Die Tochter des Kohlenbrenners - Ute Weinländer - E-Book

Die Tochter des Kohlenbrenners E-Book

Ute Weinländer

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Beschreibung

Winter 1893. Im Bayerischen Wald treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Auf der Flucht vor der Obrigkeit verschlägt es ihn auf den einsamen Thannerhof. Noch ahnt die hübsche Köhlerstochter Maria nichts von der gefährlichen Leidenschaft des unheimlichen Besuchers ...

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Markus Scheble

Ute Weinländer

Die Tochter des Kohlenbrenners

© 2020 Markus Scheble, Ute Weinländer

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Cover-Gestaltung: Juliane Schneeweiss

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-18930-0

Hardcover:

978-3-347-18931-7

e-Book:

978-3-347-18932-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel Eins

Auf den ersten Blick waren die Zwieseler Straßen an diesem Novembermorgen menschenleer. In der Nacht hatte es kräftig geschneit. Nun taumelten nur noch einzelne Flocken durch das fahle Licht der Gaslaternen. Ein städtischer Arbeiter mühte sich lustlos, den Gehweg von der Schneelast zu befreien, bevor nach Sonnenaufgang geschäftiges Treiben die Gegend um den Schlachthof mit Leben erfüllen würde.

Aus dem Schatten einer Litfaßsäule löste sich eine Gestalt. Der stattliche Körperbau des Mannes war unter dem weiten Umhang nur zu erahnen. Das Gesicht verbarg der Unbekannte durch einen tief in die Stirn gezogenen, breitkrempigen Hut, der von einer Rabenfeder geziert wurde. Bereits seit geraumer Zeit hatte er die Straße beobachtet und war sich nun sicher, sein Vorhaben gefahrlos durchführen zu können. Er hauchte sich Atem in die Hände, um seine klammen Finger zu wärmen, und schritt entschlossen auf den Eingang eines der schmucklosen Geschäftshäuser zu. Ein kurzer Blick zurück, dann blieb er stehen und pochte an die Tür. In der Wohnung darüber wälzte sich Jakob Rosenbaum unwillig aus dem warmen Bett. Er zog brummend den wollenen Morgenmantel über und schlüpfte in seine Pantoffeln. Der Blick aus dem Fenster ließ ihn frösteln. Seine schmerzenden Gelenke hatten ihm schon vor Tagen einen Wetterwechsel angekündigt und der Schneefall der vergangenen Nacht bestätigte seine Befürchtungen. Er verzog übellaunig das Gesicht und kratzte sich den kahlen Schädel. Um diese frühe Stunde waren Besucher selten und er vermochte sich keinen erfreulichen Anlass für die Störung vorzustellen. Als Jude war Jakob nicht besonders beliebt in der Stadt. Er hatte mit zahlreichen, teils zwielichtigen Geschäften ein ansehnliches Vermögen erwirtschaftet, das ihm viele Zwieseler Bürger missgönnten. Doch das kümmerte ihn nicht.

„Neid ist die höchste Form der Anerkennung“, sagte er sich, wenn ihm die Leute auf der Straße giftige Blicke zuwarfen.

Es pochte erneut an der Haustür, diesmal heftiger. Rosenbaum schlurfte die ausgetretenen Treppenstufen hinunter.

„Ja, ja, ich komme“, rief er dem Besucher entgegen, dessen Umrisse sich undeutlich hinter der Milchglasscheibe abzeichneten.

Jakob schob den Eisenriegel zurück, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Der Mann überragte den Juden um Haupteslänge. Als er den Kopf hob und das Gesicht unter dem breitkrempigen Hut zum Vorschein kam, war Jakob klar, wen er vor sich hatte. Die lange Narbe, die sich über die rechte Gesichtshälfte von der Stirn bis zur Kinnlade zog, war unverkennbar. Das entstellte Auge verbarg der Besucher durch eine lederne Klappe. Trotz des Vollbartes erkannte man den Verlauf der Verletzung an der Linie weißer Haare, die sich durch den dunklen, buschigen Bart zog.

Der alte Jude raunzte den Mann auf der Straße unfreundlich an: „Was fällt dir ein? Ich habe dich schon vor drei Tagen erwartet.“

Dennoch winkte er den Besucher herein und stapfte missmutig die Treppe hinauf. Der Mann folgte ihm wortlos.

Oben angekommen wandte sich Jakob nach links, in Richtung seines Arbeitszimmers. Doch er kam nicht dazu, die Tür zu öffnen. Wie aus dem Nichts schnellte eine Hand des Besuchers unter dem Umhang hervor. Der glänzende Stahl eines Stiletts blitzte auf. Rosenbaums Kopf wurde brutal nach hinten gerissen und die rasiermesserscharfe Klinge durchtrennte mit einem einzigen, kraftvoll geführten Schnitt seine Kehle. Ein Schwall Blut schoss aus dem Hals des alten Juden und er sank auf die Knie. Mit einem gurgelnden Geräusch kippte er nach hinten, stürzte die Treppenstufen hinunter und kam vor der Haustür zuckend zum Liegen. Im Rhythmus des Pulsschlags strömte noch Lebenssaft aus dem tiefen Schnitt und bildete eine dunkle Lache auf dem schmutzigen Pflaster. Der Tod raste auf Rosenbaum zu wie eine schwarze Gewitterfront. Ein letztes Mal krampften sich seine Hände zusammen und die Fingernägel kratzten mit einem hässlichen Geräusch über den Steinfußboden, bis schließlich das Herz seinen letzten Schlag tat und die schreckgeweiteten Augen reglos ins Leere starrten.

Der Eindringling wischte sich die Hände an einem Schnäuztuch ab und betrat das Arbeitszimmer. Offensichtlich kannte er sich aus, denn er schritt ohne zu zögern zum Schreibtisch, holte einen Schlüssel aus der mittleren Schublade und entsperrte damit das Schloss des massigen Eichenschranks an der gegenüberliegenden Wand. Die Andeutung eines Lächelns flog über sein Gesicht, als er den gesuchten Schuldschein fand. Kurz überflog er die Zeilen bis hin zu seiner Unterschrift. Den angegebenen Betrag hätte er nie und nimmer zurückzahlen können. Schnell verbarg er das Papier unter seinem Umhang. Die Zeit drängte. Hastig wandte er sich zum Gehen. Am Fuße der Treppe warf er einen gleichgültigen Blick auf den grotesk verdrehten Körper des Toten, dann stieg er über den Leichnam hinweg und öffnete die Haustür einen Spalt. Verstohlen äugte er nach draußen, doch außer einem Mann, der Schnee von der Straße schob, war niemand zu sehen. Schnell verließ er das Haus, bog um die nächste Ecke und verschwand im dämmrigen Licht des anbrechenden Morgens.

Kapitel Zwei

Der Winter des Jahres 1893 war früh hereingebrochen. Schon um Michaeli hatte der Frost das Heu der letzten Mahd gefroren. In den darauffolgenden Wochen hing dichter Nebel über den reifbedeckten Schollen der gepflügten Felder. Eisiger Ostwind wehte aus dem Böhmischen herüber und ließ alles Leben erstarren. Vor drei Tagen hatte es begonnen, kräftig zu schneien und bald darauf verhüllte der Winter den Bayerischen Wald mit seinem kalten Leichentuch.

In der Stube des Thanner-Hofs zog Maria, die vierzehnjährige Köhlerstochter, das ausgeblichene Schultertuch enger und stocherte mit dem Schürhaken in der verlöschenden Glut des Ofenfeuers. Sie fröstelte. Die Tagesarbeit war getan. Gleich würde sie noch einmal nach Sepperl, dem Kleinsten der Familie, sehen, der seit einer Woche von einem heftigen Husten geplagt wurde und fiebernd in seinem Bett lag. Maria rieb sich müde die Augen. In der kommenden Nacht würde sie wieder kaum Schlaf finden, zu viele Sorgen belasteten das zarte Mädchen. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als plötzlich ihr Vater die Stube betrat.

„Willst du wirklich heute noch los?“

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, als ließe er sich dadurch von seinem Vorhaben abhalten. Johann Thanner löste sich vorsichtig aus der Umarmung, schob das Mädchen von sich und sah sie liebevoll an. Er war stolz auf Maria. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr hatte sie ohne Zögern die Mutterrolle in der Familie übernommen und kümmerte sich gewissenhaft um ihre vier jüngeren Geschwister. Gleichzeitig erledigte sie klaglos alle im Haushalt anfallenden Arbeiten. Und nebenbei war aus dem verspielten Mädchen eine attraktive junge Frau geworden, deren Liebreiz der sorgenvolle Zug um die Augen nichts anhaben konnte. Das seidige, rotblonde Haar, das bis zu ihren Hüften reichte, hatte Maria von ihrer Mutter geerbt. Tagsüber verbarg sie die Haarpracht unter einer Haube, aber es lösten sich immer wieder neckische Strähnen aus dem Versteck, die das Gesicht apart umrahmten.

„Ich habe keine Wahl, unsere Vorräte gehen zur Neige. Bis Sonnenaufgang bin ich wieder da“, versuchte Thanner seine Tochter zu überzeugen. Sie nickte resigniert.

„Ich weiß“, gab sie zurück, „aber sei vorsichtig.“

Als ihr Vater das Haus verlassen hatte, seufzte Maria und ließ sich auf einen wackeligen Hocker sinken. Sie bemühte sich, dem Vater nicht zu zeigen, wie sie sich sorgte. Aber es gelang ihr nicht immer, allen Kummer vor ihm zu verbergen. Ihr Blick fiel auf das hölzerne Kruzifix im Herrgottswinkel und eine Träne kullerte über ihre Wange.

„Mutter, warum hast du uns so früh verlassen?“

Maria schüttelte den Kopf, als könne sie damit die trüben Gedanken verscheuchen und erhob sich. Nachdem sie sich im Raum nebenan überzeugt hatte, dass der kranke Sepperl friedlich schlummerte, begab auch sie sich zu Bett und fiel kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel Drei

Unterdessen nahm Johann Thanner im Schuppen neben dem Haupthaus den leinenen Rucksack vom Wandhaken und stopfte eine alte Decke hinein. Sie würde ihm gute Dienste leisten, um keine Blutspuren zu hinterlassen, so hoffte er. Er kontrollierte noch einmal, ob er seinen Hirschfänger eingesteckt hatte, zog die Wollhandschuhe an und warf sich den Rucksack über. Thanner griff nach dem Haselnussstecken, der an der Wand lehnte und marschierte los.

Zufrieden sah er in den Nachthimmel. Dicke Schneeflocken fielen aus der Dunkelheit und würden seine Spuren schnell überdecken. Zunächst folgte er dem Weg ins nahegelegene Leopoldsreut, bog aber nach einer Weile in den Wald ab. Im Schutz der Bäume hielt er an und horchte, ob ihm jemand folgte. Der dichte Schneefall schluckte jedes Geräusch und so verharrte Thanner noch eine Weile, bis er sicher war, dass er alleine unterwegs war. Vorsichtig stapfte er weiter. Er mied Lichtungen und blieb stattdessen im Unterholz, wo er mit der Dunkelheit der Nacht verschmolz.

Auf einer Anhöhe hielt er an, stützte sich auf seinen Stecken und blickte lächelnd zurück auf seine Fußspuren, die dank des frischen Schnees nur noch zu erahnen waren. Dennoch blieb er vorsichtig. Er folgte einem Bachlauf und nutzte die Steine im seichten Uferwasser, um seine Fährte zu verwischen. Johann wusste, dass er kein Risiko eingehen durfte. Deshalb hatte er sich auch für die Drahtschlingen entschieden. Er war zwar ein sicherer Schütze, aber einen Schuss würde man trotz des Schneefalls kilometerweit im Tal hören.

Vor zwei Tagen war Thanner schon einmal hier gewesen. Er war in dieser Gegend aufgewachsen und kannte jeden Stein und jeden Baum. Jeder noch so überwachsene Pfad war ihm vertraut und deshalb überwog bei seinen Streifzügen die Zuversicht, ungesehen zu bleiben. Vorgestern Nacht hatte der abnehmende Mond den verschneiten Waldboden noch in ein fahles Licht getaucht, sodass er den frischen Wildwechsel und die Losung der Tiere schnell entdeckte. Im Winter kam das Wild immer von den Bergen herunter, um den eisigen Winden und den Schneestürmen zu entgehen. Es verkroch sich gern in den dichtbewaldeten Gebieten auf der windabgewandten Seite der Hänge und genau dort hatte er die Schlingen platziert.

Trotz seiner Ortskenntnis war Thanner nervös. Erst unlängst konnten die Jagdaufseher des Herzogs einen Wilddieb stellen. Es kam zu einer Schießerei, die für den Ertappten tödlich endete. Der Wilderer wurde von einer Kugel in den Unterleib getroffen und verblutete jämmerlich. Thanner umging eine Schonung und näherte sich allmählich dem Ziel. Er dachte an seine Kinder, die schon seit Tagen hungerten. Die letzten Vorräte waren bald aufgebraucht. Dabei hatte der Winter gerade erst begonnen. Er verfluchte den vollgefressenen Besitzer der Glashütte, der ihm nur einen Bruchteil dessen für die Holzkohle bezahlt hatte, was sie wert war. Den ganzen Sommer hatte er sich mit seinen beiden älteren Söhnen abgemüht und geschunden, hatte hundertsechzig Sack Holzkohle geliefert und dann nur die Hälfte des erhofften Geldes bekommen, sodass er wieder keine Vorräte für den Winter anschaffen konnte. Thanner spuckte verächtlich in den Schnee. Schließlich wusste er, wie man Fleisch auf den Tisch bekam. Er schlich nicht das erste Mal nachts durch die Bergwälder. Bei dem Gedanken an all die Hasen und Böcke, die er dem Herzog und seinen Jagdaufsehern vor der Nase weggeschnappt hatte, musste er grinsen. Er stellte sich die großen Augen seiner Kinder vor, wenn endlich wieder einmal ein heißer, dampfender Braten auf den Tisch käme. Allen würde bei dem Anblick das Wasser im Munde zusammenlaufen. Einen Teil des Fleisches wollte er verkaufen und von dem Erlös alles Notwendige anschaffen. Thanner wusste, wem er Wildbret anbieten konnte, ohne verraten zu werden. Der alte Rupp vom Semerwirt hatte ihm schon manchen Hasen oder Fasan abgekauft und mit einem rentablen Aufschlag weiterverscherbelt. Der alte Waldschrat ging früher oft selbst zum Wildern hinaus, aber seit einigen Jahren plagten ihn Schmerzen im Knie und er könnte, wie er lachend sagte, den jungen Grünröcken nicht mehr davonsteigen. Rupp nahm alles Wild, das Thanner ihm brachte. Er hatte Kontakte bis über die Grenze und man konnte ihm vertrauen. Er zahlte immer einen fairen Preis und gerade jetzt brauchte Thanner dringend Geld. Vorräte mussten gekauft werden und vor allem benötigte er Medizin für den Kleinsten, der hustend im Fieber lag.

Trotzdem war Vorsicht geboten. Falls die Jäger eine seiner ausgelegten Fallen entdeckt hatten, brauchten sie sich nur auf die Lauer zu legen und auf ihn zu warten.

Als Thanner zu den drei großen Buchen kam, wo er die frischen Spuren der Rehe gefunden hatte, erkannte er trotz der Dunkelheit sofort, dass die ausgelegte Schlinge leer im Geäst hing. Vorsichtig schlich er weiter und erreichte nach einigen Minuten einen kleinen Graben. Geduckt folgte er der Rinne eine Weile, kletterte hinaus und stieg eine Böschung hinauf, wo er die zweite Schlinge platziert hatte. Auch in dieser Falle hatte sich nichts verfangen. Innerlich fluchend überprüfte er die Befestigung des Drahts und die Funktion der Schlinge. Er bog noch einen Tannenzweig, um die Falle besser zu tarnen, und schlich dann weiter.

Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien und fern im Osten sah man bereits vereinzelte Sterne. Thanner erreichte einen Geröllhang, von dem vor einigen Jahren eine Mure abgegangen war. Am Fuße des Hanges lagen zwei große Felsbrocken. Dazwischen klaffte eine Schneise von knapp einem Meter, durch die das Wild streifte, wie er an den Spuren gesehen hatte. Dort hatte er die dritte Schlinge befestigt.

Schon aus der Entfernung sah Thanner, dass sich ein Rehbock mit dem Draht erdrosselt hatte. Steifgefroren hing er in der Schlinge und sein dunkles Winterfell hob sich deutlich vom helleren Felsen ab. Thanner grinste und wollte gerade auf seine Beute zugehen, als er ein Geräusch vernahm. Er verharrte, lauschte und wagte kaum zu atmen. Seine Augen suchten in der Dunkelheit nach etwas Verdächtigem. Mit allen Sinnen erforschte er die Umgebung, doch ohne Ergebnis.

Vorsichtig machte Thanner einen Schritt vorwärts und blieb erneut stehen. Nichts rührte sich. Hatte er sich getäuscht? Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten auf sich zustürzen. Reflexartig riss er seinen Haselnussstecken hoch und stieß ihn in die Richtung des Angreifers. Der kräftige Stoß traf den Jäger in der Magengrube. Der Jagdaufseher stöhnte auf und taumelte. Thanner sprang auf ihn zu und schlug ihm den Stab von unten ins Gesicht. Mit einem hässlichen Knacken brach das Nasenbein. Der Getroffene fiel rückwärts um und presste beide Hände auf sein blutendes Gesicht.

„Keine Bewegung, Wilderer!“, schrie ein Zweiter, der hinter einem der Felsen auftauchte und mit dem Gewehr auf ihn zielte.

Johann wollte ihm schon seinen Stab entgegenschleudern, da ertönte eine weitere Stimme: „Thanner, hör auf! Mach es nicht noch schlimmer!“

Hinter einer kleinen Fichte kam der Dorfgendarm Gernacker hervor und zielte ebenfalls mit einer Büchse auf ihn. Thanner wog kurz seine Chancen ab und ließ dann langsam seinen Stecken sinken.

„Gernacker, lass mich laufen. Die Kinder …!“, versuchte er den Polizisten zu besänftigen.

Doch der Jagdaufseher mit der gebrochenen Nase hatte sich hinter ihm aufgerappelt und ein wuchtiger Schlag mit dem Gewehrkolben traf Thanner an der Schläfe. Er brach zusammen. Blut sickerte aus einer Platzwunde. Es begann wieder zu schneien.

Kapitel Vier

Vor dem Rosenbaumschen Anwesen in der Zwieseler Innenstadt trat der Wachmann fröstelnd von einem Fuß auf den anderen, als Oberwachtmeister Friedrich Steiner auf einem schwarzbraunen Rappen um die Ecke bog. Mit einer energischen Zügelbewegung brachte er das Pferd vor dem Hauseingang zum Stehen. Steiner saß ab, klopfte dem Tier lobend den Hals und befestigte die Zügel an einem eisernen Ring, der zu diesem Zweck in die Hauswand eingelassen war. Er war froh, endlich angekommen zu sein. Der Ritt von Deggendorf nach Zwiesel war schon bei gutem Wetter anstrengend. Doch auf den verschneiten Wegen hatten sich Pferd und Reiter diesmal mehr als dreieinhalb Stunden plagen müssen, bis sie ihr Ziel erreichten. Der Wachmann schlug die Hacken zusammen, salutierte und öffnete seinem Vorgesetzten die Tür. Steiner nickte ihm zu und trat an ihm vorbei in den düsteren Hausgang. Vor der Leiche blieb er stehen und verschaffte sich einen Überblick.

„Ist etwas verändert worden?“, fragte er den Gendarm, der ihm ins Haus gefolgt war.

„Nein, Herr Oberwachtmeister. Alles ist so, wie ich es vorgefunden habe.“

Steiner bemerkte beim Eintreten sofort den metallischen Kupfergeruch und wusste, dass hier viel Blut vergossen worden war. Er ging in die Hocke und besah sich den tiefen Schnitt in der Kehle des Opfers.

„Wann wurde der Tote gefunden?“

Der Wachmann verdrehte angewidert die Augen, als eine dicke Schmeißfliege über das blutbesudelte Gesicht der Leiche krabbelte.

„Das war gegen acht Uhr Morgen, als die Hauserin eintraf.“

Steiner versuchte ein Bein des Toten zu bewegen. Die Leichenstarre war voll ausgeprägt. Er wusste, dass bei Kälte die Totenstarre langsamer einsetzt und kam zu dem Schluss, dass der Mord mindestens zwei Stunden vor dem Fund der Leiche passiert sein musste.

„Dann werde ich mich nun im Haus umsehen. Warten Sie draußen.“

Sichtlich erleichtert nahm der Wachmann den ihm zugewiesenen Platz auf dem Gehweg ein.

Derweil lockerte Steiner den Kragen seines tannengrünen Uniformrocks und öffnete die oberen Knöpfe. Auch wenn er schon viele Leichen gesehen hatte, der Anblick bereitete ihm jedes Mal Übelkeit und Atemnot. Er spähte nach oben durchs Treppenhaus und folgte den blutbespritzten Stufen. Im ersten Stock angekommen, entschloss er sich, zunächst das Schlafzimmer zu inspizieren. Das Bett war unordentlich, offensichtlich hatte der Täter Rosenbaum im Schlaf gestört. Als Steiner die lederne Kippa auf der Wäschekommode liegen sah, war ihm plötzlich klar, warum man ihn mit der Aufklärung des Falls beauftragt hatte. Rosenbaum war Jude, ebenso wie Steiners Ehefrau Sara. Deshalb hatte ihn sein Vorgesetzter, der Kompanie-Kommandant vom Königlichen Gendarmerie-Korps in Regensburg, aus der Gendarmeriestation in Deggendorf abberufen, um den Mordfall in Zwiesel zu untersuchen. Von Sara kannte er die jüdischen Sitten und Gebräuche. Ebenso war er mit den Vorurteilen und Anfeindungen der Bevölkerung vertraut, die sich gegen jüdische Mitbürger richteten.

Nachdem Steiner im Schlafzimmer keine Hinweise auf den Tathergang entdecken konnte, betrat er das Arbeitszimmer des alten Juden. Sein geübter Blick fiel sofort auf die halb geöffnete Schreibtischschublade. Was würde der Täter im Schreibtisch gesucht haben? Die angelehnte Tür des Eichenschranks an der gegenüberliegenden Wand gab ihm den entscheidenden Hinweis. Der Schlüssel steckte im Schloss und bei genauerer Betrachtung identifizierte Steiner die dunklen Flecken als getrocknetes Blut. Anscheinend war der Täter in Eile und hatte seine Spuren nicht sorgfältig beseitigt. Vorsichtig öffnete der Ermittler die Schranktür. Außer zahllosen Dokumenten und Verträgen, die wild durcheinander lagen, befand sich nichts in dem Kasten. Er lehnte die Tür wieder an. Akribisch untersuchte er daraufhin das gesamte Arbeitszimmer auf weitere Spuren des Eindringlings, doch ohne Ergebnis.

Bis jetzt hatte Steiner noch keinen wertvollen Hinweis auf den Täter entdeckt. Der Fall würde nicht leicht zu lösen sein, befürchtete er. Eigentlich hatte er gehofft, bald wieder nach Deggendorf zurückzukehren. Sara, seine Frau, erwartete in den kommenden Tagen ihr drittes Kind. Die Hebamme befürchtete eine schwere Geburt und er hätte Sara gerne beigestanden.

In Gedanken versunken verließ er das Arbeitszimmer und besah sich noch einmal die Stelle, an der Rosenbaum der tödliche Schnitt zugefügt worden war. Das fahle Licht des Treppenhauses ließ ihn erst zweifeln, doch ein zweiter Blick zeigte, dass er sich nicht getäuscht hatte. In der verkrusteten Blutlache war eindeutig der verschmierte Abdruck einer Schuhsohle zu erkennen. Der Hauserin, die den alten Juden gefunden hatte, konnte der Schuh nicht gehören, dafür war die Sohle zu groß. Es musste sich demnach um den Stiefelabdruck des Täters handeln. Steiner zog ein Brennglas aus der Tasche. Er besah sich das Muster, das die genagelte Sohle in das frische Blut geprägt hatte. Der Oberwachtmeister stutzte. Der Schuhabsatz schien eine Art Markierung aufzuweisen. Steiner kniete sich nieder und vergewisserte sich, dass es sich nicht um eine Unebenheit in der Pflasterung des Bodens handelte. Mit dem Vergrößerungsglas untersuchte er den ungewöhnlichen Abdruck, der aus drei deutlichen Punkten bestand, die ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Steiner war sich sicher: Der Mörder musste an seinem Stiefelabsatz drei Nägel verloren haben. Das Blut an der Sohle hatte sich in den Löchern der fehlenden Schuhzwecken gesammelt und hinterließ beim Auftreten ein deutliches Druckmuster. Friedrich Steiner atmete tief durch. Der erste winzige Hinweis. Er ging zurück ins Arbeitszimmer, holte sich von Rosenbaums Schreibtisch Papier und Bleistift, skizzierte das Sohlenprofil und vermaß den Abdruck. Zufrieden faltete er das Blatt, steckte es ein und stieg die Treppe hinunter. Er schloss den Kragen seines Uniformrocks und öffnete die Tür.

„Hat außer der Haushälterin irgendjemand das Haus betreten?“

Der durchgefrorene Wachmann vor der Tür rieb sich seine rote Nase.

„Nein. Niemand, Herr Oberwachtmeister. Nur die Hauserin und ich.“

Steiner runzelte die Stirn. „Zeig mal deine Schuhsohlen“, forderte er den Wachmann auf.

Dieser gehorchte widerspruchslos. Steiner inspizierte die Stiefel, dann schüttelte er stumm den Kopf. Sein Blick fiel auf die mittlerweile belebte Straße.

„Gibt es irgendwelche Zeugen?“

Der Gendarm zog die Schultern hoch. „Leider nicht. In Zwiesel gehen die Leut‘ erst nach dem Tagesanbruch aus dem Haus.“

Steiner verzog enttäuscht die Mundwinkel. „Für‘s Erste habe ich genug gesehen. Schaffen Sie den Leichnam weg und versiegeln Sie die Tür. Niemand darf ins Haus. Sollte sich jemand melden, der etwas gehört oder gesehen hat, schicken Sie ihn mir auf die Gendarmerie-Station“, wies er den Wachmann an, holte dann aber noch einmal das Papier mit dem Stiefelabdruck aus der Tasche.

Er besah sich erneut die Form des Absatzes, an dem die drei Nägel in der Besohlung fehlten und blickte dann zu Boden. Seine Augen folgten dem Pflaster von der Tür bis zur Straße, doch er konnte weder Abdrücke noch Blutspuren erkennen. Zu gründlich war der Weg vom Schnee befreit worden. Steiner zog seine Handschuhe an, hielt dann aber inne.

„Hat es eigentlich in der Nacht geschneit?“

„Ein wenig“, nickte der Wachmann und deutete zwischen Daumen und Zeigefinger einen Abstand von knapp fünf Zentimetern an.

Der Oberwachtmeister band das Pferd los, stieg in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht gab es doch einen Zeugen?

Er wandte sich noch einmal an den Gendarmen: „Wer räumt hier eigentlich den Schnee weg?“

Kapitel Fünf

Hans stapfte um den Kohlenmeiler durch den frisch gefallenen, knietiefen Schnee. Immer wieder unterbrach er seine Runde, stieg hinauf und legte prüfend seine Hand auf das Dach des Meilers. Eine Stelle kam ihm noch etwas zu warm vor. Er nahm die Schaufel und bedeckte den kritischen Bereich mit einer zusätzlichen Erdschicht. Als er zufrieden war, stakste er zu dem niedrigen Rindenkobel, in dem sein jüngerer Bruder schlief. Der fünfzehnjährige Georg, den alle nur Girgel nannten, lag eingehüllt in mehrere Wolldecken auf einem dicken Polster aus frischen Tannenzweigen. Hans rüttelte Girgels Schulter, worauf dieser seine Augen öffnete.

„Wach auf. Es ist Zeit.“

Während sich Girgel verschlafen aus den Decken schälte, wickelte sich Hans die gefilzten Gamaschen um beide Unterschenkel und schloss die Riemen. Er überragte seinen Bruder um einen halben Kopf. Das kurzgeschorene blonde Haar verlieh ihm einen ernsthaften, beinahe strengen Ausdruck, wohingegen Girgel mit seinen dunkelbraunen Locken das ungestüme Wesen seines Vaters geerbt hatte. Schon als kleiner Bub war er kaum zu bändigen, während der sechzehnjährige Hans immer schon als der Ruhigere und Besonnenere galt. Doch Girgel hatte sich in die Rolle des Zweitgeborenen gefügt und so kamen die Brüder gut miteinander aus. Beide Jungen waren sehr kräftig. Von Kindesbeinen an waren sie an schwere Arbeit gewöhnt. Schon als kleine Buben hatten sie ihren Vater zum Kohlenbrennen begleitet und alles Notwendige von ihm gelernt.

Am östlichen Horizont schimmerte bereits ein heller Streifen und kündigte den anbrechenden Tag an. Girgel kroch aus dem Unterstand. Er fror. Mit klammen Fingern knüpfte er seine Jacke zu und rieb sich die Arme, um die Durchblutung anzuregen.

„Saukalt heute“, sagte er mit zittriger Stimme und stampfte mit den Füßen auf.

Doch so einfach ließen sich die gefühllosen Zehen nicht beleben.

Hans überprüfte noch einmal den Sitz der Gamaschen und erwiderte grinsend, ohne seinen Bruder anzusehen: „Wenn du jetzt schon frierst, was machst du dann erst im Winter?“

Wie ein gigantischer Maulwurfshaufen ragte der Kohlenmeiler in der weißen Landschaft auf. Auf dem dunklen, warmen Erdhügel schmolz jede Schneeflocke sofort dahin. Am Rand des Meilers hatte sich das Gemisch aus Erde und Kohlenstaub durch die dampfende Hitze in weichen, schwarzen Morast verwandelt. Girgel deutete auf den weißen Qualm, der aus den vielen kleinen Zuglöchern austrat.

„Ein bisschen viel Rauch, oder? Soll ich nicht besser hierbleiben?“

Hans winkte ab. „Nein, schon gut. Es ist alles, wie es sein soll. In zwei Stunden sind wir zurück. Bis dahin kann nichts passieren.“

Er wusste, dass man einen brennenden Kohlenmeiler unter steter Beobachtung halten musste, da das Feuer im Inneren schnell ersticken konnte. Viel schlimmer wäre jedoch das Zusammenfallen der Glut. Dadurch würde die Deckschicht aus Erde und Lehm einbrechen und der Schwelbrand im Kern des Meilers zu viel Luft bekommen. Die meterlangen Holzscheite im Inneren würden lichterloh brennen und zu Asche zerfallen. Die Arbeit von Wochen wäre vernichtet.

Hans lehnte die Schaufel und einen Rechen an den Kobel, um sie bei seiner Rückkehr gleich zur Hand zu haben. Die Sägen, Äxte und das sonstige Werkzeug hatten die Brüder in einem provisorischen Verschlag verstaut, den sie ebenfalls mit Rindenstreifen abgedeckt hatten. Hans gab Girgel seine Handschuhe und schulterte den Rucksack. Wortlos machten sich die beiden auf den Weg.

Der Thanner-Hof lag nur eine knappe halbe Stunde Fußmarsch vom Holzschlag entfernt. So konnten sie sich erlauben, ab und zu nach Hause zu marschieren, um sich eine warme Mahlzeit zu gönnen. Im letzten Jahr lag der Platz, an dem sie das Holz für die Kohle schlugen und den Meiler aufrichteten, auf der anderen Seite des Bergrückens. Girgel erinnerte sich noch gut, wie hart es ihnen ankam, acht lange Wochen am Meiler zu bleiben. Nur alle paar Tage konnte einer von ihnen allein den weiten Weg nach Hause antreten, um die Vorräte aufzufüllen.

Doch von hier aus hatten sie es nicht weit bis zum Hof. Girgel stapfte voraus durch den vom Morgenlicht beschienenen Winterwald. Hans folgte in seinen Spuren. Im tiefen Schnee kamen sie nur mühsam voran, doch die Aussicht auf eine Mahlzeit und den wärmenden Ofen in der Stube war den beiden Jungen die Anstrengung wert. Außerdem freuten sie sich darauf, Maria und die kleineren Geschwister zu sehen.

Kapitel Sechs

Maria steckte ein paar Kienspäne in den Ofen, entzündete ein Streichholz und schob es behutsam unter das Holz. Vorsichtig blies sie das Feuer an. Erst als die Flammen genug Kraft hatten, die kalte Luft aus dem Kamin zu vertreiben, legte sie ein paar Holzscheite dazu. Gedankenverloren blickte sie einen Moment ins Feuer, doch schnell besann sie sich wieder ihrer Verantwortung für die Geschwister und konzentrierte sich auf die anstehende Tagesarbeit. Sie nahm den schäbigen Eimer aus der Ecke neben dem Ofen und ging nach draußen. Mit klammen Fingern schlug sie ein Loch in die Eisdecke des Brunnens, füllte den Eimer und trug ihn ins Haus.

Im Ofen knackte es bereits. Maria goss etwas Wasser in einen Topf und stellte ihn auf das Feuer. Nachdem sie ein wenig Grieß und ein kleines Stück Butter aus einem Tiegel dazu gegeben hatte, begann sie zu rühren.

Johanna, ihre ein Jahr jüngere Schwester, kam mit einem kleinen Eimer aus dem Stall herein. Sie hob den Kübel auf den Tisch, zog den verschlissenen Mantel aus, der schon seit zwei Jahren nicht mehr richtig passte, und hängte ihn an einen Haken hinter der Tür.

„Es ist bitterkalt draußen“, jammerte sie und stellte sich dicht an den Ofen, um sich zu wärmen. Sie sah zu Maria auf. „Die Geiß gibt immer weniger Milch.“

Maria wandte sich um und warf einen Blick in den Milcheimer.

„Hast du wirklich richtig ausgemolken?“

Johanna senkte die Augen. „Natürlich. Aber wenn nichts mehr kommt, dann kommt halt nichts mehr.“

Maria goss eine Kelle Wasser zum Grieß. Dabei fiel ihr der weiße Rand auf Johannas Oberlippe auf. Maria schnaubte erbost, holte mit der freien Hand aus und gab ihrer kleinen Schwester eine schallende Ohrfeige.

„Wisch dir gefälligst den Milchbart ab, wenn du schon meinst, du könntest deinen Kragen vor allen anderen in die Milch hängen!“

Johanna rieb sich die Backe, senkte den Kopf und flüsterte schuldbewusst: „Aber ich hab doch so Hunger.“

„Wir haben alle Hunger“, gab Maria zurück und deutete mit dem Kopf auf den Milcheimer. „Komm, gib her.“

Sie hielt ihrer Schwester den Topf mit dem Grießbrei hin und Johanna kippte die Milch hinein.

Für die Familie war es ein schwerer Schlag, als das Fieber die Mutter im vorigen Jahr aus dem Leben gerissen hatte. In der Nacht, als sie starb, sah Maria ihren Vater am Bett der Mutter sitzen. Stunde um Stunde streichelte er die ausgezehrte Hand seiner Frau und tupfte ihr behutsam die Schweißtropfen von der glühenden Stirn. Doch er spürte die Nähe des Todes und bittere Tränen rannen über seine Wangen. Maria konnte nicht fassen, dass dieser große, starke Mann, den nichts im Leben zu erschüttern schien, weinte wie ein kleines Kind. Als die Mutter für immer die Augen schloss, war Maria klar, dass sie die Verantwortung für die Geschwister übernehmen würde. Der Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen nahm ihr schier den Atem. Doch sie drängte die Welle der Trauer, die sie zu überfluten drohte, mit aller Macht zurück. Sie nahm ihren Vater in die Arme und versprach ihm flüsternd, den Kindern von jetzt an die Mutter zu ersetzen.

Maria zog das Mus vom Ofen, nahm den Kochlöffel heraus und drückte ihn ihrer Schwester in die Hand. Johanna leckte gierig den Grießbrei vom Löffel. Maria hätte ihr diesen Genuss gern öfter gegönnt. Der Anblick der hohlen Wangen im Gesicht der Schwester schmerzte sie. Ständiger Hunger hatte dazu geführt, dass alles Kindliche und Weiche aus dem Antlitz der Dreizehnjährigen viel zu früh verschwunden war. Die Tür öffnete sich und Hans, das Älteste der Thanner-Kinder, kam herein. Sein Gesicht, die Arme und seine Kleidung schimmerten schwarz vom Kohlenstaub. Er roch nach Rauch und die Augen waren gerötet.

„Guten Morgen“, begrüßte er seine beiden Schwestern, zog die verdreckte Jacke aus und legte sie über einen Stuhl.

„Morgen Hans.“

Maria warf ihrem Bruder einen liebevollen Blick zu. Sie war froh, ihn wohlbehalten zu sehen. Die Köhlerarbeit war gefährlich und Maria sorgte sich immer, wenn ihre Brüder am Meiler arbeiteten. Dann wies sie Johanna an, warmes Wasser vom Ofen in die Waschschüssel zu gießen.

„Wo hast du denn den Girgel gelassen?“, erkundigte sich Maria.

Hans krempelte die brandlöchrigen Ärmel auf und säuberte sich die schmutzigen Arme, deren Härchen von der Arbeit an den heißen Kohlenmeilern größtenteils weggesengt waren.

„Der bringt noch Brennholz mit herein.“

Er wusch sich das Gesicht. Das Wasser in der Schüssel färbte sich schwarz. Es rumpelte an der Tür. Maria ließ ihren Bruder herein, der mit beiden Armen einen Schwung Holzscheite umklammerte. Girgel begrüßte die Mädchen, legte das Brennholz zum Ofen und zog Schal und Jacke aus. Maria bemerkte Girgels rote Nase, die von einer dicken schwarzen Rußschicht umrahmt wurde.

„Hat es euch heute Nacht arg gefroren?“

Girgel lachte. „Nein, nahe am Meiler ist es schon auszuhalten. Solange das Feuer brennt.“

Er wusch sich Arme und Gesicht im selben schwarzen Wasser wie Hans und rieb sich mit einem Tuch vom Ofen trocken, das danach ebenso schmutzig aussah wie sein Gesicht vorher. Hans schüttelte deswegen nur den Kopf und bat Johanna, die Kleinen zu wecken, da er und Girgel nach dem Frühstück gleich wieder zurückmüssten. Er setzte sich an den Tisch, rieb seine brennenden Augen und sah Maria müde an.

„Ist der Vater schon nach Hause gekommen?“

Maria seufzte. „Nein, bis jetzt nicht.“

Girgel rieb sich die Hände. „Ich bin gespannt, ob er etwas erwischt hat. Ein schöner Adventsbraten, das wäre was.“ Er deutete auf den Topf mit dem Grieß. „Ich kann schon langsam kein Mus mehr sehen.“

„Ja, hoffentlich hatte er Jagdglück“, stimmte Maria ängstlich zu, „denn die Vorratskammer wird immer leerer.“

Girgel wusste, dass Maria recht hatte. Wenn sie die wenigen Vorräte aufgebraucht hatten, würde es schwer werden, über den Winter zu kommen. Trotzdem versuchte er, die Stimmung aufzuheitern.

„Wisst ihr noch, als Vater im letzten Monat die zwei Hasen heimgebracht hat?“ Er leckte sich genießerisch die Lippen. „Mmh, waren die fein. Und alle waren wir satt bis obenhin. Da läuft mir gleich wieder das Wasser im Mund zusammen.“

Hans lockerte die Riemen seiner Gamaschen. „Trotzdem graust es mir immer, wenn der Vater zum Wildern geht. Und gerade jetzt, wo der Herzog neue Jagdaufseher eingestellt hat, die sich noch beweisen wollen.“

Girgel klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Keine Sorge, Hans. Unser Vater ist ein alter Fuchs. Der lässt sich nicht erwischen. Der weiß, wie es geht.“

Hans zog die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Er wies seinen Bruder darauf hin, dass ihr Vater schon einmal den Jägern nur mit knapper Not entkommen war. Wäre er damals nicht in den alten Dachsbau gekrochen, hätten ihn die Jäger sicherlich erwischt.

Girgel winkte ab. „Das hätten die ihm nie beweisen können.“

Hans erwiderte „Und was war vor drei Wochen, als man den Rohrmoser Kasper beim Wildern am Hochsteig erwischt hat?“ Hans klopfte erbost mit der Faust auf den Tisch. „Erschossen haben die ihn!“ Er ließ seine Worte kurz wirken. Dann fuhr er ruhiger fort: „Es ist einfach zu gefährlich.“

Sein Bruder schaute immer noch unbekümmert drein.

„Was ist denn, wenn die ihn verhaften? Was wird denn dann?“

Aber Girgel ließ sich nicht beirren. „Unseren Vater verhaften? Niemals. Außerdem ist der Gernacker ein Idiot. Einen Dümmeren hätte man als Dorfpolizisten gar nicht einstellen können.“ Er grinste. „Der könnte ja nicht einmal eine Mücke fangen, wenn sie ihm in den Mund fliegt“, fügte er hinzu und lachte über seinen eigenen Witz.

Maria boxte ihm dafür in die Rippen. „So spricht man nicht über andere Leute!“

Sie dachte an Benedikt, den Sohn des Dorfpolizisten Gernacker. Sie kannte ihn von klein auf, beide hatten oft zusammen im Wald gespielt und Beeren gepflückt. Aber seit einiger Zeit klopfte ihr Herz wie wild, wenn sie ihn sah, und eine merkwürdige Traurigkeit überkam sie, wenn er wieder fortmusste. Girgel zog sie deswegen schon auf. Er behauptete frech, sie sei verliebt und fragte, wann denn endlich Hochzeit gefeiert werde. War sie tatsächlich verliebt? Maria wusste es nicht. Jedenfalls war Benedikt ihr bester Freund und ihr Bruder ein Dummkopf und das sagte sie ihm auch.

„Jetzt hört endlich auf.“

Hans ging das kindische Getue seiner Geschwister auf die Nerven. Er war müde von der nächtlichen Arbeit und voller Sorge um den Vater.

Johanna kam mit ihren zwei kleineren Geschwistern Gustl und Reserl herein. Die achtjährigen Zwillinge setzten sich an den Tisch. Reserl beanspruchte wie immer den Platz dicht neben Girgel. Zu ihm hatte sie eine besondere Beziehung. Schon als Kleinkind ließ sich Reserl nur von Girgel trösten, wenn sie weinte, und nur er konnte sie in den Schlaf wiegen. Aber auch er genoss seine Rolle als großer Bruder. Er legte den Arm um sie und Reserl schmiegte sich an ihn.

„Wie geht es dem Sepperl?“, erkundigte sich Hans bei Johanna.

Doch Maria kam ihrer Antwort zuvor. „Als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich ihm die Hand auf die Stirn gelegt. Er war immer noch sehr heiß.“

Johanna ergänzte „Er wollte nicht aufstehen und Hunger hatte er auch keinen.“

Hans sorgte sich und erhob sich, um nach dem Jüngsten zu sehen, aber Maria legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich geh‘ schon, bleib sitzen.“

„Der muss etwas essen“, sagte Girgel bekümmert, „sonst kommt der nie auf die Füße!“

Maria kam wieder herein. Sie füllte eine Schüssel mit kaltem Wasser, nahm ein Tuch und eilte zurück zu Sepperl. Der Bub lag schon seit einigen Tagen mit Fieber im Bett und plagte sich dazu noch mit einem quälenden Husten. Maria zog das Betttuch über der strohgefüllten Matratze glatt. Sie tauchte das Tuch ins Wasser, drückte es aus, hob die Wolldecken an und wickelte ihrem jüngsten Bruder das feuchte Leinen um die dünnen Waden. Als sie anschließend ihre Hand auf die verschwitzte Stirn des Kleinen legte, spürte sie noch immer die Hitze des Fiebers. Maria stand auf und öffnete das einzige Fenster der Kammer, die den vier Jungen als Schlafstatt diente, und ließ etwas frische Luft herein. Draußen war es mittlerweile hell geworden und die eisige Luft des Wintermorgens ließ Eisblumen auf der dünnen Glasscheibe wachsen. Vom Fenster aus konnte sie den Weg erkennen, der durch den Wald zum Dorf führte, aber vom Vater war immer noch nichts zu sehen.

„Es ist alles in Ordnung“, beruhigte sie sich in Gedanken. „Wahrscheinlich hat er so viel Beute zu schleppen, dass er nur langsam vorankommt.“

Nach einer Weile schloss sie das Fenster und erneuerte die Wadenwickel. Dann nahm sie eine Wolldecke von Girgels Bett und legte sie zusätzlich über den kleinen Sepperl. Ein letztes Mal strich Maria ihm die rotblonden Haare aus der Stirn und begab sich dann zurück in die Stube, wo Hans sich sofort nach dem Befinden des Jüngsten erkundigte.

„Er schläft“, sagte Maria. „Er atmet ruhig und gleichmäßig, aber er ist immer noch recht heiß.“

Girgel schüttelte den Kopf. „Da ist es mit Wadenwickeln nicht getan. Der Bub braucht Medizin.“

Hans gab ihm recht. „Vater wird ja jeden Moment nach Hause kommen. Der weiß, was zu tun ist.“ Er wandte sich an die kleinen Mädchen. „Johanna, teil aus und du Reserl, bist heute mit dem Beten dran.“

Johanna füllte den Grießbrei in Schüsseln. Die Kinder falteten die Hände, schlossen die Augen und Reserl sprach das Tischgebet.

„Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Mach dass es unserem Sepperl bald wieder gut geht …“ Sie überlegte kurz und fuhr dann fort „ach ja, und pass droben im Himmel gut auf unsere Mutter auf. Amen.“

Die Kinder griffen nach ihren Löffeln und begannen den wässrigen Grießbrei zu essen. Auch heute würde er wieder nur den ärgsten Hunger stillen. Trotzdem ließ Maria die Hälfte ihres Breis übrig und begab sich damit nach nebenan zu ihrem kranken Bruder.

Sepperl lag mit glasigen Augen wach im Bett. Maria hob seinen Kopf an und schob das Kissen weiter darunter, damit er etwas aufrechter lag. Sie hielt ihm einen Löffel Grießbrei hin. Apathisch öffnete er den Mund und Maria schob ihm den Löffel hinein. Doch schon beim zweiten Mal schüttelte Sepperl den Kopf.

„Du musst etwas essen, damit du wieder Kraft kriegst“, forderte Maria ihn auf. „Es hat geschneit und du willst doch mit dem Gustl Schlitten fahren.“ Sie hielt ihm erneut den Löffel hin, aber Sepperls Mund blieb geschlossen. Maria stellte die Schüssel resigniert zur Seite, machte das Kissen wieder flacher und streichelte ihrem Bruder den Kopf. „Bestimmt geht’s dir bald besser.“

Sie verließ die Kammer und wandte sich voll Sorge an Hans. „Er hat nun schon seit drei Tagen so hohes Fieber. Wir brauchen dringend Medizin für ihn.“

Hans sah sie bekümmert an und biss sich auf die Lippen. Seine Verzweiflung und der Zorn über seine Machtlosigkeit entluden sich in einem Wutanfall.