Die Tiefe: Versunken - Karen Sander - E-Book

Die Tiefe: Versunken E-Book

Karen Sander

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Beschreibung

Die dritte Staffel der packenden Ostsee-Thrillerserie von Bestsellerautorin Karen Sander. Auf der Suche nach dem Wrack eines Wikingerschiffs entdecken Hobbytaucher vor der Küste ein gesunkenes Segelboot, unter Deck die Leichen einer Familie. Was zunächst nach einem tragischen Unglück aussieht, entpuppt sich rasch als grausames Verbrechen: Alle vier wurden erschossen. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt bricht seinen Urlaub ab, um die Ermittlungen zu leiten. In den nächsten Tagen und Wochen geschehen weitere Morde, doch die Taten hängen scheinbar nicht zusammen. Bis sich herausstellt, dass in allen Fällen rätselhafte anonyme Briefe an die Angehörigen geschickt wurden. Kryptologin Mascha Krieger entschlüsselt die Briefe und findet heraus, dass es um Rache geht. Doch es scheint keine Verbindung zwischen den Opfern zu geben, die Hinweise auf den Täter liefern könnte. Tom und Mascha müssen alles geben, um diesen Fall zu lösen. Trilogie 1: «Der Strand» Band 1: Vermisst Band 2: Verraten Band 3: Vergessen Trilogie 2: «Der Sturm» Band 1: Vergraben Band 2: Verachtet Band 3: Vernichtet Trilogie 3: «Die Tiefe» Band 1: Versunken (Nov. 2025) Band 2: Verblendet (Feb. 2026) Band 3: Verloren ( Mai 2026)

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EPUB
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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Karen Sander

Die Tiefe: Versunken

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Eine gesunkene Segeljacht.      Eine ermordete Familie unter Deck.            Und es wird weitere Opfer geben.

 

Auf der Suche nach dem Wrack eines Wikingerschiffs entdecken Hobbytaucher vor der Ostseeküste ein gesunkenes Segelboot, unter Deck die Leichen einer Familie. Was zunächst nach einem tragischen Unglück aussieht, entpuppt sich rasch als grausames Verbrechen: Alle vier wurden erschossen. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt bricht seinen Urlaub ab, um die Ermittlungen zu leiten.

Während Tom auf dem Darß ermittelt, muss Kryptologin Mascha Krieger in Anklam einen rätselhaften Brief entschlüsseln, den eine junge Ärztin am Tag ihres Todes erhalten hat. Die Soko wird ausgerechnet von ihrem Stiefbruder Holger geleitet, was ihre Arbeit nicht leichter macht. Sie findet heraus, dass es bei dem Mord um Rache gehen muss, doch wer hatte eine Rechnung mit der Ärztin offen?

Dann werden zwei weitere Menschen auf dem Darß erschossen, diesmal auf einem Motorboot. Jagen Tom und sein Team einen Serienmörder?

 

Der Auftakt der dritten Trilogie um Tom Engelhardt & Mascha Krieger.

Vita

Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Mit ihrem Mann lebt sie die Hälfte des Jahres in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die übrige Zeit reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog.

Mehr unter: writearoundtheworld.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Westend61/Getty Images; FinePic®, München

ISBN 978-3-644-02175-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Juli 1996

Wieck am Darß, am Nachmittag

Mascha hob einen Kieselstein auf und zielte, die Fantadose flog vom Tisch und landete zwischen den Dahlien. «Sollen wir was spielen?», fragte sie. «Mir ist langweilig.»

Ihre Freundin Peggy rekelte sich im Liegestuhl. «Zu faul.»

Mascha ergriff einen weiteren kleinen Stein und nahm die Regentonne ins Visier, traf jedoch Peggys nackte Zehen.

«Au!» Peggy fuhr hoch. «Spinnst du?»

«Sorry, habe schlecht gezielt.» Mascha zupfte an einem losen Faden ihres Stuhlpolsters. Das Blumenmuster war von der Sonne ausgebleicht, an einer Stelle blinzelte der Schaumstoff durch die Naht.

Die Liegestühle waren genauso altersschwach wie das Haus, in dessen Vorgarten sie es sich bequem gemacht hatten. Die graue Fassade hätte etwas Farbe vertragen können, und die alten Holzfenster waren so verzogen, dass sie kaum noch schlossen. Nur der riesige Garten, der sich rund ums Haus erstreckte, war gepflegt, die Blumenbeete vom Unkraut befreit und der Rasen unter den Obstbäumen sauber gemäht, wenn auch von der Sommerhitze gelb.

Als Peggy vorgeschlagen hatte, die letzten zwei Wochen der Sommerferien zusammen bei ihren Großeltern auf dem Darß zu verbringen, war Mascha Feuer und Flamme gewesen. Ihre Familie fuhr nicht in den Urlaub. Zu DDR-Zeiten hatte es nicht viele Optionen gegeben, obwohl Maschas Vater als Volkspolizist sicherlich einen Platz in einem Ferienheim bekommen hätte, und jetzt, wo man überallhin fahren durfte, wollten ihre Eltern trotzdem nicht weg. «Warum sollen wir verreisen, wo wir es doch in unserem Garten so schön haben?», fragte ihre Mutter, wann immer Mascha das Thema ansprach.

Ihr großer Bruder Holger war mit ein paar Schulfreunden nach Italien gefahren. Er war schon sechzehn, ließ sich nichts mehr sagen. Aber Mascha war erst zwölf. Und sosehr sie es genoss, wenn Holger nicht zu Hause war und sie ärgern konnte, so sehr hasste sie es, der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern ausgesetzt zu sein.

Sie blickte sich suchend um. Vielleicht gab es ja auf der Dorfstraße etwas zu sehen. Aber da war niemand. Kein Wunder. Es war viel zu heiß. Das Sonnenlicht flimmerte über dem Asphalt, die Wiese am Straßenrand war vertrocknet. Nichts rührte sich. Wer nicht verreist war, hockte im Haus und wartete auf den kühlen Abend. Oder badete im Meer. Wenn sie wenigstens an den Bodden dürften! Aber allein ließen Peggys Großeltern sie nicht dorthin. Zu gefährlich. So ein Schwachsinn, sie waren doch keine Babys mehr! Sie selbst waren nach Zingst zum Einkaufen gefahren. Bestimmt gingen sie danach noch ein Eis essen. Das war so ungerecht!

Mascha bemerkte eine Frau, die über den glühenden Asphalt schlurfte. Sie schob einen dunkelblauen Kinderwagen, blieb alle paar Meter stehen, um sich die Stirn abzuwischen. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie sprechen, doch seltsamerweise blickte sie das Kind im Wagen dabei nicht an.

«Komische Alte», murmelte Mascha.

Peggy hob den Kopf. «Ach die.» Sie ließ sich wieder in den Liegestuhl sinken.

«Kennst du die Frau?»

«Zum Glück nicht!»

Neugierig sah Mascha wieder zur Straße hinüber. «Was ist denn mit ihr?»

«Hat nicht alle Tassen im Schrank.»

«Echt?» Mascha betrachtete die Frau genauer. Sie trug trotz der Hitze Wanderschuhe und einen Mantel, das halblange Haar hing wirr herunter. «Und das Kind?»

«Was denn für ein Kind?» Wieder schoss Peggys Kopf hoch. «Meinst du den Wagen? Da ist kein Kind drin, nur Schnaps.»

«Du lügst.»

«Geh doch nachsehen.»

Mascha zögerte, war jedoch zu bequem, sich aus dem Liegestuhl zu erheben. Die Hitze lähmte sie. Außerdem war ihr die Frau unheimlich.

«Mein Vater meint, die gehört eingesperrt», erzählte Peggy. «Aber meine Oma sagt, sie verdient unser Mitleid. Weil sie doch nichts dafür kann.»

«Wofür?»

«Na, dass sie einen an der Klatsche hat.»

«Ist sie gefährlich?»

«Keine Ahnung. Oma sagt, sie ist traurig.»

«Und warum?» Mascha beobachtete, wie die Frau ein schmales Gartentor aufschob und den Kinderwagen hindurchbugsierte.

«Man hat ihr das Kind weggenommen, als es noch ganz klein war, und es zu anderen Eltern gegeben. Und sie hat aus Kummer den Verstand verloren. Vielleicht hat man ihr aber auch das Kind weggenommen, weil sie irre ist. Was weiß ich.» Peggy erhob sich. «Mir ist heiß. Sollen wir uns mit dem Gartenschlauch abspritzen?»

«Ich dachte, wir dürfen kein Wasser verschwenden?»

«Wer soll uns denn verpetzen?»

Auch wahr. Mascha sprang ebenfalls auf. «Wer zuerst am Schuppen ist!»

Sie rannten los. Im Laufen sah Mascha noch einmal zu der Frau hinüber, doch sie war bereits im Haus verschwunden.

24 Jahre später

Dienstag, 14. Juli Ostsee vor dem Darß, am Vormittag

Alina klammerte sich an die Reling und betrachtete das Jacket mit der Sauerstoffflasche zu ihren Füßen. Ihr wurde plötzlich mulmig zumute. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Wieso hatte sie nicht einfach den Mund gehalten?

Das war echt typisch für sie. Erst reden und dann denken. Ihr Vater hatte ihr prophezeit, dass sie damit irgendwann mal richtig auf die Schnauze fallen würde. Und das war sie, mehr als einmal. Trotzdem passierte es ihr immer wieder. So auch gestern Abend. Sie hatte einfach nicht nachgedacht, hatte den beiden Typen imponieren wollen. Vor allem Timm. Der war aber auch echt süß. Was kein Grund war, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Die beiden Männer hatten in der Strandbar am Nebentisch gesessen. Alina hatte nicht lauschen wollen, aber ihre Freundin war spät dran gewesen, und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt.

Deshalb hatte sie mitbekommen, dass sie für irgendwas eine dritte Person brauchten, jemanden, der tauchen konnte. Ohne zu wissen, worum es überhaupt ging, hatte sie sich eingeschaltet.

«Ich kann tauchen.»

Die beiden hatten sie wortlos angestarrt.

«Sorry», hatte sie hastig hinzugefügt. «Ich wollte mich nicht einmischen, ich habe nur zufällig gehört, was ihr gesagt habt.»

Danny, der größere der beiden, hatte sie abschätzend gemustert. «Und du kannst tauchen? Echt?»

«Klar.»

Was nur bedingt der Wahrheit entsprach. Sie hatte einen einwöchigen Tauchkurs auf Bali gemacht, vor fünf Jahren, und danach keinen einzigen Tauchgang mehr absolviert. Und sie hatte nicht gerade eine gute Figur dabei gemacht. Denn eigentlich litt sie unter Platzangst. Wenn das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, schaffte sie es nur mit Mühe, die Panik im Zaum zu halten. Sie hatte den Kurs ihrem damaligen Freund zuliebe gemacht, der das Meer liebte und schon in Belize, Australien und sogar auf den Galapagosinseln die Unterwasserwelt erkundet hatte. Die Beziehung hatte den Urlaub nicht überlebt. Und ihre Leidenschaft fürs Tauchen ebenfalls nicht.

Und jetzt stand sie hier auf dem kleinen Motorboot, das unruhig auf den Wellen schaukelte, und musste hinunter in die Tiefe.

Alina warf einen neidischen Blick auf Trixie, die sich auf der Bank rekelte, einen Drink in der Hand. Trixie war Dannys Freundin, und sie machte keinen Hehl daraus, dass die ganze Taucherei sie nicht die Bohne interessierte. Danny schien das egal zu sein. Am liebsten hätte Alina sich zu ihr gesellt, aber für einen Rückzieher war es zu spät. Die beiden Männer waren bereits in ihre Anzüge gestiegen und sahen zweifelnd zu ihr hinüber. Danny hatte verächtlich das Gesicht verzogen, als Alina von ihrem Tauchkurs auf Bali erzählt hatte, doch Timm hatte gemeint, dass es schon passen würde. Sie durfte ihn nicht enttäuschen.

Mit einem Seufzer schnallte Alina sich das Jacket um. Sie hatte die Ausrüstung vorschriftsmäßig überprüft, aber sie war dabei so nervös gewesen, dass sie bestimmt nicht bemerkt hätte, wenn irgendwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Immerhin war sie nicht allein. Und sie sollte ja bloß die Kamera halten und dokumentieren, wie die beiden das Wrack untersuchten.

Mutmaßlich ein vor über tausend Jahren gesunkenes Wikingerschiff. Den Tipp hatte Danny von einem Tauchkumpel. Gestern hatten die Männer sich bereits davon überzeugt, dass tatsächlich etwas Großes auf dem Meeresgrund lag, aber da war das Wetter zu unsicher gewesen für einen Tauchgang. Am Horizont hatten sich Gewitterwolken geballt, und sie hatten gemacht, dass sie an Land kamen.

Danny war Hobbyschatzsucher, hatte schon mehrere Wracks auf dem Grund der Ostsee lokalisiert und sogar alte Münzen und andere Gegenstände gefunden. Das behauptete er zumindest auf seinem YouTube-Kanal. Normalerweise war neben Timm ein weiterer Kumpel mit von der Partie, der die beiden beim Tauchen filmte, aber der war kurzfristig ausgefallen.

Angeblich lagen mehr als hunderttausend Wracks auf dem Grund der Ostsee, viele davon in sehr gutem Zustand. Einige waren richtige Tauchhotspots, doch die interessierten Danny und Timm nicht. Sie wollten Wracks erkunden, zu denen noch niemand hinabgetaucht war, und die Ersten sein, die das Schiff nach seinem Untergang betraten.

Alina zog die Tauchmaske an und griff nach dem Stick mit der GoPro. Timm hatte ihr eben noch die wichtigsten Funktionen erklärt. «Einfach nur immer an uns dranbleiben und draufhalten», hatte er gesagt. «Ist ganz easy. Du schaffst das schon.»

Sie blickte ins trübe Wasser. Der Himmel war grau, das Meer züngelte unruhig. Ist doch nur die Ostsee, hatte sie gestern noch gedacht. Doch jetzt graute ihr davor, ins bodenlose Nichts zu springen.

«Na los», forderte Danny sie mit einer Handbewegung auf.

Sie sollte zuerst von Bord, um festzuhalten, wie die beiden ins Wasser eintauchten.

Alina nahm ihren Mut zusammen und ließ sich fallen. Als das Meer über ihr zusammenschlug, hätte sie beinahe panisch aufgeschrien. Ihr wurde schwindelig, alles drehte sich, und vor Angst vergaß sie kurz zu atmen.

Cool bleiben, sagte sie sich und holte einige Male tief Luft. Ihr Puls beruhigte sich, sie erkannte die Wasseroberfläche dicht über ihr, und auch den Umriss des Motorboots, und atmete erleichtert auf. Sie aktivierte die Kamera und richtete sie nach oben. Obwohl sie das Gefühl hatte, eine halbe Ewigkeit mit ihrer Panik gekämpft zu haben, waren bestimmt nur wenige Sekunden vergangen. Danny und Timm mussten jeden Moment zu ihr stoßen. Hoffentlich hielt sie die Kamera in die richtige Richtung!

Sie wartete eine Weile, doch nichts geschah. Auch der Schatten, den sie für das Boot gehalten hatte, war mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Wieder stieg Panik in ihr auf. War sie etwa abgetrieben? So schnell?

Ihre Gedanken überschlugen sich. Was, wenn das alles ein böser Streich war? Wenn die Männer sie ins Wasser hatten springen lassen und dann abgehauen waren?

Unsinn, sagte sie sich. Warum sollten sie das tun?

Bestimmt hatte sie den Sprung verpasst, und die beiden waren schon unten am Wrack. Sie musste ihnen folgen, damit sie nicht alles noch mal filmen mussten.

Sie schaltete die Stirnlampe ein, atmete langsam aus und drückte mehrmals kurz auf den Deflator. Kleine Blasen stiegen auf, als die Weste Luft verlor und Alina langsam nach unten sank. Sie wusste, dass die Ostsee hier nur etwa zwanzig Meter tief war, trotzdem schien sie endlos hinabzugleiten. Hoffentlich fand sie die richtige Stelle! Es wurde dunkler um sie herum, ein großer Schatten glitt an ihr vorbei. Gab es in der Ostsee Haie?

Dann schälten sich unter ihr Konturen aus dem Dämmerlicht. Ein Segelschiff, das seitlich auf dem Meeresgrund lag, aber viel kleiner war, als sie erwartet hatte. Und nicht jahrhundertealt und vermodert, sondern strahlend weiß und scheinbar völlig intakt. Nur der Mast war abgeknickt, und die Überreste des Segels schlängelten sich in der Strömung über den Meeresboden wie ein lebendiges Wesen. Kein Wikingerschiff, sondern eine moderne Jacht.

Alina betätigte den Inflator, um nicht noch tiefer zu sinken, und schwamm vorsichtig näher, den Lichtstrahl auf den Schiffsrumpf gerichtet. Warum die Jacht wohl gesunken war? Ein Sturm? Ein Leck? Hoffentlich hatten die Menschen an Bord sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können!

Als sie näher kam, nahm sie eine Bewegung hinter einem der Bullaugen wahr. Das mussten Danny und Timm sein, die das Wrack untersuchten. Rasch brachte sie die Kamera in Position und schwamm darauf zu. Da war die Gestalt wieder, sie schien ihr zu winken.

Alina tauchte ganz dicht heran. Dann erstarrte sie, begann hektisch nach Luft zu schnappen. Die Person auf der anderen Seite der Scheibe hatte lange blonde Haare und nur ein Auge.

Vancouver, Kanada, am Mittag

«Chattest du mit deinem Lover?»

Mascha Krieger legte das Handy weg, fuhr herum und bedachte ihren Kollegen Damian de Vries mit einem spöttischen Lächeln. «Bist du eifersüchtig?»

Damian grinste. «Selbstverständlich nicht.» Das Grinsen wurde breiter. «Oder vielleicht doch. Ein bisschen.» Er hielt ihr einen Pappbecher hin. «Hab dir einen Kaffee mitgebracht. Damit du den zweiten Teil des Vortrags durchhältst. Ziemlich einschläfernd, was der Typ erzählt, findest du nicht?»

«Ich finde es sehr spannend.» Mascha nahm den Becher entgegen und stellte ihn auf dem Tisch ab. «Danke.» Sie kehrte ihm wieder den Rücken zu.

«Schon verstanden, ich verziehe mich.»

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Damian auf die Tür des Veranstaltungsraums zueilte.

Sie mochte ihn, er war intelligent, aufmerksam und hatte Humor. Aber er war auch extrem von sich eingenommen. Trotzdem war sie froh, dass er hier war. Sie waren die einzigen deutschen Beamten, die an der dreitägigen Fortbildung in Vancouver teilnahmen. Es ging um Täterverhalten und Tatmuster. Damian de Vries arbeitete wie Mascha im LKA Schwerin. Er war Fallanalytiker oder, wie man hier in Nordamerika sagte, Profiler. Mascha war Mordermittlerin mit einer Spezialausbildung als Kryptologin. Da es auch in der Kryptologie viel um die Erkennung von Mustern ging, hatte ihr Chef sie zusammen mit Damian nach Kanada geschickt.

Mascha ließ den Blick zu der großen Fensterfront wandern. Die Tagung fand im Vancouver Convention Centre statt, einem spektakulären Bau direkt am Hafen, von wo aus man nicht nur die glitzernde Wasserfläche, die großen Schiffe und die Gipfel des Küstengebirges sehen konnte, sondern auch die grünen Baumwipfel des Stanley Park, der als Halbinsel in den Pazifik ragte und in dem sie gestern Abend eine Runde gelaufen war. Unterhalb der Fensterfront befand sich eine Anlegestelle für Wasserflugzeuge, die von hier mit lautem Knattern starteten.

Vancouver gefiel ihr. Es war eine Metropole voller Gegensätze, in der Menschen aus allen Teilen der Welt lebten und für ein reichhaltiges Angebot an Kultur und Gastronomie sorgten. Leider war heute schon der letzte Tag, morgen würde sie heimfliegen, und sosehr sie an ihrer Heimat hing, sie hätte es gut eine Weile länger ausgehalten. Sie mochte es, wie freundlich und gelassen die Kanadier miteinander umgingen.

Sie nahm ihr Handy vom Tisch. In Spanien war es halb zehn abends. Noch nicht zu spät für einen kurzen Anruf. Sie vermisste Tom, wollte seine Stimme hören.

Doch bevor sie seine Nummer aufrufen konnte, ließ sich eine Frau auf dem freien Stuhl neben ihr nieder.

«Er ist ein Raubtier», sagte sie mit verschwörerischer Miene auf Englisch.

«Wer?», fragte Mascha verwirrt.

«Dein Kollege. Er ist ein Raubtier, und er hat dich als Beute ins Auge gefasst.»

Mascha musterte die Frau skeptisch. Sie hatte wilde schwarze Locken, karamellfarbene Haut, und ihre dunklen Augen funkelten schelmisch.

«Wie kommst du darauf?», hakte sie nach.

«Zwanzig Jahre Major Case Squad in New York City. Ich erkenne ein Raubtier, wenn ich eins vor mir habe.» Sie streckte die Hand aus. «Sorry, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Stacy.»

«Mascha.»

«Und wie gefällt dir die Fortbildung, Mascha?»

«Sie ist sehr … interessant», erwiderte Mascha zögernd. In Wahrheit war sie begeistert gewesen – bis der gestrige Workshop sie heftig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Es war um Trigger gegangen, und darum, wie sie tief verankerte, unbewusste Muster aufdeckten. Die Teilnehmer hatten einen Selbstversuch unternehmen müssen, mit Geschmäckern und Gerüchen aus der Kindheit. Die Workshopleiterin hatte Süßigkeiten und andere Lebensmittel mitgebracht, und alle sollten schnuppern und probieren und erspüren, ob irgendetwas davon ein Gefühl oder eine Erinnerung auslöste.

Das meiste waren typische nordamerikanische Leckereien gewesen, wie Marshmallows, Jelly Beans, Candy Corn oder Pop Tarts, und Mascha war davon ausgegangen, dass es bei ihr nicht funktionieren würde, da sie diese Dinge nie zuvor gegessen hatte.

Doch dann hatte sie ein paar Schlucke Limonade getrunken. Das hatte sie als Kind zum letzten Mal getan. Der prickelnd süße Geschmack auf der Zunge hatte sie unvermittelt in die Vergangenheit katapultiert. Sie war plötzlich wieder zwölf Jahre alt gewesen, hatte trockenes Gras unter ihren nackten Füßen gespürt und das Jucken sonnenverbrannter Haut auf ihren Unterarmen. Aber das war nicht alles gewesen. Letzte Nacht hatte sie sehr lebhaft geträumt. Die Limonade hatte eine verschüttete Erinnerung in ihr freigelegt, an einen heißen Sommernachmittag im Haus der Großeltern ihrer Schulfreundin Peggy.

«Interessant?», hakte Stacy nach.

«Ja», erwiderte Mascha zögernd. «Und was ist mit dir? Wie findest du es?»

«Ehrlich?»

«Klar.»

«Mich hat der Workshop gestern echt aus den Schuhen gehauen. Ich habe mich an etwas erinnert …» Stacys Blick wanderte zum Fenster.

«Wirklich?»

Stacy nickte, sagte jedoch nichts.

Mascha wollte gerade das Thema wechseln, als Stacy sich wieder ihr zuwandte.

«Es waren die Jelly Beans. Ich mag die Dinger nicht, und ich dachte immer, ich hätte irgendwann als Kind mal zu viele in mich reingestopft, sodass mir übel geworden ist. Aber das entspricht nicht der Wahrheit.» Stacy seufzte. «Als ich etwa acht war, habe ich mit meiner Freundin mehrere Packungen im Supermarkt geklaut. Es war eine Art Mutprobe. Nur dass ein Junge aus unserem Viertel in Verdacht geriet und ich ein so schlechtes Gewissen hatte, dass ich die Dinger gar nicht mehr essen mochte. Ich habe sie weggeworfen. Und dann habe ich die ganze Geschichte vollkommen vergessen. Verdrängt. Fünfunddreißig Jahre lang war die Erinnerung ausgelöscht. Bis gestern Nachmittag. Kannst du dir das vorstellen?»

«Wirklich erstaunlich, wie unser Gedächtnis funktioniert», sagte Mascha nachdenklich. «Bist du froh, dass du dich wieder erinnerst?»

Stacy zuckte mit den Schultern. «Das weiß ich noch nicht. Ich bin wütend auf mein feiges, jüngeres Ich, und ich muss der kleinen Stacy erst vergeben.» Sie zuckte mit den Schultern, dann sah sie Mascha prüfend an. «Und was ist mit dir? Haben die Leckereien bei dir auch etwas ausgelöst?»

«Könnte sein», antwortete Mascha zögernd.

Sie bemerkte, dass Damian an der Wand neben der Tür lehnte und Stacy und sie beobachtete. Für einen Moment fragte sie sich, ob er Lippen lesen konnte.

Stacy beugte sich vor. «Und? Verrätst du es mir? Schließlich kennst du auch mein dunkles Geheimnis.»

Mascha musste lächeln. «Ich beginne zu ahnen, wie du Tätern ein Geständnis entlockst.» Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. «Ich wurde im Alter von vier Jahren adoptiert und kenne meine leiblichen Eltern nicht. Bisher habe ich vergeblich versucht, die Wahrheit über sie herauszufinden. Mein Adoptivvater weiß zwar etwas, aber er verrät es mir nicht.»

«Holy Jesus. Warum nicht?»

«Keine Ahnung.»

«Und jetzt hast du dich an etwas erinnert?»

Mascha sah wieder zur Tür hinüber, doch Damian war verschwunden. Sie stellte den Kaffeebecher ab. «Kann gut sein.»

Dénia, Spanien, am Abend

«Und wenn ich nicht neben Elias sitzen darf?»

«Dann spreche ich mit deiner Lehrerin.» Tom Engelhardt strich seiner Tochter über den Kopf und betrachtete die kleine helle Narbe an ihrem Kinn. Ihre Freundschaft mit Elias hatte stürmisch begonnen, eine Platzwunde bei ihr, ein gebrochener Arm bei ihm, doch seit diesem Vorfall im vergangenen Herbst waren sie unzertrennlich.

Nach den Sommerferien kamen die beiden in die Schule, und Romy freute sich sehr darauf. Doch je näher der Einschulungstermin rückte, desto mehr Sorgen machte sie sich auch.

«Und wenn die Lehrerin nicht nett ist?»

«Ach, Romy. Du hast sie doch schon kennengelernt. Und du hast gesagt, dass du sie gern magst, erinnerst du dich?»

Romy nickte.

«Schlaf jetzt, es ist schon spät.» Er stopfte ihr die Bettdecke fest um den Körper, wie sie es am liebsten hatte.

«Gehst du auch ins Bett?»

«Ich trinke noch ein Glas Wein mit Oma und Opa.»

Tom war mit seiner Tochter zu seinen Eltern gefahren, die seit ihrer Pensionierung in Spanien lebten. Er kam viel zu selten dazu, sie zu besuchen. Und auch die anderen Großeltern wohnten weit weg im Süden Deutschlands. Romys Mutter war Polizistin gewesen wie Tom und bei einem Einsatz vor etwas mehr als zwei Jahren ums Leben gekommen. Sie fehlte ihm noch immer, aber der Schmerz war nicht mehr so scharf. Und seit ein paar Monaten gab es eine neue Frau in seinem Leben. Noch hielten sie die Beziehung geheim, weil sie beide nicht sicher waren, ob sie tatsächlich bereit für einen gemeinsamen Neustart waren, doch Tom hatte ein gutes Gefühl.

Er blickte auf Romy herab und bemerkte, dass ihr die Augen zugefallen waren. Kein Wunder, sie hatte fast den ganzen Tag am Strand gespielt. Selbst das Lampenfieber vor der Einschulung schaffte es nicht, sie wachzuhalten. Tom beugte sich vor und drückte seiner Tochter behutsam einen Kuss auf die Stirn, bevor er das Zimmer verließ.

Seine Eltern saßen auf der Terrasse, von der aus man das Meer sehen konnte. Über den Bergen im Hinterland glomm der letzte Rest Abendrot, der Himmel über dem Wasser war samtblau. Irgendjemand grillte Sardinen, der Duft wehte zu ihnen herüber.

«Schläft sie?», fragte seine Mutter.

«Tief und fest.»

Sein Vater reichte ihm ein Glas Rioja. «Ihr müsst öfter kommen.»

Tom setzte sich auf den freien Stuhl und nahm einen Schluck. «Ihr zwei könntet uns auch mal auf dem Darß besuchen.»

«Das würde ich gerne.» Christa Engelhardt sah ihren Mann an. «Aber ich kriege deinen Vater nicht hier weg.»

«Das ist nicht wahr!», protestierte der.

«Dann vielleicht in den Herbstferien?», schlug Tom vor. «Um die Jahreszeit ist es wirklich schön dort oben. Nicht mehr so viele Touristen, aber noch mild. Ihr werdet es lieben.»

«Du solltest dir eine neue Frau suchen», wechselte sein Vater unvermittelt das Thema.

«Achim!»

«Ist doch wahr.» Achim Engelhardt sah Tom entschuldigend an. «Du weißt, dass ich nicht gerne um den heißen Brei herumrede. Inga ist seit über zwei Jahren tot. Sie ist nicht zu ersetzen, das ist mir klar, aber Romy braucht eine Mutter. Und du eine Partnerin.»

«Und du hättest ein besseres Gewissen, wenn du wüsstest, dass ich nicht allein bin», ergänzte Tom trocken. «Weil du nämlich keine Lust hast, uns zu besuchen.» Er war seinem Vater nicht böse, er wusste, dass Achim Engelhardt zwar nicht viel Feingefühl besaß, es aber bloß gut meinte. Obwohl er kein Blatt vor den Mund nahm und sehr harsch sein konnte, war er aus gutem Grund bei seinen Schülern beliebt gewesen. Wenn auch nicht ganz so sehr wie seine Frau.

«Er wird euch besuchen kommen, Tom», schaltete seine Mutter sich wieder ein. «Das werden wir beide. Dafür sorge ich.»

Achim nahm einen Schluck Wein. «Trotzdem habe ich recht.»

«Und keine Ahnung.» Christa lächelte Tom wissend an. «Dein Sohn hat doch längst jemanden gefunden.»

Tom starrte sie überrascht an.

Sein Vater stellte das Glas auf dem Tisch ab. «Ist das wahr?» Er musterte Tom mit gerunzelter Stirn. «Warum hast du nichts gesagt?»

«Damit du ihn die ganze Zeit ausfragst, Achim? Lass deinem Sohn Zeit.»

Tom schluckte. Seine Mutter hatte ihn auch früher immer durchschaut. Als er das Lego-Auto aus dem Kindergarten, das er so toll fand, nach Hause geschmuggelt hatte, oder als er mit dreizehn eine Packung Zigaretten in seinen Turnschuhen versteckt hatte.

Sein Vater blickte mit gespielter Empörung von einem zum anderen. «Hat er dir etwa von ihr erzählt, Christa?»

«Das war gar nicht nötig.» Sie lächelte wissend.

Tom öffnete den Mund, um das Thema zu wechseln, doch in dem Moment klingelte sein Handy. Hastig zog er es aus der Tasche, kam sich dabei vor, als hätte man ihn mit den Fingern in der Bonbondose erwischt.

Im Aufstehen blickte er aufs Display. Doch es war nicht der Anruf, den er erwartet hatte.

«Es ist beruflich», murmelte er überrascht.

Er trat zurück ins Haus, um in der Küche in Ruhe zu telefonieren.

«Hallo, Duke, ist alles in Ordnung bei euch?»

Duke war der Spitzname seines Kollegen Paul Hendricks, nach der hawaiianischen Surflegende Duke Kahanamoku.

«Entschuldige die späte Störung, Chef. Ich hätte auch nicht angerufen, wenn’s nicht wirklich wichtig wäre.»

«Du machst mich neugierig.»

«Ich mach’s kurz: Heute Vormittag haben Hobbyschatzsucher eine Segeljacht auf dem Meeresgrund entdeckt, nicht weit von der Küste entfernt. Und unter Deck vier Leichen. Eine ganze Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder.»

«Heilige Scheiße.» Tom ließ sich auf einen Stuhl sinken. «Ein Unglück?»

«Das dachten wir auch. Doch nachdem die Leichen vorhin endlich geborgen waren, stellte sich heraus, dass alle vier erschossen wurden.»

«Verflucht.»

«Keine Waffe an Bord. Also wohl kein Suizid.»

Tom schüttelte fassungslos den Kopf. «Wer bringt denn eine ganze Familie um?»

«Das müssen wir herausfinden, Chef. Deshalb sollst du herkommen. Anordnung von ganz oben.»

«Warum denn ausgerechnet wir mit unserem kleinen Revier? Sind die Kollegen in Rostock oder Wismar dafür nicht besser ausgestattet?»

«Die Familie lebte in Sellnitz. Da sind die Rostocker nicht zuständig. Außerdem suchen die noch immer nach diesem Frauenmörder.»

Tom seufzte. Zwei Frauen waren im Abstand von nur wenigen Wochen am Strand von Kühlungsborn ermordet worden. Die Verbrechen hatten deutschlandweit für Aufsehen gesorgt, nicht nur, weil der Täter so brutal vorgegangen war, sondern auch, weil eins der Opfer Star einer Fernsehsoap gewesen war.

«Verstehe.» Tom blickte aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel, die Lichter der kleinen Stadt funkelten mit den Sternen um die Wette. «Ich nehme morgen die erste Maschine.»

Romy würde bitter enttäuscht sein. Und seine Eltern auch. Aber er hatte keine Wahl.

Mittwoch, 15. Juli

Greifswald, am Vormittag

Kriminaloberkommissar Paul Hendricks streifte die Überzieher über seine Sneaker und erhob sich schwerfällig. Er hätte fast alles getan, um dem zu entkommen, was ihm bevorstand. Trotz seiner inzwischen mehr als drei Jahrzehnte bei der Polizei gab es Aufgaben, die ihm noch immer schwerfielen. Dazu gehörten Besuche in der Rechtsmedizin. Er hasste den süßlichen Geruch nach Tod und den Anblick der geschundenen Körper, die auf dem Seziertisch den letzten Rest von Menschenwürde verloren. Auch wenn ihm klar war, dass man ihnen nur so Gerechtigkeit zuteilwerden lassen konnte.

Wieder einmal fragte er sich, warum er das Angebot seines Kumpels nicht annahm. Ein alter Schulfreund von ihm lebte seit kurz nach der Wende am Sunset Beach auf Oahu. Er betrieb dort eine Surfschule und eine Strandbar, und er wurde nicht müde, Paul einzuladen, zu ihm zu kommen. Es wäre ein Traum. Tagsüber Surfstunden geben, abends ein paar Drinks mischen, das ganze Jahr tolle Wellen und geiles Wetter. Paul war bereits einige Mal dort gewesen, und der Ort war einfach perfekt. Warum also packte er nicht seine Sachen? Er hatte weder eine Familie noch sonst irgendwelche Verpflichtungen außer seinem Job. Eigentlich müsste es ganz einfach sein. Zumal er schon als junger Mann in der DDR davon geträumt hatte, auf Hawaii zu leben. Doch aus irgendeinem Grund ließ ihn die Heimat nicht los. Er war auf dem Darß großgeworden, und es fühlte sich an, als wäre er mit der Landschaft verwachsen, als würde er ein Stück von sich selbst herausreißen, wenn er sie verließ.

Seufzend stieß er die Tür zum Sektionssaal auf. Eigentlich sollte Tom jetzt hier stehen. Als Ermittlungsleiter übernahm er normalerweise die Aufgabe, der Obduktion eines Mordopfers beizuwohnen. Aber da Paul kommissarisch die Sonderkommission leitete, bis Tom aus Spanien zurückgekehrt war, musste er diesmal ran.

Professor Manfred Süderholz drehte sich zu ihm um. Auch er wirkte nicht sonderlich glücklich. Gewöhnlich besaß der Rechtsmediziner wenig Feingefühl und hatte immer eine schnippische Bemerkung auf den Lippen. Doch angesichts von zwei Kinderleichen schien auch ihm der Humor vergangen zu sein. An einem der Tische war eine junge Frau mit türkis gefärbten Haaren und diversen Piercings im Gesicht damit beschäftigt, mehrere Klarsichtbeutel zu beschriften, in denen sich die Überreste der Kleidung der Opfer befanden.

Die Toten lagen auf vier nebeneinander aufgereihten rollbaren Edelstahltischen. Ihre Körper waren aufgebläht und nicht mehr vollständig. Das Meerwasser und seine Bewohner hatten ihnen bereits stark zugesetzt.

Polizeitaucher suchten unter Leitung von Kriminaltechnikerin Lisa Alandt in dem Wrack nach Spuren und fehlenden Leichenteilen. Ob das gesunkene Schiff geborgen werden konnte, stand noch nicht fest. Wenn es irgendwie möglich war, würde Lisa es hinkriegen, das wusste Paul. Sie war nicht nur eine hervorragende Kriminaltechnikerin, sondern auch eine erfahrene Taucherin. Zudem hatte sie schon einige Male mit Paul und Tom zusammengearbeitet.

Anhand der Bootsnummer hatten sie den Besitzer identifiziert, Marc Dirksen, ein Familienvater aus Sellnitz. Bisher hatten sie ihn noch nicht erreichen können, was den Verdacht erhärtete, dass es sich bei den Opfern um ihn selbst, seine Frau Caroline und seine beiden Kinder Lotta und Finn handelte. Die offizielle Identifizierung stand jedoch noch aus.

«Morgen», grüßte Süderholz. «Hat Ihr Chef Sie vorgeschickt?»

«Er sitzt gerade im Flieger, musste seinen Urlaub abbrechen.»

Süderholz nickte und blickte auf die Leichen. «Eine ganze Familie ermordet, das ist mir in all den Jahren nicht untergekommen.»

Paul heftete den Blick auf das Gesicht des Vaters, das zum Glück noch halbwegs intakt war. Anders als das der Mutter, dem ein Auge und ein Teil der Wange fehlte.

«Können Sie schon etwas sagen?»

«Habe gerade die äußere Leichenschau beendet. Offenbar wurden alle vier aus kurzer Distanz erschossen. Aber das wussten Sie ja schon.» Süderholz deutete auf die Schläfe der Frau, wo ein Einschussloch prangte. «Zwei Projektile konnte ich sicherstellen, 9 x 18 mm Makarov. Sind bereits auf dem Weg ins Labor.»

Das war ein Standardkaliber, das nicht nur in Makarovs verwendet wurde und ihnen wenig nützen würde, solange sie die dazugehörige Waffe nicht hatten.

«Bei der Frau und den Kindern waren es gezielte Kopfschüsse», fuhr der Rechtsmediziner fort. «Bei ihm hier sieht es etwas anders aus.» Er deutete auf den Mann. «Fünf Schüsse in die Brust.»

Das war in der Tat bemerkenswert.

«Könnte es sein, dass die Mutter und die Kinder im Schlaf getötet wurden?» Die Vorstellung hatte etwas Tröstliches. Vielleicht hatten sie gar nicht mitbekommen, was geschah.

«Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Sie trieben ja in der Kabine, lagen nicht im Bett oder so, also gibt es auch keine Totenflecke in den typischen Körperregionen. Ich habe jedenfalls keine Abwehrverletzungen gefunden, die auf einen Kampf hindeuten. Aber bei dem Zustand der Leichen kann ich nicht ausschließen, dass mögliche Spuren zerstört wurden.»

Paul nickte frustriert. «Todeszeitpunkt?»

Der Professor seufzte. «Wir haben Juli, das Wasser ist warm, da laufen alle Prozesse viel schneller ab als in der kalten Jahreszeit. Manches, was im Januar mehrere Wochen braucht, dauert jetzt nur Stunden. Und in zwei bis drei Tagen sind bereits alle Merkmale vorhanden, die sonst dabei helfen, die Zeit im Wasser einzugrenzen. Da die Verwesung ansonsten aber noch nicht allzu weit fortgeschritten ist, würde ich sagen, sie lagen zwischen vier und zehn Tagen im Meer. Und sie waren noch nicht allzu lange tot, als sie ins Wasser gelangten.»

«Vier bis zehn Tage?», hakte Paul frustriert nach. «Genauer geht es nicht?»

«Leider nicht. Und wir können froh sein, dass sie in der Kajüte waren, sonst kämen zum Tierfraß noch andere Verletzungen hinzu, etwa durch eine Schiffsschraube oder das Schleifen über Felsen. Dann hätten wir noch mehr Probleme.»

«Wurden sie an Bord getötet?»

«Das kann ich unmöglich sagen. Ist aber wahrscheinlich, weil sie ja sehr schnell nach dem Tod ins Meer gelangt sein müssen.»

Paul nickte und zwang sich, alle vier anzuschauen. «Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?»

Süderholz nickte und deutete auf das Kinn des Mannes, wo trotz der aufgeweichten, sich ablösenden Haut eine blaugrüne Verfärbung zu sehen war. «Genau kann ich es erst sagen, wenn ich mir das näher angeschaut habe. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier vor seinem Tod passiert ist. Stammt entweder von einem unglücklichen Sturz oder von einem Kinnhaken.»

«Ein Kampf mit dem Mörder?»

«Falls ja, dann einige Tage vor der Tat. Das Hämatom begann bereits zu heilen, als er starb.»

Hamburg, am selben Vormittag

«Danke, ich schaffe das schon.» Tom bugsierte die Reisetasche in den Kofferraum des Streifenwagens.

«Klar, Chef.» Bernd Kruse, der von allen nur Senior genannt wurde, weil er der älteste Streifenbeamte auf dem Sellnitzer Revier war, trat einen Schritt zurück.

Tom knallte die Klappe zu und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und ein bisschen geschlafen. Er war um fünf Uhr aufgestanden, um den Flieger zu erwischen, und er war todmüde. Aber daheim auf dem Darß wartete ein Haufen Arbeit, also musste er die Fahrt nutzen, um sich von seinem Kollegen auf den neuesten Stand bringen zu lassen.

Zum Glück hatte Romy, die er geweckt hatte, um sich zu verabschieden, die Neuigkeit gelassen aufgenommen. Vor allem, als Tom ihr gesagt hatte, dass sie noch in Spanien bleiben und nächste Woche mit ihrer Oma nach Hause fliegen durfte. Vielleicht war sie aber auch einfach noch zu verschlafen gewesen, um richtig zu begreifen. Er hoffte jedenfalls, dass sie die letzten Urlaubstage auch ohne ihn genießen würde.

«Also, schieß los», bat er Senior, nachdem sie das Verkehrschaos am Flughafen hinter sich gelassen hatten. «Wo stehen wir mit den Ermittlungen?»

«Wir haben über die Nummer der Segeljacht den Besitzer ermittelt», antwortete sein Kollege und lenkte den Wagen auf den Jahnring. «Ein gewisser Marc Dirksen aus Sellnitz, Versicherungsmakler. Hat Frau und zwei Kinder, Lotta und Finn, fünf und acht Jahre alt. Noch sind sie nicht offiziell identifiziert, aber es sieht alles danach aus, als wären sie unsere Opfer. Wir haben die Meldeadresse aufgesucht, aber da ist niemand. Und sie sind auch nicht telefonisch zu erreichen. Paul ist gerade in Greifswald, bestimmt kann er nachher mehr dazu sagen.»

«Verdammt», murmelte Tom und dachte an die Kinder. Die kleine Lotta war nur ein Jahr jünger als seine Romy, möglicherweise kannten sie sich sogar aus dem Kindergarten. Er rieb sich die müden Augen. Er musste professionelle Distanz wahren. «Was noch?»

«Die junge Taucherin, die das Boot mit den Leichen entdeckt hat, eine gewisse Alina Bruns, liegt im Krankenhaus. Taucherkrankheit, aber zum Glück nur leichte Symptome. Sie hat den Schreck ihres Lebens gekriegt und ist zu schnell aufgetaucht. Wenn das Wrack tiefer gelegen hätte, hätte das übel enden können.»

«Was hat sie da unten gemacht?»

«War mit zwei Typen auf Schatzsuche. Angeblich hatten die drei sich erst am Abend vorher kennengelernt. Frau Bruns ist für jemanden eingesprungen, der kurzfristig abgesagt hat.»

«Und die haben ausgerechnet da einen Schatz gesucht, wo das gesunkene Segelschiff lag?», fragte Tom skeptisch. «Was sind das für Männer? Wurden sie schon befragt?»

«Irgendwelche Hobbyschatzsucher mit YouTube-Kanal. Sie glaubten wohl, an der Stelle müsste das Wrack eines Wikingerschiffs liegen. Frag mich nicht nach Details. Laurel und Hardy haben mit denen gesprochen.» Laurel und Hardy waren die Kollegen Dominik Schmitt und Sebastian Kegel, zwei unzertrennliche Freunde, die entfernte Ähnlichkeit mit dem berühmten Komikerduo besaßen.

«Seltsame Geschichte.» Tom schüttelte nachdenklich den Kopf. «Habt ihr schon den Hintergrund der Familie gecheckt?»

«Nur ganz grob. Marc Dirksen war, wie gesagt, Versicherungsmakler. Seine Frau arbeitete bis zum Umzug in einer Bank. Ursprünglich stammt die Familie wohl aus Lübeck. Sie sind vor drei Jahren hergezogen.»

«Aus welchem Grund?»

«Keine Ahnung.»

«Habt ihr schon mit Nachbarn und Freunden gesprochen?»

«Wir wissen ja noch nicht mal sicher, ob sie wirklich die Toten sind. Außerdem warten wir noch darauf, dass Anklam Verstärkung schickt.»

In Anklam befand sich die Kriminalpolizeiinspektion, und auch das Kriminalkommissariat, dessen Außenstelle in Sellnitz auf dem Darß Tom leitete. Und dort arbeitete auch sein Chef Joost Bartelsen.

Toms Gedanken schossen zu Mascha. Wie gern hätte er sie dabei. Nicht nur, weil er sie in seiner Nähe haben wollte, sondern auch, weil sie eine großartige Ermittlerin war. Aber solange es in dem Fall nichts gab, was die Expertise einer Kryptologin erforderte, würde daraus wohl nichts werden.

Hauptsache, Bartelsen schickte ihm nicht Maschas Stiefbruder Holger. Der war ebenfalls Mordermittler, und nach einer Suspendierung, weil er mal wieder aus der Reihe getanzt war, seit einigen Wochen zurück im Dienst. Tom hatte bereits mit ihm zusammengearbeitet, und es war alles andere als ein Vergnügen gewesen. Holger Dietrich hielt sich nicht an Regeln, zudem hatte er Tom zu seinem persönlichen Feind erklärt.

«Chef?»

Tom schreckte aus seinen Überlegungen auf. «Sorry, ich war in Gedanken.»

«Das habe ich gemerkt.» Senior warf ihm einen Blick zu. «War ’ne kurze Nacht, nehme ich an.»

«Das auch, ja.» Tom klopfte sich auf die Oberschenkel. «Also, was habe ich verpasst?»

«Ich sagte gerade, dass ich etwas über diesen Dirksen gehört habe. Ob das als Mordmotiv reicht, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass einige Leute verdammt sauer auf ihn waren.»

Vancouver, Kanada, am Abend

Mascha nippte an ihrem Bier, Vanilla Whiskey Stout, schwer, süß, in einem Plastikbecher serviert und erstaunlich lecker. In Vancouver gab es über siebzig unabhängige Brauereien, und Dan, ein Kollege aus Toronto, hatte die älteste und ungewöhnlichste ausfindig gemacht und einige der Workshopteilnehmer überredet, den Abschiedsdrink hier zu nehmen.

Es gab weder Tische noch Stühle in dem vollgestopften Schankraum, bloß einen Tresen, den neben anderem Kram drei große Gummiratten zierten. Die Ratte fand sich auch auf dem Logo der Brauerei wieder. Braukessel, eine Etikettiermaschine, Gläser, Schläuche, Filter sowie stapelweise Dosen mit Ananas für das Pineapple Pilsner drängten sich in dem Raum, der in einem Industriegebiet östlich der Innenstadt lag. Der nackte Betonboden war fleckig, Kabel hingen lose von der Decke.

Mascha fand es cool, ihr Kollege Damian hatte schon beim Anblick des mit Graffiti besprayten Gebäudes die Nase gerümpft. Unter Brauhaus hatte er sich vermutlich etwas Gediegeneres vorgestellt. Jetzt allerdings machte er gute Miene zum bösen Spiel und flirtete schamlos mit der jungen Frau hinter dem Tresen.

Mascha wandte sich ab, ihre Gedanken wanderten zu ihrem Traum. Und zu der Erinnerung, die er hochgespült hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass sie als Kind nur ein einziges Mal auf dem Darß gewesen war, und zwar als ihre Mutter versucht hatte, mit ihr über die Ostsee in den Westen zu fliehen. Das zumindest hatten ihr die Flashbacks suggeriert, die sie heimgesucht hatten, als sie bei den Ermittlungen im Fall Lilli Sternberg auf dem Gelände des ehemaligen Bunkers an der Steilküste gestanden hatte. Doch nun wusste sie wieder, dass sie schon einmal in den Ferien dort gewesen war. Und anders als bei den Flashbacks war die Erinnerung an diesen Urlaub klar und deutlich.

Womöglich hatte der Traum ihr endlich die Antwort geliefert, auf die sie schon so lange wartete, den Hinweis darauf, wer ihre leibliche Mutter war und wie sie sie finden konnte. Vielleicht war es ja wirklich diese Frau, die sie damals vom Liegestuhl aus auf der Straße gesehen und deren Anblick sie so merkwürdig berührt hatte. Vom Alter her konnte es jedenfalls hinkommen. Und hatte die Fremde nicht dunkle Haare gehabt wie sie selbst?

Nachdem sie eine Weile gebraucht hatte, bis ihr der Name von Peggys Großeltern wieder eingefallen war, hatte sie kurz recherchiert und herausgefunden, dass sie offenbar noch immer im selben Haus lebten. Zumindest gab es einen Eintrag im Telefonbuch. Als Polizistin hätte sie auch im Melderegister nachschauen können, aber darauf verzichtete sie lieber. Sie hatte einmal ihre Position für ihre private Suche missbraucht, mit katastrophalen Folgen.

Deshalb wusste sie auch nicht, wer im Nachbarhaus wohnte. Ob es noch die Frau war, der man angeblich ihr Kind weggenommen hatte. Sie würde die alten Leute aufsuchen, wenn sie wieder in Deutschland war, und nach der Nachbarin fragen. Das war besser, als sich nach all den Jahren bei Peggy zu melden. Der würde sie mit Sicherheit tausend Fragen beantworten müssen.

Hinter ihr räusperte sich jemand. «Na, so ernst?»

Mascha fuhr herum. «Ich habe gerade bedauert, dass es so was bei uns nicht gibt», sagte sie zu Stacy.

«Meinst du das Bier oder diesen Ort hier?»

«Beides.»

«Ja, schade.» Stacy nickte. «Jedenfalls war es schön, dich kennenzulernen. Und wenn dir mal langweilig ist, kommst du mich in New York besuchen.»

«Gute Idee. Vielleicht bringe ich noch jemanden mit.»

«Doch nicht etwa …» Stacys Augen glitten suchend durch den Schankraum, dann weiteten sie sich. «Holy shit, was ist denn mit deinem Kollegen los? Verträgt der etwa kein Bier?»

Mascha drehte sich um.

Damian de Vries lehnte gegen einen der silbernen Braukessel, in einer Hand ein Bier, in der anderen sein Handy. Sein Gesicht war kreidebleich, kleine Schweißperlen schimmerten auf seiner Stirn. Er starrte auf das Display, als hätte er einen Geist gesehen, dann ließ er den Becher fallen und stürzte nach draußen.

Ostsee vor dem Darß, am Nachmittag

Das knallorange Schlauchboot raste übers Wasser, jede winzige Welle verursachte einen harten Schlag, der Tom in die Luft hob. Er klammerte sich am Halteseil fest und hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er war nicht empfindlich, aber er war müde und hatte den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen.

Endlich tauchte vor ihnen das Schiff der Seerettung auf, von dem aus die Spurensicherung am Grund der Ostsee koordiniert wurde. Tom bemerkte eine Gestalt, die ihnen winkte, und erkannte im selben Moment, dass es Lisa Alandt war. Er hob eine Hand zum Gruß und atmete erleichtert auf, als das Boot das Tempo drosselte.

Zwei Minuten später nahm Lisa ihn mit einem Lächeln an Bord in Empfang. «Hi Tom. Tut mir leid, dass du deinen Urlaub abbrechen musstest.»

«Nicht so schlimm. Ich glaube, Romy genießt es, sich von ihren Großeltern verwöhnen zu lassen.»

Lisa grinste. «Richtig so.»

Sie trug Flipflops und einen Neoprenanzug und hatte die blonden Haare zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden.

«Wie ist die Lage?» Tom lockerte seine verkrampften Glieder und blickte sich um. Einige Männer und Frauen waren dabei, aus ihren Anzügen zu steigen. Sie sahen erschöpft aus.

«Ich habe alle hochgerufen, für heute ist Schluss. Länger da unten zu bleiben, wäre nicht gut.»

«Verstehe.» Tom betrachtete die Wasseroberfläche. «Meinst du, wir können das Wrack bergen und in den Hafen schleppen?»

«Wird vermutlich schwierig, es hat sich tief in den Schlamm eingegraben. Aber damit kenne ich mich nicht aus. Morgen kommt eine Bergungsfirma und schaut sich das an.»

«Okay.» Tom wandte den Blick vom Wasser ab. «Habt ihr schon was gefunden, das uns weiterbringt?»