirrt«, sagte Ming halb zu sich selbst. »Jedenfalls ist er jetzt in Unionville.« Er faltete den Steckbrief zusammen, schob ihn in sein Notizbuch, dann blätterte er zu der Namensliste und schrieb Unionville neben Dixons Namen. Später würde er in die Karte schauen und sich eine Route überlegen. »Komm nach unten, alter Mann«, rief er die Treppe hinauf. »Uns bleibt nicht viel Zeit, bevor hier Leute auftauchen, die mit uns reden wollen.«

Der Prophet folgte der Aufforderung. Ming ließ ihn an der Theke zurück und ging wieder nach oben, vorsichtig vorbei an den glitschigen Blutlachen. Er passierte die Tür mit den Schusslöchern, holte sein Gepäck aus dem Zimmer, durchsuchte die Taschen der drei Toten. Zwei Messer, ein Pfund Schwarzpulver. Er verstaute die Beute, ging zurück in den Schankraum, trat hinter die Theke und leerte die Kasse. Die Münzen fielen klimpernd in sein Bündel. Dann filzte er den Toten bei der Treppe. Vier Pfund Blei, ein paar Gießformen, noch ein Pfund Schwarzpulver. Alles wanderte in sein Gepäck.

Er schaute sich in der leeren Bar um. Alles still. Dann ging er wieder hinter die Theke und nahm sich eine Flasche Whisky.

»Zeit zu gehen«, rief der Prophet von draußen. Ming stopfte die Flasche in sein Bündel.

Als Ming aus der Herberge trat, saß der Prophet schon auf seinem Pferd. Er band sein eigenes Pferd los, stieg auf und gab dem Tier die Sporen.

6

»Du erinnerst dich nicht an mich.«

Sie saßen an dem fast erloschenen Feuer, das sie aus verdorrtem Wüstensalbei und Chamisezweigen gemacht hatten. Sie waren die Nacht und den nächsten Tag durchgeritten, hatten bei Sonnenuntergang ihr Lager aufgeschlagen. Ming stocherte mit einem Zweig in der Glut. Der alte Mann schaute blind in die Sterne.

»Nein«, sagte der Prophet. Er betrachtete Ming mit seinen trüben Augen. »Hattest du das erwartet?«

»Denke schon«, sagte Ming. »Warum bist du mitgekommen, wenn du dich nicht an mich erinnerst?«

»Ich wusste, dass du mich brauchst.«

Das Gesicht des Propheten war so uralt wie alterslos. Die Zeit hatte ihre Stunden und Tage in die sonnengegerbte Haut geschrieben, aber keinen Halt gefunden. Er war wie lebendiges Gestein: Wenn er sprach, verflüchtigten sich die Jahre von den hohlen Wangen und aus den eingesunkenen Augen, wie Fliegen, die vom Rücken eines schlafenden Tieres aufstieben, wenn es sich rührt. Er war ein Mann, unbelastet von Erinnerungen, ein Mann, für den die Zukunft mit ihren ungesponnenen Fäden so hell und klar war wie die Vergangenheit nebelhaft und ausgefranst.

»Welche Erinnerungen hast du dir denn erhofft?«, fragte der Prophet mit klarer, ruhiger Stimme.

»Verdammt«, sagte Ming. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie früher als Kind, stumm, voller Wörter, die er nicht sagen konnte. Er betrachtete seine Hände, verschränkte die Finger ineinander. Nach und nach zerfiel die Glut zu grauer Asche. Die Luft war kalt und unbarmherzig. »Wir haben uns gekannt«, begann Ming von Neuem. »In der Sierra. James Ellis, der Mann, den ich an den Gleisen getötet habe, war unser Boss, ein echter Hurensohn. Viele von uns sind dort oben draufgegangen«, sagte er und neigte den Kopf nach Westen. Seine Stimme war leise und fremd. Er erzählte dem Alten von den Lawinen, die reihenweise Arbeiter mit sich in die gefrorenen Täler gerissen hatten, von den Männern, die sie manchmal am Morgen nach einem Schneesturm fanden, die Wimpern von Raureif überzogen. Von Ellis’ Hackenstiel und den Schlägen, mit denen er die wenigen, die vor Erschöpfung oder aus Dummheit die Hämmer niederlegten und Pause machten, wieder an die Arbeit trieb. Von der Handvoll Chinesen, die jeden Morgen in das Zelt des Propheten kamen und sich nach Leuten erkundigten, von denen sie hofften, dass sie noch lebten. Er sah den Alten forschend an: »Erinnerst du dich an den Namen Silas Root? Meinen Vormund?«

Der alte Mann wiederholte den Namen, als würde er jede Silbe zum ersten Mal aussprechen. Dann schüttelte er den Kopf. Der Name sei ihm unbekannt, sagte er.