Die Töchter Venedigs - Band 2: Stadt der blauen Paläste - Ingeborg Bayer - E-Book
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Die Töchter Venedigs - Band 2: Stadt der blauen Paläste E-Book

Ingeborg Bayer

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Beschreibung

Nur wer Schmerz kennt, weiß um den Wert der Liebe: »Die Töchter Venedigs: Stadt der blauen Paläste« von Ingeborg Bayer jetzt als eBook bei dotbooks. Venedig im 17. Jahrhundert. Voller Freude kehrt Crestina nach Jahren im kalten Nürnberg in die Stadt an der Lagune zurück – doch hier erwartet sie nun die größte Aufgabe ihres Lebens: Der elterliche Palazzo, mit dem sie so viele kostbare Erinnerungen an ihre Kindheit verbindet, ist durch kriminelle Machenschaften in die Hände eines vermeintlichen Freundes gefallen … und die stolze Venezianerin nun fest entschlossen, für ihr Erbe zu kämpfen. An ihrer Seite stehen dabei die eigensinnige Lea aus dem jüdischen Ghetto und die tapfere Margarete, ihre Freundin aus Nürnberger Tagen – denn eins haben sich die drei Frauen geschworen: Nie wieder soll ein Mann über ihr Schicksal bestimmen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde historische Roman »Stadt der blauen Paläste« von Ingeborg Bayer – der zweite Band der Trilogie »Die Töchter Venedigs«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Venedig im 17. Jahrhundert. Voller Freude kehrt Crestina nach Jahren im kalten Nürnberg in die Stadt an der Lagune zurück – doch hier erwartet sie nun die größte Aufgabe ihres Lebens: Der elterliche Palazzo, mit dem sie so viele kostbare Erinnerungen an ihre Kindheit verbindet, ist durch kriminelle Machenschaften in die Hände eines vermeintlichen Freundes gefallen … und die stolze Venezianerin nun fest entschlossen, für ihr Erbe zu kämpfen. An ihrer Seite stehen dabei die eigensinnige Lea aus dem jüdischen Ghetto und die tapfere Margarete, ihre Freundin aus Nürnberger Tagen – denn eins haben sich die drei Frauen geschworen: Nie wieder soll ein Mann über ihr Schicksal bestimmen …

Über die Autorin:

Ingeborg Bayer (1927–2017) studierte nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin Medizin und Hindi. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie in einem medizinischen Archiv. Ihre Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Staatspreis.

Ingeborg Bayer veröffentlichte bei dotbooks vier historische Romane:

»Ärztin einer neuen Zeit«

»Die Buchdruckerin von Köln«

»Der Maler von Florenz«

»In den Gärten von Monserrate«

Weiterhin veröffentlichte sie bei dotbooks ihre Venedig-Trilogie »Die Töchter Venedigs« mit den Einzelbänden:

»Stadt der tausend Augen«

»Stadt der blauen Paläste«

»Stadt der dunklen Masken«

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eBook-Neuausgabe August 2021

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Stadt der blauen Paläste« bei Heyne.

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Ingeborg Bayer, © 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Digiselector (Ornament und Rahmen) und eines Gemäldes von Canaletto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-582-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Ingeborg Bayer

Die Töchter VenedigsStadt der blauen Paläste

Roman

dotbooks.

Buch I

Kapitel 1Bartolomeo

Bartolomeo kam mit der Flut.

Sie erinnerte sich an den Satz in aller Deutlichkeit.

Aber sie hätte keinesfalls mit Gewissheit sagen können, ob er seinerzeit überhaupt ausgesprochen worden war.

Oder nur gedacht.

Oder gar geschrieben – damals vor fünf Jahren.

Und falls eine dieser Möglichkeiten zutraf, von wem er stammte. Wer ihn gedacht, ausgesprochen oder geschrieben hatte.

Natürlich hätte es Jacopo gewesen sein können, oder Anna. Anna pflegte Sätze in derlei pathetischem Tonfall zu sagen, wenn sie der Meinung war, sie müsse die Vergangenheit heraufbeschwören, wenn sich die Familie, der sie diente, nicht mehr an sie erinnerte.

Am wahrscheinlichsten allerdings erschien ihr, dass dieser Satz ob seiner Schlichtheit von ihr, Crestina, stammte, da sie damals fast noch ein Kind gewesen war. Riccardo, ihr Bruder, hätte die Überschwemmung in der Lagune vermutlich anders beschrieben. Er hätte sich sofort mit wissenschaftlicher Akribie dieses Satzes bemächtigt, hätte die Sache ganz sicher aus dem Stand heraus mit früheren Überschwemmungen verglichen und hätte exakt die Marken an den Gebäuden nennen können, die verrieten, wie hoch das acqua alta damals gestiegen war. Er hätte gewusst, was man unternommen hatte und was nicht.

Sie erinnerte sich, dass Bartolomeo damals, als er mit einer gewaltigen Woge gegen das androne, das Wassertor ihres Palazzos, geschleudert worden war, das Aussehen einer ertränkten Katze gehabt hatte. Eine Katze, die selbst noch im Todeskampf versucht hatte, die Krallen zu zeigen und sich zu wehren. Er hatte also keinesfalls hilflos ausgesehen, etwa wie ein Sack Mehl – auch dies war damals ein Gedanke gewesen. Zumindest ihrer. Oder vielleicht auch nicht und sie hatte ihn möglicherweise sehr wohl wie einen Sack Mehl gesehen und ihre Erinnerung versagte wie bei so vielem, was diesen Teil ihrer Vergangenheit betraf.

Als jener Mann – den sie für Bartolomeo hielt – jetzt mit hastigem Gang über die Mole von San Marco eilte und zwischen den beiden Säulen der piazzetta, an denen die Verbrecher aufgehängt wurden, den Weg zum Dogenpalast einschlug, war sein Gesicht von einem Eifer erfüllt, als wolle er der gläubig versammelten Menge hier auf dem Platz sogleich das urbi et orbi erteilen. Aber trotz allem wirkte er noch immer so, als sei er zufällig mit der Flut angeschwemmt worden und gehöre keinesfalls hierher.

Der Mann trug keine Kutte, was sie für einen Augenblick irritierte. Er war mit dem schwarzen Umhang, der baùtta, bekleidet, mit dem Dreispitz und der Maske, die ihm der Wind soeben mit einem heftigen Stoß vom Kopf blies und ihr fast vor die Füße wehte. Noch während sie überlegte, ob sie nach ihr greifen sollte, wurde ihr klar, dass sie keinesfalls das Verlangen spürte, mit ihm zusammenzutreffen. Für einen winzigen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken zu fliehen, da sie inzwischen das Gefühl hatte, als sei sie selbst auf der Flucht vor einer Woge, die sie zu überrollen drohte. Aber dann entschied sie sich abzuwarten, was geschehen würde. Dass etwas geschehen würde, schien ihr sicher.

Es waren inzwischen mehr als fünf Jahre vergangen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. In jener Nacht, in der sie die Nachricht erhielt, dass ihre gesamte Familie an der Pest gestorben war – die Eltern tot, die Großeltern, Cousinen, Vettern, die gesamte Dienerschaft. Sie erinnerte sich auch an jenes Stück Papier, das er ihr damals mit freundlichem Gesicht überreichte, ein Papier, auf dem geschrieben stand, dass der Palazzo ihrer Familie, in dem sie allein wohnte, nachdem ihr Bruder an der Pest gestorben war, in den Besitz seines Ordens übergegangen war. Weil es ihr Vater kurz vor seinem Tod so bestimmt hatte. Angeblich. Und weil es so im Testament stand. Später.

Der Mann hatte inzwischen den Eingang des Dogenpalastes erreicht, und sie wusste in der gleichen Sekunde, was nun geschehen würde: Er warf ein zusammengefaltetes Papier in la bocca. Sie wusste es deswegen vorweg, weil sein Gang, seine Körperhaltung, sein nach vorne gestreckter Kopf es ausstrahlten. Diese Absicht in diesem weit geöffneten Mund, der begierig alle Sündigkeiten dieser Stadt – der serenissima, die Heiterste, wie sie sich nannte – in sich aufnahm. Sie wusste, dass in dieser Sekunde mit diesem eingeworfenen Zettel die Uhren für irgendeinen Menschen in dieser Republik anders gehen würden. Dass sein Delikt, ganz gleich, um was es sich handelte und ob es überhaupt als solches zu bezeichnen war, nun nicht mehr sein Geheimnis bleiben konnte. Es würde bekannt werden. Wie bekannt und welche Auswirkungen es haben würde für den Betreffenden, war in diesem Augenblick nicht abzusehen. Ob eine Geldstrafe, Kerker, Verbannung, die Galeere oder gar eine Zurschaustellung seines gemarterten Körpers an einer dieser beiden Säulen auf der piazzetta, blieb ungewiss. Gewiss war nur, dass dieser Mann für seine Tat Geld bekommen würde: fünfhundert Dukaten waren es insgesamt, die seine Behörde für diesen »Dienst« zur Verfügung stellte. Wenn es zum Prozess kam, wurde die Summe dreigeteilt – ein Drittel für die Republik, ein Drittel für die esecutori contro la bestemmia und ein Drittel für denjenigen, der das Unheil in Gang gebracht hatte.

Der Mann, den sie für Bartolomeo hielt, musste seiner Sache sicher sein. Er hatte das Papier mit aller Gelassenheit und Selbstverständlichkeit in diese bocca geworfen. Er hatte sich weder zuvor noch danach umgesehen, ob ihn vielleicht jemand beobachtete. Er hatte seine »Pflicht« getan als Bürger dieser Stadt, die sich die Kosten für irgendwelche Polizisten sparte: Die gesamte Stadt bestand aus Polizisten. Polizisten, die bereit waren, ebenfalls ihre Pflicht zu tun. Vermutlich nicht unbedingt wegen des Geldes, sondern weil sie glaubten, dass alles so seine Richtigkeit hatte. Vor allen Dingen dann, wenn man anschließend in die Kirche ging. So, wie es dieser Mann jetzt tat.

Sie schloss die Augen, aber sie konnte hinter den geschlossenen Lidern sehen, wie alles ablief. Sie konnte sehen, wie er in die Kirche hineinhastete, dabei geschickt den unebenen Stellen des Bodens ausweichend. Sie sah, wie er das Kreuz schlug, sich dann zum Beten niederkniete. Nicht vor dem Hauptaltar, sondern vor einem der Nebenaltäre, die zu dieser Zeit meist weniger besucht waren. Und sie fragte sich, was dieser Mann dort zu beten hatte. Ob er überhaupt betete oder nicht lediglich im Geiste bereits die Dukaten zählte, die ihm für seine Dienste zuteil wurden. Und sie fragte sich, was er damit zu tun gedachte.

Als sie schließlich weiterging, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen den Weg zum Ghetto einschlug, spürte sie, dass sie zu frösteln begann. Sie hatte geglaubt, es hinter sich gelassen zu haben und hatte sich immer wieder laut vorgesagt, dass es vorüber war nach dieser langen Zeit, dass sie gerettet war. Aber sie erkannte jetzt, dass es ihr noch immer nicht gelang, den Bildern jener Zeit zu entrinnen, die ungehemmt auf sie einstürmten. Ihre Gedanken stürzten wie eine Affenherde auf sie zu, ließen sich nicht abwimmeln. Sie fühlte wieder, wie ihr der Schweiß ausbrach und in dünnen Rinnsalen den Rücken hinablief, wie er ihre chemisette durchwaberte, dann zu ihrem Hals hinaufkroch und sich schließlich der darüber liegenden Kleidungsstücke bemächtigte, sodass sie irgendwann das Gefühl hatte, jedermann müsse ihr nun ansehen, dass sie wie ein Säugling von Kopf bis Fuß eingenässt war.

Und dabei war sie nicht einmal ganz sicher, ob sie in ihrem Entsetzen überhaupt richtig hingesehen hatte. Ob der Umhang wirklich eine baùtta gewesen war oder nicht doch vielleicht eine einfache Kutte. Der Dreispitz vielleicht nur ein Barett, wie es Tausende von Venezianern trugen, und die Maske, die er ganz offensichtlich nicht einmal vermisste, etwa Teil eines Kostüms vom carnevale, der bald bevorstand.

Aber was immer er auch getragen haben mochte, es machte für sie keinen Unterschied, falls es sich wirklich um Bartolomeo handelte.

Er war in der Stadt, und nur das zählte.

Und er würde sie ganz gewiss finden.

Ganz gleich, wie gut sie sich auch verstecken mochte.

Kapitel 2Der Chazer

Sie schlug den Weg ins Ghetto ein, das sie den Chazer nannten.

Sie ging die verschnörkelten, schmalen calli entlang, ohne lange darüber nachzudenken, ob sie dies überhaupt wollte, jetzt wollte. Als sie die Hälfte des Wegs hinter sich gebracht hatte, bemerkte sie, dass sie nicht ging – sie hastete, an manchen Stellen rannte sie sogar. So, als sei dieser Mann, den sie soeben gesichtet hatte, kein Mensch, sondern irgendein Ungeheuer aus der Urzeit, das sich in ihre heutige Zeit eingeschlichen hatte, um nach geeigneten Opfern zu suchen. Nicht wahllos, sondern nach einem ganz bestimmten Plan.

Als sie die Brücke des San Girolamo überschritten und den in dem Häuschen sitzenden Männern erklärt hatte, dass sie lediglich einen Besuch machen wollte, nicht zum Ghetto gehörte und sich daher auch nicht der Prozedur des Eintragens unterwerfen musste, atmete sie erleichtert auf. Sie überquerte den großen Platz, das ghetto nuovo, mit seinen unzähligen Verkaufsbuden und den drei Banken fast in Gelassenheit, so, als sei sie hier sicher, auch wenn sie nicht zu den Bewohnern dieses Stadtteils gehörte. Die wenigen Stufen über den Rio di Agudi nahm sie dann wieder im Eilschritt, weil sie es kaum erwarten konnte, »heimzukommen«, wie sie es bei sich nannte. Sie blieb auf der einzigen breiten Straße, die an der Midrasch des Leon Modena vorbeiführte und schließlich zu Leas kleinem Buchladen gegenüber der spanischen Synagoge. Sie ging diesen Weg mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, und sie war gewiss, dass sie ihn auch bei Nacht gefunden hätte, wenn das Ghetto zu jener Zeit nicht verschlossen gewesen wäre. Sie ging diesen Weg seit fünf langen Jahren nahezu täglich, da der Laden für sie in jener Zeit der einzige Ort gewesen war, an dem sie Trost gefunden hatte.

Als sie die knarrende Tür zu Leas Laden öffnete, wischte sie sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Sie sog den vertrauten Geruch dieses Raumes ein, der stets nach alten Lederbuchrücken und getrockneten Rosenblättern duftete, die Lea in einer Schale aufgestellt hatte. Und sie hatte jedes Mal von neuem das Gefühl, »nach Hause« zu kommen. Wie zu einer Mutter, die Lea in der Vergangenheit für sie gewesen war, obwohl sie es dem Alter nach gewiss nicht sein konnte.

Lea war gerade dabei – wie meist zu dieser Tageszeit kurz vor der Dämmerung –, in ihren Buchregalen Staub zu wischen. Imaginären Staub, wie ihr Sohn Samson stets spottete, da es so viel Staub gar nicht geben könne, wie Lea es immer behauptete. Und da seine Mutter bei dieser Tätigkeit stets auf einem mehr als wackeligen Schemel zu stehen pflegte, von dem sie mehr als einmal unsanft heruntergefallen war, sorgten ihre Kinder sich gewiss zu Recht.

»Du wirst dir eines Tages das Kreuz brechen«, hatte ihr zweiter Sohn, Aaron, der inzwischen zum Studium ins Heilige Land gezogen war, immer gesagt. »Hinten hast du schließlich keine Augen.«

Aber Lea behauptete, durchaus auch hinten Augen zu haben und immer sofort zu wissen, wer den Laden betrat, auch wenn sie den Betreffenden nicht sah. So auch diesmal und ohne sich dabei umzudrehen

»Was ist los mit dir, geht es dir nicht gut? Du öffnest die Tür anders als sonst.«

Erst jetzt wandte sie sich um, stieg rasch von ihrem Schemel herab und blickte in Crestinas Gesicht.

»Was ist passiert? Du siehst aus, als sei der Leibhaftige hinter dir her«, sagte sie alarmiert. »Haben sie dich diesmal auf der Lagune bei Nacht geschnappt? Ich habe dich ja immer gewarnt, dass dies ganz gewiss keine Tätigkeit für eine Frau ist.«

Crestina ließ sich auf einen der unzähligen Bücherstapel fallen.

»Fast«, erwiderte sie dann atemlos und ballte die Hände zu Fäusten. »Nur fast. Aber nicht auf der Lagune. Und auch nicht mit geschmuggelten Büchern.«

»Was bedeutet ›fast‹?«

»Ich habe ihn gesehen«, flüsterte sie. »Er ist wieder in der Stadt.«

Lea war sichtlich erleichtert. Sie schob den Vorhang zu Abrams Hinterstübchen beiseite und schob Crestina hinein.

»Ich dachte schon, es seien die Neri.«

Dann nahm sie ein kleines Schild vom Tisch, schloss die Ladentür und hängte das Schild daran, sodass man es von draußen sehen konnte.

»Ich habe heute morgen Kichlech gebacken, und Diana hat vorhin Tee gemacht.« Sie holte zwei Becher aus dem Regal, stellte die Kichlech vor Crestina und nickte ihr aufmunternd zu.

»Wo hast du ihn gesehen?«, fragte sie dann, ohne einen Namen zu erwähnen. Über Bartolomeo hatten sie in den vergangenen Jahren so viele Gespräche geführt, dass sie manchmal glaubte, sie kenne diesen Menschen so gut, dass sie jede Falte seines Gesichtes beschreiben könne. Sie war sich sicher, dass nur er diesen Zustand bei der Freundin ausgelöst haben konnte.

»Auf der piazzetta«, sagte Crestina und kippte hastig, als sei sie am Verdursten, den Tee hinunter.

»Und du bist sicher, dass er es war? Du weißt, mit Kutte und Kapuze sehen alle Mönche gleich aus.«

Crestina nickte heftig und verschüttete dabei den Tee auf ihr Kleid.

»Ich bin ganz sicher. Und außerdem trug er keine Mönchskleidung. Vermutlich. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, was er trug«, schob sie dann ratlos nach. »Es ging alles so rasch, und ich war wie erstarrt.«

»Und? Hat er dich gesehen?«

Crestina zuckte mit den Schultern und verschluckte sich dabei an ihrem Tee.

»Ich glaube nicht.«

»Weshalb regst du dich dann so auf? Und wovor fürchtest du dich so sehr, dass du immer noch zitterst, wenn nur sein Name fällt? Der Palazzo gehört inzwischen dir. Niemand kann ihn dir mehr streitig machen, die Zeit ist vorüber. Und dieser Betrüger von avvocato ist durch einen anderen ersetzt worden, einen vertrauenswürdigen, den Leonardo ausgesucht hat.«

Lea hob ein Stück Gebäck an den Mund, legte es aber dann verlegen wieder zurück.

»Ich habe schon wieder zugenommen«, sagte sie. Dann sah sie Crestina eindringlich an. »Er gehört dir, dieser Palazzo. Bringst du das immer noch nicht in deinen Kopf hinein?«

Sie schob die Kichlech auf dem Teller näher zu Crestina.

»Außerdem willst du ihn gar nicht«, sagte sie dann vorwurfsvoll. »Du lässt das arme Haus weiterhin verrotten, als hätte es nicht genug gelitten die ganze Zeit über. Bis jetzt wohnen nur die Tauben dort, und die in Scharen.«

»Ich möchte keine falsche Entscheidung treffen«, erklärte Crestina vage. »Was soll eine allein stehende Frau mit einem leeren Palazzo? Soll ich etwa in zehn oder mehr Zimmern wohnen? Allein?«

»Dann hättest du ja gleich gar nicht um ihn kämpfen müssen wie eine Löwin. Irgendwann wirst du nicht mehr allein sein. Und überhaupt, auf was wartest du eigentlich? Auf die Wiedergeburt Riccardos?«

Crestina zuckte zusammen und sah Lea zornig an.

»Entschuldige«, wehrte die Freundin ab, »du weißt, wie ich es meine.«

Eine Weile tranken sie schweigend ihren Tee. Crestina knabberte lustlos an ihrem Kichlech.

»Schmecken sie dir nicht?«, fragte Lea besorgt, »ich habe diesmal nicht so viel Rahm hineingetan, du weißt schon, wegen mir. Sie verspotten mich bereits in der Straße. Selbst das Kind ist der Meinung, dass ich kaum mehr mit ihm über das ghetto nuovo rennen kann, wenn ich so weitermache.«

Crestina lächelte. Wenn Lea von dem »Kind« sprach, wurde sie fast wieder jung. So jung, als hätte sie diesen Jungen, den ihre Tochter in den Pestzeiten einst aus einem verlassenen Haus in Spalato gerettet hatte, selbst vor ein paar Jahren geboren.

»Ich habe Moise neulich in der Stadt getroffen«, sagte Crestina, »er kam auf mich zu und begrüßte mich höflich.«

»In der Stadt?«, fragte Lea besorgt, »doch nicht etwa allein?«

»Nein, nein, an der Hand seines Lehrers«, beschwichtigte Crestina.

»Er macht mir große Freude«, sagte Lea glücklich, und Crestina wusste, dass das Gespräch zu Ende war, wie immer, wenn Lea auf diesen Jungen zu sprechen kam, den Gott ihr geschenkt hatte. »Ohne Müh und Qual«, wie sie immer sagte. Er war einfach da. Ein dritter »Sohn«, wenn auch kein richtiger.

Crestina stand auf und nahm ihren Korb, Lea wuchtete sich aus ihrem Sessel und warf einen verabschiedenden Blick auf ihre Kekse.

»Wartest du nicht auch auf eine Wiedergeburt, auf die Abrams?«, fragte Crestina mit einer Spur von Trotz in der Stimme. Sie war schon an der Tür.

Leas Gesicht verschloss sich.

»Es gehört zu unserer Religion, dass wir warten«, sagte sie dann.

Crestina deutete auf Abrams hohen Lehnstuhl in dem engen Hinterstübchen, bei dem Lea nicht einmal gestattet hatte, auch nur die Sitzdellen aus seinem Kissen herauszudrücken, die noch genauso waren, wie Abram sie in den Jahren der Pest zurückgelassen hatte.

»Nicht einmal das Kind darf an diesen Stuhl«, sagte Crestina vorwurfsvoll. »Sag bloß, du wartest nicht auf ihn.«

Lea legte Crestina den Rest der Kichlech in ihren Korb.

»Du musst deine Angst besiegen«, sagte sie dann, als sie beide zur Ladentür gingen, »er kann dir nichts mehr tun. Er hat den Palazzo doch nicht mehr betreten, seit er wieder dir gehört?«

»Das Schloss war beschädigt«, sagte Crestina leise.

»Das kann jemand anders gewesen sein. Das können –«

Bevor sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, rannte Moise aus einer der Seitengassen heraus, warf dabei fast einen Mann mit einem Brotkorb über den Haufen und stürzte sich auf Lea, ohne von Crestina Notiz zu nehmen.

»Sie sind ausgeflogen, alle drei!«, sagte er dann in höchster Erregung. »Man hört sie überall piepsen! Und es wird doch bald dunkel!«

Lea versuchte, Moise in den Arm zu nehmen und zu trösten.

»Ich habe dir gesagt, dass es bald so weit sein wird. Wir hatten ein Vogelnest über uns an einem Balken«, erklärte sie Crestina, »wir haben es über Tage hinweg beobachtet, vor allem wie die beiden Eltern die Jungen fütterten.«

»Aber sie piepsen ganz schrecklich«, erregte sich Moise. »Du kannst sie in der ganzen Straße hören. Sie betteln nach ihrem Fressen. Sie haben Hunger.«

»Und die Eltern werden es ihnen bringen«, versuchte Lea Moise zu beruhigen. »Die Eltern hören es, wenn die Jungen schreien.«

»Aber es ist bald Nacht«, flüsterte Moise angstvoll, so, als sei Lea für dieses Piepsen verantwortlich. »Und sie werden die Jungen nicht mehr sehen. Die Kleinen werden verhungern.«

»Aber hören werden sie sie. Du wirst sehen, dass sie morgen früh wieder piepsen, das wird dann noch ein paar Tage so gehen und dann sind sie groß genug, um sich ihre Nahrung selber zu holen. Geh schlafen jetzt, es ist auch für dich Zeit, zu Bett zu gehen. Geh nach oben«, sagte Lea sanft und schob Moise zur Haustüre.

Moise wehrte sich und stampfte mit dem Fuß.

»Ich will nicht ins Bett, ich will die kleinen Vögel hören«, sagte er zornig. »Ich will sehen, ob sie ihr Futter bekommen. Erst dann kann ich ins Bett. Wenn sie nicht mehr piepsen und satt sind und nicht verhungern.«

»Du wirst jetzt die Stiegen hinaufgehen und dich für die Nacht richten«, wiederholte Lea, diesmal um eine Spur härter.

»Wenn du mich dazu zwingst, werde ich übertreten«, sagte Moise weiß vor Zorn im Gesicht und machte ein Kreuz vor der Brust, verkehrt herum.

Crestina erstarrte und blickte Lea entsetzt an.

»Was soll das denn?«

»Das kenne ich schon«, sagte Lea seufzend, keinesfalls sonderlich besorgt. »Damit droht er mir nicht zum ersten Mal. Sobald er etwas gegen seinen Willen tun soll, will er übertreten. Obwohl er überhaupt nicht weiß, was das bedeutet. Er weiß nur, dass es für Juden etwas Schlimmes ist.«

»Und woher hat er das?«

Lea seufzte. »Von irgendwelchen Jungen in der Jeschiwa, ich weiß nicht genau von welchen. Es gibt da eine Gruppe, die das Ghetto in Atem hält mit ihren Streichen. Jungen, die gerade vor der Bar-Mizwa stehen und jetzt vehement darüber diskutieren, ob sie den roten Hut tragen wollen, zu dem man die Juden gezwungen hat, oder nicht. Es spielt sich genau das Gleiche ab wie damals bei Samson.«

»Aber Moise ist doch von dreizehn noch meilenweit entfernt«, sagte Crestina kopfschüttelnd.

»Natürlich ist er das, aber da gibt es einen aus dieser Gruppe, der es auf Moise abgesehen hat, der ihm verrückte Gedanken in den Kopf setzt, ihn aufmüpfig macht. Er hat ganz offensichtlich Sachen erzählt, über die Moise mit mir nicht reden will, sodass ich ihm auch nicht helfen kann, weil ich überhaupt nicht weiß, worum es geht.«

»Kannst du nicht zu den Eltern gehen?«

»Er hat nur noch eine Mutter, und die ist eine ziemlich kranke Frau. Mehr oder weniger erzieht die Großmutter das Kind.«

Crestina blickte ziellos über den Platz.

»Hältst du es eigentlich für denkbar, dass ich übertrete?«, sagte sie dann zögernd. »Ich meine nicht heute, auch nicht morgen. Irgendwann, eines Tages.«

Lea starrte sie schweigend an.

»Übertreten? Du meinst zu unserer Religion übertreten?«, fragte sie nach einer Weile, nahezu verstört.

Crestina nickte, wusste aber gleichzeitig, dass es eine unsinnige Idee war. So unsinnig wie Moises Idee, wenn er das Kreuz schlug.

»Man muss dreimal anklopfen«, sagte Lea langsam. »Man muss Hebräisch können, die Thora lesen und vieles andere mehr.«

»Hebräisch wäre kein Problem, das wäre das Leichteste. Leonardo druckt hebräische Bücher.«

Lea seufzte. Sie näherten sich einer Gruppe Kinder, die Fangen spielte, und ein paar tollenden Hunden.

»Wenn es wegen der Wiedergeburt ist, wird es dir nicht viel helfen. Der Messias kommt nicht von heute auf morgen.«

»Aber er kommt doch«, sagte Crestina eindringlich, »du glaubst doch daran?«

Die Kinder rasten um ihre Beine, ein Seil flog über ihren Kopf, und einer der Hunde raufte sich vor ihren Füßen mit einem anderen Hund um einen Knochen.

»Ich fürchte, wir müssen unser Gespräch ein andermal weiterführen«, sagte Crestina und wandte sich zum Gehen. »Es war ohnehin unsinnig, darüber zu reden. Ich weiß nicht mal, wieso ich gerade jetzt auf diese Idee kam.«

Lea ergriff ihren Arm.

»Hör zu, auch ich hatte einmal diese schreckliche Angst, du kannst dich sicher erinnern, auch wenn wir uns damals noch kaum kannten. Ich hatte Angst vor den Sternen, von denen ich glaubte, dass die cattaveri sie an den Himmel gesetzt hatten, um mich zu beobachten. Ich fühlte mich verfolgt, Tag und Nacht, hatte Albträume. Du erinnerst dich doch, oder nicht?«

Crestina nickte zögernd. Sie wusste nicht im Einzelnen, was damals mit Lea vorgegangen war. Es war zu einer Zeit geschehen, als ihre Familie noch lebte, gut lebte, in Frieden lebte. Und das Ghetto war eine ferne, fremde Welt, von der sie nur von Zeit zu Zeit durch die Geschäfte ihres Vaters erfuhr.

»Wir werden ein andermal darüber reden«, sagte Lea und umarmte Crestina. »Es wird dir gewiss nichts geschehen. Dieser Mensch wird dich in Ruhe lassen.«

Dann sagte Lea, sie wolle in den nächsten Tagen vorbeikommen, um über die Bibliothek zu diskutieren, die ihr kürzlich angeboten worden war.

»Ich könnte mir denken, dass dich die Sache vielleicht interessiert, auch wenn ich für den Augenblick noch keinesfalls weiß, wo ich die Bücher unterbringen kann, bevor ich sie katalogisiert habe.«

Crestina sah sie mit schiefem Blick an.

»Ja, das verstehe ich.« Sie machte eine Pause. »Natürlich wäre im Palazzo mehr als genug Platz. Aber –«

Lea schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Lass dir Zeit mit deiner Entscheidung. Was so lang gedauert hat, kann auch noch länger warten. Es ist ohnehin eine verrückte Idee von mir, so etwas machen zu wollen. Abram würde sich fragen, ob seine Frau Lea überhaupt noch normal ist.«

Das würden sich vermutlich noch mehr Leute fragen, wenn sie wüssten, dass Crestina Zibatti einen Palazzo besitzt, den sie vor sich hin bröckeln lässt, dachte Crestina mit schlechtem Gewissen, während sie das Ghetto verließ.

Kapitel 3Cannaregio

Wenn Crestina die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich schloss, verließ sie das Gefühl, gejagt zu werden. Es war, als wüchse dann eine Mauer zwischen ihr und der Stadt und behüte sie vor allem, was es in dieser Republik zu fürchten gab. La bocca am allermeisten, wie sie es heute wieder erlebt hatte.

Jetzt, da sie sich in der Dämmerung – das Licht war schon fast an den Abend abgegeben – mit dem Rücken an die geschlossene Tür lehnte, atmete sie auf. Es schien ihr, als habe sie sich retten können vor diesem Verfolger, wenn auch mit Mühe. Aber obwohl der Vorfall, der sie zu Lea geführt hatte, nun bereits Stunden zurücklag, war sie unsicher, was weiterhin geschehen würde.

Sie zündete eine Kerze an. Es war eine ganz besondere Kerze, die sie für diese oder ähnliche Situationen aufgehoben hatte, eine große, dicke Kerze aus Bienenwachs, die noch aus ihrer gemeinsamen Zeit mit Riccardo stammte, als sie in ihrer Dachkammer des Nachts miteinander gelernt hatten. Sie hatten Ovid gelesen, sich gegenseitig die Sonette von Petrarca aufgesagt, über Aristoteles diskutiert. Es war also keine Alltagskerze, mit der lediglich ein Raum zu erhellen war. Diese Kerze war etwas Besonderes, in dessen Licht man sich hineinträumen, hineinfallen lassen konnte. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, sie befände sich noch in der gleichen Kammer wie zu jener Zeit, als sie zum ersten Mal entzündet worden war. Von Riccardo, der ihr die Kerze einst geschenkt hatte.

Ansonsten hatte sie sich ganz bewusst eine Welt aufgebaut, die keinerlei Spuren ihres alten Heims aufzeigte, weil sie durch nichts daran erinnert werden wollte. Die wenigen Möbel, die sie besaß, hatte sie beim Trödler gekauft, zum Teil schäbiges Zeug, mit dem sie umziehen konnte, so oft sie wollte, Dinge, die keinerlei Pflege benötigten.

Jetzt, da sie draußen den Wind toben hörte, sich vorstellte, wie das Wasser gegen die Wassertore ihres Palazzo schlagen würde und wie diese unter der Wucht des Aufschlags vermutlich nach innen gedrückt würden, sah sie alles ganz deutlich wieder vor sich: die Ankunft Bartolomeos, damals, vor mehr als fünf Jahren.

Sie und Riccardo waren allein im Palazzo gewesen, Jacopo und Anna die einzigen Diener im Haus, da Sonntag war. Als das Wasser Bartolomeo angespült und in das Untergeschoss ihres Hauses hineingeschwemmt hatte, konnte sich zu dieser Stunde kaum jemand vorstellen, dass dieser schmächtige Junge diesen Unfall überhaupt überstehen würde. Und Jacopo hatte sich bekreuzigt und behauptet, es handle sich bei dem Angeschwemmten ganz gewiss um einen von der Behörde vergifteten, im Canale Orfano versenkten Toten. Und natürlich werde er über dieses Haus Unglück bringen, hatte er prophezeit.

Seitdem war viel Zeit vergangen, Jahre, an die sich Crestina trotz alledem mit einer Genauigkeit erinnerte, als habe sie darüber Buch geführt. Sie hatte sich inzwischen nahezu durch die gesamte Stadt hindurchgewohnt, hatte in fast allen sestieri gelebt, in Castello, Santa Croce, Dorsoduro, San Marco, San Polo. Jetzt wohnte sie in Cannaregio, wo die meisten Arbeiter dieser Stadt ihren Wohnsitz hatten.

Sie war auf der Flucht gewesen vor etwas, das allmählich zu einem Hirngespinst herangewachsen war, wie Lea zu sagen pflegte. Diese »Stadt der tausend Augen«, die Lea damals zu sehen geglaubt hatte, war zu ihrer »Stadt der tausend Augen« geworden. Augen, die sie beobachteten, bei Tag wie bei Nacht. Sterne, die von der Behörde an den Himmel gesteckt worden waren, um die Bürger bei all ihrem Tun zu überwachen.

»Vertrau dich unseren Ärzten an«, hatte Lea eines Tages vorgeschlagen, als sie hilflos mit anschauen musste, wie die Freundin zunehmend unter ihren Ängsten litt. »Du bist nicht die einzige Christin, die jüdische Ärzte zu sich ins Haus ruft. Und du weißt, sie kommen auch bei Nacht. Sie sind die Einzigen, die das Ghetto selbst dann verlassen dürfen.«

Aber sie hatte den Kopf geschüttelt, da sie kaum wusste, was sie diesen jüdischen Ärzten hätte erzählen sollen, oder Ärzten allgemein. Dass sie Angst hatte, panische Angst vor diesem Bartolomeo? Dass er sie bereits früher als Kind gequält hatte, sie in jener Nacht in der sala hatte knien lassen, Gebete hatte sprechen lassen, während sie in ihrem dünnen Nachthemd kaum wusste, wie sie das Zittern vermeiden konnte? War es einzig die Kälte oder die Furcht vor diesem ungeliebten Cousin, der nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Vater pflichtbewusst aufgenommen worden war?

Der Palazzo war inzwischen zu ihr zurückgekehrt. Seit etwa zwei Jahren. Sie hatte wirklich um ihn gekämpft, hatte nicht nachgegeben, den betrügerischen Advokaten, mit dem Bartolomeo unter einer Decke gesteckt hatte, zu entlarven. Aber sie hatte diesen Palazzo nach ihrem Sieg genauso wenig besucht wie in der Zeit zuvor, als er ihr nicht gehörte.

»Du wirst ihn verlieren«, hatte Lea sie gewarnt. »Neulich hat mir jemand erzählt, wie die Tauben in Schwärmen von der Altane abgeschwirrt sind, Möwen nisten in den Fensterbrüstungen, Katzen streifen über die Dächer.«

Sie wusste, dass Lea nicht übertrieb, aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, ihre Angst vor diesem leeren Haus zu überwinden und es zu besuchen.

»Wozu?«, fragte sie sich hundertmal. Was sollte eine allein stehende Frau mit einem leeren Haus, in dem einst mehr als zwanzig Menschen gelebt hatten?

»Du könntest es vermieten«, hatte Lea vorgeschlagen, »ein Fernkaufmann könnte seine Waren im Zwischenstock lagern, wie einst euer Vater.«

Sie könne das Haus nicht vermieten, hatte Crestina erwidert, es sei ein Stück ihres Lebens. Und außerdem ertrage sie nicht, dass wie in alten Zeiten im Mezzanin alles Mögliche gelagert werde, zum Beispiel Mumien, mit denen ihr Vater einst einen schwunghaften Handel betrieben hatte. Sie hatte sich als Kind halb zu Tode geängstigt, als sie aus Versehen einmal in die Räume geriet, in der diese Reliquien aufbewahrt waren.

Lea hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Reliquien! Als ob es unbedingt Mumien sein müssten, wenn hier jemand einziehe. Und im Übrigen könne man diesen Palazzo auch ohne weiteres verkaufen, irgendwer würde ihn ganz gewiss wollen, wenn er nur erst wieder in Stand gesetzt sei.

Sie könne nicht das Herz ihrer Familie verkaufen, hatte sie abgewehrt, empört über diese Idee.

»Er wird zerstört werden«, hatte Lea gedrängt, »genauso wie die Villa an der Brenta, die schon halb verfallen war, bevor sie jetzt jemand gekauft hat, der sie hoffentlich liebt. Und mit der limonaia wird es nicht anders gehen. Dabei müsstest du dieses Haus doch gewiss lieben.«

Die limonaia, der Ort, an dem die Gärtner im Herbst die Zitronenbäume und die übrigen Zitrusfrüchte unterbrachten, hatte immer ihr gehört, sie war nie Gegenstand dieses heimtückischen Testaments gewesen, von dem sie ganz sicher war, dass es gefälscht worden war. Die limonaia hatte ihr Vater bereits zu Lebzeiten an seine Kinder vererbt, ohne dass er ihnen davon zunächst erzählt hatte. Erst als sie von der Pestinsel zurückgekehrt war, hatte sie es aus seinen Papieren erfahren.

Sie blickte auf die Straße hinunter, sah zu, wie der Wind das Wasser gleich einem Geschoss auf die Hauswände zutrieb, und für einen Augenblick bereute sie, in ein Haus eingezogen zu sein, das am Wasser lag, an einem Seitenarm des Kanals. Aber auch in jener Zeit, in der sie sich durch die Stadtteile hindurchgewohnt hatte, war es ihr immer wichtig gewesen, am Wasser zu bleiben, weil der Geruch sie faszinierte und Heimatgefühle weckte.

Eine Zeit lang hatte sie sogar auf der Insel Giudecca gelebt, in einem kleinen Haus, in dem die Frau eines Fischers wohnte, der auf dem Meer geblieben war. Sie hatte dort in einer winzigen Kammer gehaust und geholfen, die zerrissenen Netze zu flicken, die es ständig gab. Der Sohn des Fischers hatte sie verehrt, begehrt, hatte anklingen lassen, dass er sich vorstellen könne, sie bliebe für immer hier in seiner Welt. Aber es war klar, dass er vor ihr zurückgeschreckt wäre, wenn er gewusst hätte, wer sie war. Sie hatte nie jemandem gesagt, woher sie kam und wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen war. Sie war für ihre Umwelt nichts weiter als eine Frau, die Korrekturen für eine Druckerei ausführte. Dass sie Ovid übersetzte und Horaz, hatte sie immer streng verschwiegen.

Als sie an diesem Abend, nach dem Besuch bei Lea, in ihrem Bett lag, überlegte sie, ob es nicht an der Zeit wäre für einen Besuch bei der limonaia, den sie schon ziemlich lange vor sich hergeschoben hatte. Sobald sich das Wetter gebessert haben würde, könnte sie hingehen. Sie brauchte nur ihr Boot – das sie sich bereits vor geraumer Zeit zugelegt hatte, um unabhängig zu sein – an der Mole loszumachen, dann ein Stück die Brenta hinaufzufahren in die Gegend, in der die reichen Venezianer ihre Sommerhäuser besaßen.

Und sie war glücklich darüber, dass sie inzwischen nicht mehr die Sperre überwinden musste, die sie zu Beginn auch diesem kleinen Haus gegenüber empfand, da sich immerhin auch hier ein Stück ihres Lebens abgespielt hatte, an das sie nicht mehr erinnert werden wollte: In der limonaia hatte ihr Vater einst jenes Gespräch mit dem Mann geführt, der sie hatte heiraten wollen. Er hatte sie an diesen Mann »verschachert«, wie es ihr damals schien, für eine Mitgift von eintausendzweihundertfünfzig Reichsgulden in bar, vierhundertfünfzig Gulden für Schmuck und das Gleiche nochmals für Kleider. Sie erinnerte sich genau, dass sie an diesem Abend die limonaia sogar verflucht hatte und ihr vor Verzweiflung vorwarf, dass sie, die limonaia, geschändet worden sei durch diesen Akt des Verkaufes der Tochter an einen ungeliebten Mann. Einen Nichtvenezianer, einen Nürnberger, den Sohn eines Safranhändlers, mit dem der Vater Geschäfte machte.

Aber auch dieses Ereignis war irgendwann in dem dicken Geflecht von bösen Erinnerungen versunken. Sie hatte sich irgendwann, wenn auch mehr als mühsam, hinübergerettet in die Welt der Normalität, eine Welt, in der Begriffe wie Pest, Riccardo, Testamente, Bartolomeo, esecutori contro la bestemmia, Palazzo, korrupte Advokaten, meist nur noch spärlich auftauchten.

Zumindest bildete sie sich das ein. Wenn es Tag war.

Bei Nacht galten andere Gesetze.

Kapitel 4In Den Gärten von San Giorgio

Crestina hatte Leonardo, Riccardos Freund, seit mindestens fünf Monaten nicht mehr gesehen. Er hatte sie zweimal gebeten zu ihrem alten geheimen Treffpunkt der Buchhändler in den Gärten von San Giorgio zu kommen, aber sie hatte abgelehnt. Mehr oder weniger deshalb, weil sie es satt hatte, zu erklären, was mit ihrem Palazzo geschehen solle. Auch wenn sie glaubte, dass es für Leonardo heute wieder um nichts anderes gehen würde als genau darum, war sie hingegangen. Sie hatte sich Sorgen um Taddeo gemacht, seinen Großvater, den sie seit ihrer Kindheit liebte, als wäre es ihr eigener. Irgendwer hatte ihr neulich erzählt, dass seine Späße, die er mit den Leuten auf der Rialtobrücke machte, manchmal an die falschen Personen gerieten, wenn er damit prahlte, was die Buchhändler einst für mutige Männer gewesen seien, wie sie mit dem Index umgegangen waren und wie sie Bücher geschmuggelt hätten, als gebe es ihn nicht.

Vor kurzem hatte sie Leonardo getroffen und ihn nach seinem Großvater gefragt, aber er hatte nur gelacht. »Du machst dir Sorgen um Taddeo? Mit ihm ist alles in Ordnung. Er plant schon jetzt seinen neunzigsten Geburtstag, obwohl es bis dahin noch zwei Jahre sind. Er sagt, falls er ihn nicht erlebe, wolle er ihn wenigstens in Gedanken vorweg erlebt haben: mit neunzig Fackeln, neunzig schönen Frauen, neunzig geschmückten Booten auf dem Kanal und einem Feuerwerk, wie es nie eines zuvor gab. Und – natürlich mit Unterbrechungen – neunzig Minuten lang. Und im Übrigen ist er inzwischen in diesem biblischen Alter, dass er alles behaupten kann, selbst die wildesten Sachen, da die Leute ohnehin annehmen, dass es in seinem ›Oberstübchen‹ nicht mehr ganz stimmt.«

Sie war in Silvestros Boot mitgefahren, weil sie stets großes Interesse an seiner Arbeit hatte. Sein Großvater hatte sich einst mit dem Druck von hebräischen Büchern einen Namen gemacht, aber durch die Talmud-Verbrennung, die von der Stadt angeordnet worden war, hatte er einen solchen Verlust erfahren, dass sein Enkel das Drucken aufgeben musste und seinen Lebensunterhalt nun mit dem Handel von Handschriften bestritt. Alvise, der Schauspieler, der wie sie in Cannaregio wohnte und als Agent und Kurier für ihre Sache tätig war, wollte zusammen mit Benedetto, dem zweitgrößten Drucker in Venedig und ebenfalls Buchhändler, kommen. Marcello, der sich auf okkulte Bücher spezialisiert hatte, war bereits am frühen Morgen auf die Insel gefahren, um für seine Mutter dort Gemüse einzukaufen. Die Idee, das Boot mit dieser Tarnung in ein braves Transportboot zu verwandeln, das keinerlei Aufsehen erregte, gehörte mit zu ihren Bemühungen, den kritischen Augen der Inquisition zu entgehen.

Als Crestina Leonardo jetzt am Ufer stehen sah, die Hand vor die Augen zum Schutz gegen die Sonne, hatte sie das Gefühl, dass er weniger gut aussah als früher, auch wenn sie nicht hätte sagen können, woraus dieses Anderssein bestand. Es hätten Sorgen sein können mit der Druckerei. Der Absatz seiner Bücher war im letzten Halbjahr nicht so besonders gut gelaufen, weil der Papierpreis sich wieder einmal erhöht hatte. Es hätte natürlich auch sein können, dass es Schwierigkeiten mit diesen verbotenen Büchern gab, die sie auf geheimen Pfaden in die Stadt oder aus der Stadt herausschmuggelten, sie nach Norden brachten, nach Süden, je nachdem, wie man die Gesetze dieser Serenissima am besten unterlaufen konnte. Ein Sport, dem sie alle noch immer huldigten, ganz gleich, ob man sie dabei ertappen würde oder nicht.

Sie sprang ans Ufer, Leonardo streckte ihr die Hand entgegen, sie rutschte zurück, er zog sie mit gerunzelter Stirn zu sich heran, hielt sie an sich gepresst. Eine Sekunde zu lang, sagte sie sich, aber vermutlich war er sich dessen nicht bewusst. Hätte man ihn gefragt, wie er dieses »Ansichdrücken« bezeichnen würde, so hätte er mit aller Selbstverständlichkeit und Verblüfftheit geantwortet: »Schwesterlich natürlich, wie sonst.«

Sie hätte ihm sagen können, dass es dies nicht war, weder jetzt noch in früheren Zeiten, und dass auch dies einer der Gründe war, weshalb sie nur noch ungern zu diesen Treffen kam. Dass sie sich fürchtete vor einem neuerlichen Heiratsantrag, von dem Leonardo glaubte, dass er ihm zukam. Hatte er die Schwester seines engsten Freundes Riccardo nicht fast fünf Jahre lang behütet wie das kostbarste Gut, das er sich vorstellen konnte? Hatte er sich nicht gegenüber allen anderen Frauen so zurückhaltend verhalten, dass manche bereits annahmen, er wolle überhaupt nichts mit Frauen zu tun haben, obwohl sie um ihn herumschwirrten wie die Mücken um das Licht? Und hatte er sich nicht zum ersten Mal Taddeos Spott einhandeln müssen, dass er sich wie ein Vormund um Crestinas Hab und Gut kümmere, so, als ob es sein eigenes sei, ohne dass er von dieser Fürsorge auch nur den geringsten Nutzen hatte?

»Du bist magerer geworden«, sagte sie, als sie sich von ihm gelöst hatte und ihn begrüßte. »Du siehst aus, als würde Taddeo nicht mehr so gut kochen wie früher.«

Leonardo lachte.

»Ganz so gut ist es auch nicht mehr, manchmal verwechselt er Zucker mit Salz, und die Pasta gelingt ihm meist auch nur noch mäßig, weil er es nicht lassen kann, während des Kochens nebenher in irgendwelchen Büchern zu schmökern. Aber immerhin haben wir ja noch Nunzia, wenn er keine Lust hat zum Kochen und ihm das erst zehn Minuten vor dem pranzo einfällt.«

Alvise und Benedetto vertäuten ihr Boot an der anderen Seite der Insel, kamen mit Marcello zusammen zu ihnen herüber und begrüßten Crestina überschwänglich. Sie zogen sich hinter die Netze der Fischer zurück, warfen ihren Ledersack in die Mitte und kippten den Inhalt von ihrer la bocca vor sich aus. Ein Vorgang, der stets gleich ablief: Die Denunziationen wurden wie eh und je in den Schlitz des Kastens geworfen, der sich am Gildenhaus der Buchhändler, Verleger und Drucker befand.

Crestina ließ die Männer die Ausbeute begutachten, erkundigte sich nach der Art der Denunziationen, aber sie stellte fest, dass es sie nicht mehr so berührte wie damals, als ihr Bruder noch lebte. Es war so, als sei alles träger geworden, und die Gefahr, die sie einst gereizt hatte, ließ das frühere Prickeln vermissen, wobei sie nicht einmal hätte sagen können, woher dies kam. Zu Beginn, unmittelbar nach Riccardos Tod, hatten sie ihr Aufgaben zugewiesen, hatten sie gefährliche Kurierdienste durchführen lassen, sie hierhin und dorthin geschickt, um ihr neues Vertrauen zu geben, das sie mit dem Tod des Bruders verloren hatte. Dann, als sie irgendwann feststellte, dass man sie aus der Ferne stets behütet hatte, im Geheimen einen Aufpasser mitschickte – ihre Arbeit aus ihrer Sicht damit wertlos machte –, war sie irgendwann in einen Zustand der Gleichgültigkeit geraten. Es war ihr nichts mehr wichtig gewesen, sie hatte vor sich hin gelebt, an manchen Tagen ohne überhaupt wahrzunehmen, dass sie lebte. Als sie dann nach endlosen Querelen nach drei Jahren den Palazzo zurückerhielt, der betrügerische avvocato entlarvt war und seine gerechte Strafe bekommen hatte, war sie zurückgeschreckt vor der Verantwortung, die sie nun zu tragen bestimmt war, und sie hatte alles stehen und liegen lassen, obwohl ihr klar war, dass sie irgendwann würde eine Entscheidung treffen müssen, ganz gleich welche.

Jetzt, da sie die geöffneten Briefe vor den Männern liegen sah und diese kopfschüttelnd oder auch zornig in den Papieren wühlten, stand sie auf, schlenderte zwischen den aufgehängten Fischernetzen hindurch und schaute sich nach dem Flickmaterial um, das stets an einem bestimmten Platz lag.

»Wir brauchen deine Hilfe«, rief Marcello zu ihr hinüber, als sie sich niederlassen wollte. »Deswegen haben wir dich hergebeten.«

Also nicht Leonardo, dachte sie erleichtert und kehrte zu den Männern zurück, es sei denn, er hatte Marcello gebeten, das Wort zu führen in einer Sache, von der sie noch nichts wusste. Sie ließ sich auf einer Matte nieder und zog die Füße an.

»Wir brauchen dich dringend«, sagte Silvestro und zog aus seinem Ledersack ein zusammengerolltes Manuskript. »Das hier muss in den nächsten Tagen nach Padua.«

Sie sah zu Leonardo hinüber, sah, wie er den Blick vermied, und hatte das Gefühl, dass er sich ganz bewusst bisher nicht am Gespräch beteiligte.

»Und wo liegt das Problem«, wollte sie wissen, »wenn es diesmal nicht um das Fälschen von Inventarlisten geht, wobei ich gerne helfen würde?«

»Das Problem ist, dass der Professor, der es nach Basel schmuggeln soll, bereits zweimal erwischt worden ist, nachts auf der Lagune, mit verbotenen Büchern. Das Problem ist, dass Alvise mit seiner Schauspielgruppe nach Florenz unterwegs ist zu der Aufführung eines neuen Stückes und dass die Frau von Benedetto ihr erstes Kind bekommt. Und da sie draußen auf einer der abgelegenen Inseln wohnen, auf denen es keine Hebamme gibt, macht sie sich Sorgen, wenn ihr Mann nicht bei ihr ist.«

Crestina schaute zu Leonardo.

»Und was ist mit dir?«

Leonardo zuckte mit den Schultern. »Ich muss zu einer Vorladung. Bei unserer heiß geliebten Behörde. Bei der Inquisition. Was daraus wird, weiß niemand.«

Sie verschränkte die Finger, schaute die Männer der Reihe nach an.

»Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich für euch unterwegs war«, sagte sie dann vage.

»Nun, wir denken, dass du noch immer gut im Sattel bist, wir vermuten, dass du von uns allen am unverdächtigsten bist, und außerdem meinen wir auch, dass du es Riccardo schuldig bist.«

Sie stieß die Luft aus.

»So will ich das ganz gewiss nicht sehen«, sagte sie dann schroff. »Wenn ich es mache, dann mache ich es, weil ich gegen diese Obrigkeit bin. Heute wie damals.«

Sie nahm das Manuskript in die Hand, blätterte darin, hob den Kopf.

»Wenn sie mich damit erwischen, lande ich im Canale Orfano. Vergiftet.«

»Sie erwischen dich nicht«, beteuerte Alvise. »Glaubst du im Ernst, dass wir dich um etwas bitten würden, was so gefährlich ist, dass es dich den Kopf kostet?«

»Aber garantieren könnt ihr auch nicht für diesen Kopf«, sagte sie und blätterte erneut in dem Manuskript. »Nicht mal Von der Freiheit eines Christenmenschen«, stellte sie dann fest, »nichts weiter als ein völlig beliebiges okkultes Buch.«

»Du weißt, dass sie genau diese Art von Büchern mehr ärgert als der ganze Luther«, sagte Leonardo heftig. »Die Hälfte aller Bücher auf dem Index gehören zu den okkulten Büchern.«

»Eben. Deswegen frage ich mich ja, ob ihnen das gefällt, wenn sie mich damit bei Nacht auf der Lagune antreffen.«

»Was willst du auf der Lagune, wenn du nach Padua reitest?«, fragte Marcello irritiert. »Und weshalb bei Nacht?«

»Ich habe immer einen Bogen gemacht, wenn ich nach Padua ging. Besonders, wenn ich allein war. Und ich denke doch, ich bin allein – oder gebt ihr mir wieder einen Aufpasser mit, damit ich auch gut behütet bin?«

Eine Weile war Stille.

»Du reitest allein«, sagte Leonardo dann hart. »Du bist seine Schwester. Du weißt genau, dass es für ihn jedes Mal ein Risiko war. Deine Gedanken haben ihn begleitet, wo immer er hinritt.«

»Die euren werden mich ja ganz gewiss auch begleiten«, spottete sie, »oder etwa nicht?«

»Du kannst natürlich ablehnen«, sagte Leonardo und blickte dem Flug einer Möwe nach, die laut kreischend über ihre Köpfe hinwegflog. »Niemand zwingt dich. Aber ich bin sicher, dass es gut für dich wäre.«

»Ach so«, sagte sie, stand auf, schob das Manuskript in seinem Sack in ihren Korb. »Du meinst, es wäre an der Zeit, dass ich wieder in das normale Leben einsteige«, sagte sie dann und runzelte die Stirn. »Oder in das, was man als dieses normale Leben bezeichnet. Ist das so?«

»Nein, nein, das meinen wir nicht«, sagten Alvise und Marcello hastig.

»Aber ich meine es«, sagte Leonardo mit Nachdruck, »ich meine genau das. Und jetzt möchte ich mit dir allein reden.«

»Über dieselbe Sache?«, wollte sie wissen und blickte ihn störrisch an.

»Nein, nicht über dieselbe Sache.«

»Falls ihr euch jetzt prügeln wollt, wie in euren Kinderjahren, gehen wir besser«, sagte Alvise rasch und deutete zu seinem Boot. »Wer mitfahren will, den nehme ich mit.«

»Wir prügeln uns schon lange nicht mehr wie in alten Zeiten«, erklärte Crestina freundlich, »und zuletzt haben wir uns sicher fünf Monate nicht mehr gesehen. Unsere Rauflust gehört im Übrigen schon längst der Vergangenheit an.«

»Seit sechs Monaten«, korrigierte Leonardo. »Genau seit sechs Monaten, drei Tagen und …«, er sah zur Sonne hinauf, »ungefähr zwölf Stunden.«

»Führst du etwa Buch darüber?«, fragte Crestina verblüfft.

»Wir sehen uns dann bei meiner Aufführung in Florenz«, sagte Alvise hastig und ging zum Ufer. »Wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr uns rufen. Für eine Weile sind wir ja noch in eurer Nähe, falls ihr euch nicht wie zivilisierte Menschen betragen könnt.«

Crestina ließ sich mit dem Rücken an der Mauer des Klosters niederrutschen und nahm ein Stück des gerissenen Fischernetzes in die Hand. Sie zog ihr Messer aus dem Korb, schnitt ein Stück des Schnurballens ab, der neben dem Netz lag, und nahm die Aale in die Hand.

Leonardo starrte sie an.

»Was um alles in der Welt machst du da? Und wozu brauchst du ein Messer in deinem Korb?«

»Ich flicke ein Netz«, sagte Crestina ruhig und knüpfte den Faden mit den anderen zusammen. »Und das Messer wirst du mir doch gewiss erlauben, wenn ich unterwegs bin? Ich versichere, dass es kein Küchenmesser ist, mit dem ich normalerweise Gemüse schneide.«

»Bist du ganz sicher, dass sich die Leute, denen dieses Netz gehört, darüber freuen, wenn du an ihm herumschnippelst?«, fragte Leonardo erbost.

»Ja, das bin ich«, erwiderte Crestina. »Ich kenne den Fischer. Und du weißt, dass ich Netze flicken kann.«

»Ja, ja, ich weiß, dass du eine geübte Netzflickerin bist«, spottete Leonardo. »Nimmst du auch fremde Aufträge an? Damals in deiner ganz und gar verqueren Zeit habe ich es ja verstanden, aber ich dachte, das sei endlich vorbei.«

»Du meinst, dass ich genug um Riccardo getrauert habe«, sagte sie und kniff die Augen zusammen, um die ausgebesserte Stelle des Netzes zu überprüfen.

Leonardo schüttelte betroffen den Kopf. »So war das nicht gemeint.«

»Bevor du noch mehr sagst, was du nicht so meinst, könntest du ebenso gut auch jetzt schon sagen, weshalb ich noch hier bleiben muss.«

Leonardo seufzte, trat mit dem Fuß auf und warf schließlich einen Kiesel mit flachem Schwung übers Wasser.

»Sag’s«, forderte Crestina, »frag doch einfach, ob ich noch immer nicht dort gewesen bin, dann hast du es hinter dir.«

Leonardo starrte sie an.

»Und bist du?«, fragte er dann heftig.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Crestina ruhig.

»Und du weißt noch immer nicht, wann du endlich hingehen wirst?«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Dann müssen wir irgendwann in der Druckerei über die fälligen Steuern reden und über all das, was inzwischen angefallen ist«, stellte Leonardo fest.

»Der Zensus ist auch irgendwann wieder, auch wenn der Termin noch nicht exakt feststeht.« Er machte eine Pause und kniff die Augen zusammen. »Ich frage mich nur, was du dann angeben willst. Zum Beispiel bei den Herdstellen. Vermutlich acht Herdstellen und …«

»… und keine Münder und Seelen«, sagte Crestina heiter, »nicht wahr, das ist es doch, was dich belastet. Auch keine Schafe, Hühner, Schweine, Arkebusen, Gondeln und Kutschen und wie oft ich zur Beichte gehe und die Kommunion empfange.«

»Hör auf«, sagte Leonardo leise, »hör auf. Ich habe nicht so viel Zeit für diesen Unsinn. Ich muss zurückfahren.«

Crestina lachte. »Der Unsinn liegt beim Zensus, nicht bei mir. Kannst du auch nur irgendjemandem normal Denkenden erzählen, dass sie an den Mündern keinesfalls interessiert, dass es Münder sind, sondern nur, wo diese Münder geboren sind? Falls sie zu den florentinischen Mündern gehören, wird ihnen diese ganze Zählerei überhaupt nichts nützen, weil sie in Notzeiten ihr Brot ganz gewiss nicht in unserer Stadt bekommen.«

»Ich möchte abfahren«, wiederholte Leonardo mit Nachdruck. »Zum Netzflicken haben wir dich ganz gewiss nicht hergebeten.«

»Ja, schlimm, dass du mich nun auf dem Hals hast. Aber ich möchte dieses Netz noch fertig flicken«, sagte Crestina und sah sich nach einer der Fischerhütten um. »Tonio bringt mich ganz gewiss nach Hause.«

»Tonio bringt dich nicht nach Hause, wenn ich mit dir hier zusammen gewesen bin«, sagte Leonardo verärgert und lief zum Ufer. »Du wirst mit mir in meinem Boot fahren.«

»Ich könnte immerhin nach Alvise rufen«, sagte sie heiter und schaute angestrengt über die Lagune, »oder nach Marcello. Er ist so ein ewiger Trödler, dass ich ihn ganz gewiss noch erreiche mit meiner Stimme, wenn ich mir nur recht Mühe gebe. Soll ich es dir vorführen?« Sie steckte zwei Finger in den Mund und versuchte zu pfeifen.

Leonardo stieg in das Boot und streckte ihr die Hand entgegen.

»Gib dir keine Mühe, du hast es noch nie gekonnt.«

Sie schob das Netz von ihrem Kleid, steckte die Ahle in den Schnurknäuel, legte das Netz sorgfältig zusammen, wischte die Fussel von sich ab. Alles mit einer Langsamkeit, die ihr eigenes Blut zum Kochen gebracht hätte, wenn dieser Vorgang ihr passiert wäre. Dann ging sie zu ihm hinüber, ließ sich in das Boot plumpsen und lachte.

»Erinnerst du dich eigentlich noch an diesen letzten Zensus, der ja angeblich gut sein soll zur Bekämpfung der Pest, für die Steuer und den Kriegsfall? Irgendwann haben die Bauern in Parma diese Schnüffler, die ihr Vieh zählen wollten, einfach umgebracht, und das ganze Chaos, das diese Behörde zustande brachte, indem sie Männer, Junge und Alte in einen Topf warf, die Säuglinge vergaß, von der Anzahl der Leute, die auf den Galeeren rudern können, ganz zu schweigen, da niemand bereit war, sie anzugeben. Dieses ganze Chaos also kostete sie so viel Geld, dass der Doge dafür ganz gewiss sich einen neuen bucintoro hätte leisten können, da der alte schon längst nicht mehr taugt, um fremde Gäste damit zu beeindrucken.«

Leonardo bediente das Ruder mit steinernem Gesicht, ohne zu antworten.

Crestina atmete erleichtert auf. Wenigstens war dieses Treffen absolut ungeeignet gewesen, um ihr einen neuerlichen Heiratsantrag zu machen, was sie befürchtet hatte. Aber vermutlich wusste er ganz genau, dass ihre Antwort immer noch nein gewesen wäre.

Und es mit einiger Wahrscheinlichkeit auch bleiben würde.

Kapitel 5Besuch aus Nürnberg

Sie stand vor der Tür, auf dem Kopf ein kostbares Gebilde aus Perlen und Spitzen, in dem eine blaugrüne Feder wippte, die blonden Haare waren in dicken Flechten um den Kopf gelegt, auf ihrem Gesicht lag ein leichtes Lächeln. Das lange rote Samtkleid, das die Besucherin trug, war an den Ärmeln geschlitzt und ließ weißen Satin hindurchscheinen, um den Hals trug sie eine grünschwarz schillernde Perlenkette.

Crestina kannte die Frau nicht. Sie erschien ihr ziemlich jung, fast noch ein Mädchen, und sie fand die Kleidung etwas stutzerhaft für dieses Alter.

»Ihr möchtet gewiss zu Mona Livortasso«, sagte sie freundlich, nachdem die Fremde sie weiterhin anlächelte. »Sie wohnt gerade ein Stockwerk unter mir.«

Das Gesicht der Fremden verzog sich etwas, das Lachen wurde deutlicher. »Nein, ich möchte gewiss nicht zu Mona Livortasso«, sagte sie dann mit einem deutlichen Akzent, und Crestina erkannte, dass es sich um jemand handeln musste, der nicht aus Venedig stammte, mit Wahrscheinlichkeit nicht einmal aus diesem Land. Sie versuchte in ihrem Gedächtnis eine Spur zu finden, irgendwo flammte eine Erinnerung auf, verlosch aber sogleich wieder.

»Risi e bisi und die Pegnitz im Rücken«, sagte die Fremde jetzt in gestelztem Ton und begann laut zu lachen, »erinnerst du dich nicht mehr?«

»Margarete?«, fragte Crestina verblüfft, »du kannst nur Margarete aus Nürnberg sein!« Dann riss sie die Fremde in die Arme, umarmte sie, als wolle sie sie nie mehr loslassen.

»Du verdrückst meine kostbare Kopfbedeckung«, wehrte sich Margarete lachend. »Ich habe sie erst vor einer halben Stunde gekauft. Für dich. Damit du dich auch wirklich wunderst.«

»Bestimmt bei Zentano?«, fragte Crestina amüsiert. »In der Nähe der Rialto-Brücke?«

Margarete lachte.

»Genau dort. Und jetzt würde ich eigentlich gerne hereinkommen dürfen.«

Crestina schob Margarete in den Raum, räumte hastig einen ihrer Stühle leer, die mit Büchern bedeckt waren.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Acht Tage«, sagte Margarete und legte den kostbaren Kopfputz behutsam auf den Tisch.

»Und weshalb hast du mich nicht eher besucht?«

»Weil ich Mühe hatte, dich zu finden«, antwortete Margarete. »Im Palazzo öffnete niemand, außer den Tauben auf dem Dach war nichts Lebendiges zu entdecken. Irgendwelche Nachbarn behaupteten, der Palazzo gehöre dir schon lange nicht mehr, du seist bereits vor Jahren ausgezogen und nicht mehr in der Stadt. Andere sagten, du seist auf Torcello, auf Murano, irgendwo an der Brenta in einer Villa. Aber keiner wusste Genaues. Die Letzten, die ich fragte, sagten, du wohnst auf der Giudecca bei einer Fischersfrau, seist mit einem Fischer verheiratet, und als ich die Fischerhütte nach langem Suchen endlich fand, hieß es, du seist vielleicht noch in Cannaregio, aber keinesfalls mit einem Fischer verheiratet. Und du seist vermutlich hier oben …«, Margarete stippte sich an die Stirn, »… leicht gestört, weil du dich durch die ganze Stadt hindurchgewohnt hättest.«

»Das stimmt in etwa alles«, sagte Crestina seufzend. »Bis auf die Villa an der Brenta. Das war die limonaia. Und Gott sei Dank ist hier oben …«, sie stippte sich ebenfalls an die Stirn, »… noch alles in Ordnung.«

»Und womit hast du deine Tage verbracht?« Margarete zog ihre Handschuhe aus und zählte an den Fingern. »Die ungefähr zweitausend Tage, in diesen fünf Jahren, die wir uns nicht gesehen haben?«

»Möchtest du einen Grappa?«, fragte Crestina und bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Wenn wir beide einen nötig haben, weshalb nicht? Auch wenn ich am frühen Morgen sonst nichts trinke, da brauche ich einen klaren Kopf.«

Crestina nahm zwei Becher aus dem Regal, füllte sie, schob einen davon zu Margarete.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie dann, »dafür brauche ich Stunden. Vielleicht erzählst du zunächst einmal, wie es dir ergangen ist. Willst du unser Land kennen lernen, bist du mit einer Lehrerin hier, mit deiner Familie?«

Margarete lachte laut.

»Nein, weder Lehrerin noch Familie und schon gar nicht als Reisende. Ich bin Geschäftsfrau.«

»Geschäftsfrau?« Crestina verschluckte sich fast an ihrem Grappa. »Wieso das?«

»Nun«, Margarete gab der gebogenen Feder ihrer Kopfbedeckung eine andere Richtung und blickte Crestina an.

»Wie du weißt, waren wir doch immer eine Familie, die Geschäfte macht, oder hast du das etwa vergessen? Mein Vater machte Geschäfte, meine Mutter machte Geschäfte, Schreck machte Geschäfte, mein Bruder Lukas versuchte es ebenfalls, auch wenn er früher noch nicht so gut darin war. Dir hat das damals ja alles nie so ganz gefallen. Ich vermute, Nürnberg war für dich und deinen Bruder Riccardo ein Ort des Schreckens. Nichts mit Geist in unserer Familie, keine klugen Bücher, niemand konnte Latein oder Griechisch.«

»Und Lukas?«, fragte Crestina verlegen, die sich nur ungern an jene verquälten Tage in dieser Familie erinnerte, in die sie damals hätte einheiraten sollen.

»Ja, natürlich Lukas«, sagte Margarete bedeutungsvoll. »Er ist inzwischen in der Familie der größte Geschäftemacher. Er ist Waffenhändler geworden und bei uns zu Hause wird nun bei sämtlichen Mahlzeiten über nichts anderes mehr gesprochen, als über die Unterschiede zwischen dem minderwertigen Kölner Harnisch und dem hervorragenden Nürnberger Harnisch und dass der herkömmliche Fußknechtsharnisch jetzt endlich von einem tausendmal besseren überholt worden sei.«

»Nicht mehr über Zima des Taquila, Zima Duschkani, Zima des Bullia«, zählte Crestina lachend auf und fuhr dann stockend fort, »Terra dorta, Catalon, Mettel, Morokin, Mendis, Proventisch?«

»Nein, nicht mehr über Zima Duschkani und Terra dorta und Morokin«, seufzte Margarete, »und viel behalten hast du ganz offensichtlich von diesen Safransorten nicht – du wirfst sie alle durcheinander, die französischen, die italienischen und die spanischen.«

»Und wer kümmert sich dann um den Duschkani und den Morokin und all diejenigen, die ich über einen Haufen werfe?«, wollte Crestina wissen.

Margarete wog den Becher in ihrer Hand.

»Ich«, sagte sie dann lächelnd. »Zumindest für den Augenblick. Aber natürlich gibt es auch noch einen Faktor, mit dem ich mich gut stellen muss.«

»Du gehst in den Spuren eines Safranhändlers?« Crestina fragte zweimal, weil es ihr kaum glaubhaft erschien.

Margarete lachte.

»Zumindest mal auf Probe. Wenn du zufällig am fondaco tedesco vorbeikommst, kannst du mich ganz gewiss im Innenhof sehen, wie ich irgendwelche störrischen Maulesel anbrülle oder saftige Flüche auf die Ballenbinder hinunterlasse, weil etwas nicht so geht, wie ich es will. Fluchen kann ich nämlich inzwischen so gut wie meine Mutter. Oder mein Onkel Schreck. Sogar auf Italienisch.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Crestina ungläubig.

»Weshalb nicht? Eine Frau, die in unserem Gewerbe nicht flucht, kommt nicht weit. Und mein Vater ist bereits drei Jahre tot, ich werde in seine Stelle ganz langsam hineinwachsen. Hoffe ich zumindest, wenn mir nicht noch etwas anderes einfällt. Zum Beispiel etwas, was nur mir gehört, etwas, was ich mir selber ausgedacht habe.«