Die Tore nach Thulien - 6. Episode - Der geheime Rat - Jörg Kohlmeyer - E-Book

Die Tore nach Thulien - 6. Episode - Der geheime Rat E-Book

Jörg Kohlmeyer

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Beschreibung

Liam kann seine Familie retten, ist aber gezwungen, sich fortan hinter den feindlichen Linien durchzuschlagen. Von den Entbehrungen der Flucht gezeichnet, zieht die kleine Schar hungrig und gehetzt durch das leergefegte Grenzland. Den Schrecken des Krieges hilflos ausgesetzt, verrohren sie zusehends, bis der Mangel an Menschlichkeit schließlich in einer grotesken Tragödie gipfelt, die Liam zu zerreißen droht. Erst das Treffen mit dem seltsamen Mauser birgt Hoffnung auf Besserung, doch auch hier wird schnell offenbar, dass Gutes immer auch seinen Preis hat. Grodwig indes erfährt durch die zahllosen Flüchtlinge von den schrecklichen Geschehnissen im Westen und beschließt zu handeln. Er befiehlt die stehenden Truppen zur Leue, zieht damit jedoch die Aufmerksamkeit der Krone auf sich. Der König hat andere Pläne und lässt ihn seinen Unmut deutlich und in aller Härte spüren. Weitere Morde erschüttern kurz darauf die Herzogstadt, und Taris und die anderen sehen sich urplötzlich einem Komplott gegenüber, das bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft reicht. DER GEHEIME RAT ist die sechste Erzählung der "Tore nach Thulien", mit der wir euch in die phantastische, glaubwürdige und erwachsene Welt von Thulien entführen möchten. In den drei Buchreihen Wilderland, Leuenburg und Schlachtgesänge geben wir euch die Möglichkeit, aktiv an der Entstehung der Geschichten und dem Ausbau der Welt teilzuhaben. Wir schreiben Geschichten … und ihr könnt mitmachen! Wie genau das funktioniert, und noch weit mehr, erfahrt ihr auf der Website Tore-nach-Thulien.de. 1. Auflage Umfang: 215 Buchseiten Null Papier Verlag

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Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

Fantasy Roman

 

 

 

Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

6. Episode – Der geheime Rat

(LEUENBURG)

 

 

Coverhintergrund und Logogestaltung: Diana Rahfoth

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2014 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-484-2

www.null-papier.de/tnt

 

 

Zum Buch

Danke, dass du mit dem Kauf dieses ebooks das Indie-Literatur-Projekt »Tore nach Thulien« unterstützt! Das ist aber erst der Anfang. Lass Dich von uns zu mehr verführen…

Was sind die »Tore nach Thulien«?

Die „Tore nach Thulien“ sind Dein Weg in die phantastische, glaubwürdige und erwachsene Fantasy-Welt von Thulien. Sie werden Dir die Möglichkeit geben, mit uns gemeinsam an den großen Geschichten zu arbeiten und der Welt mehr und mehr Leben einzuhauchen.

Unter www.Tore-nach-Thulien.de kannst du uns besuchen und Näheres erfahren. Wir freuen uns auf Dich!

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Per Mehrheitsentscheid machen wir am Ende der Abstimmungen dann den nächsten Schritt auf unserem gemeinsamen Weg durch Thulien. Wir würden uns freuen, wenn du uns begleitest!

Autor

Jörg Kohlmeyer, geboren in Augsburg, studierte Elektrotechnik und arbeitet heute als Dipl.-Ing. in der Energiewirtschaft. Schon als Kind hatte er Spaß am Schreiben und seine erste Abenteuergeschichte mit dem klangvollen Namen »Die drei magischen Sternzeichen« passt noch heute bequem in eine Hosentasche.

Der faszinierende Gedanke mit Bücher interagieren zu können ließ ihn seit seinem ersten Kontakt mit den Abenteuer Spielbüchern nicht mehr los und gipfelte im Dezember 2012 in seinem ersten Literatur-Indie-Projekt »Die Tore nach Thulien«. Immer dann wenn neben der Familie noch etwas Zeit bleibt und er nicht gerade damit beschäftigt ist, seinen ältesten Sohn in phanatasievolle Welten zu entführen arbeitet er beständig am Ausbau der Welt »Thulien«.

www.Tore-nach-Thulien.de

 

Beunruhigende Nachrichten

Lang waren die Schatten geworden. Vielgliedrig und verzerrt fingerten sie an den mit Efeu überwucherten Wänden entlang, wölbten sich über die wenigen flackernden Lichter im Hof und krochen an trüb verschmutzten Fensterscheiben empor. Mit jedem Lidschlag ragten sie ein Stückchen weiter über die Mauern und Türme der Herzogburg, wohl wissend, dass ihnen die Nacht auf dem Fuße folgte. Hier und da tanzte ihnen trotzig und wild der Schein von Fackel und Kerze entgegen, und mancherorts leisteten kräftige Flammen vereinzelter Lagerfeuer tapfer Widerstand. Am Ende aber war es nur ein Spiel auf Zeit, und kaum mehr als der klägliche Versuch, die Welt nicht einfach so der Dunkelheit zu überlassen.

Zu dieser Stunde waren im oberen Burghof nur noch wenige Menschen unterwegs. Der Stallbursche schleppte hastig den letzten Ballen Stroh für diesen Tag zu den Pferden, und irgendwo im Halbdunkel dahinter hallte das raue Lachen der beginnenden Nachtwache von den Wänden. Eine Katze schlich am Mauerrand entlang, sprang auf ein paar Fässer und balancierte schließlich behände über das alte Wasserrohr rauf zum Dach der kleinen Backstube. Unheimlich schimmernd fingen ihre facettenreichen Augen das letzte Bisschen Tageslicht ein und machten das aus ihr, was man am hellen Tag gerne mal übersah: einen eleganten und präzisen Jäger. Rasch überquerte sie in zwei langen Sätzen den First, kratzte über lockere Schindeln und verschwand schließlich irgendwo im Halbdunkel des Wehrgangs.

Die Nacht begann in aller Ruhe, und wären die Geschehnisse der letzten Wochen nicht gewesen, man hätte in ihr einen schönen, milden Frühlingsabend sehen können. So aber ließ sich Grodwig nicht von der verführerischen Ruhe täuschen, auch wenn er sich ihr, von der Reise übermüdet und durch die Verletzung geschwächt, am liebsten hingegeben hätte. Sie war trügerisch und verschleierte auf besonders geschickte Art, was sich wirklich unter ihrem sanften Kleid verbarg.

Die Angst hatte Leuenburg gepackt. Sie hielt die Stadt fest im Griff und drückte jeden Tag ein bisschen fester zu. Mit den Sabotageakten der Skorpione und vereinzelten Gerüchten über Widergänger hatte es begonnen, und jetzt, nur wenige Wochen später, sorgten die unzähligen Schauergeschichten der Flüchtlinge vor den Toren der Stadt dafür, dass die Dinge Gefahr liefen, außer Kontrolle zu geraten.

Grodwig kannte sie alle. Jeden Bittsteller hatte er geduldig angehört und ihnen gestattet, ihre ganz persönlichen Geschichten zu erzählen. Vielen tat es dabei einfach nur gut, bei der Obrigkeit Gehör zu finden, und nicht Wenige standen zum ersten Mal in ihrem Leben der herrschenden Klasse gegenüber. Sie redeten sich das Leid von der Seele, neigten demütig den Kopf und überschütteten ihn anschließend mit Danksagungen und Lobpreisungen. Einige aber nutzten selbst diesen schweren Schlag des Schicksals aus. Sie brachten innere Querelen vor, schwärzten unliebsame Leidensgenossen an oder pochten engstirnig auf dieser oder jener Vereinbarung. Am Ende jedoch war Allen die Rede von Mord und Totschlag gemein, und jeder sprach mit Grauen von den unbekannten Gestalten, die in vollkommener Stille ihr grausames Werk verrichteten.

Das Unbekannte machte den Menschen seit jeher Angst. Grodwig konnte, und wollte, es ihnen nicht verdenken. Es waren einfache Bauern, die kaum mehr als das eigene Dorf gesehen hatten und mit Mythen und Ammenmärchen groß geworden waren. Selbst ihm, der um die geheimnisvolle Identität dieser hellen Gestalten wusste, machte deren Anwesenheit zu schaffen. Eigentlich hatte er gedacht, deutlich gefasster zu sein.

Nachdenklich wandte er sich vom Fenster ab. Lange Zeit schon hatte er geahnt, dass es mit dem seltsamen Teilfrieden der letzten Jahre bald zu Ende sein würde. Die Vorzeichen waren nicht zu übersehen. Dass der Krieg aber mit einer derartigen Geschwindigkeit heraufzog, überraschte ihn dann doch. Diese rasche Entwicklung hatte er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorgestellt. Bei der Herrin, wie sehr hatte er sich geirrt!

Jetzt war er froh, den Reichstag früher als geplant verlassen zu haben. Und trotz allen Gegenwinds war er fest entschlossen. Abgewogen und das Für und Wider betrachtet hatte er zu Genüge. Jetzt wollte er nicht mehr länger auf Nachricht vom König warten. Die erste Entscheidung war gefallen.

Er sah zu Ritter Tolidan. »Morgen früh öffnen wir die Tore und lassen die Flüchtlinge in die Stadt. Ihr werdet dafür sorgen, dass alle anständig versorgt und untergebracht sind.«

Tolidan nickte, und obwohl die Geste eigentlich keine Fragen offen ließ, sprach sein Blick eine ganz andere Sprache. Große Zweifel lagen in den wachen Augen von Grodwigs engstem Berater. »Seid Ihr Euch sicher, mein Herr? Wir wissen nicht, ob sich Incubi unter den Menschen befinden. Und bitte vergesst nicht, dass wir den Kutscher dieses verwahrlosten Wagens bis heute nicht gefunden haben.«

»Das Risiko gehe ich ein! Wir sind nun gewarnt, und die Gefahr einer umfassenden Wiederkehr ist gering. Lieber schlage ich mich mit zwei oder drei verfluchten Widergängern in Leuenburg herum, als die beiden größten Geißel der Menschheit, Zwietracht und Verrat, entfesselt in den eigenen Reihen zu sehen. Wenn wir den Menschen dort draußen nicht helfen…«, er deutete mit dem Arm zum Fenster, »… wird das für Unfrieden sorgen. Unfrieden, der uns am Ende unsere Einigkeit kosten könnte. Und wenn wir uns etwas nicht leisten können, dann sind es Zwietracht und Verrat!«

»Ihnen jetzt auf die Beine zu helfen, ist kein Problem. Wie aber sollen wir die zusätzlichen Mäuler auf Dauer stopfen. Es ist Frühling und die Stadt platzt jetzt schon aus den Nähten!«

Grodwig griff nach seinem Schwertgurt und schnallte ihn um die Hüfte. »Wie Ihr schon sagtet: Es ist Frühling! Die Lagerhäuser im Treidelhafen sind prall gefüllt. Die nächsten Wochen werden wir also keine Probleme haben.«

Tolidan verzog verständnislos das Gesicht. »Ihr wollt die Bestände der Kaufleute requirieren? Das wird für Unruhe sorgen und die Leute auf die Barrikaden bringen.«

Grodwig prüfte den Sitz seines Schwerts und hob die Stimme. »Die Bestände aus den Lagerhäusern zu requirieren ist rechtens. Und die paar aufgeregten Kaufleute kann ich verwinden. Außerdem zapfen wir die Häuser erst an, wenn die anderen Vorräte zur Neige gehen. Noch besteht also kein Grund zur Panik.«

Tolidan erstarrte. »Rechtens sagt Ihr?« Sein Blick fiel auf die Bewaffnung des Herzogs und er runzelte die Stirn. Offenbar wurde er sich erst jetzt der Zusammenhänge bewusst. Immerhin trug der Herzog sein Schwert innerhalb der Burg nur in Kriegszeiten. »Ihr wollt das Kriegsrecht ausrufen!«, schlussfolgerte er und suchte verstört den Blick seines Herzogs.

Grodwig nickte. »Das wird notwendig sein. Ihr erfahrt mehr, wenn die Mitglieder des geheimen Rates eingetroffen sind.«

»Geheimer Rat?« Jetzt sah der Ritter vollkommen verwirrt und auch etwas hilflos drein.

Grodwig hob beschwichtigend eine Hand. »Habt noch einen Moment Geduld. Adun muss jeden Augenblick…«, er brach ab, als er sah, wie die Tür zum Gemach geöffnet wurde. Er wusste, dass es Adun war. Nur seinem persönlichen Leibwächter war es gestattet, die Tür unaufgefordert und ohne vorheriges Anklopfen zu öffnen.

Ächzend knarrte das Holz und schwerfällig schwang es nach innen auf. Der groß gewachsene Leibwächter des Herzogs trat stumm durch den steinernen Rahmen, schloss die Tür hinter sich und ging auf seinen Herzog zu. Er trug noch immer die verdreckte Uniform der Reise. Lediglich sein Gesicht hatte er von den gröbsten Schlammresten befreit. Mit einer leichten Verbeugung blieb er vor Grodwig stehen.

»Außer Euch und Ritter Tolidan sind alle Mitglieder des geheimen Rats versammelt, mein Herr. Sie warten im Kartenraum. Das hier kam eben aus Königsbrück.« Er neigte kurz den Kopf, reichte Grodwig ein kleines Pergament und trat zur Seite. Tolidan begrüßte er mit einem stummen Nicken.

Der Herzog warf einen flüchtigen Blick auf die in winzigen Buchstaben geschriebene Botschaft, und schob sie anschließend unter den Wappenrock. Seine Miene war wie versteinert. »Die Dinge im Reich verschlechtern sich und nehmen immer schneller ihren Lauf. Die Zeit drängt! Folgt mir, Tolidan!«

Ohne ein weiteres Wort verließ der Herzog, gefolgt von seinen Rittern, das Gemach. Adun benötigte in seiner Funktion als Leibwächter keine Einladung. Solange Grodwig nichts anderes befahl, wich ihm der kampferprobte Ritter nicht von der Seite. Wie ein Schatten folgte er seinem Herrn und verstand es, dabei weder aufdringlich noch nervig zu wirken. Er hielt sich stets im Hintergrund und beobachtete.

Rasch und mit weit ausholenden Schritten führte Grodwig die beiden Ritter über die abgetretenen Stufen nach unten. Der Kartenraum befand sich im südlichen Anbau des Bergfrieds und wurde in Krisenzeiten oft als Beratungszimmer genutzt. Im Frieden fand er hingegen nur selten Beachtung. Er verstaubte zusehends und diente der Dienerschaft als Abstellkammer. Heute aber hatte das Gesinde den Kartenraum in aller Eile hergerichtet. Stühle waren gereinigt, das schwere Butzenglas gesäubert, und der große Holztisch auf Vordermann gebracht worden.

Als Grodwig den kleinen Saal betrat, stieg ihm sofort der trockene und leicht stickige Geruch von altem Pergament in die Nase. Im Kamin an der langen Seite brannte ein Feuer und zwei schmiedeeiserne Kerzenständer erleuchteten den Tisch. Die kahlen Wände hatte man notdürftig mit alten Wandteppichen dekoriert, doch selbst deren gestickte Motive konnten, trotz der heroischen und kraftvollen Art, nicht über ihren schlechten Zustand hinwegtäuschen. Ausgefranst und zerschlissen hingen sie gelangweilt bis zum Boden herab und machten klar, dass dieser Raum eher kurzfristig und überhastet hergerichtet worden war.

Die unfreiwilligen Ratsmitglieder stellten abrupt ihre Unterhaltungen ein und verbeugten sich. Fast allen sah Grodwig die Verwunderung über diese nächtliche Zusammenkunft an. Ohne ein Grußwort trat er ans hintere Tischende und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Ritter Tolidan bestellte er an seine rechte, Uriel, den Erlöser Leuenburgs, an seine linke Seite. Der Rest durfte sich nach eigenem Dafürhalten am Tisch verteilen.

Als alle saßen und ihre Blicke allein auf ihm lagen, nahm auch er Platz. Ausgiebig musterte er jeden der Anwesenden. Sie alle kannten nur Bruchstücke der ganzen Wahrheit und wussten nicht, was er wusste. Der Zeitpunkt, das zu ändern, war gekommen. Vorher aber musste er unbedingt noch wissen, woran er an ihnen war. Sein Vorhaben musste nicht jedem gefallen.

Die sich rasch über den Raum legende Stille wog schwer und kurz bevor sie begann unerträglich zu werden, ergriff Eirik plötzlich das Wort. Der Medikus rutschte, selbst für sein Alter, viel zu ungelenk auf seinem Stuhl herum, stöhnte auf und räusperte sich. »Verzeiht einem alten Mann seine neugierigen Fragen, mein Herr.« Die Stimme war trocken und rau. Sie passte hervorragend in den alten Kartenraum. »Warum habt Ihr uns, noch dazu in dieser ungewöhnlichen Konstellation, hierher bestellt?« Er lächelte mehr gequält denn entschuldigend. »Es ist spät und meine müden Knochen rufen nach Daunenfeder und Bettpfanne.«

Grodwig ignorierte ihn zunächst. Er holte tief Luft und setzte eine ernste Miene auf. »In dieser Runde brauche ich nicht zu sagen, dass Leuenburg und das Herzogtum in Gefahr sind, wohl aber, dass unsere Heimat allein steht und Hilfe braucht.« Kurz ließ er die Worte wirken, ehe er mit einem Blick in die Gesichter der Anwesenden fortfuhr. »Jeder, der an diesem Tisch sitzt, hat sich um das Herzogtum verdient gemacht. Jeder auf seine eigene Art und den eigenen Beweggründen folgend. Egal ob Heiler, Priester, Gardist, oder Handwerker, ihr alle seid Teil dieser Stadt, und nicht zuletzt deshalb ab heute Mitglied im geheimen Rat von Leuenburg. Unter meiner Führung tagen wir von nun an im Verborgenen und nehmen uns künftig gemeinsam der Sorgen und Nöte unserer Heimat an.«

Erst nach einer kurzen Pause ging er auf Eiriks Frage ein. »Krieg zieht auf, Eirik, und er unterscheidet nicht nach Geburt oder Handwerk. Müde Knochen und hohes Alter fallen ihm meist als Erste zum Opfer. Eigentlich solltet Ihr das wissen, immerhin habt Ihr viele mitgemacht.« Grodwig mochte Eirik und schätzte die nüchterne Art, wie er Probleme anging. Er kannte ihn aber auch gut genug, um zu wissen, dass der alte Zausel sein Alter gerne als Schild vorneweg trug und oft nur so tat, als könne er kein Wässerchen trüben. »Vergesst Daunenfeder und Bettpfanne, und macht Euch lieber wieder mit Schwert und Schild vertraut!«

»Sehr wohl mein Herr! Ich werde mein Möglichstes tun.« Eirik lehnte sich zurück und schmunzelte. »Erwartet in der Hinsicht aber bitte keine Wunder. Ich heile Wunden und schlage sie nicht.« Er senkte den Kopf und faltete unschuldig die Hände.

Als das erledigt war, richtete Grodwig das Wort an Taris, den Hauptmann der Stadtwache. »Erzählt mir von den Flüchtlingen, Taris! Wie viele Menschen lagern inzwischen draußen vor den Toren? Sind sie wohlauf?«

Der Hauptmann war sichtlich überrascht, als Erster sprechen zu dürfen. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich fing. »An die zwanzig Familien harren außerhalb der Mauer aus, mein Herr. Von Stunde zu Stunde werden es mehr, und alle haben Hunger. Einige sind verwundet, manche krank. Viele haben keine Kraft mehr zu laufen und der Schrecken des Erlebten sitzt ihnen im Nacken.«

Grodwig nickte. »Ja, davon habe ich gehört. Ritter Tolidan hat den Befehl erhalten, morgen früh die Tore zu öffnen und die Flüchtlinge in die Stadt zu lassen. Sie bekommen zu Essen, eine Unterkunft und medizinische Versorgung.« Kurz ging sein Blick zu Eirik. »Ihr werdet Euch darum kümmern. Stimmt Euch mit Tolidan ab!«

Der Medikus von Leuenburg nickte ergeben und murmelte seine Zustimmung.

Grodwig saß kerzengerade im Stuhl. Noch vertraute er nicht vollends allen Ratsmitgliedern, allen voran Uriel und Bruder Malachias. Sie waren Männer der Kirche und nur dem Erzdelegaten zur Treue verpflichtet. Die beiden vor die Wahl zu stellen, und sie zwischen dem Erzdelegaten und dem Herzogtum entscheiden zu lassen, war heikel. Was, wenn sie sich auf die Seite des Obersten der Kirche stellten? In jedem Fall wollte er ihre Meinung zu den Dingen hören. Ob und inwiefern sie am Ende wirklich ausschlaggebend für ihr weiteres Schicksal war, würde sich zeigen. Er musste vorsichtig sein und behutsam vorgehen.

Wieder schickte er seinen Blick mit unbewegter Miene in die Runde. Alle außer Uriel hielten ihm nur wenige Sekunden stand. Schließlich rieb er sich nachdenklich das Kinn. »Was meint ihr, ist der Grund für die Flucht und das Elend dieser Leute?« Diesmal hatte er die Frage einfach in den Raum geworfen und jeder durfte sich angesprochen fühlen.

Als keiner etwas sagte, ergriff Ritter Tolidan das Wort. »Nun, wenn man den Geschichten glauben darf, ist ein unbekannter Feind im Westen des Reichs eingefallen. Er brandschatzt, mordet, und treibt die Menschen vor sich her.«

Zustimmendes Gemurmel und nickende Köpfe waren die Folge.

»Man sagt, unzählige Widergänger suchen die freie Küste und die Grenzlande heim«, warf Bruder Malachias mit einem Seitenblick auf Uriel ein.

»Das ist nicht bewiesen!«, schnarrte Eirik ungehalten und hob belehrend einen Finger. »Was dort wirklich vorgefallen ist, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen.«

»Ihr müsst aber zugeben, dass dieser Feind, den Beschreibungen der Flüchtlinge nach zu urteilen, den Widergängern hier in Leuenburg verdammt ähnlich sieht.« Es war Uriel, der Eiriks kritische Aussage in aller Ruhe konterte.

Eine neuerliche Erwiderung blieb ihm der Medikus schuldig. Er verschränkte nur die Arme vor der Brust und zog die Mundwinkel fast bis zum Kinnansatz nach unten.

»Spielt es denn eine Rolle, wer Häuser verbrannt und Kinder um ihre Eltern gebracht hat? Reicht es nicht, zu wissen, dass es passiert ist?« Der Einwurf kam von Taris.

Grodwig fixierte den Hauptmann eingehend. Prinzipiell hatte er ja Recht, doch leider war seine Betrachtung zu kurzsichtig. Er machte es sich damit, wenn auch unbewusst, zu einfach.

»Ja, das tut es!« Grodwig ließ seine Baritonstimme besonders kräftig durch den Kartenraum hallen. »Auf einen unbekannten Feind, der noch dazu den Seeweg nutzt, kann man sich nicht vorbereiten. Er taucht überraschend auf und schlägt hart zu.« Es klatschte laut, als er sich mit der Faust kräftig in die offene Handfläche schlug.

»Doch wehe dem…«, er hob mahnend einen Finger und ließ es so aussehen, als streife sein Blick rein zufällig Uriels Gestalt. »Wehe dem, der alte Geschichten stolz und überheblich ignoriert, Warnungen in den Wind schlägt und sich in die eigene Tasche lügt! Mit ihm wird es ein böses Ende nehmen.« Es gelang ihm nur mit Mühe, den aufgestauten Frust der letzten Jahre aus der Stimme zu verbannen. Gerne hätte er sich Luft verschafft, doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Er wollte die Reaktion des Erlösers nicht verpassen und musste seine Gefühle im Zaum halten. Außerdem brauchten sie nicht wissen, wie lange er schon gegen die substanzlosen Geister der Einfältigkeit focht.

»Aber mit genau diesem unbekannten Feind werden wir doch gerade konfrontiert, Herzog Grodwig.« Uriel beugte sich nach vorne und blickte in die Gesichter der anderen.

Grodwig wandte sich ihm zu. Offenbar verstand der Erlöser sehr wohl, wem seine prophetischen Worte gegolten hatten. Zumindest fühlte er sich angesprochen.

Uriel erwiderte seinen Blick ungerührt. »Es ist richtig, dass die Incubi in den Schriften der Altvorderen Erwähnung finden. Auch belegen Aufzeichnungen, dass Widergänger seit jeher im Reich in Erscheinung getreten sind. Vereinzelt, isoliert, und von den Protektoren der Kirche gnadenlos verflogt. Aus dieser Warte heraus betrachtet, sind sie für die Kirche wirklich keine Unbekannten mehr. Aber…«, er hob belehrend einen Finger. »und ich spreche jetzt nur für mich selbst.« Seine Aufmerksamkeit galt nun Eirik. »Ich muss zugeben, dass Meinesgleichen nicht wirklich viel über sie weiß. Zu selten geschah es bisher, und zu schnell wurden sie von den Glaubensbrüdern des Protektoriums dem reinigenden Feuer der Erlösung übergeben. Sich dabei nur auf alte Bücher und Folianten zu verlassen, reicht nicht aus.«

Er machte eine kurze Pause, stand auf und sah eindringlich zu Grodwig. »Eine derartige Wiederkehr hat es seit den Tagen der großen Einigungskriege nicht mehr gegeben. Und das, was sich die Flüchtlinge vor den Toren erzählen, stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Wer im Reich hätte damit rechnen sollen?« Als er wieder Platz nahm, suchte er vor allem den Blick seiner Mitstreiter der letzten Tage.

Grodwig fiel auf, dass alle, sogar Eirik, ihm bestätigend zunickten. »Ist das so, Erlöser? Weiß die Kirche wirklich so wenig über sie?« Forschend suchte er in Uriels Augen nach der Wahrheit.

Der Erlöser blieb trotz des bohrenden Blickes ruhig. »Mein Wissen ist das der alten Schriften. Ich bin in der Lage, Widergänger zu erkennen und weiß, wie man sie bekämpft. Die Kirche vermag noch weitaus mehr auszurichten. Der Herrin sei Dank bin ich aber nicht die Kirche. Die Kirche ist das, was wir aus ihr machen.«

»Amen!«, schloss plötzlich Asenfried, sehr zur Überraschung der anderen, die Rede des Erlösers. Gelangweilt fuhr sich der Schmied vom alten Markt mit einer schwieligen Hand durch den Bart und fixierte den wuchtigen Holztisch. Er selbst dachte sich offenbar nichts dabei, doch erntete er sofort einen missbilligenden Blick von Bruder Malachias. Eirik hingegen schmunzelte.

Grodwig ging gar nicht darauf ein. »Verabschiedet Euch von dieser Vorstellung, Uriel! Weder Ihr, noch ich, noch sonst wer, außer dem Erzdelegaten, machen die Kirche. Der Erzdelegat IST die Kirche. Was er sagt, passiert, und sein Einfluss bei der Krone ist enorm. Vollkommen Unrecht habt Ihr aber trotzdem nicht, Ihr müsst es nur anders formulieren: Nicht wir machen die Kirche, sondern wir haben die Kirche machen lassen!«

Eisige Stille breitete sich augenblicklich im Saal aus. Grodwig war sich der Bedeutung seiner Worte durchaus bewusst, doch wollte er damit nicht mehr hinter dem Berg halten. Viel zu lange schon wurde es im Reich so gehandhabt.

Bruder Malachias sog bei seiner Bemerkung scharf die Luft ein. Er schickte einen vorsichtigen Blick in Richtung Uriel.

Der Erlöser blieb, trotz der unverhohlenen Schuldzuweisung, ruhig sitzen. Er antworte nicht gleich, sondern schien sich seine Worte gut zu überlegen. Die ohnehin schon geladene Stimmung im Raum trieb er damit auf die Spitze.

»Entweder ist Euer Vertrauen in Bruder Malachias und mich grenzenlos, oder aber Ihr werdet auf andere Art dafür sorgen, dass diese Ketzerei niemals offenbar wird.«

Jetzt war es Grodwigs Gesicht, in dem alle nach einer Antwort forschten. Auch er ließ auf sie warten und sagte im ersten Moment gar nichts. Er saß nur da und sah Uriel in die Augen. Die anderen wagten nicht, sich zu rühren oder gar das Wort zu ergreifen. Irgendwann aber lächelte er und die Anspannung verschwand.

»Würde ich Euch und Bruder Malachias nicht vertrauen, wäret ihr gar nicht erst hier.« Das er ihnen vertraute war natürlich glatt gelogen, doch wie sonst sollte er sich ihrer Loyalität versichern?

Uriel erwiderte das Lächeln und neigte respektvoll den Kopf. »Dann werden wir bleiben und nicht mehr über Ketzerei sprechen.« Jetzt entspannte sich die Lage endgültig und das Eisige verschwand aus der Luft.

Grodwig nickte zufrieden und erhob sich. Obwohl Uriel den ersten Test bestanden hatte, konnte von echtem Vertrauen noch keine Rede sein. Die Herrin mochte ihm die kleine Lüge von eben verzeihen.

»Und dennoch wird euch, und damit meine ich alle hier im Raum, nicht gefallen, was ich zu sagen habe.« Er schob seinen Stuhl nach hinten und umrundete langsam den Tisch. »Hören wir auf, uns etwas vorzumachen. Ihr kennt die Geschichten der Flüchtlinge. Ihr wisst, was man sich auf den Straßen erzählt und einige von euch sahen bereits Dinge, die man nur aus alten Legenden und Ammenmärchen kennt.«

Am anderen Ende des langen Kartentischs angelangt, blieb er stehen und machte eine kurze Pause. Sein Blick ging in weite Ferne und die Stimme wurde farblos. »Vergesst, was man euch in Kindertagen erzählt hat! Die Ammenmärchen und alten Legenden sind mehr als nur gute Unterhaltung. Sie sind wahr! Wir wurden alle belogen!«

Außer, dass sich die Ratsmitglieder gegenseitig ungläubige Blicke zuwarfen, geschah im ersten Moment gar nichts. Dann aber fingen alle gleichzeitig an zu sprechen, und ein wildes Durcheinander setzte ein. Tolidan und Taris steckten besorgt die Köpfe zusammen, und Eirik lieferte sich mit Uriel ein wildes Wortgefecht quer über den Tisch. Bruder Malachias versuchte, seinen Erlöser nach besten Kräften zu unterstützen, doch Eirik ließ sich den Schneid diesmal nicht abkaufen. Der alte Medikus hielt mit einer Vehemenz dagegen, die ihm Grodwig gar nicht mehr zugetraut hatte.

Zunächst ließ der Herzog sie machen. Bald schon wurde es ihm aber zu bunt und er gab Adun ein Zeichen. Von den Ratsmitgliedern vollkommen unbemerkt, trat der Leibwächter vor, zog sein Schwert und ließ es mit der flachen Klingenseite auf den Tisch krachen. Es schepperte furchtbar, und augenblicklich verstummten die Gespräche. Erschrocken und mit großen Augen sahen sie Adun an.

Nur Asenfried nicht. Der Schmied vom Alten Markt lehnte sich vollkommen unbeteiligt nach vorne, fuhr mit der Hand über den blanken Stahl und verzog anerkennend den Mund. »Eine gute Arbeit. Könnte von mir sein. Nur schade um den schönen Tisch.«

Adun sagte nichts dazu. Stumm zog er das Schwert zurück und steckte es wieder in die Scheide.

»Mit einem Durcheinander wie diesem wurde noch keine Schlacht gewonnen!«, donnerte Grodwig erbost durch den Raum. »Aber Schlachten stehen uns bevor, ob wir wollen oder nicht. Das Reich der Herrin wird angegriffen! Von außen wie von innen!« Mit kräftigen Schlägen auf den Tisch unterstrich er seine Worte. »In diesem Moment, da ich hier stehe und vor euch spreche, fallen die Grenzen der Westlande bereits in die Hand des Feindes. Die Überlebenden dieses Massakers lagern hier vor unserer Stadt.« Er deutete mit einem Arm in Richtung Stadttor. »Krieg zieht auf, und schon bald wird er uns an der Leue seine hässliche Fratze offenbaren!«

»Soll er ruhig kommen. Ich bin bereit«, entgegnete eine Stimme in beinahe schon unheimlicher Gelassenheit. Es war das erste Mal, dass Asenfried vom Tisch aufsah und Grodwig in die Augen blickte.

»Diese hellen Bastarde haben mir meinen Sohn genommen. Dafür werden sie büßen!« Kraftvoll ballte er die Hände solange zu Fäusten, bis das Weiß der Knochen sogar unter der vom Ruß stark verfärbten Haut hervortrat.

Entschlossen presste Grodwig daraufhin die Lippen aufeinander. Er ging zu seinem Platz zurück und senkte die Stimme. »Wir alle müssen bereit sein, Asenfried. Wenn es beginnt, kann sich niemand mehr erlauben, wegzugucken. Aber habt noch etwas Geduld, Eure Stunde wird kommen.« Er setzte sich hin und suchte nach der kleinen Pergamentrolle unter seinem Wappenrock.

»Verzeiht mir die Frage, Herr, aber woher wisst Ihr das alles?« Eirik rutschte auf seinem Stuhl ein wenig hin und her und sah Grodwig neugierig an. Auf ein Stöhnen verzichtete er diesmal.

Der Herzog spannte sich. Eigentlich wollte er die Antwort auf diese Frage erst später erörtern, nun aber war Eirik ihm zuvorgekommen. Zeit also, früher als geplant in den Gefühlen und Überzeugungen des Erlösers herum zu stochern.

»Weil es das bestgehütete Geheimnis im Reich ist und ich das Glück…«, er hielt inne und lächelte ironisch. »… oder sagen wir besser weil mir die Gnade zuteil wurde, zum kleinen Kreis der Eingeweihten gehört zu haben. Der König, der Erzdelegat, der Innere Zirkel und der Erlöserrat wussten seit Langem, dass uns diese Plage einst heimsuchen würde.« Sein Blick wurde hart und erbarmungslos, und wieder blieb er alles andere als zufällig auf Uriel liegen. »Und als es dann soweit war, und erste Anzeichen offenbar wurden, wollten sie plötzlich nichts mehr davon wissen. Sie taten es als Humbug und Hirngespinst unserer Vorfahren ab, und ignorierten alle Vorzeichen. Womöglich glaubten sie am Ende auch einfach nur ihre eigenen Lügen und Verleumdungen.«

Uriel zuckte zusammen. »Welche Lügen, welche Vorzeichen? Ihr bringt da schwerwiegende Anschuldigungen vor, Herzog Grodwig. Ich hoffe für uns alle, dass sie nicht haltlos oder einfach aus der Luft gegriffen sind. Und mit Ketzerei hat das nichts zu tun!« Der Erlöser von Leuenburg saß mit äußerst kritischer Miene da und wartete auf eine Erklärung.

Grodwig zog die Hand wieder unter dem Wappenrock hervor und ließ das kleine Pergament wo es war. Mal sehen, wie der Erlöser auf weltliche Gewalt reagierte, die nicht vom Erzdelegaten korrumpiert worden war. »Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig, Erlöser!«, polterte er. Gleich darauf wurde seine Stimme schneidend wie geschliffener Stahl. »Und stellt meine Aufrichtigkeit nie wieder in Frage! Nur der allgemeinen Verwirrung wegen sehe ich Euch dieses eine Mal nach. Nur dieses eine Mal!«

Uriel hielt dem Blick des Herzogs stand und formulierte seine Frage anders. »Erzdelegat Marius ist ein tiefgläubiger und frommer Mensch. Er ist der oberste Führer des Glaubens und kennt die Schriften der Altvorderen wie kein Zweiter. Widergänger und Seelenfänger gehören zum Glauben dazu. Für ihn sind das keine Ammenmärchen oder Mythen. Genauso wenig wie für Bruder Malachias oder mich. Widergänger gab es bereits zu Zeiten der großen Erlösung, und sie gehören seither zur Chronik der Kirche. Mal mehr und mal weniger. Gut möglich also, dass sie wieder in Erscheinung treten. Ungewöhnlich, das gebe ich zu, aber nicht ausgeschlossen. Warum sollte er sie leugnen?«

Grodwig rieb sich nachdenklich durch den Bart. Dieser junge Erlöser war anders als die anderen, das spürte er, und doch stellte er sich bockiger an als ein alter Esel. »Auch ich bin gläubig und weiß, dass Widergänger existieren. Aber deshalb verschließe ich noch lange nicht die Augen vor den Tatsachen.« Er hob die rechte Hand und begann an den Fingern aufzuzählen:

»Incubi in Leuenburg, Incubi im ganzen Westen des Reichs. Berichte von einem starken Feind, der übers Wasser kommt, anlandet und die Grenzgebiete verheert. Die Ketzer im Norden unruhig wie nie. Ja reicht das denn nicht, um es zu erkennen?« Den letzten Satz hatte er beinahe gebrüllt, so aufgerüttelt war er.

Uriel wechselte einen besorgten Blick mit Malachias. Dann wandte er sich nachdenklich wieder Herzog Grodwig zu. »Ihr sprecht von der dunklen Erlösung, der Umkehr, nicht wahr?«

Grodwig nickte. »Es kann kein Zufall sein, dass Taris ausgerechnet vor dem letzten Reichstag mit Berichten über Widergänger in der Stadt zu mir kam. Es kann auch kein Zufall sein, dass sich die Herzöge im Westen alle die gleichen Geschichten erzählen und uns in Königsbrück auch noch die Kunde von einem unbekannten Feind erreicht.«

»Deshalb seit Ihr früher als erwartet aufgebrochen und habt eine Taube geschickt!«, rief Eirik plötzlich aus. Er wechselte einen vielsagenden Blick mit Taris. »Die Nachricht vom Angriff auf die freie Küste erreichte Euch bereits in Königsbrück!«

»Ja. Ich ließ Kanzler Martell die Geschäfte übernehmen und machte mich sofort auf den Heimweg. Mit dieser Bedrohung im Rücken hätten mich keine zehn Pferde mehr in Königsbrück gehalten.«

»Habt Ihr Euch denn direkt an Erzdelegat Marius gewandt? Wenn er von Eurem Verdacht wusste, dann konnte er ihn nicht unbeachtet lassen. Er muss ihm nachgehen, allein schon wegen der Kirche!« Uriel lehnte sich nach vorne. Er wirkte ratlos und leicht verstört.

»Mehr als nur einmal, Uriel.« Grodwig verzog resignierend den Mund. »Aber wer weiß, vielleicht war es am Ende einmal zu viel. Er wollte nichts davon hören. Im Rat würgte er mein Anliegen ab und eine private Audienz hat er mir verwehrt.«

»Er muss Euch falsch verstanden haben! Bewusst würde er die Umkehr niemals übergehen.« Uriel schüttelte den Kopf. »Anders kann ich es mir nicht erklären.«

»Er hat mich ganz genau verstanden!«, rief Grodwig. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Dieser alte verbohrte Greis ist ignorant und selbstgefällig, allen voran aber auch äußerst klug und gerissen. Scharfsinn und Auffassungsgabe zählen zu seinen großen Stärken.« Grodwig nickte und wurde wieder ruhiger. »Seid versichert Erlöser, Marius Aquila wusste genau, wovon ich spreche. Er wollte es nur nicht hören.«

»Bei der Herrin! Wie sprecht Ihr über den Erz…« Bruder Malachias wollte aufbegehren, Uriel aber kam ihm zuvor. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, zu schweigen. An Grodwig gewandt fuhr er fort: »Ihr kennt Marius weit besser als ich. Es wird sein wie Ihr sagt.«

Bruder Malachias sah Uriel entgeistert an, sagte aber nichts mehr. Er senkte den Blick und sah zu Boden.

»Bleibt nur die Frage, warum die hohen Herrschaften es nicht für nötig hielten, Vorkehrungen zu treffen.« Alle Köpfe ruckten herum, als sie merkten, dass die Frage von Asenfried kam.