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»James war ein guter Mentor. Wir haben seine Seele erst vor wenigen Tagen in eine Pflanze transferiert.« Nach dem brutalen Tod ihres Mentors hinterlässt Keira Laszlo eine Spur von Unruhen im Land der Hexen. Überall wird nach der flüchtigen Mörderin gesucht. Die eigenbrötlerische Diana Donelly ist in ihrer Puppenwerkstatt zu beschäftigt, um sich für die Probleme ihrer Heimat zu interessieren. Sie verfolgt nur ein Ziel: Ihren Bruder zu finden, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat. Dabei erschweren ihr nicht nur die strikten Hexenregeln die Suche, sondern auch ihre Angst vor dem, was jenseits der Landesgrenzen lauert. Als sie allerdings auf Keira trifft und plötzlich selbst eine Verräterin sein soll, muss sie über ihren Schatten springen. Gemeinsam verlassen die beiden Hexen ihre Heimat und lernen sich auf der Flucht näher kennen. Je weiter sie sich von zu Hause entfernen, desto mehr schockierende Wahrheiten erfahren sie über die dunklen Machenschaften ihres Hexenzirkels. Gibt es einen Weg, die Herrschaft der Hexen zu beenden? Und findet Diana in all dem Chaos endlich ihren Bruder?
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2024
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WREADERS E-BOOK
Band 233
Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann
Lektorat: Silvia Klara, Alina Lindecke
Satz: Ryvie Fux
www.wreaders.de
Diese Geschichte widme ich allen, die das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.
Wir gehören zum großen Geflecht des Lebens dazu.
In unseren Wundern und Träumen sind wir alle vernetzt.
Immer. Überall. Auch du.
Hexenregeln
Das Wohl der Hexengemeinschaft steht über allem. Tue, was nötig ist, um den Zirkel zu schützen.
Den Befehlen des Hohen Rates ist Folge zu leisten.
Transformationen in Tiere sind untersagt.
Magie wird ausschließlich zum Wohle anderer Hexen gewirkt. Für Menschen wird unter keinen Umständen gezaubert.
Hexenschülerinnen ist es über ihre Ausbildung hinaus nicht gestattet, Kontakt zu ihrem Mentor zu halten. Bindungen zwischen Hexen und Mentoren sind unter allen Umständen verboten.
Männlicher Nachwuchs wird entweder dem höheren Wohl geopfert oder den Bergen überlassen.
Wichtige Entscheidungen, auch persönliche, werden in jedem Fall vom Hohen Rat getroffen.
Ein Nichtbeachten dieser Regeln hat zur Folge, dass man zum Wohl des Hohen Rates geopfert wird.
Prolog
Mein Name lautet Freiheit
und viele sehnen sich nach mir.
Ich weiß,
eines Tages findest Du mich.
Nicht in der Dichte der Wälder,
oder den Tiefen der Meere,
nicht in den Weiten der Wüsten,
oder den Höhen der Lüfte.
Ich bin bereits ein Teil von Dir.
Manchmal erscheine ich
in Deinen Träumen.
Kapitel 1:
Die Puppenwerkstatt
Regen trommelte gegen das Fenster der spärlich beleuchteten Werkstatt, die im Innenhafen um diese Uhrzeit das einzige Leben vermuten ließ. Niemand, dem sein Feierabend lieb war, arbeitete noch zu dieser Stunde. Außer man war Puppenrestaurateurin und liebte seine Arbeit mehr als den eigenen Schlaf-Wach-Rhythmus.
Beißend alkoholischer Gestank brannte in der Luft. Die langen Finger der rothaarigen Frau tupften mit einem Wattebällchen über ein schwarz angemaltes Plastikgesicht. Irgendjemand hatte die zeitlose Schönheit mit einem wasserfesten Stift bekritzelt. Vermutlich Glasmarker.
Ein Fläschchen mit Lösungsmittel stand neben dem Körper der Puppe. Gehüllt in ein frisch gewaschenes Rüschenkleid und versehen mit blumigem Parfüm wartete er darauf, dass sein Kopf zu ihm zurückkehrte. Die Restaurateurin hatte ihn abgenommen, um ihn besser bearbeiten zu können.
Der alkoholgetränkte Wattebausch brachte das zarte Gesicht der Puppe zum Vorschein. Sie hatte blaue Glasaugen. Eines davon war gesprungen und ein tiefer Riss zog sich über die naturgetreue Iris, in der Pupille fehlte ein Splitter. Armes Ding. Hoffentlich trübte das nicht ihre Sicht auf die eigene Verwandlung.
Natürlich konnte sie nicht wirklich etwas mitverfolgen. Sie war ein Gegenstand, unfähig, etwas zu empfinden. Aber die Puppendoktorin mochte es, ihre Fantasie für derlei Dinge zu nutzen. Sie stellte sich vor, wie ihre Patienten sich mit ihr unterhielten. Manchmal, wenn sie sicher war, dass ihr niemand zuhörte, antwortete sie ihnen. Wenn man es genau nahm, führte sie mehr Gespräche mit Gegenständen als mit Lebewesen, aber das störte sie nicht.
»Ich fürchte, dass einige Stellen fleckig bleiben.« Ihre Stimme kam kaum gegen das Trommeln der Regentropfen an. Sie glich einem Raunen, der Stille näher zugewandt als einem Laut. Erneut wischte sie über eine Verfärbung auf der Wange, aber ein Schatten blieb im Kunststoff zurück. Die junge Frau rümpfte die blasse Nase, als würde die Puppe ihren Missmut dadurch besser verstehen. »Vielleicht verpasse ich dir Sommersprossen, dann fallen sie nicht auf.«
Die blauen Augen der Puppe starrten leblos zurück. Ob sie mit Sommersprossen einverstanden wäre? Viel wichtiger: Ob ihr Besitzer etwas dagegen hätte? Als er die verunstaltete Puppe hergebracht hatte, hatte er diesen Fund aus dem Gebrauchtwarenladen möglichst originalgetreu zurückverlangt.
An einer Pinnwand über der Werkbank hingen Fotos vom ursprünglichen Zustand der Puppe. Vergilbte Werbeartikel und Ausschnitte von Produktvorstellungen. Ohne Referenzbilder wäre es unmöglich, detailgetreue Ergebnisse zu liefern. Die Puppendoktorin seufzte. Eigentlich hatte die Originalvorlage keine Sommersprossen. Aber schwarze Schatten auf den Wangen waren auch keine Option. Wohl oder übel musste sie den Kunden anrufen und ihn fragen, was ihm lieber wäre.
Sie legte den Puppenkopf beiseite und streckte die Arme nach oben, es knackte und das erinnerte sie daran, wie lange sie bereits arbeitete. Ein Blick zum Fenster ließ sie zusammenzucken. Seit wann regnete es? War sie etwa so tief in ihre Arbeit versunken gewesen, dass sie das ausgeblendet hatte? Außerdem war es dunkel draußen. In der Blase ihrer Arbeit gab es kein Zeitempfinden.
Um Zeit zu schinden, kreiste sie zunächst die Schultern und schob sich dann vom hölzernen Drehstuhl, um sich ihrem Telefon zu widmen. Sie hasste telefonieren. Mit schwitzigen Händen wählte sie die Nummer ihres Kunden. Während sie wartete, zupfte sie nervös an einem Zopfgummi, welches sie um ihr Handgelenk trug.
Ein silberner Anhänger in Form eines Frosches baumelte daran. Frösche fanden sich an vielen Orten in ihrer Umgebung wieder, denn sie liebte diese hüpfenden Amphibien. Sie besaß eine Teekanne in Froschform und irgendwo flog eine grüne Mütze mit Glubschaugen herum.
Am Absatz der Treppe saß ein Froschteddy, den sie vor einigen Jahren selbst genäht hatte. Sie hatte ihn, wie so oft, mit runtergenommen, um eine Naht zu reparieren, aber auch an diesem Tag hatte sie keine Zeit dafür gefunden. Sein Anblick entlockte ihr ein Lächeln, aber er entfachte auch Wehmut in ihrer Brust. An diesem Frosch heftete eine Erinnerung, die sie niemals überwinden können würde.
Aus dem Hörer schallte plötzlich eine Stimme: »Flieder?«
Die Puppendoktorin verzog das Gesicht. Mit belegter Stimme setzte sie zu einer Antwort an. »J-ja hallo.« Sie ohrfeigte sich innerlich für ihre lapidare Aussprache und versuchte krampfhaft, das Hämmern in ihrer Brust zu ignorieren. »Hier ist Diana Donelly.« Um einigermaßen verständlich zu klingen, musste sie ihre Stimme bewusst erheben. Noch weniger als telefonieren mochte sie Kundengespräche.
Das folgende Zögern dauerte dem Mann anscheinend zu lange, denn er räusperte sich auffallend laut. »Ich kann Ihnen nicht folgen. Wer sind Sie?«
Diana schüttelte sich. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. »Ich, also ich … bin die Puppendoktorin. Sie haben –«
»Ach!«, fiel der Mann ihr ins Wort und lachte. »Sagen Sie das doch gleich. Sind Sie fertig mit ihr?«
»Noch nicht.« Diana schielte zu dem Puppenkopf herüber. Allein für die Haare würde sie einen halben Tag benötigen. Vorausgesetzt sie hatte den richtigen Farbton da, um kahle Stellen am Kopf aufzufüllen. »Es gibt ein Problem, worüber ich gerne Rücksprache halten würde. Die Farbe hatte sich stellenweise im Gesicht verfestigt. Ich bekomme sie nicht rückstandslos raus und ich fürchte, dass ich sie mit Farbe …« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser, bis sie die letzten paar Silben bloß noch hauchte. »überdecken muss.«
»Na ganz toll«, stöhnte der Mann. Das folgende Grummeln verebbte, als würde er sich vom Telefon entfernen. »Das mindert den Wert«, nuschelte er und kam wieder näher. »Und … keine Ahnung, geht das nicht mit Magie? Sie sind doch eine Hexe, oder nicht?«
Diana ließ die Schultern sinken. »Für so etwas darf man Magie nicht einsetzen.«
»Ich dachte, Sie liefern nur zufriedenstellende Arbeiten ab.« Herr Flieder lachte höhnisch. »Ihre Werkstatt genießt einen guten Ruf. Ich habe diese Puppe als Wertanlage mitgenommen und in Ihre Hände übergeben, um sie zum bestmöglichen Marktpreis wieder zu verkaufen. Mit Flecken im Gesicht wird das nicht möglich sein. Entweder Sie bekommen das hin oder ich hole das Ding nicht ab.«
Diana holte Luft, um etwas zu entgegnen, aber wie gewohnt fuhr ihr Gesprächspartner ihr über den Mund: »Rufen Sie erst wieder an, wenn sie tadellos ist.«
Er legte auf.
Sekundenlang verharrte Diana im Halbdunkeln ihrer Werkstatt und lauschte dem Tuten des beendeten Telefonats. Hilfesuchend sah sie den Froschteddy an. Sein Blick enthielt Vorwürfe, weil sie ihn noch immer nicht repariert hatte. Und Schuldzuweisungen, weil sie das Telefonat nicht selbstbewusst genug hatte führen können. Diana schüttelte sich. Wie sollte sie das mit der Puppe hinbekommen? Mit fleckigen Wangen und leblosen Augen starrte diese in den Raum. Vielleicht könnte sie sie selbst verkaufen, wenn Herr Flieder kein Interesse mehr an ihr hatte? Aber für sowas benötigte man Verkaufstalent und davon besaß Diana auch nicht sehr viel.
Sie hatte nicht viel Zeit zum Grübeln, da ertönte ein leises Kratzen an der Tür. Diana legte das Telefon beiseite und eilte zur Holzpforte, die den Eingang zu ihrem Arbeitsplatz markierte. Beim Anblick der braunen Katze, die wie selbstverständlich in das Gebäude schlenderte, vergaß sie den unangenehmen Anruf. Ein Lächeln verirrte sich auf ihre Lippen.
Seit ein paar Wochen verschaffte sich die Katze jeden Abend zur gleichen Zeit Zugang zur Werkstatt. Sie holte sich Streicheleinheiten und etwas zu Essen ab. Manchmal blieb sie über Nacht.
Diana hatte ihr den Namen Gaia gegeben, denn das treuherzige Tier erinnerte sie an ihre Lieblingsromanheldin. Elegant, selbstbewusst und mit dem Herz am rechten Fleck rettete sie Buch für Buch ihre Welt vor dem Untergang. Mit einer mutigen Selbstverständlichkeit, wie Diana sie nie besitzen würde. Die offensichtlichste Ähnlichkeit zwischen Katze und Romanheldin lag sicher an den bernsteinfarbenen Augen, die sich wie flüssiger Karamell vom schokobraunen Fell abhoben.
»Na, Kleine?« Diana ging in die Hocke und ließ die Finger durch das nasse Fell gleiten. Die feinen Haare klebten vor Regen aneinander und das Tier schüttelte sich, wodurch es alles in seinem Umfeld mit Tropfen benetzte.
»Wärm dich hier auf.« Diana hob Gaia vorsichtig auf ihren Arm und ging mit ihr in Richtung Treppe. Auf dem Weg nach oben nahm sie den Froschteddy mit.
Oberhalb der Werkstatt befand sich eine große Einzimmerwohnung. Die dunkle Holztreppe war der einzige Zugang dorthin. Wer oben wohnte, dem gehörte der untere Bereich automatisch. Früher war das einmal ein Gasthaus gewesen, aber daran erinnerte nur noch eine goldene Denkmalplakette neben der Tür.
Oben angekommen setzte Diana ihren flauschigen Gast auf dem hellen Holzboden ab und der Frosch fand seinen Platz auf dem Bett. Gaia steuerte die Heizung an, hüpfte auf die Fensterbank darüber und schnupperte am Blatt einer der unzähligen Topfpflanzen, die das Fenster, nein, die gesamte Wohnung, beinahe völlig vereinnahmten.
Mit einer schwingenden Handbewegung wischte Diana über eine Glaskugel, die zusammen mit einer Sukkulente auf einer Kommode neben der Treppe stand. Ein leichtes Vibrieren umspielte ihre Finger und Wärme breitete sich in ihnen aus. Sie befahl der Kugel, ihr die Neuigkeiten des Tages mitzuteilen. Gedanklich natürlich, denn eine Hexe musste keine Worte nutzen, um bei solch banalen Dingen wie der Kugelaktivierung ihre Fantasie in Magie umzuwandeln. Nur bei komplizierten Zaubern war das notwendig, aber davon nutzte Diana nur selten welche, denn sie kosteten wertvolle Energie. Weil sie ungern müde durch den halben Tag schlenderte, setzte Diana ihre Magie sparsam ein. Außerdem gab es da noch die Tatsache, dass die meisten Zauber, die sie einsetzte, unfreiwillig nach hinten losgingen.
Die Kugel gab ein sphärisches Geräusch von sich, wie ein metallisches Echo, welches in eine wohlklingende Stimme überging. Kaum definierbar, ob es sich um eine männliche oder weibliche Stimme handelte. Irgendwie schien sie sich zwischen den Geschlechtern zu bewegen. Manche Töne klangen tief wie das Dröhnen von Waldhörnern, andere wiederum schallend hoch wie der Klang einer Triangel.
»Heute gibt es zwölf Meldungen:
Drei von hoher Bedeutsamkeit.
Vier von mittlerer Bedeutsamkeit.
Fünf von geringer Bedeutsamkeit.«
Während Diana für Gaia Thunfisch in eine Schüssel füllte, befahl sie der Glaskugel, nur die wichtigsten Meldungen vorzutragen.
»Zunächst verlese ich die Meldungen mit hoher Bedeutsamkeit:
Erste Meldung: Der Werwolf, der im Wald von Duscar gesichtet wurde, stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus Roneshkal. Der Hohe Rat nimmt an, dass die Trolle ihn mit Absicht dort ausgesetzt haben.
Zweite Meldung: Keira Laszlo wird weiterhin gesucht, Zeugenberichten zufolge wurde in Hafennähe eine Person gesichtet, die ihr ähnelt. Diesen Berichten geht der Hohe Rat derzeit nach. Es ist anzunehmen, dass sie in einer nichtmenschlichen Gestalt untergetaucht ist.
Dritte Meldung: Die kommende Hexenversammlung wird nicht wie gewohnt am Innenhafen stattfinden, sondern auf der Waldlichtung. Sie wird eine Nacht vorgezogen, da es zurzeit gefährlich ist, in Vollmondnächten draußen zu sein. Leonarda Koohns hat einen Sohn zur Welt gebracht und entschieden, ihn zur Opferung mitzubringen. Zeremonielle Kleidung wird erbeten.«
Die nächste Versammlung fand früher statt, das durfte Diana nicht vergessen. Aber sollte sie überhaupt hingehen? Unter Leute?
Sie lächelte beim Anblick der Katze, die sich hungrig auf das angebotene Abendessen stürzte. Wie jeden Abend verputzte sie den Thunfisch, als wäre er das Einzige, was sie täglich zu Essen bekam.
Schade, dass Gaia immer darauf beharrte, wieder zu verschwinden. Eine Hauskatze würde sich gut in diese Umgebung fügen. Diana hätte Gesellschaft, die lebendiger war als Puppen, aber weniger erwartungsvoll als Hexen oder Menschen. Mit knurrendem Magen bereitete Diana sich selbst Essen zu. Fertiglasagne, in der Mikrowelle, für mehr reichte ihre Laune nicht.
Während sich das ungesunde Mahl in seiner isolierten Kammer auf einem gläsernen Teller drehte, widmete sich Diana einem Tisch im hinteren Bereich ihrer Wohnnische. Darauf lag eine halbtransparente Tischdecke in sandigem Beige, gespickt mit goldenen Sternen. Ebenso golden waren auch die Kerzenhalter, auf denen halb abgebrannte Stumpenkerzen steckten. Am oberen Rand hafteten geschmolzene Wachswülste wie getrocknete Tränen, in der Zeit stehen geblieben. Sie umrundeten eine mattgoldene Schale, mit feinem Sand gefüllt. Vereinzelt ruhten Ascheflocken darin. Diana legte eine runde Kohletablette auf die Rückstände der letzten Räucherung und zündete sie mit einem Streichholz an.
Glut machte aus dem Schwarz ein gesprenkeltes Grau. Mit spitzen Fingern streute Diana etwas Harz in die Mitte der glühenden Kohle. Es blubberte und verströmte einen beißend süßlichen Geruch. Eine Mischung aus Eisenkraut und Mistel sollte Antworten liefern. Diana legte das Räucherwerk in das brodelnde Harz und inhalierte den Rauch ihres eingeleiteten Zaubers. Ihr Hals kribbelte und sie unterdrückte den aufkommenden Hustenreiz. Verbrennende Pflanzen dufteten nicht, sie reizten die Atemwege mit ihrem penetranten Qualm, aber wenn man ihnen Magie beimischte, dann entfalteten sie ihre Wirkung. Eisenkraut und Mistel verliehen hellseherische Fähigkeiten.
Diana führte ihre Hand an ihren Nacken. Dort ertastete sie den kühlen, etwa Mirabellengroßen Stein, der wie ein Piercing zwischen ihren oberen Halswirbeln steckte. Es war das Ende eines Dolchknaufes. Der Rest der kleinen Waffe war über ihre Wirbelsäule mit ihrem Körper verbunden. Diese magische Ladestation war der Lohn, den man erhielt, wenn man eine vollständig ausgebildete Hexe war. Der Dolch, den man seine gesamte Lehre über mit Magie fütterte, wurde zu einem unverzichtbaren Hexenutensil. Um ihn untrennbar von seinem Wirt zu machen, gab es zum Abschluss der letzten Hexenprüfung ein Ritual, das die Klinge zum Teil eines Hexenkörpers machte. Diana beschwor ihn aus ihrem Rücken. Ein Kribbeln zog durch ihre Wirbelsäule, es weitete sich in Form einer Gänsehaut über ihren Körper aus. Als das Metall sich aus ihrem Knochen löste, wurde es in ihrem Nacken kurz kalt. Sie stöhnte den leichten Schmerz weg und atmete durch, als sich der warme Griff ihrer magischen Waffe in ihre Handfläche schmiegte. Ein magnetisches Gefühl kroch über ihre Haut und es knisterte, als sich die Magie um ihren Körper manifestierte. Sie streckte ihren Arm aus und hielt den Dolch ins Zentrum des Räucherwerks.
»Zeig mir meinen Bruder.«
Ein Surren erhob sich. Die Magie pulsierte und prickelte über Dianas Handrücken. Der Dolchgriff heizte sich auf und schien mit ihrer Haut zu verschmelzen. Ein Dutzend winziger Explosionen bereitete sie darauf vor, eine Antwort auf ihren magischen Befehl zu erhalten. Um ihren Willen zu unterstreichen, dachte Diana unentwegt an ihren Bruder. Zeig ihn mir, dachte sie, zeig mir, wo er ist.
Sie schloss die Augen, voller Erwartung, endlich das zu sehen, was sie schon seit Jahren so verzweifelt suchte. Es wäre leichter, wenn sie den Namen ihres Bruders wüsste, aber ihre Mutter hatte ihm nie einen gegeben. Zunächst sah Diana nur Schwärze. Dann zuckten Blitze hinter ihren Lidern und eröffneten Sicht auf Hoffnung. War es das? Ihr Herz raste. Sie hielt den Atem an. Es wurde hell. Ein Bild festigte sich.
Dann knallte es hinter ihr. Eine ohrenbetäubende Explosion. Sie schrie, zuckte zusammen und verlor den Kontakt zu ihrem Zauber.
Diana wirbelte herum. Ihre Mikrowelle qualmte, eine kleine Stichflamme trat aus der geplatzten Glasscheibe hervor. Magische Wellen gingen von dem zerstörten Gerät aus.
Seufzend ließ Diana die Schultern sinken. Schon wieder. Ihre Magie hatte einen Umweg genommen und willkürlich für Zerstörung gesorgt. Hatte sie wirklich etwas anderes erwartet? Sie stand auf, um den Brand zu löschen. Erstickende Luftlosigkeit trat aus ihrem Dolch hervor und legte sich um das Feuer. Die Elemente konnte sie wenigstens gefahrlos beschwören, solche minderwertigen Zauber bargen nur wenig Risiko. Wieder einmal von ihrer Hoffnung enttäuscht, steckte sie ihren Dolch zurück an seinen Platz. Die Klinge wurde eins mit ihrer Wirbelsäule. Ihr Körper umarmte das Metall und nahm seine Magie in sich auf.
Wieso konnte sie ihren Bruder nicht finden? Warum war es so schwierig, seinen Verbleib auszumachen? Irgendwo in Medinga musste er sein, sie hatte ihn doch eigenhändig in Sicherheit gebracht. Aber irgendein mysteriöser Bann hielt ihn vor ihrer Suche verborgen.
Gaia streckte sich mit einem langgezogenen Miauen vor ihren Füßen. Die Explosion muss sie aufgeschreckt haben, aber für ein schreckhaftes Tier, wie Katzen es normalerweise waren, verhielt sie sich auffallend entspannt. Der fehlerhafte Zauber hatte sie lediglich dazu getrieben, ihren Schlafplatz zu verlassen.
Diana vergrub die glühende Kohle im Sand, um die Glut zu ersticken. Anschließend belegte sie eine Scheibe Brot mit Tofu-Schinken. Die Lasagne konnte sie vergessen, im geschmolzenen Käse steckten ein Dutzend Glasscherben.
Mit ihrem improvisierten Abendessen setzte sie sich auf ihren dunkelgrünkarierten Lieblingssessel. Gaia hüpfte auf die Lehne des Sessels und rollte sich hinter Dianas Kopf ein. Die spärliche Beleuchtung der magisch betriebenen Straßenlaternen erhellte die Wohnung gerade genug, um die Hand vor Augen zu erkennen. Der Regen hatte sich beruhigt, aber vereinzelte Tropfen rannen noch über die Fensterscheiben. Zwischen den mattgrünen Blättern ihrer Pflanzen und mit Gaias beruhigendem Schnurren im Ohr, schob sich Diana einen Bissen in den Mund. Trocken und fad. Aber es würde sie sättigen. Sie lehnte sich zurück und sah zu dem kleinen Altar, an dem sie Abend für Abend mit missglückten Zaubern konfrontiert wurde. Diana war eine Hexe, aber sie hatte keine Kontrolle über ihre magischen Fähigkeiten. Dabei wollte sie doch bloß ihren Bruder finden.
Kapitel 2:
Hexenversammlung
Diana drehte kleine Lockenwickler in das Haar ihrer Puppenpatientin. Der etwa Honigmelonen große Kopf steckte mittlerweile wieder auf seinem Körper und ließ sie in ihrer vollen Größe für eine zierliche Puppe riesig wirken. Würde sie stehen, ginge sie Diana bis knapp über die Knie. Sommersprossen zierten die ockerfarbenen Wangen der Puppe, dadurch fielen die dunklen Schatten des Markers kaum noch auf. Herr Flieder würde es bestimmt ärgern, dass sie diese Lösung gewählt hatte, anstatt die Flecken mit Magie zu beseitigen. Aber Diana konnte einen unzufriedenen Auftraggeber besser verkraften als eine Strafpredigt ihrer Mutter. Sie hörte ihre Worte förmlich in Gedanken. Magie wird nicht für Menschenbedürfnisse verschwendet.
Während die Lockenwickler ihre Arbeit verrichteten, polierte sie die Glasaugen, bis sich ihre eigenen darin spiegelten. Das gesprungene Auge war ausgetauscht. Das andere hatte sie ebenfalls ersetzt, damit man keinen Farbunterschied in den Blautönen ausmachen konnte.
Als sie mit der Puppe fertig war, streckte sie sich und warf einen Blick in Richtung Tür. Dann zur Uhr. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. Gaia war noch nicht da? Eigentlich hatte sie abwarten wollen, bis die Katze versorgt war, um sich dann auf den Weg zur Versammlung zu machen. Der letzten Meldung der Glaskugel zufolge trafen sie sich diesmal nicht an der Werft, sondern auf der Waldlichtung, was sicher damit zusammenhing, dass Keira Lazslo in der Nähe des Hafens gesichtet worden war. Das war ärgerlich, denn der übliche Treffpunkt lag ganz in der Nähe von Dianas Werkstatt, wohingegen der Weg zur Lichtung einen halbstündigen Fußmarsch andauerte. Diana schritt auf die Tür zu. Sie öffnete diese, streckte den Kopf hinaus und gab leise, schnalzende Töne von sich.
Draußen bahnte sich die Nacht an, aber es war noch nicht so dunkel, dass die Straßenlaternen leuchteten.
»Gaia?«
Nichts. Keine Spur von der schokoladenbraunen Katze.
Nachdenklich begab sich Diana in ihre Wohnung. Dort richtete sie eine Portion Thunfisch in einer Schale an, für den Fall, dass Gaia doch noch auftauchte.
Anschließend widmete sie sich ihrer Abendplanung. Für Versammlungen gab es einen strikten Dresscode, also schlenderte sie zum Kleiderschrank. Auf dem Weg band sie ihre Haare mit dem allzeit einsatzbereiten Zopfgummi zusammen. Es glitt von ihrem Handgelenk über ihre roten Wellen und hielt sie in einem lockeren Knoten zusammen. Der kleine silberne Frosch, der an dem Zopfgummi hing, harmonierte perfekt mit den kleinen Ohrsteckern, die ebenfalls silberne Frösche waren.
In Dianas Schlafnische, hinter einem dicken, gehäkelten Vorhang verbarg sich ihr Kleiderschrank. Sie nahm ein Cape heraus, legte es über ihre Schultern und weil die Etikette es so verlangte, griff sie auch nach ihrem Hut. Wenn Hexen sich in Vollmondnächten trafen, war es unhöflich, das reflektierte Licht auf sein Gesicht scheinen zu lassen. Auch wenn die Versammlung mal nicht an Vollmond stattfand, nahmen es die Hexen genau mit ihrer Tradition. Meistens trugen sie Hüte, die sich elegant in das Gesamtbild fügten. Die Krempe war weit und das Kopfteil abgerundet. Zeremonienkleidung war immer aus schwarzem Stoff gefertigt. Diana bevorzugte lange Kleidung, weil manche Hexen ungefragten Körperkontakt suchten. Mit Körperkontakt hatte sie es nicht so, egal in welcher Form und mit welchem Hintergedanken er hergestellt wurde. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass man ihr dann einen Teil der Seele raubte, und an manchen Tagen fühlte sich ihre Seele ohnehin schon fragil an, auch ohne Berührungen.
Ein letzter prüfender Griff galt ihrem Nacken. Sie strich über das glatte Ende ihres magischen Dolches und nickte ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu. »Du schaffst das.« Ein gequältes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sieh dich an, dachte sie, ein Häufchen Elend. Vielleicht würden sich nicht allzu viele Personen mit Gesprächen auf sie stürzen. Und hoffentlich könnte sie wieder verschwinden, bevor das rituelle Opfer stattfand.
Auf dem Weg nach unten nahm sie die Schale mit dem Thunfisch mit. Diese stellte sie vor die Pforte ihrer Werkstatt, damit Gaia nicht leer ausgehen würde, falls sie doch noch vorbeikäme.
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Es war keine Pflicht, den Hexenversammlungen beizuwohnen, aber man wurde darauf angesprochen, wenn man nicht erschien. Die meisten Hexen gingen den Einladungen nach, weil sie in diesen Nächten ihre Freundinnen treffen konnten. Andere, vor allem ältere Frauen, besuchten die Versammlungen, um Traditionen aufrechtzuerhalten. Einst hatte eine Königsfamilie über das Land geherrscht und veranlasst, dass jede Frau, die Magie praktizierte, getötet wurde. Zu jenen Zeiten haben sich Hexen heimlich getroffen, um zu prüfen, welche Mitglieder ihres Zirkels noch lebten.
Die Geschichte der Königsfamilie Monart war ein altes Märchen, jedes Hexenmädchen kannte es. Prophezeiungen zufolge sollte die Familie zurückkehren, aber das ist in zweihundert Jahren nicht geschehen. Die heilige Hexe Frieda hatte mithilfe eines erlösenden Fluches die Hexenprozesse beendet und die grausame Familie aus dem Land gejagt. Seither galt Frieda als Schutzpatronin der Hexen. Legenden zufolge lebte ihr Geist weiter, in den Elementen, die Medinga formten. In den lebenspendenden Organismen der Erde, den wärmenden Funken des Feuers, dem Wasser, aus dem das Leben stammte und der Luft, die jeder in sich aufnahm. Manche Hexen beteten zu ihr und erhofften sich Beistand in schwierigen Zeiten. Ob es Frieda wirklich gegeben hatte, wusste Diana nicht. Aber das Nichtwissen war wohl eine der Grundfeste des Glaubens. Heutzutage war es nicht mehr notwendig, sich heimlich zu treffen, denn die Hexen herrschten ohne Konkurrenz über ganz Kartliña. Die Monarchie gab es nicht mehr und mit jedem Jahrzehnt sank die Wahrscheinlichkeit, dass die Königsfamilie in ihr rechtmäßiges Reich zurückkehren würde. Die Menschen, die hier lebten, respektierten die mächtigen Magierinnen, wahrscheinlich, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Hexen nutzten die Versammlungen nur noch, um sich an ihrer Macht zu laben. Und um männlichen Nachwuchs loszuwerden.
Die Hexer erhoben immer wieder Anspruch auf das Land, aber sie verloren schon seit Jahrzehnten jede Schlacht gegen ihr weibliches Pendant. Magie hatte in Frauenkörpern mehr Wirkkraft. Viel mehr waren sie aufgrund ihrer grenzenlosen Grausamkeit den Männern überlegen. Nach zähen Verhandlungen und etlichen Kompromissen hatte sich das Gespann entwickelt, welches man heute als Hexe und Mentor bezeichnete. Dianas Mentor, Koichi, war etwas älter als sie und eigentlich mächtiger. Aber seine Fähigkeiten hatten in Kartliña keinen Wert.
Auf der Waldlichtung herrschte reges Treiben. Noch während Diana durch das Unterholz stapfte, konnte sie die schallenden Stimmen der Hexen hören. Sie lachten, sangen und unterhielten sich ausschweifend. Ihre Stimmen surrten durch den Wald wie ein aufgescheuchtes Hornissennest. Mit jedem Schritt schnürte sich der Knoten des Unwohlseins enger in Dianas Hals zusammen. Der Geruch von verbrennendem Holz schwelte in der Luft. Sie zog die Krempe ihres Hutes tiefer in das Gesicht, um so spät wie möglich von den anderen wahrgenommen zu werden.
»Da ist ja die Klassenbeste!«, dröhnte eine ältere Frau. Der Klang ihrer Stimme machte sie unverkennbar. Es war Dianas Etikettelehrerin, Madame De Laok, eine erfahrene Hexe mit auffallendem Duscarer Akzent. Man erkannte an ihm, wer schon immer in diesem Teil des Landes lebte. Sie umspielte die Buchstaben mit ihrer Zunge, als läge ein kleines Bonbon auf ihrer Spitze. »Wie schön, dass du hergekommen bist.«
Etikette gehörte zu den Hauptfächern einer Hexe, denn es war wichtig, sich überall perfekt zu präsentieren. Damit niemand auf die Idee kommen würde, dass Hexen etwas Bösartiges im Schilde führten. Obwohl sie es taten. Offensichtlich.
In diesem Fach war Diana nur deshalb Klassenbeste gewesen, weil sie sich stets in Zurückhaltung geübt hatte, eine Eigenschaft, die von allein mit ihrem natürlichen Wesen einherging. Schüchternheit kooperierte gut mit Etiketteregeln. Außerdem musste man in diesem Fach keine Magie wirken, deshalb ist ihr dort nie ein Missgeschick passiert.
Diana hob ihre Hand grüßend und zwang sich ein Lächeln auf. »Guten Abend.« Hatte das freundlich genug geklungen? Sie wich dem Blick ihrer Lehrerin aus. Augenkontakt hatte sie noch nie halten können.
Irgendwo schrie ein Baby, das bot Gelegenheit, den Blick umzulenken. Eine Hexe wog ein kleines Bündel in ihren Armen und redete liebevoll darauf ein. Wie heuchlerisch, wenn man bedachte, was dem Kind blühte. Es juckte in Dianas Fingern, ihr das Baby zu entreißen und damit in die Nacht zu fliehen, aber das wagte sie nicht. Nicht noch einmal.
»Na komm schon heran, komm näher«, schallte Madame De Laok und rückte beiseite, damit ein Platz in ihrem Gesprächskreis frei wurde. »Wir tauschen uns darüber aus, was wir heute unternommen haben.«
Dianas Blick galt weiterhin dem weinenden Baby. Das Lächeln fror auf ihrem Gesicht ein. Sollte sie etwas zu dem Gespräch beitragen? Eine Anekdote ihres Tages? Was hatte sie schon getan, außer eine Puppe aufzuhübschen? Vielleicht fiel ihr etwas Kluges ein? Sie hätte einfach irgendetwas sagen sollen, aber als ihr der passende Gedanke kam, wechselten die anderen das Thema.
»Ein Jammer, dass es ein Junge werden musste, nicht wahr?« Eine blonde Hexe bemerkte Dianas Blick und sah ebenfalls zu dem Baby. »Hast du schon einmal eine Opferung miterlebt?«
Diana schüttelte den Kopf, obwohl es nicht stimmte. Sie hatte eine miterlebt. Ein einziges Mal. Damals hatte sie etwas Unverzeihliches getan und nun stand sie kurz davor, dies zu wiederholen. Ihr Hals schnürte sich zu. Das Baby wurde leiser, weil die Mutter es über ihre Schulter legte und tröstend auf seinen Rücken klopfte. Sie würden es töten, ohne ihm jemals einen Namen gegeben zu haben. Mit verzogenem Gesicht wandte Diana sich an die blonde Hexe. »Ist das wirklich notwendig?«
Die Befragte zuckte mit den Schultern. »Seine Mutter wollte ihn nicht den Bergen überlassen, da bleibt nichts anderes übrig.« Unbekümmert klinkte sie sich in das Gespräch der anderen ein. »Habt ihr mitbekommen, dass Keira in der Nähe des Hafens gesichtet wurde?«
Daraufhin räusperte sich eine schwarzhaarige Frau, die kein Geheimnis daraus machte, dass sie die Farbe Rot bevorzugte. Vom Hut bis zu den Schuhen glühte sie förmlich in dieser Farbe. Dass die Tradition schwarze Kleidung verlangte, schien ihr weniger wichtig zu sein, als zwischen allen anderen aufzufallen. Sie war Mitglied des Hohen Rates, das wusste Diana. Ihr Name war ihr aber entfallen.
»Keira wird einen Fehler machen, dann finden wir sie.« Für einen Sekundenbruchteil funkelte der stechende Blick der roten Hexe in Dianas Richtung. Sie schien ihre Erscheinung zu scannen, als wolle sie das Rot ihrer Haare vor lauter Neid in ihre eigene DNA aufnehmen. »Sie ist in deinem Alter.«
Diana senkte den Blick. Was sollte diese Aussage bedeuten? War das ein Verdacht, dass sie miteinander im Kontakt standen? In der Schule haben sie über Keira Laszlo geredet, denn sie war eine Nachfahrin der mächtigsten Hexenfamilie. Deshalb ist sie privat unterrichtet worden. »Ich bin ihr nie begegnet.«
Als die Dame in Rot ihre Augenbrauen anhob, fiel Diana ihr Name wieder ein: Brigid Troimuth. Über ihre Familie war wenig bekannt, lediglich, dass so gut wie jede ihrer Vorfahrinnen dem Hohen Rat angehört hatte. Ihr Wappen, eine Mohnblumenranke, fand sich in Form einer Brosche an ihrem Hut wieder. Nur Mitglieder des Hohen Rates verfügten über Familienwappen. Es war mehr eine Spielerei als eine ernstzunehmende Tradition, denn jeder konnte sich um einen Posten beim Hohen Rat bewerben und sich nach Aufnahme ein Wappen ausdenken. »Du wirst wohl nie mehr als ein graues Mäuschen sein.« Brigid lächelte mitleidig und drehte Diana den Rücken zu, um ein neues Thema zu eröffnen.
Seufzend ließ Diana die Schultern sinken. In der Hoffnung auf ein positiveres Gesprächsthema gesellte sie sich in eine andere Runde. Doch bevor sie dort ankam, prallten ihr reißerische Gesprächsfetzen entgegen:
»Keira hat ihren Mentor getötet.«
»Ja, mit ihrem Dolch!«
»Sie wurde am Innenhafen gesichtet.«
»Keine Prophezeiung hat diesen Mord vorausgesagt.«
Diana schlich rückwärts von den schnatternden Frauen davon. Sie drehte den Kopf, in mehrere Richtungen, schnappte Worte auf und sank immer weiter in sich zusammen. Redete hier wirklich jeder nur von Keira? Ihr Mentor war tot aufgefunden worden, in seiner Brust hatte noch immer der Dolch seiner Schülerin gesteckt. Aber von dieser fehlte seither jede Spur. Wenn Keira wüsste, dass alle über sie redeten, anstatt über das Opfer, wäre sie sicher stolz auf ihre Tat. In der Nähe raschelte etwas, dann erhob sich ein amüsiertes Flüstern: »Schwierigkeiten dich einzubringen?« Die vertraute Männerstimme ließ Diana zusammenfahren. Sie gehörte zu Koichi, eindeutig. Im ersten Augenblick freute sie sich, aber dann weitete sie die Augen. Männer durften bei diesen Versammlungen nicht anwesend sein.
»Was machst du hier?«, zischte sie und hielt Ausschau nach dem Ursprung seiner Stimme. Es war niemand zu sehen.
Es folgte ein kehliges Lachen, dann raschelte es in einem Gebüsch am Rand der Lichtung. »Ich wollte sicher gehen, dass du hier bist.«
Diana kniff die Augen zusammen. Ihr Herz hüpfte, als sie das bekannte Gesicht in der Dunkelheit erahnen konnte. Seine schwarzen Haare schienen mit der dunklen Umgebung eins zu werden. Im goldenen Rand seiner Brille spiegelte sich das Lagerfeuer. »Du darfst nicht hier sein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie drücken schon ein Auge zu, wenn ich ihnen erkläre, dass ich mir Sorgen um meine Ex-Schülerin mache.«
Diana warf vergewissernde Blicke um sich. Konnte sie es wagen, sich für einen Moment in die Dunkelheit zu stehlen? »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, flüsterte sie und schritt langsam in das Gebüsch. »Mir kommen die Damen heute sehr angespannt vor.«
»Die Sache mit Keira«, vermutete er und grinste in Anbetracht des Kopfnickens, das er zur Antwort bekam. »James war ein guter Mentor. Wir haben seine Seele erst vor wenigen Tagen in eine Pflanze transferiert.«
Diana nickte verstehend. Es war eine neumodische Beerdigungsart, die Seelen von verstorbenen in Gegenstände zu übertragen. Die Hexer schworen darauf, dass man ihnen so die letzte Ehre erwies.
Obwohl sie sich gerne Tricks von den Mentoren abschauten, belächelten die meisten Hexen diese neue Praktik und schrieben ihr wenig Nutzen zu. Wären sie etwas weniger verbissen, könnten die Hexen sicher viel von den Männern lernen.
»Mein Beileid«, raunte Diana und duckte sich, um hinter dem Gebüsch nicht aufzufallen. »Wie geht es dir?« Sie lächelte, was sich diesmal aufrichtig anfühlte. »Wir haben uns lange nicht gesehen.« Kurz sah sie ihm in die Augen, aber den Blickkontakt konnte sie nicht lange aufrecht halten, obwohl es durch die Barriere seiner Brille manchmal leichter fiel.
»Seit deinem Abschluss«, fügte Koichi hinzu und nickte andächtig. Seine dunklen Augen wurden zu Schlitzen, als er sie angrinste. »Du hast winzig ausgesehen, als du deinen Dolch entgegengenommen hast.« Er verstellte die Stimme zu einem Piepsen. »E-es ist mir eine E-ehre.«
»Hey!« Diana lachte unterdrückt. Sie presste ihre Hand auf ihre Lippen und schüttete den Kopf. »Ich war aufgeregt.«
»Ich weiß«, entgegnete Koichi und strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Das bist du andauernd.« Seine Finger verharrten an ihrer Stirn und wanderten langsam über ihre Wange runter, ehe er von ihr abließ. »Das musst du aber gar nicht sein.«
Eine Gänsehaut rauschte über ihren Körper. Diana brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.
Sie schluckte, blinzelte und lachte verlegen. »Ich fühle mich unwohl, wenn zu viele Leute um mich sind.« Sie senkte die Stimme und berührte ihre Stirn. Und ich mag es nicht, angefasst zu werden. Den Gedanken behielt sie für sich, denn sie hatte Koichi schon viel zu oft darauf aufmerksam gemacht.
»Auch das weiß ich«, sagte Koichi amüsiert. »Hast du die Kontrolle über deine Magie trainiert?«
Diana überlegte kurz. »Eigentlich schon, aber es wird nicht besser.« Sie hatte so viele Stunden damit verbracht, ihre Konzentration zu stärken. Wochenlang hatte sie geübt, ihre Kräfte zu bündeln und gezielt zu lenken. Jahrelang war sie nur diesem einen Ziel gefolgt: Die Kontrolle über ihre magischen Fähigkeiten zu halten. Ihr Hang zu missglückenden Zaubern hatte Diana den Spitznamen Chaoshexe eingebracht. So hatte sie beinahe jedes Mädchen an ihrer Schule genannt, weil sie immer wieder für Explosionen oder verschwindende Gegenstände gesorgt hatte. Sie löste sich aus der Erinnerung und sah hoffnungsvoll in Koichis Gesicht. Der Fokus ihres Blickes heftete an den Spiegelungen in seinen Brillengläsern, so konnte sie ihm Augenkontakt vorgaukeln. Sie sah Feuer, Bäume, tanzende Hexen. »Hast du meinen Bruder gefunden?«
Der Hexer verzog das Gesicht. »Immer noch nicht.«
Ernüchtert senkte Diana den Blick. »Er müsste jetzt zwölf Jahre alt sein. Wenn er bei euch lebt, wird er im nächsten Schuljahr als Mentor ausgebildet, oder nicht?«
»Bei der Einschulung der nächsten Generation halte ich die Augen offen.« Koichi legte ein aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen. »Ob er wohl auch so ein Rotschopf ist wie du?«
»Ich weiß nicht.« Diana presste die Lippen aufeinander. Von ihrer Mutter hatte sie die roten Haare jedenfalls nicht. »Wir haben verschiedene Väter, also denke ich nicht, dass es so ist.« Als sie ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, war die Farbe seiner Haare noch nicht definierbar gewesen. Ein heller Flaum auf einem sonst kahlen Babykopf.
»Wenn er dir ähnlich sieht, erkenne ich ihn sofort.« Koichi zwinkerte ermutigend. Er richtete sich auf, um einen Blick aus dem Gebüsch zu werfen. Mit zusammengepressten Zähnen zischte er einen erschrockenen Laut. »Oh verdammt, da komm–«
»Hey! Du hast hier nichts zu suchen!« Ohne Zweifel hatte Brigid den Hexer entdeckt.
Diana kauerte sich weiter zusammen. Sie wollte aufspringen und ihn in Schutz nehmen. Immerhin war er ihretwegen hier. Aber sie konnte sich nicht rühren. Er war auf sich allein gestellt.
Koichi setzte einen entschuldigenden Blick auf. »Es tut mir leid, ich war zufällig hier. Ich habe Geräusche gehört und wollte wissen, was los ist.« Er deutete über seine Schulter. Seine Stimme war voller Balsam, er schien regelrecht mit Brigid zu flirten, um ihren Zorn zu bändigen. »Immerhin patrouillieren wir überall, um James’ Mörderin zu finden. Und die Sache mit dem Wolf? Ihr wisst schon.«
Brigid schnalzte mit der Zunge. »Such woanders.« Als sie die Stimme wieder mit Wut anreicherte, klang es geschauspielert. »Hier tauchst du in dieser Nacht nicht wieder auf. Unsere Besprechungen sind geheim und sie gehen den Mentorenorden nichts an!«
»Jawohl«, sagte Koichi und zwinkerte Diana zum Abschied zu, ehe er sich in der Dunkelheit verlor. Sein schwarzer Mantel wirbelte den rustikalen Duft von Rosmarin und Tannengrün auf. Der Hexer roch immer nach irgendwelchen Pflanzen, denn sein Zuhause war genaugenommen ein Gewächshaus.
Dianas Herz wurde schwer. Sie würde ihn gerne noch einmal besuchen, aber das gestattete der Hohe Rat nicht. Mit Abschluss der Ausbildung mussten Mentor und Schülerin getrennte Wege gehen.
Diana wartete einen Augenblick, bis die Aufmerksamkeit sich von ihrem Versteck gelöst hatte. Erst dann trat sie zurück auf die Lichtung und stellte sich in den nächstbesten Kreis, um dem Gespräch zu lauschen. Gedanklich hing sie der vorigen Situation nach. Warum ist sie nicht einfach aufgestanden, um Koichi in Schutz zu nehmen? Sie hätte etwas sagen müssen. Er hätte sich da nicht allein rauswinden müssen. Ihr Magen zog sich zusammen.
»Wie siehst du das?«, fragte eine junge Hexe, deren Augen so groß wirkten, als würde sie unentwegt über etwas staunen. Ihre Mundwinkel zuckten erwartungsvoll und sie trat von einem Bein auf das andere. Diana kannte sie noch aus der Schule, sie war ein paar Klassen unter ihr gewesen. Schon immer hatte sie so kurzes Haar getragen, dass man ihre Haarfarbe kaum bestimmen konnte. Alana hieß sie. Oder doch Alara? Sie hatte ein markantes Gesicht und mit ihrer Frisur hob sie sich deutlich von den anderen Hexen ab, von denen die meisten einen Wettstreit um ihre Haarlänge zu bestreiten schienen. Ob die Unterscheidung beabsichtigt war? Dem Wunsch der höhergestellten Hexen entsprach das sicher nicht.
»Wie sehe ich was?« Diana verzog die Mundwinkel. »Entschuldige, ich war gerade in Gedanken.«
»Na, die Sache mit Keira.« Sie machte eine rollende Handbewegung, als wolle sie verdeutlichen, dass das Thema nichts Neues wäre. »Meinst du, man sollte sie mit ihrem Dolch hinrichten?«
Mit ihrem Dolch? Das war für Hexen eine grausame Todesstrafe. Wenn man sie mit ihrem eigenen Dolch tötete, dann entzog man ihnen nicht nur das Leben, sondern auch ihre Seele. Es war das endgültige Aus eines Lebens, Auslöschung von maximalem Grad.
Diana verzog das Gesicht. »Ich denke, man sollte sich ihre Version der Geschichte anhören.« Noch während sie redete, zog sich in ihr alles zusammen. Sie schien unter den Blicken der anderen zu schrumpfen. Herrje, warum hatte sie überhaupt den Mund aufgemacht?
»Interessant«, nuschelte die kurzhaarige Hexe und kratzte sich im Nacken. Sie war noch zu jung, um einen magischen Dolch zu besitzen, deshalb befand sich keine Narbe an dieser Stelle. »Denkst du, sie hat eine Erklärung für einen Mord?«
Diana setzte zu einer Antwort an, aber ihr Mund fühlte sich trocken an.
Natürlich. Es musste eine plausible Erklärung geben. Irgendetwas war vorher geschehen, was die Reaktion ausgelöst hatte.
Aber niemand würde die Wahrheit erfahren, denn die beiden einzigen Beteiligten waren nicht erreichbar. Außerdem, und mit diesem Gedanken erwischte sich Diana in letzter Zeit häufiger, war es langsam nervig, dass es kein anderes Thema mehr gab. Warum musste sich Keira für den Mord an ihrem Mentor rechtfertigen, während es normal war, in jeder Vollmondnacht Babys zu töten? Was war der Unterschied zwischen einer Straftat und einem Ritual?
»Du bist tatsächlich erschienen.« Eine kalte Aura regte sich hinter ihnen. Die herrische Stimme von Dianas Mutter dröhnte durch die Lichtung, bevor sie ihre Hand auf der Schulter ihrer Tochter niederlegte. Ihr Händedruck war gerade fest genug, dass es unangenehm war, von ihr angefasst zu werden. Es schmerzte nicht, aber es drückte Autorität aus. »Ich dachte, du vergisst vor lauter Puppenspielerei mal wieder die Zeit.«
Diana senkte die Schulter, um sich aus dem Griff zu winden. Etwas Undefinierbares, tief in ihrem Inneren, wurde jedes Mal von tiefer Furcht ergriffen, wenn ihre Mutter sie berührte. »Ich restauriere sie«, korrigierte sie die Aussage. »Das ist ein anerkannter Beruf.«
»Anerkannt wäre das Restaurieren von Möbeln oder Gebäuden. Aber Puppen?« Die breitschultrige Hexe mit den goldblonden Locken lachte. Sie hatte eine unangenehme Art, das Wort Puppen auszusprechen. Aus ihrem Mund klang es wie Schande oder Enttäuschung. »Abgesehen davon, dass es albern ist, solltest du keinen Menschenberuf ausüben.« Sie rümpfte die Nase. »Reicht es nicht, dass du die Haarfarbe eines Menschen hast?«
Diana steckte ihre Ponysträhnen in den Hut, damit man diese nicht sah. Ihr Blick flüchtete zum Feuer. Was sollte sie darauf entgegnen?
»Was ist an diesem Beruf verwerflich?«, fragte die kurzhaarige Hexe und spannte ihre Schultern an »Es ist doch besser, etwas Altes zu reparieren, anstatt etwas Neues zu kaufen, oder?«
Scheinbar entsetzt über diese Widerworte, flüsterte eine andere Hexe mit gedämpfter Stimme: »Alana!« Spätestens jetzt wusste Diana wieder, wie sie richtig hieß.
»Wie dem auch sei.« Dianas Mutter streckte die Hände empor und stieß einen tiefen Atemzug gen Himmel. »Wir sollten heute feiern. Es hat noch nie so viele erfolgreiche Schulabgängerinnen gegeben wie in diesem Jahr.«
»Und Schulabgänger«, fügte Diana hinzu und widmete Koichi einen anerkennenden Gedanken. Die Mentoren hatten eine eigene Art der Ausbildung. Sie durften ihren Abschluss feiern, wenn sie es schafften ihre Schützlinge gut durch die Schulzeit zu geleiten. Während dieser Feierlichkeiten leuchteten die Berge vor buntem Feuerwerk und der Wind trug wundersame Musik ins Tal. Natürlich fanden beide Feste getrennt voneinander statt und wurden von der anderen Seite jeweils nicht gewürdigt.
»Aber wir feiern hier die Frauen«, erwiderte die herrische Hexe und sah ihre Tochter mahnend an. »Die Mentoren haben ihre eigenen Treffen.«
Für einen Augenblick trafen sich Alanas und Dianas Blicke. Sie tauschten Meinungen aus, ohne etwas zu sagen. Es war längst nicht mehr so, dass Hexen sich von den Mentoren abgrenzen wollten. Zumindest in der jüngeren Generation legte keine Frau mehr Wert auf diese Unterteilung. Wie gerne würde Diana mit den Hexern in den Bergen feiern. Mit Koichi und ihrem Bruder. Sehnsuchtsvoll kehrte sie den Blick ab.
»Was ist, wenn eine Hexe gar keine Frau ist?« Alanas dunkelbraune Augen funkelten herausfordernd. »Sondern ein Mann. So etwas soll es geben.« Sie räusperte sich und senkte den Blick, um errötende Wangen zu verbergen. »Habe ich gehört.«
Ihre Worte wurden mit hektischen Handbewegungen weggefegt. Über solche Themen redeten die älteren Hexen nicht, denn Abweichungen von alten Denkmustern brachten ihre geordnete Sortierung zwischen Hexen und Mentoren durcheinander. Deshalb gingen sie wie gewohnt auch dieser Entwicklung mit Nichtbeachtung aus dem Weg.
Diana fand Alanas Art zu denken auf positive Art erfrischend. Vor allem die jüngeren Hexen beschäftigten sich mehr mit ihren Identitäten, auch wenn das nur heimlich und unter Gleichaltrigen geschah. In diesem Augenblick erlebte sie zum ersten Mal, dass eine Junghexe Älteren gegenüber, ein potenziell gefährliches Thema ansprach.
Was ist, wenn eine Hexe gar keine Frau ist? Sondern ein Mann. So etwas soll es geben. Koichi wäre sicher in diese Diskussion eingestiegen, mit ihm konnte Diana über alles reden. Die Hexer genossen in ihrer Denkweise mehr Freiheiten als die Hexen und das merkte man, wenn man ihn zu seiner Meinung nach einem Thema befragte.
»Apropos Mann«, griff Dianas Mutter auf und führte ihre Tochter näher an das große Lagerfeuer heran. Die Flammen knisterten und erhellten die Lichtung unter dem Sternenzelt. Gelbe und rote Reflexionen tanzten an den Baumstämmen. »Leonarda stellt ihr Neugeborenes zur Verfügung, um die Macht des Zirkels zu bereichern.«
Die Frau mit dem Baby trat vor und hielt das kleine Bündel stolz über ihren Kopf. Die kleinen Arme zappelten und das Kind gab glucksende Laute von sich.
»Was bedeutet das?« Alana runzelte die Stirn. War sie etwa zum ersten Mal bei einer Versammlung? Vielleicht ist sie gerade erst siebzehn geworden und durfte erst seitdem teilnehmen.
Leatrice, das war der Name von Dianas Mutter, schob ihre Tochter nach vorne. »Erweist du uns heute die Ehre?«
»Ich?« Dianas Gesicht wurde heiß, dann kalt. Ihre Finger kribbelten und sie schüttelte so schnell den Kopf, dass ihr schwindelig wurde. Alle Blicke lasteten auf ihr und das machte die Situation noch schlimmer. Erwarteten sie wirklich einen solch großen Zauber von ihr?
»Es würde dir guttun«, sagte Leatrice und stimmte einen traditionellen Singsang an. Es dauerte nicht lange und die anderen Hexen stimmten mit ein. »Wenn du nicht übst, kann die Sache nicht besser werden.«
Leonarda trat auf Diana zu und hielt ihr das strampelnde Baby entgegen. Es war ein Neugeborenes, kaum einen Monat alt. Die Augen fuhren ziellos durch die Lichtung und seine Arme bewegten sich unkoordiniert. Er war nackt und deshalb als Junge zu erkennen.
»Ich kann das nicht.« Diana unterdrückte die Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. Ihre Nase kribbelte und der Kloß in ihrem Hals fing an zu schmerzen. Die undefinierbare Furcht erzitterte in ihrem Inneren. Ein Aufwallen von Panik brachte ihr Herz zum Stolpern. Zittrig wischte sie ihre feuchten Hände an ihrem Rock ab. Was war das für ein Gefühl? Diana kannte Angst. Aber nicht so. Nicht so durchdringend. Es war beinahe so, als wohnte ein fremdes Wesen in ihrem Inneren, das von dem Anblick des Babys bis ins Mark erschüttert wurde.
Ihre Mutter stellte sich neben Diana und senkte die Stimme. »Lass mich deine Stütze sein, dann wird es keinen Zwischenfall geben.« Leatrice legte ihre Hand in den eigenen Nacken, um ihren Dolch heraufzubeschwören. Sie zitterte und stöhnte leise, als sie die Waffe aus ihrem Rücken löste. Als sie die Hand nach vorne streckte, lag eine silbern schimmernde Klinge mit rötlich leuchtendem Knauf darin. Sie sprach einen Fluch, in einem Hexenakzent, den man kaum beschreiben konnte. Es klang wie eine Stimme, die aus dem hinteren Bereich des Kopfes zu stammen schien und Worte bereitstellte, die keine waren. Langsam stieg schwarzer Nebel aus der silbernen Dolchspitze hervor. Er schwoll an, bewegte sich auf das Baby zu und knisterte unheilvoll. Der Todesfluch kostete so viel Energie, dass die Wirkerin im schlimmsten Fall ihr Bewusstsein einbüßte. Aber das Risiko gingen die Hexen zu Ehren des höheren Wohles gerne ein.
Diana starrte das Baby an. Es strampelte weiterhin, aber sein Gesicht verzog sich langsam. Der schwarze Nebel legte sich um den wehrlosen Körper wie eine unheilvolle Aura. Der Junge öffnete den zahnlosen Mund und weinte. Seine Haut knisterte und stellenweise breiteten sich glühende Brandherde auf seinem Körper aus. Das Weinen wurde lauter.
Diana zerrte sich aus der Umklammerung ihrer Mutter und rannte davon. Die Protestschreie ignorierte sie. Das hatte sie nicht miterleben wollen. Schon einmal war sie vor einer solchen Zeremonie geflohen. Nur diesmal tat sie es mit leeren Händen. Sie hastete in den Wald. An einem Bach legte sie eine Pause ein, weil sie sich übergeben musste. Die Schreie des sterbenden Babys hallten mahnend in ihrem Kopf. Bis es plötzlich still wurde. Kurz hielt die unheilvolle Ruhe an. Dann erhob sich feierlicher Gesang. Die Frauen zelebrierten die geglückte Opferung.
Kapitel 3: Lilien
Als Diana ihre Werkstatt erreichte, wischte sie immer wieder Tränen von ihren Wangen. Das weinende Baby, umhüllt von tödlichem Nebel, hatte sich in ihre Gedanken gebrannt. Sie schüttelte sich, warf ihren Hut in irgendeine Ecke und raufte ihre Haare, um die Bilder loszuwerden. Das Gesehene verschmolz mit verdrängten Erinnerungen und wurde zu einem Klumpen, der ihren Magen verstopfte. Schon einmal hatte sie ein Baby gehalten und es zum Feuer bringen sollen, aber sie hatte sich gegen den Willen ihrer Mutter gestellt. Diana hatte ihren Bruder in die Berge gebracht, um ihm dieses Schicksal zu ersparen. Sie hatte ihm das Leben gerettet, nur um ihn anschließend zu verlieren. Nun konnte sie keinen Kontakt zu ihm aufnehmen, egal wie oft sie es auch versuchte, aber wenigstens lebte er noch. Irgendwo, da draußen.
Nur wieso hatte niemand genug Liebe für den Jungen aufgebracht, der heute Nacht hatte sterben müssen? Warum kam niemand, um sein Leben zu retten? Diana hätte es tun können. Sie hatte ihn schon in den Armen. Aber sie hatte sich nicht getraut. Irgendwie klebte sein Blut damit auch an ihren Händen. Sie sah zu ihnen hinab. Feigling. Schwache Hexe. Unnütz. Wenn sie nur ein wenig mutiger, nur etwas stärker wäre, dann würde dieses Kind jetzt noch leben.
Ein Miauen erlöste Diana von ihren selbstzerstörerischen Gedanken. Leises Kratzen ertönte von der Pforte ihrer Werkstatt.
Als sie Gaia davorsitzen sah, verebbte ihr Selbsthass allmählich und schaffte Raum für ein müdes Lächeln. Die Schale mit dem Thunfisch war leer.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, krächzte Diana und nahm die Schale in die Hand, bevor sie Gaia einließ. Sie schniefte noch einmal und wischte mit dem Unterarm über ihr Auge. »M-möchtest du dich aufwärmen?«
Ehe die Tür ganz auf war, huschte Gaia durch den Spalt und verschwand nach oben. Diana streifte die Schuhe von den Füßen und folgte ihr. Ihr Körper verlangte nach Schlaf. Sollte sie einen Vergessenszauber anwenden? Dann könnte sie aber nicht mehr mit ihrer Mutter darüber diskutieren. Leatrice würde garantiert vorbeikommen, um sie mit der Flucht zu konfrontieren. Diana stellte die Schale in die Spüle und füllte Wasser in ein Glas. Gaias Anwesenheit hatte sie zwar auf andere Gedanken gebracht, aber die Bilder der Lichtung kehrten immer wieder zurück. Die Schuldzuweisungen und das –
»Scheiße!« Eine fremde Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Diana erstarrte und drehte sich langsam um. Wie in Zeitlupe, als läge ein Stapel Bücher auf ihrem Kopf, der bei zu schneller Bewegung herunterfallen könnte. Eine Gänsehaut rauschte über ihren Rücken, in ihrem Hals bildete sich ein Kloß.
Am Rand des Raumes, mit dem Blick aus dem Fenster gerichtet, stand eine nackte Frau. Mit dunkelbraunen Locken und nur unwesentlich hellerer Haut. Da sie Diana den Rücken zukehrte, stach eine helle Narbe an ihrem Nacken deutlich hervor. Sie hatte die Form eines Dolches. Aber das zugehörige Utensil fehlte. Die Fremde schien draußen nach etwas Ausschau zu halten. »Sie haben ihn in eine Pflanze übertragen«, jubelte sie. »Eine Pflanze! Das bedeutet, es wird funktionieren!« Sie lachte.
Diana trat einen zögerlichen Schritt vor und räusperte sich. »W-wer sind Sie?«
Die Fremde drehte sich nur halb herum, um Diana aus dem Augenwinkel anzusehen. »Na wer wohl? Die Mentoren natürlich.«
»Nein.« Diana war selbst erschrocken darüber, wie eisern sie klingen konnte. »Ich möchte wissen, wer du bist.«
»Ich?« Nun drehte sich die Fremde ganz herum. Sie bewegte sich ungehemmt und kratzte sich am Kinn. In einem fremden Haus nackt zu sein, schien ihr überhaupt nichts auszumachen.
Diana senkte den Blick, um nicht aus Versehen auf einen intimen Bereich ihres Gegenübers zu starren. Ihre Wangen kribbelten vor Hitze.
»Miau?« Die brünette Frau hob ihre Hand, als würde sie die Bewegung einer Katze imitieren. »Du hast mich Gaia getauft, oder?«
»Gaia«, hauchte Diana ungläubig. Sie hob den Blick und errötete noch mehr, als sie sich dabei erwischte, wie ihr Blick über die Brust der Fremden streifte. Welcher Mechanismus im Gehirn löste aus, dass man ausgerechnet dorthin sah, wo man nicht hinstarren sollte? »Du bist gar keine Katze?«
Die Fremde lachte. »Du bist ja süß.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Nein, ich bin keine Katze. Ich bin –« Sie stutzte. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Na, ich bin Gaia.«
»Aber … ich verstehe nicht.« Mittlerweile musste Dianas Gesicht den Farbton ihrer Haare übernommen haben. Wie konnte Gaia in menschlicher Form vor ihr stehen? Die einzige Erklärung war zu absurd, zu illegal. Es gab Kräuter, die Gestaltwandlung ermöglichten, wenn man ihre Dämpfe inhalierte. Diese Praktik war verboten, denn es gab keine Möglichkeit, die wahre Gestalt einer verwandelten Person zu erkennen. Auch für Hexen war man in diesem Zustand unkenntlich. Es hatte Missbrauchsfälle des Transformationskrautes gegeben. Jedes Kind kannte die Geschichte von Lysander, dem Dieb, welcher als Fuchs im tiefen Wald verschwunden war und Jahre später unter anderem Namen im Süden Cospyas nach einem erfüllten Leben beerdigt wurde. Lysander, der Freigelassene, diese Geschichte hatte Diana früher gerne gehört.
»Was verstehst du nicht?« Gaia kratzte sich an der Nase. Sie hatte dieselbe Augenfarbe wie in ihrer Katzenform, hellbraun, mit einem Glanz, der an Karamell erinnerte. Sie waren sichelförmig verzogen und verliehen ihr ein verschmitztes Aussehen. »Ich habe Transformationskraut inhaliert und mich verwandelt. Aber das Zeug ist alle.«
»Und du kamst in den letzten Wochen zu mir, weil?« Diana hob die Stimme an. Ihre linke Augenbraue wanderte nach oben. All die Wochen hatte sie sich ungehemmt vor ihr verhalten, weil sie sie für eine echte Katze gehalten hatte.
»Weil es hier trocken und warm ist und weil du mir kein Katzenfutter, sondern Thunfisch hingestellt hast.« Die Fremde grinste wieder. Ihr ganzes Gesicht nahm diese Regung mit und erinnerte an einen sonnigen Tag im Frühling. »Und weil du so schön eigenbrötlerisch lebst.«
»Du hast mich ausspioniert!« Diana trat einen Schritt vor. »Was hast du alles mitbekommen?«
»Ausspioniert«, wiederholte Gaia lachend, dann winkte sie ab. Sie legte die Hände hinter den Kopf und sah an die Decke. »Ich habe mir die täglichen Neuigkeiten angehört. Du hast zuverlässig zur selben Zeit die Kugel angeworfen.«
Diana blickte über ihre Schulter zu der Kristallkugel, welche neben der Treppe auf der Kommode stand. Sie reflektierte das diffuse Licht der Straßenlaternen, welches von draußen hereinschien.
»Du bist eine Hexe«, stellte Diana fest und hob die Hand an ihren Mund. Ein schockiertes Stöhnen verfestigte sich in ihrem Hals. »D-du bist doch nicht …« Konnte es sein, dass sie Keira war? Es gab Fahndungsbilder von ihr, aber sie ähnelten dieser jungen Frau nur bedingt. Allen voran, weil sie auf den Bildern nicht nackt war und einen Hut trug. Wenn man den hinzuaddierte, dann passte es, oder?
Ohne zu zögern, aktivierte Diana ihre Kugel, um eine Verbindung zum Hohen Rat herzustellen. Sie musste das unverzüglich melden.
»Nein, warte!« Die brünette Hexe machte einen Satz nach vorn. Mit aufgerissenen Augen hielt sie Diana ihre Hand entgegen. »Du hast selbst gesagt, dass man sich meine Version der Geschichte anhören sollte.« Sie umspielte eine ihrer kurzen Haarlocken mit dem Zeigefinger. »Ja, ich bin Keira.« Sie seufzte. »Schade, ich hatte gehofft, dass ich zumindest für eine Weile unerkannt bleibe.«
Diana hielt die Verbindung zur Kugel aufrecht. Vorsichtig schlich sie rückwärts auf die Treppe zu. »Ich muss das melden.« Sie leckte sich über die Lippen. Ihre Hände kribbelten und ein Rauschen breitete sich in ihren Ohren aus. Aber wenn Keira ihr etwas hätte antun wollen, dann wäre es längst geschehen, oder? Würde sie sich in dieser völlig ungeschützten Form präsentieren, wenn sie etwas Schlimmes plante? Diana formulierte ihre Meldung an den Hohen Rat in Gedanken vor. Keira Laszlo steht in meinem Haus. Die Kugel gab einen sphärischen Klang von sich. Ein Befehl trennte Diana davon, die Mörderin melden. Trotzdem fühlte sie sich, als würde sie einem Unbewaffneten in den Rücken schießen. Das Bild von dem sterbenden Baby tauchte vor ihr auf. Das kleine Gesicht des Neugeborenen, das sich knisternd in schwarzem Nebel verlor. Sie schüttelte sich. Würden sie Keira ebenso selbstverständlich töten? Mit dem nächsten Gedanken schaltete sie die Kugel ab.
»Erzähl mir deine Version der Geschichte.« Für einen Augenblick zuckten ihre Pupillen erneut zu den nackten Brüsten und sie starrte zwanghaft zur Seite weg. Erneut flammte Hitze über ihre Wangen. »Darf ich dir etwas zum Anziehen geben?«
Keira lachte. Ihr Lachen klang zu warm, um zu einer Mörderin zu gehören. Ihr Gesicht wirkte zu freundlich. »Ja, du darfst mir etwas zum Anziehen geben, ich erlaube es.«
»Hey, Moment mal!« Dianas Blick verfinsterte sich. Was fiel ihr überhaupt ein, so mit ihr umzugehen? Keira sollte etwas mehr Demut zeigen, immerhin lag ihr Leben gerade in ihren Händen. »Ich suche dir etwas raus, aber dann sagst du mir, was du weiß. Und bleib besser bei der Wahrheit!« Mit angespannten Muskeln stakste Diana zu ihrer Schlafecke und riss den Vorhang beiseite, der ihre Kleidung verhüllte. Sie angelte nach dem Erstbesten und ging damit auf Keira zu. Dabei hielt sie möglichst viel Abstand zu der zwielichtigen Hexe und konzentrierte sich darauf, sie nicht anzusehen. Mit glühenden Wangen starrte sie zum Fenster.
Keira imitierte ihre steifen Bewegungen. »Du bist echt witzig«, kommentierte sie und nahm die Sachen entgegen.
Diana deutete zu dem Sofa, welches in der gemütlichsten Ecke ihrer Wohnung stand. »Was ist so besonders daran, dass sie James’ Seele in eine Pflanze übertragen haben?«
Bei der Erwähnung seines Namens zuckte Keira zusammen. Sie zog Unterwäsche an und streifte Dianas Pullover über. Ihre Hand verharrte in ihrem Nacken, dort wo die Narbe war. An der Stelle, an der sich normalerweise ihr Dolch befinden müsste. Sie nickte, diesmal nicht grinsend, und schlurfte auf das Sofa zu. Unterwegs nutzte sie zwei Schritte, um in die Beine der geliehenen Hose zu schlüpfen. Beim Polster angekommen, ließ sie sich breitarmig fallen und seufzte langgezogen.
Diana nahm auf dem Sessel Platz. Sie überschlug die Beine und richtete sich auf. Aufmerksam musterte sie ihre Besucherin, welche mit dem Sofa zu verschmelzen schien. Ihre Lider hingen schwer über ihren leuchtend braunen Augen und ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen.
»Genial«, raunte sie und schmiegte den Kopf gegen die Rückenlehne.
Als Dianas Blick weiter nach unten wanderte, fiel ihr auf, welchen Pullover sie Keira gegeben hatte. Mittig im Brustbereich prangte eine knallgrüne Froschfigur mit Strohhut. Ausgerechnet ihr Lieblingspulli.
»Und?« Sie räusperte sich fordernd.
Keira winkte langsam ab. »Ja, hab Geduld.« Sie schloss die Augen. Ob sie vor dem inneren Auge ihre Erinnerungen abrief? Oder hoffte sie, so besser lügen zu können? Man konnte über Blicke erahnen, wenn jemand nicht die Wahrheit sagte. »Ich muss die letzten Wochen sortieren. Als Katze habe ich einiges durcheinandergebracht.«
»Woher weißt du überhaupt, was die Mentoren mit James’ Seele gemacht haben?« Diana verengte die Augen. »Warst du etwa bei der Versammlung?« Bedeutete das, sie hatte Koichi und sie belauscht?
»Na sicher«, entgegnete Keira, als wäre nichts dabei, wenn man zugab, dass man seine Jäger ausspionierte. »Ich muss doch wissen, ob dieser völlig wahnsinnige Plan aufgeht.« Sie lachte. »Die Seelen landen wirklich in Pflanzen.«
Diana runzelte die Stirn, denn sie konnte nicht verstehen, was es daran auszusetzen gab. Die Mentoren wurden auf diese Weise eins mit der Natur, so wie es sich viele wünschten. Es war ein symbolisches Ritual, mehr nicht.
»James ist Teil eines größeren Plans«, murmelte Keira, ihre Augen blieben geschlossen, zwischen ihren Brauen bildete sich eine Furche. Sie wechselte durch verschiedene missmutige Gesichtsausdrücke. »Er hat sich selbst umgebracht.«
»So, so«, entgegnete Diana und überschlug ihre Beine in die andere Richtung. Was für ein Unsinn. Erwartete sie wirklich, dass man ihr das abkaufte? »Mit deinem Dolch?«
»Natürlich mit meinem Dolch, etwas anderes hatte er nicht zur Hand.« Keira verdrehte die Augen. »Du wirst sehen, es werden sich noch mehr Mentoren umbringen, weil –«
Ein lautes Klopfen unterbrach ihr Gespräch. Energisches Rütteln folgte, dann klopfte es wieder. »Diana?« Die Stimme drang dumpf von draußen herein. »Bist du noch wach?«
Diana und Keira hielten die Luft an. Diana spürte ihren Herzschlag in der Kehle und sie sah an Keiras geweiteten Augen, dass auch sie sich fürchtete. Nur, wer hatte in diesem Moment mehr zu verlieren? Keira als gesuchte Mörderin oder Diana als diejenige, die ihr einen Unterschlupf gewährte?
»Diana?« Wieder rüttelte es. Jedes dieser Geräusche kratzte schmerzend in ihren Ohren. Wie sollte sie erklären, dass Keira Laszlo auf ihrem Sofa saß und ihre Anziehsachen trug?
Die brünette Hexe verkroch sich unter einer Decke. »Wimmel sie ab.«
»Abwimmeln?« Diana biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte sie jemanden abwimmeln? Erforderte das nicht schlagfertige Fähigkeiten? Seufzend eilte sie nach unten.
Mit hängenden Schultern stand Alana vor der Tür. Eine schwarze Melone verdeckte ihre kurz rasierte Frisur. Hatte sie die auch schon bei der Versammlung getragen?
»Wie gut, dass du noch wach bist.« Auf Zehenspitzen lugte sie ins Innere der Werkstatt. Sie knibbelte an ihren Fingernägeln und verzog das Gesicht. »Können wir reden?« Ihre Mundwinkel sanken. »Über die Versammlung?«
»Jetzt?« Diana lächelte gequält. Sie konnte den Wunsch der jungen Hexe nachvollziehen, aber der Zeitpunkt war ungünstig. »Ich wollte gerade ins Bett gehen.«
»Ich drehe durch, wenn ich das mit mir selbst ausmache«, hauchte Alana, als wolle sie verhindern, dass man ihr Gespräch belauschte. »Darf ich bitte reinkommen?«
Der Kloß, der sich nun in Dianas Hals bildete, verhinderte jegliche Antwort. Nein, durfte sie nicht. Das würde eine katastrophale Lawine lostreten.
Eigentlich bestand noch die Möglichkeit, die Wahrheit zu offenbaren. Noch konnte sie beichten, dass sich die flüchtige Hexe in ihrer Wohnung befand. Sie würden die Sache dann gemeinsam melden und der Spuk mit der entflohenen Verbrecherin wäre vorbei. Außerdem, und bei dem Gedanken bildete sich ein Klumpen in Dianas Magen, sah Alana wahrhaftig verstört aus. Sie knibbelte intensiv an ihren Fingernägeln und trat von einem Bein auf das andere. Was für ein Monster wäre sie, wenn sie jemanden wegschickte, der Hilfe benötigte?