Die Tote an der Aller - Lina Andresen - E-Book

Die Tote an der Aller E-Book

Lina Andresen

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Beschreibung

An einem sonnigen Herbsttag wird am idyllischen Flussufer der Aller ein grausiger Fund gemacht. Unter Grünabfällen verborgen, findet eine Familie die Leiche einer jungen Frau. Es stellt sich heraus, dass die unbekannte Tote jahrelang eingefroren war. Der Fund gibt dem Ermittlerteam um Kriminalhauptkommissarin Anja Berger Rätsel auf. Niemand scheint die Frau zu kennen. Hat sie vor Jahren etwas gesehen, was ihr gefährlich wurde? Schnell gerät ein Mann in Verdacht, aber die Kommissarin kann ihm nichts nachweisen. Bei ihren Ermittlungen entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht......

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Seitenzahl: 666

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50

Die Tote an der Aller

Lina Andresen

Buchbeschreibung:

An einem sonnigen Herbsttag wird am idyllischen Flussufer der Aller ein grausiger Fund gemacht. Unter Grünabfällen verborgen, findet eine Familie die Leiche einer jungen Frau. Es stellt sich heraus, dass die unbekannte Tote jahrelang eingefroren war. Der Fund gibt dem Ermittlerteam um Kriminalhauptkommissarin Anja Berger Rätsel auf. Niemand scheint die Frau zu kennen. Hat sie vor Jahren etwas gesehen, was ihr gefährlich wurde? Schnell gerät ein Mann in Verdacht, aber die Kommissarin kann ihm nichts nachweisen. Bei ihren Ermittlungen entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht......

Über die Autorin:

Lina Andresen ist ein Pseudonym. Die Autorin wurde 1958 in Berlin geboren und hat mehr als 30 Jahre am Schauplatz des Kriminalromans gelebt. Sie hat viele Jahre als Kundenberaterin in einer Bank gearbeitet und kennt sowohl die Gegend als auch ihre Bewohner gut. Heute lebt sie in Wolfenbüttel.

Die Tote an der Aller

Ein Heidekrimi

Lina Andresen

1. Auflage, 2024

© 2024 Lina Andresen – alle Rechte vorbehalten.

Friedrich-Schäfer-Straße 6

38304 Wolfenbüttel

[email protected]

Selbstverlag

Für die

Unbekannte Tote, die im Jahr 2006

An der Aller gefunden wurde.

Ihr Schicksal ist weiterhin ungeklärt.

Prolog

18. Januar

Warm und sanft pulsierte das Blut in ihren Adern.

Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihrem fast schwerelosen Körper aus. Alle störenden Gedanken versanken in einem bunten Farbenmeer.

Perlendes Gelächter erfüllte den hohen Raum, stieg empor zur hell getäfelten Decke und sammelte sich dort in schillernden Blasen. Sie wandte sich um, um zu sehen, woher dieses köstliche Lachen kam. Mit grenzenlosem Erstaunen bemerkte sie, dass es aus ihrer eigenen Kehle strömte, weich wie Seide, prickelnd wie Champagner. Ihr Blick glitt nach oben. Einen Augenblick lang verharrten die Bläschen dort unter der hohen Decke, dann schweben sie einer glitzernden, alles kosenden Wolke gleich, auf sie herab.

Wie lange hatte sie nicht mehr so gelacht? Hatte sie überhaupt jemals gelacht? Hatte sie je so ein Glücksgefühl erlebt?

Mit gleitenden Bewegungen, fast schon schwebend tanzte sie durch den Raum und wirbelte in einer kühnen Drehung, der Pirouette einer Ballerina gleich, an den hohen Tresen.

Mit einer fordernden Armbewegung schob sie ihr Glas über die glatte Oberfläche und bat um einen neuen Drink. Ein weiteres Getränk, das blau schimmerte wie Gletschereis und auf der Zunge eine unvergleichliche Geschmacksexplosion entfachte.

Fasziniert beobachtete sie, wie die Köstlichkeit zubereitet wurde, starrte auf den glitzernden Zuckerrand, der den Inhalt von der Außenwelt abschirmte. Es gehört nur mir allein. Fast liebevoll umfasste sie mit beiden Händen das Glas.

Sie drückte ihre weichen Lippen sanft gegen die raue Oberfläche des klebrigen Zuckermantels und ließ die Flüssigkeit langsam auf die Zunge laufen, wo sich der Geschmack von Süße und die brennende Schärfe des Alkohols vermischte. Wenige Sekunden lang kostete sie mit geschlossenen Lidern das intensive Gefühl aus, dann schluckte sie und fühlte die Wärme, die sich wellenartig in ihrem Inneren ausbreitete.

Sie schlug die Augen auf und schaute in ein erregend anziehendes Gesicht. Es kam ihr bekannt vor, aber woher? Sie tastete über die hohe Theke, ergriff die warme Hand ihres Gegenübers und empfand unbändige Freude, als ihr Händedruck liebevoll erwidert wurde.

Ein weiterer Drink stand wie von Zauberhand vor ihr. Wieder betrachtete sie die blaue Flüssigkeit. Sie langte nach der Zigarettenschachtel. Mit einer gezierten Drehung der Hand, die so verführerisch elegant wirkte, zog sie eine der langen, schlanken Zigaretten heraus. Schnappend öffnete sie das Zippo-Feuerzeug und gleich beim ersten Dreh an dem kleinen Rad schoss die helle Flamme gleißend hervor.

Sie inhallierte den allerersten Zug mit großem Genuss, dann ließ sie den Rauch bedächtig aus Mund und Nase strömen. Die Kälte des Glases mit dem blauen Getränk brannte an ihren Fingern. Sie prostete dem fremden und doch so vertrauten Gesicht ihres Gegenübers zu. Diese braunen, warmen Augen. Und erst diese Hand, diese liebevolle Berührung. All ihre Sinne wandten sich diesem Menschen zu. Tief unten in ihrem Bauch prickelte es fordernd. Ein nie gekanntes Verlangen erfasste sie.

Sie trank und schloss wieder genießerisch die Augen. Das bunte schrille Farbenmeer versank allmählich und wechselte zu versöhnlichen, sanften Pastelltönen. Alles um sie herum wurde langsamer und blieb endlich stehen, Geräusche und Stimmen drangen wie durch dicke Tücher gedämpft an ihr Ohr. Es roch besänftigend nach gelöschten Kerzen und geschmolzenem Wachs. Sie ließ sich in das grenzenlose Wohlbehagen gleiten und wünschte, dass dieses Gefühl nie vergehen würde.

Kapitel 1

2017

Eine gnädig gestimmte Oktobersonne schien auf den Bauunternehmer Johannes Eggers herab, der auf dem Containerplatz seiner aktuellen Baustelle stand und nach Norden schaute. Einer gigantischen, strahlend blauen Kuppel gleich, wölbte sich der Himmel über dem flachen Land.

In Sichtweite schimmerte das Wasser der Aller, die träge in nordwestlicher Richtung plätscherte, um auf ihrem Weg urige Dörfer und malerische Fachwerkstädtchen mit engen Kopfsteinpflastergassen zu durchqueren. Aus der Fachwerkstadt Gifhorn kommend floss sie an einem imposanten Kloster aus dem Mittelalter vorbei, strömte durch die niedersächsische Kreisstadt Celle, um etliche Kilometer weiter nördlich in die Weser zu münden. In der Gemeinde Müden schloss sich das Harzflüsschen Oker den Wassern der Aller an, sodass an der Stelle, wo der Bauunternehmer stand, eine ansehnliche Menge der klaren Flüssigkeit durch die idyllische Landschaft strömte.

Am gegenüberliegenden Ufer weideten einige braune zottige Rinder mit urtümlichen, gewaltigen Hörnern, aber Johannes Eggers interessierte sich für Rindvieh nur, wenn es in Form eines Steaks auf dem Grill lag. Der Mann wandte sich um. In einiger Entfernung hinter einem brachliegenden Feld breitete sich ein weitläufiges Ferienhausgebiet mit großen, teils verwilderten Grundstücken aus. Fuhr man auf den schmalen Straßen flussaufwärts zwischen den Ferienhäusern entlang, erreichte man eine kleine Schleusenanlage. Im Sommer war hier ein beliebtes Ausflugsziel.

Die Wochenendhäuser stammten überwiegend aus den 70-er und 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Stadtmüde Menschen hatten sich hier Rückzugsorte geschaffen. Es gab seltsam anmutende Nurdachhäuser, finnische Blockhäuser, winzige preiswert selbstgezimmerte Hütten und zwischenzeitlich sogar einige Mobilheime.

Das weitläufige Gelände zwischen Ferienhäusern und Flussufer war jahrzehntelang von Kleingärtnern genutzt worden. Neben dem brachliegenden Feld und den Kleingärten erstreckte sich eine morastige Feuchtwiese mit Kopfweiden, deren dicke Stämme meiste ausgehöhlt waren und Lebensraum für eine Vielzahl von Vögeln und Kerbtieren boten. Einige der morschen Bäume lagen seit Jahren vermodernd auf dem nassen Untergrund. Der Fluss bildete in dieser Gegend sanfte Schleifen und führte bei Regen häufig Hochwasser. Hier waren unzählige Vögel, Reptilien, Amphibien und Insekten anzutreffen. Das Kleingartengelände, auf dem Eggers stand, lag um einiges höher als die Feuchtwiesen. Der Boden war fett und fruchtbar und ließ sich leicht bearbeiten. Mit den Erträgen versorgten die Pächter der Parzellen sich mit frischem Obst und Gemüse. Und trotzdem war das Stück Land insbesondere den Ferienhausbesitzern seit Jahren ein Dorn im Auge.

Die alte und mittlerweile ungepflegte Gartenkolonie - Roter Hahn -war, ohne Übertreibung, verwildert. Ursprünglich hatte es sogar zwei Gartenanlagen gegeben, die im Laufe der Zeit durch ungenehmigte Bebauung zu einer einzigen verschmolzen waren. Damit war der freie Zugang zum romantischen Flussufer versperrt.

Nach unzähligen Eingaben bei der Gemeindeverwaltung hatte man sich endlich zur Räumung der Anlage entschlossen. Viele Parzellen wurden ohnehin schon längst nicht mehr bewirtschaftet und die kleinen Lauben verfielen zusehends.

Und genau aus diesem Grund stand Johannes Eggers an dem warmen spätsommerlichen Vormittag an eben jener Stelle, denn er hatte den Auftrag übernommen, das Gelände zu räumen.

Aber obwohl das anhaltend trockene Wetter in diesem Herbst die Arbeit angenehm gestaltete und er eine ordentliche Stange Geld verdiente, war Eggers Laune auf dem Nullpunkt. Für seinen Geschmack kamen sie entschieden zu langsam voran.

Zwei Radlader und ein schwerer roter Raupenbagger waren seit Tagen damit beschäftigt, Schutt und Grünzeug aufzuladen. An der Straße standen allein fünf Muldenkipper, die darauf warteten, den Abraum zur nahe gelegenen Deponie zu transportieren.

Ein leichter Wind kam auf und trieb den intensiven Geruch der Rinder herüber.

Angewidert rümpfte Eggers die Nase. Er wandte sich ab, ließ seinen Blick über die aufgewühlten Böden gleiten und trottete langsam zu seinem Bürocontainer hinüber. In die Nähe der geräuschvollen Baumaschinen zog er den Gehörschutz, der wie Fühler eines dicken Insekts hochgeklappt über dem orangefarbenen Arbeitshelm schwebte, herunter und stülpte die gepolsterten Muscheln auf die Ohren. Unmittelbar wurde aus dem dröhnenden Lärm der schweren Räumgeräte ein dumpfes Brummen. Nur die Vibration des Untergrunds dämpften die Ohrschützer nicht. Der Boden bebte und zuckte wie Götterspeise in einer Glasschale.

In den vergangenen Tagen waren die Männer planmäßig vorangekommen, trotzdem dauerte die ganze Aktion entschieden zu lange, wenn es nach den Plänen von Eggers ging. Einen Monat hatte er veranschlagt, aber sie hatten bisher maximal die Hälfte der Fläche geräumt, weil immer neue, ungeplante Schwierigkeiten die Arbeit behinderten. Mal tauchte eine Truppe Umweltschützer auf, dann wieder Neugierige aus der Umgebung. Nicht zu vergessen ehemalige Pächter der Parzellen, die angeblich nichts von der Räumung erfahren hatten und verstört in den Schuttbergen nach ihren Habseligkeiten suchten.

Unendliche Diskussionen wurden geführt, einige Umweltaktivisten hatten sogar Barrikaden aus Sperrmüll errichtet, der zum Abtransport bereitstand, um die Kipplaster zu hindern, den Abraum fortzubringen. Eggers knurrte ungehalten, als er sich daran erinnerte. Er hatte dem Bauleiter schon eine zusätzliche Woche aus den Rippen geleiert, sodass sie am kommenden Mittwoch planmäßig fertig werden mussten. Aber selbst wenn sie das Wochenende über arbeiten würden, wäre es kaum zu schaffen. Ein weiterer Auftrag wartete schon und er pflegte seine Termine einzuhalten.

Auf dem Weg zum Bürocontainer beobachtete er mürrisch, wie der Mann in einem der Radlader systematisch die abgesenkte breite Schaufel quälend langsam vorwärts unter einen großen Haufen von Brettern, Fensterrahmen und Teerpappenstreifen schob, bis sie randvoll war.

Geschickt fuhr der Mann ein kleines Stück rückwärts, zog gleichzeitig die Schaufel hoch und kippte sie nach hinten, damit nichts herausfiel. Dann wendete der Fahrer, fuhr zum wartenden Lastwagen und ließ den Schutt mit ohrenbetäubendem Krachen auf die Ladefläche prasseln, bevor er das schwere Fahrzeug wieder drehte, um die nächste Ladung zu holen.

Weiter hinten war ein zweiter Radlader im Einsatz, der die Überreste des ehemaligen Vereinshauses auflud. Dachziegel, Mauerstücke, zerbrochene Fliesen, Sanitärobjekte und Betonbrocken. Brauchbares Metall war herausgebrochen und für die Wiederverwertung entsorgt worden. Die letzte Ziegelmauer zerbrach seufzend unter der schweren Schaufel und stürzte dröhnend in sich zusammen. Eine staubige Wolke stieg aus dem Schutthaufen empor.

Der Bauunternehmer verzog das Gesicht und murmelte missmutig vor sich hin. Diese Kleingärtner hatten über die Jahrzehnte schlicht und ergreifend einen gewaltigen Haufen Müll angesammelt. Dazu mussten die riesigen Bäume und hohen Hecken gerodet und entsorgt werden. Drei Tage lang hatte er seinen großen Bagger mit den Raupenketten zusätzlich eingesetzt, um die Baumstümpfe und verzweigten Heckenwurzeln herauszubekommen, die sich heftig gegen die Rodung wehrten. Seine Kalkulation drohte wie das Vereinsheim einzubrechen.

Energisch stapfte er in seinen Bürocontainer zurück, um den Bauleiter anzurufen. Er streifte seine dicken Arbeitshandschuhe mit den hohen Stulpen ab und warf den Schutzhelm auf ein Sideboard. Er schenkte sich einen Kaffee aus der Thermoskanne ein, setzte sich an den Schreibtisch und wählte die Nummer von Wilfried Gerlach.

Er würde dem Mann einen Vorschlag unterbreiten, bei dem er zusätzlich ein paar Euro mehr verdienen würde. Beim ersten Mal antwortete nur die Mailbox und Eggers versuchte es kurz darauf ein Weiteres mal. Sicher lag der faule Sack auf der Sonnenbank, um sich die Urlaubsbräune für den Winter zu erhalten, resümierte Johannes Eggers, während der Rufton in sein Ohr drang.

„Gerlach“, meldete sich der Bauleiter endlich. Seine Stimme klang gehetzt, als wäre er mitten bei einem Langstreckenlauf.

„Eggers hier“, schnaubte der Bauunternehmer. „Hören Sie, wir müssen noch mal verlängern. Die Leute sind nun schon mit drei Großgeräten und einer ganzen Flotte Muldenkipper zugange, aber der Platz ist so voller Schutt, als hätte da eine ganze Kohorte Messies gehaust. Und die Bäume sind wohl schon seit der Eiszeit hier, die Wurzeln reichen bis Timbuktu.“

Eggers schwieg und hörte nur das schwere Atmen des anderen. Er wartet einen Augenblick. In dem Moment, als der Bauleiter antwortete, fiel ihm der stämmige Bauunternehmer ins Wort. Er kannte diese Typen, die lullten einen mit schleimigen Sprüchen ein, als wäre man in der Märchenstunde. Aber nicht mit mir, dachte er grimmig.

„Zudem haben diese Fritzen vom Vereinsvorstand den Platz erst Wochen nach dem vereinbarten Zeitpunkt entgültig übergeben. Die Pächter sind hier in der vergangenen Woche noch überall herumgewuselt, so dass wir nicht ordentlich arbeiten konnten. Ich brauche noch mindestens eine Woche mehr, vielleicht auch zwei, kommt ganz darauf an, was wir noch alles finden. Und kommen Sie mir bloß nicht mit den Kosten. Sie wissen ganz genau, dass solche Dinge eingeplant sind, weil man im Vorfeld nie genau weiß, was einen auf so einem Gelände erwartet.“

Wilfried Gerlach räusperte sich und antwortete wichtigtuerisch.

„Herr Eggers, ich komme mal raus und schau mir die Sache selbst an. Sicher finden wir gemeinsam eine Lösung für das Problem.“

Eggers hörte im Hintergrund Papier rascheln. Dann war Gerlachs Stimme erneut zu hören.

„Sagen wir morgen, gleich um 10 Uhr. Passt das?“

Der grimmige Bauunternehmer fluchte innerlich. Dieses unselige, sinnlose Gewäsch. Was wollte der denn hier sehen, was ich nicht sehe. Die Arbeit war in der geplanten Zeit kaum zu schaffen, zum Henker.

„Von mir aus kommen Sie vorbei“, knurrte er trotzdem ungnädig.

„Vielleicht bringen Sie noch eine zusätzliche Schippe mit und legen selbst Hand an, dann könnte es möglicherweise noch in der vorgegebenen Zeit klappen.“

Er verzog das Gesicht und überlegte, ob er zu weit gegangen war. Nein, diese Büromenschen hatten meist nicht die geringste Ahnung, was abging. Denen musste man von Zeit zu Zeit mal ordentlich Bescheid geben.

„Schon gut, Eggers, aber hören Sie, was soll das denn? Ich weiß gar nicht, was Sie wollen? Schließlich haben Sie sich die Sache doch selbst angesehen, bevor Sie angefangen haben.“

Die Stimme von Gerlach klang ungehalten und beleidigt.

Johannes Eggers kratzte sich den roten, sauber gestutzten Bart und antwortete. „Ganz recht, das habe ich. Aber wenn ich Sie daran erinnern darf, es hieß, dass diese Kleingartenfritzen ihren persönlichen Kram und den ganzen Klimbim von den Parzellen und aus den Lauben selbst entsorgen. Die sollten alle leer sein. Wir sollten lediglich das ganze Grünzeug plattmachen und die Holzhütten entsorgen. Und jetzt! Was denken Sie wohl? Die Lauben sind alle brechend voll. Teilweise mit Möbeln, Gardinen und Elektrogeräten. Einige Pächter sind einfach weggegangen und haben meinen Leuten grinsend noch den Schlüssel zu ihrer Bruchbude in die Hand gedrückt. Andere sind zur Übergabe gar nicht erst aufgetaucht. Danke Bestens! Wir müssen jede dieser verkommenen Hütten aufmachen und erst mal nachschauen, ob gefährliche Stoffe drin lagern. Na, und was glauben Sie wohl. Haufenweise Gift, Rattengift, Unkrautgift, Insektengift. Dazu noch Gasflaschen, Propan und Butan. Manche voll, andere leer. Kanister mit Benzin für den Generator und den Rasenmäher, Fässer mit Heizöl, um preiswert das Auto zu betanken. Kühlschränke, sogar vollgefüllte Kühltruhen. Stromkabel, überall Stromkabel, wir müssen immer überprüfen, ob die noch unter Saft stehen. Sie glauben gar nicht, wo die angezapft haben, nein, das würden Sie nicht glauben. Das sind nicht alles vorschriftsmäßige Installationen mit Zählern und so. Und dann müssen meine Leute den ganzen Mist ausräumen und fein säuberlich trennen. Das bedeutet auch zusätzliche Container. Und dann erst der Gestank. Nicht auszuhalten.“

Johannes Eggers redete sich in Rage, sein rundes Gesicht war inzwischen etliche Nuancen dunkler, die krausen rötlichen Haare standen wild vom Kopf ab.

„Und einiges konnten wir noch gar nicht entsorgen,“ brüllte er aufgebracht. „Denn wir haben hier noch gar nicht über Sondermüll gesprochen. Wir haben alles sachgemäß rausgeholt, mit Schutzbekleidung, Atemmasken und allem Pipapo und in speziellen Säcken verpackt, bis ein Gutachter beurteilen kann, was damit werden soll.“

Er trank einen Schluck Kaffee und lauschte gespannt auf die Antwort.

„Ist schon gut, Eggers, ich verstehe“, murmelte der Bauleiter in versöhnlichem Ton. „Was ich aber nicht verstehe, ist, warum Sie mich nicht früher informiert haben. Die Leute haben für ihre Gärten eine großzügige Entschädigung erhalten, zu bestimmten Bedingungen natürlich. Ist alles vertraglich geregelt. Sie müssen die Häuser komplett geräumt übergeben, sonst gibt es nicht die volle Summe.“

Wilfried Gerlach schwieg und überlegte. Mit etwas Glück hatte man die Abfindungen bisher nicht an die Pächter ausgezahlt. So, wie es sich anhörte, würde man in diesem Fall etliche tausend Euro einsparen. Wenn Eggers die Arbeit rechtzeitig erledigen konnte und dafür einen Bonus erhielt, wäre das bedeutend günstiger als kalkuliert. Nervös schnippte er leise mit den Fingern.

Nach einer kurzen Pause redete er weiter auf Eggers ein. „Hören Sie, haben Sie alles dokumentiert? Also, den Mehraufwand halt.“

„Ja, klar“, brummte Johannes Eggers. „Schon allein wegen der Schadstoffe, ist alles fein säuberlich aufgeschrieben. Was glauben Sie, warum wir so lange brauchen? Ich habe extra einen Mitarbeiter abgestellt, der alles aufnimmt. Den Inhalt von jeder einzelnen dieser verdammten Drecksbuden.“

„Haben Sie das Zeug denn ordnungsgemäß entsorgt?“, fragte Wilfried Gerlach tastend. Hoffentlich hatte der Trottel kein brisantes Material auf irgendeinen Parkplatz geworfen oder vergraben.

„Halten Sie mich für blöd?“, schäumte Johannes Eggers wütend und sprang aus seinem Bürostuhl auf. „Weiß doch jedes Schulkind, dass damit heutzutage nicht zu spaßen ist. Wir führen ein ordentliches Unternehmen, mit Qualitätsmanagement und dem ganzen Zinnober. Jede Menge Zertifikate über ordnungsgemäße Entsorgung. Geschultes Personal, alles vom Feinsten. Das wissen Sie doch ganz genau. Und wir werden jedes Jahr geprüft. Alles nach EU-Richtlinien.“

„Schon gut, schon gut“, besänftigte Gerlach den aufgebrachten Mann. Er hatte nicht die geringste Lust, mitten in der Woche zu dem staubigen Gelände rauszufahren und überlegte, wie sich die Sache umgehen ließ. Dann beschloss er, doch zur Baustelle zu fahren. Bei dem zu erwartenden sonnigen Wetter würde er in einem netten Lokal etwas essen und den Tag genießen. Mit einer passenden Begleitung waren sogar ein paar anregende Stunden in einem der kleinen Gasthäuser drin. Ihm fiel spontan eine junge Dame ein, die er gern näher kennenlernen würde. Außerdem gab es ein weiteres Projekt, dass er sich bei dieser Gelegenheit anschauen würde. Er hatte freie Hand, was seine Tagesplanung betraf. Wilfried Gerlach kicherte albern wie ein Teenager, verdrängte dann aber seine ausschweifenden Gedanken. Er räusperte sich.

„Hören Sie, Eggers, Sie bekommen die Woche, und falls Sie es doch früher schaffen, gibt es einen Bonus. Wie hört sich das für Sie an?“

Johannes Eggers feixte heimlich und brummte versöhnlich.

„Gut, so können wir es machen. Wir sehen, was wir schaffen und Sie kommen dann wie vereinbart morgen Vormittag.“

„Sagen wir, gegen Mittag“, antwortete Wilfried Gerlach entgegen seiner ersten Zusage. Eggers überlegte kurz und stimmte brummend zu. Gerlach beendete das Gespräch und suchte die Nummer des zuständigen Stadtrats heraus.

Er würde die Sache gleich klären, nahm er sich vor. Gerlach hatte Glück und der Stadtrat meldete sich schon nach dem ersten Klingelton. Das Gespräch verlief durchaus positiv für beide Seiten. Der Bauleiter legte auf und öffnete die Liste seiner privaten Kontakte auf dem Smartphone. Er tippte auf einen Namen und betrachtete das Foto der hübschen Brünetten. Dann räusperte er sich und wählte die Nummer der Frau.

Unterdessen warf sich Eggers wieder in den bequemen Bürostuhl, lehnte sich zurück und wuchtete seine Füße mit den schweren Arbeitsschuhen auf den Schreibtisch. Er rieb sich kichernd die Hände. Dem hatte er es ordentlich gegeben. Dann griff er nach der Kaffeetasse und schlürfte einige Schlucke der inzwischen lauwarmen Brühe. Morgen würde er dem Lackaffen den Schrott zeigen, den seine viel gepriesenen Kleingärtner hier hinterlassen hatten. Von wegen naturnah und umweltbewusst. Darüber konnte Johannes Eggers nur lachen. Müll und Gift in rauen Mengen, da würde so manche Chemieklitsche neidisch werden. Er beglückwünschte sich, dass seine Leute alle entsprechend ausgebildet waren und Schutzkleidung trugen.

Dumpfe Motorengeräusche, die in den Bürocontainer drangen, zeugten davon, dass die Männer auf den schweren Radladern weiterhin unverdrossen Schutt und Gartenabfälle zusammenschoben. In den Baulärm mischte sich das Kreischen einer Kettensäge. Johannes Eggers machte sich an die Aufstellung der Arbeitsstunden. Der durchdringende Lärm der Baumaschinen erzeugte ein Gefühl der Zufriedenheit in ihm.

Aus dem Fenster beobachtete er von Zeit zu Zeit träge, wie ein weiterer Muldenkipper beladen wurde. Von dem ehemaligen Vereinshaus war fast nichts mehr zu sehen, der Mann auf dem schwarz-gelben Radlader hatte rangeklotzt. Eben hob er mit der mächtigen Schaufel die letzten Betonbrocken der Bodenplatte an. Alte Abwasserrohre aus braunem Ton wurden mühelos aus dem Boden gerissen und zerbarsten wie dünnes Glas. Eine Stunde später würde von dem Gebäude nichts mehr zu sehen sein.

Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses bemerkte Eggers einen Traktor, der quälend langsam auf einem abgeernteten Acker hin und her fuhr und eine lange Staubwolke hinter sich herzog. Er wandte sich wieder seiner Aufstellung zu und kalkulierte überschlägig den zusätzlichen Gewinn.

Gegen 12 Uhr versammelten sich die Männer zu einer kurzen Pause in ihrem Baucontainer, der mit gemütlicher Wärme lockte. Hier gab es eine Sitzecke und eine Miniküche mit Kühlschrank und Kaffeemaschine. An einer Längsseite konnten die Männer ihre Arbeitskleidung aufhängen und daneben standen abschließbare Schränke für jeden. Einer von ihnen kochte Kaffee und trompetete laut. „Mensch, Hinnerk, wie Du das Vereinsheim plattgemacht hast, war ein Fest. Kaum Staub und Ruck Zuck war es weg.“

Hinnerk lachte. „Ja, das war nicht weiter schwer, nur billiger Mist als Baumaterial, alles zusammengesuchter Kram. Das fiel um, wie nichts.“ Er machte eine Handbewegung, die den Zusammensturz der Wände andeutete.

„Wir haben wieder die tollsten Sachen unter die Finger gekriegt“, berichtete ein anderer Mann. „Möbel aus dem Steinzeitalter, alte Klamotten, museumsreife Lebensmittel in Gläsern.“ Er schüttelte angewidert den Kopf. „Dass die sich hier wohlgefühlt haben, ist kaum zu glauben.“

Die Männer nickten zustimmend. Jeder schnappte sich sein mitgebrachtes Essen.

„Na, an den Wochenenden ist es bestimmt hoch her gegangen, da haben die hier die großen Grillpartys geschmissen, mit bunten Lichtern und Lampions in den Bäumen und unter der Woche konnten die Ratten und Kakerlaken auf Muttis guter Wachstuchtischdecke Samba tanzen“, brummte einer der Arbeiter. Er hatte, seinen Helm abgenommen und strich sich die wirren Haare nach hinten.

„Oder im Bett, wo die sich alle gegenseitig flachgelegt haben.“ Die Männer lachten wiehernd.

„Und jetzt kriegen die ´ne fette Entschädigung und wir müssen den Dreck wegräumen.“

„Aber Du verdienst gutes Geld mit dem Job.“

„Das stimmt allerdings.“

Die Bauleute schwiegen einen Augenblick lang. Im Baucontainer wurde es still. Nach dem Lärm auf der Baustelle, dem Dröhnen der Motoren und der harten Arbeit seit dem frühen Morgen kam ein Moment der Ruhe allen recht. Der Mann, der Kaffee gekocht hatte, schenkte ein und gab jedem einen Becher. Zufriedenes Schlürfen aus den dickwandigen Pötten und das Klappern der Löffel erfüllten den Raum.

Hungrig bissen die Männer in ihre belegten Brote und mampften bedächtig.

Aber ein paar Minuten später fing einer an, von einer geplanten Motorradtour nach Portugal zu berichten, und kurz darauf waren die Männer in einem lebhaften Gespräch über das Reisen im Allgemeinen und das Motorradfahren im Besonderen vertieft. Pläne für das kommende Wochenende wurden ausgetauscht.

Johannes Eggers öffnete die Tür und betrat mit schweren Schritten den Baucontainer.

„Hallo Leute“, grüßte er kurz, griff sich einen Becher und füllte ihn mit dampfendem Kaffee.

„Heute früh habe ich mit Gerlach gesprochen“, verkündete er zwischen zwei Schlucken. „Er kommt morgen her, aber ich habe ihm schon mal eine zusätzliche Woche aus den Rippen geleiert.“

Die Männer sahen ihn erwartungsvoll an.

„Der Auftrag ist ja von der Stadt, wie Ihr alle wisst“, fuhr Eggers fort, der seine Mitarbeiter stets genau informierte. „Wird öffentlich gefördert. Wenn wir innerhalb der zusätzlichen Woche fertig werden, wäre das gut.“ Er schaute in die Runde. „Dann bekommt ihr einen fetten Bonus. Außerdem werden wir denen die Aktion mit dem Sondermüll extra in Rechnung stellen. Geld vom Bauträger ist genug da.“

„Schutt ist auch genug da“, brummte einer der Männer. „Der wird sich wundern, wenn er das zu sehen bekommt.“

Die anderen nickten zustimmend und lachten.

Eggers grinste und schob seine breiten Hände in die Hosentaschen. „Es gibt aber eine Möglichkeit, noch ein paar Euro mehr oben drauf rauszuholen, aber dazu brauche ich Eure Unterstützung. Wir arbeiten das Wochenende durch, hängen abends noch ein paar Stunden dran und können dann wie vereinbart am Dienstag den Platz übergeben. Dafür gibt es ein stolzes Sümmchen mehr, ohne, dass wir wirklich mehr gearbeitet haben, nämlich die Abfindung der Pächter, weil sie ihren Kram nicht ausgeräumt haben. Wir legen einfach einen Zahn zu.“

Die Männer nickten zustimmend. Geld konnten sie immer gebrauchen. „Hört, hört“, sagte einer. „Es gibt also doch noch Gerechtigkeit. Wir haben schon vorhin drüber gesprochen, dass es nicht in Ordnung ist, wenn wir die Arbeit machen und die Leute eine Abfindung bekommen.“

„Stimmt“, bekräftigte Eggers. „Also, okay, dann ist das abgemacht“, grunzte er zufrieden. „Dann machen wir heute gleich zwei Stunden mehr.“

„Alles klar, Chef, so machen wir es“, sagte einer und stand auf, um seine Arbeit erneut aufzunehmen. Die übrigen Männer folgten ihm und bald vibrierte die Luft wieder vom Lärm der schweren Maschinen. Sie konnten sich auf die Zusagen ihres Chefs verlassen.

Cedric Abramovic, der Vorarbeiter war im Baucontainer geblieben und wartete, bis der letzte Mann verschwunden war.

„Chef, ich habe in einer Laube etwas entdeckt, das wir wohl melden müssen“, sagte er mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Er zog sein Mobiltelefon heraus und zeigte Eggers ein paar Fotos. Schweigend starrte der Bauunternehmer wie gebannt eine Weile auf den kleinen Bildschirm, Cedric wischte von einem Foto zum anderen.

„Wo ist das genau?“, fragte Eggers.

Abramovic streckte den Arm aus, zeigte in die Richtung, wo die betreffende Laube stand, und nannte ihm die Nummer der Parzelle.

„So ein verfluchter Mist. Hör zu, Cedric, Du hast natürlich recht, das müssen wir der Polizei melden, aber wir warten bis die Arbeiten abgeschlossen sind.“

Er legte seine schwere Hand auf die Schulter des Vorarbeiters und starrte ihm eindringlich in die Augen.

„Aber Chef, das können wir doch nicht machen“, antwortete Abramovic entrüstet. „Die Polizei muss informiert werden.“

„Du hast gehört, was ich gesagt habe, Cedric. Wir melden es, wenn wir hier fertig sind, das muss dann reichen. Ich nehme es auf meine Kappe. Du musst Dir keine Sorgen machen.“

Johannes Eggers war nicht bereit, sich seine Pläne durchkreuzen zu lassen. Er würde sich heute Abend eigenhändig um den Inhalt dieser alten Bude kümmern. Cedric war ein loyaler Mitarbeiter, der würde den Mund halten. Bewusst ignorierte er den zweifelnden Blick des Mannes.

„Wir haben uns verstanden, Cedric, ich kann mich doch auf Dich verlassen?“

Der Vorarbeiter nickte zögernd. „Versteht sich, Chef.“

„Sehr gut, Du schickst mir jetzt die Fotos und kannst sie dann löschen. Ich kümmere mich um alles Weitere.“ Er wandte sich um, um den Container zu verlassen, aber dann drehte er sich wieder zu Cedric. „Nein, warte mal, es ist besser, Du löscht die Fotos gleich. Dann wandern sie nicht über irgendwelche Datenleitungen durchs Netz.“

Cedric Abramovic nickte wieder und tippte auf seinem Telefon herum.

„Aber Sie melden das ganz sicher?“ Es sah seinen Vorgesetzten zweifelnd an.

„Du kannst Dich auf mich verlassen. Gibt es einen Schlüssel?“, fragte Eggers.

„Der hing an einem Nagel neben der Tür“, grinste Cedric Abramovic und drückte seinem Chef einen rostigen alten Schlüssel in die Hand.

„Hm, gut, dann sind wir damit durch. Ich kümmere mich um alles Weitere“, brummte Eggers und schlug dem Mitarbeiter freundschaftlich auf die Schulter. „Hat jemand von den anderen etwas davon gesehen?“

Cedric schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall, ich war als erster drin, um zu sichten. Der Trupp war derweil noch mit den Wurzeln beschäftigt.“

Eggers nickte. „Okay, alles klar.“ Er lachte rau. „Mach Dir keine Sorgen. Aber sorge dafür, dass heute keiner von den Leuten dort arbeitet.“

„Wird gemacht“, murmelte Cedric Abramovic und trollte sich.

Der stämmige Bauunternehmer wanderte zu seinem Bürocontainer und suchte auf der großen Übersichtskarte nach der Parzelle. Dann zückte er sein Handy und legte es auf den Schreibtisch. Er verließ den Container und schlenderte langsam über den Platz, um sich die Sache selbst anzuschauen. Cedric war an den Radladern beschäftigt und würde ihn nicht sehen.

Er fand die Parzelle und betrat den Garten der kleinen Laube. Es war eine von fünf Häuschen gleicher Bauart, die nebeneinander errichtet worden waren. Eggers schätze das Baujahr auf Anfang der 80er-Jahre. Weiße Fertigteilwände, braune Sprossenfenster, dunkle Fensterläden. Die Eterniteindeckung hatte eine Spezialfirma gleich zu Beginn des Projekts entsorgt, sodass die rohen Dachbalken anklagend gen Himmel ragten. Die beim Abriss verwendeten Wassermengen waren ungehindert in die Hütten gelaufen und hatten alles durchnässt. Eggers setzte seinen Helm auf und stülpte sich eine Maske über Mund und Nase. Cedric hatte die Haustür zugezogen. Der Bauunternehmer drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür vorsichtig auf. Er musste damit rechnen, dass die dünnen Wände nachgaben.

Langsam wanderte er durch das Häuschen und spähte in jeden Raum. Es gab eine Küche, eine kleine Stube und ein winziges Kämmerchen mit einem Etagenbett darin. Jemand hatte die Türen entfernt. Ein Bad gab es nicht und Eggers war sich sicher, dass er hinten im Garten ein Plumpsklo finden würde. Er tastete nach seiner Taschenlampe und überlegte. Sicherheitshalber musste er die Hütte durchsuchen, um auszuschließen, dass es weitere unangenehme Überraschungen gab.

Er wandte sich der Schlafkammer zu. Hier gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen. Ausgeblichene Tapeten mit wilden Mustern. Bunt gesprenkelter PVC-Belag auf dem Boden. Er hob die Matratzen hoch und befühlte sie. Leuchtete unter das Bett. Er verließ das Kämmerchen und betrat die Stube. Staub, wohin man schaute. Eine alte Sofagarnitur, ein niedriger Tisch, ein Fernsehapparat, ein kleines Schränkchen. Ähnliche Tapeten wie in der Kammer, braun, gelb und orange. PVC auf dem Fußboden. Unter dem Tischchen lag ein mottenzerfressener Teppich undefinierbarer Farbe. Eggers öffnete den Schrank und warf den Inhalt auf den Boden. Ein paar Stangen Zigaretten, eine Sammlung von Tabakspfeifen, nebst dem dazu gehörenden Tabak, Stopfer und Streichhölzern. Einige Zeitschriften und Papiere. Grob überflog er alles, ob es Hinweise auf die Eigentümer gab. Namen oder Adressen. Nichts. Er hob das Sofa und den Sessel hoch, um darunter zu schauen, und befühlte die Füllung, aber ebenfalls nichts. Auf dem Tischchen standen ein Aschenbecher und ein Kerzenhalter mit einem eingestaubten Stummel. Eggers nahm die altbacken wirkenden Bilder von den Wänden und drehte sie um. Nichts.

Er betrat die Küche. Hier hatte das Wasser der Abrissfirma den meisten Schaden angerichtet und hier hatte Cedric den Fund entdeckt. Eggers ließ seinen Blick über die Decke gleiten. Die dünnen Spanplatten hatten sich vollgesogen und waren abgesackt. An den Wänden hatte das Wasser die Tapeten durchnässt, sodass sich die Bahnen lösten. Der gleiche PVC-Belag auf dem Boden. Johannes Eggers betrachtete die alten Küchenmöbel. Graues, gesprenkeltes Resopal. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Unter dem Fenster stand der Spülschrank mit einem karierten Vorhang. Einen Wasserhahn und fließendes Wasser gab es nicht, statt dessen eine emaillierte Waschschüssel und einen hohen Wasserkrug. Daneben einen Kühlschrank und eine Kühltruhe. Einen Herd entdeckte er nicht. Eine einzelne elektrisch betriebene Kochplatte stand auf dem Eisschrank. Und es gab einen kleinen Holzofen. Die Ofenklappe ließ sich zunächst nicht öffnen. Sicher war der Ruß zu einer festen Masse verschmolzen. Er versetzte dem Ofen einen Tritt und konnte dann einen Blick in das Feuerloch werfen. Nichts.

Johannes Eggers öffnete alle Küchenschränke. Altes Geschirr, ein paar Lebensmittel. Er zog eine Packung Haferflocken hervor und sah nach dem Ablaufdatum, das mehr als zehn Jahre zurücklag. Er schüttelte den Kopf. Ein Wunder, dass Raten und Mäuse nicht schon längst alles vertilgt hatten. Eggers öffnete die Schubladen und stieß auf eine Handvoll Briefe. Er blätterte sie durch und legte sie zurück. Amtliche Schreiben, ebenfalls älter als zehn Jahre. Auf dem Tisch lag eine staubbedeckte Wachstuchdecke. Das eingetretene Wasser hatte den Staub zu Klumpen zusammenlaufen lassen. Dann trat er zu den beiden Haushaltsgeräten neben der Spüle.

Ein Geruch von Fäulnis strömte in die Küche, als der Bauunternehmer den Kühlschrank öffnete und Eggers war froh, eine Maske zu tragen. Er hielt sich zusätzlich den Arm vor Mund und Nase und warf die Kühlschranktür wieder zu. Dann hob er den Deckel der Kühltruhe und starrte schweigend auf das, was Cedric vor einigen Stunden entdeckt hatte. Schwerfällig richtete er sich auf. Was für eine Scheiße!, fuhr es ihm durch den Kopf. Er ließ den Deckel wieder zufallen, verließ die Laube, schloss sorgfältig ab und wandte sich dem hinteren Teil des Gartens zu. Das Gras stand hoch, die Hecken waren vor ewigen Zeiten das letzte Mal geschnitten worden. Wie erwartet gab es zwischen einem verrotteten Holzstapel und ein paar Fliederbüschen ein winziges Toilettenhäuschen. Eggers hielt die Luft an und riss die Tür auf. Aber wider Erwarten war kein übler Geruch wahrzunehmen. Er trat ein und leuchtete mit der Lampe in die dunkle Grube unter dem Toilettensitz. Die Natur hatte ihre Arbeit erledigt, im Licht der Taschenlampe war nur festes Erdreich auszumachen. Hier hatte sich schon lange niemand mehr erleichtert.

Er warf einen letzten Blick in die benachbarten Gärten und spähte durch die Fenster der Lauben. Dort war alles leer. Dann trollte er sich in seinen Bürocontainer zurück. Auf dem Weg dorthin zog er die Maske herunter und atmete tief ein. Johannes Eggers wusch sich die Hände, nahm sich einen Kaffee und durchdachte sachlich die verschiedenen Möglichkeiten, wie mit dem Fund zu verfahren war. Er rief die Daten über die fragliche Laube am Bildschirm auf und googelte den Pächter dieser und der benachbarten Parzellen. Er wurde schnell fündig, lachte leise und lehnte er sich zufrieden in seinem Bürostuhl zurück.

Wenn er die Polizei anrief, würden die den Platz sperren und er eine Menge Geld verlieren. Es wären ja nur ein paar Tage, bis er den Fund melden würde, das schien aus seiner Sicht nicht unredlich zu sein. Und schon gar nicht illegal. Heute nach Feierabend würde er den überaus brisanten Fund herausholen und solange verstecken, bis die Arbeiten abgeschlossen waren. Zufrieden mit seinem Plan trank er eine weitere Tasse Kaffee.

Nachdem die Männer am Abend den Platz verlassen hatten, schaltete Johannes Eggers die Überwachungskameras aus.

Kapitel 2

Früh am nächsten Morgen saß Johannes Eggers wieder am Schreibtisch und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Das Treffen mit Wilfried Gerlach war nach seinem Geschmack. Er hatte Spaß an geschäftlichen Reibereien, vor allem, wenn er die Gelegenheit bekam, sich ein paar sogenannte Höhergestellte mal ordentlich zur Brust zu nehmen. Außerdem wollte er sich einige Scheinchen extra sichern. Der Besuch von Wilfried Gerlach brachte beides, zusätzliche Einnahmen und ein bisschen Spaß. Er war mit seiner brüsken Art meistens überzeugend. In derartige Freudenstimmung versetzt, vertilgte er ein dick belegtes Brot und krönte die Mahlzeit mit dem Verzehr eines Schokoriegels. Die Probleme des Vortags hatte er längst abgehakt. Entgegen seinem ursprünglichen Plan hatte er einer plötzlichen Eingebung folgend entschieden, den Inhalt der Kühltruhe auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen.

Nach der nahrhaften Zwischenmahlzeit erledigte Johannes Eggers diverse geschäftliche Telefonate und checkte seine E-Mails.

Gegen 11 Uhr lenkte Wilfried Gerlach seinen blitzsauberen dunkelblauen Jaguar X-Type auf den planierten Platz vor der Zufahrt und stellte ihn in gebührender Entfernung zum Tor ab. Er klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete einer Filmdiva gleich sein Gesicht in dem kleinen Spiegel.

Prüfend entblößte er die Zähne, um nach Resten des kargen Snacks zu suchen, den er auf der Fahrt verzehrt hatte. Er strich die aschblonden, kurz geschnittenen Haare glatt und zupfte seinen schmalen Schnurrbart zurecht. Zum Schluss setzte er eine warme Schirmmütze aus kariertem Wollstoff auf, die farblich genau auf den Futterstoff seiner Burberryjacke abgestimmt war. Mehrmals überprüfte er im Spiegel den korrekten Sitz der Mütze.

Zum Abschluss nahm er ein paar dunkelbraune Handschuhe aus feinem, weichem Nappaleder aus dem Handschuhfach und streifte sie über. In dieser Aufmachung wirkte er wie ein Model aus einer Illustrierten für Männermode des englischen Landadels. An sich war es an diesem Vormittag fast sommerlich warm, aber Wilfried Gerlachs Bekleidung richtete sich nach dem Kalender und nicht nach dem Thermometer.

Durch die Windschutzscheibe betrachtete er missmutig die Muldenkipper, die schnurgerade aufgestellten Abfallcontainer und die beiden Männer, die einen Radlader anließen. Sechs weitere Mitarbeiter in gleicher Arbeitskleidung stapften mit allerlei Werkzeug bewaffnet die breiten Fahrwege auf und ab. Johannes Eggers trat eben zusammen mit Cedric Abramovic aus dem Bürocontainer, kam breitspurig auf sein Auto zu und hob die Hand zum Gruß.

Wilfried Gerlach kletterte aus dem Wagen und begrüßte den Bauunternehmer betont freundlich. Der Bauleiter war Anfang 40, groß und hager, hielt sich aber gebeugt, wodurch er älter wirkte.

„Eggers, guten Tag,“ grüßte er jovial. Den Vorarbeiter beachtete er kaum, sondern speiste ihn mit einem angedeuteten Kopfnicken ab. Dann wandte er sich zum Auto, und zog eine schmale Aktentasche hervor, die farblich in perfekter Harmonie zu seinen Handschuhen passte und klemmte sie sich unter den Arm.

„Tag“, knurrte Johannes Eggers. „Na, dann wollen wir mal.“

Verstohlen musterte er die eigentümliche Aufmachung des Bauleiters. Warum lief der blöde Fatzke bloß wie Lord Dingsbumskirchen höchst persönlich herum. Nur die heruntergeklappte Schrotflinte unterm Arm fehlte.

Cedric Abramovic musterte Heinz Gerlach abfällig und trottete dann schweigend zu einer der letzten Hütten, die von den Radladern verschont geblieben waren. Er überlegte, ob sein Chef diesem aufgeblasenen Menschen von seinem Fund berichtet hatte. Früh am Morgen hatte der Vorarbeiter in die Laube geschaut und festgestellt, dass die Kühltruhe leer war. Der Chef hatte sich darum gekümmert, wie er versprochen hatte. Cedric hielt die Entscheidung seines Vorgesetzten für falsch, hatte aber keine Lust, sich einzumischen. Sein Job war ihm wichtiger. Sollte sich doch Eggers mit der Polizei anlegen, er hatte den Fund pflichtgemäß gemeldet. Und falls die Polizei ihn befragen würde, würde er sich unwissend stellen. Die Fotos hatte er zwar mittlerweile gelöscht, trotzdem war er besorgt, denn Cedric Abramovic hatte schon so einiges erlebt. Und allzu blindes Vertrauen war ohnehin nie angebracht.

Johannes Eggers und Wilfried Gerlach folgten ihm. Der Bauleiter schwieg, aber Eggers erläuterte lautstark schwatzend den Stand der Räumung.

„Dort, sehen Sie, das Vereinshaus ist schon weg und ein Großteil der Hütten natürlich ebenfalls. Ebenso die hohen Bäume rund um das Gelände und auch die meisten Hecken. Nur drüben, ganz am Rand der Anlage stehen noch sehr alte Lauben, fast schon Baracken, da haben nach dem Krieg etliche Familien gehaust, bestimmt so bis in die späten 60er hinein. Ich kann mich da noch dunkel aus meiner Kinderzeit dran erinnern. Später standen die jahrelang leer, keiner wollte sich die Parzellen noch zurechtmachen, weil sie so dicht am Wasser lagen. Zu feucht, zu viel Ungeziefer, zu viele Ratten. Da haben wir keine Schlüssel bekommen, keiner wusste so recht, wem die gehören, nicht mal die Leute vom Vereinsvorstand. Und die anderen Kleingärtner wohl auch nicht, mit den Leuten, die da gewohnt haben, konnte keiner so richtig. Naja, waren ja auch dolle Zustände, Wasser aus der Schwengel-Pumpe, Abwasser und Scheiße in den Eimer und raus aufs Feld oder in den Fluß. Strom Fehlanzeige, Gas aus der Buddel. Petroleumlampen. Na, das ganze alte Zeug, das wird uns jetzt beschäftigt.“

Johannes Eggers holte Luft, bleibt vor einer Reihe Lauben stehen, und stemmte die breiten Fäuste in die Seiten. Gerlach hörte gelangweilt zu. Dieser aufgeblasene Schwätzer. Er hasste es, sich diese alten Geschichten anzuhören, die niemanden interessierten. Pure Zeitverschwendung. Lieber hätte er sein geplantes Date vorverlegt. Die junge Dame wartete auf ihn. Verstohlen schaute er auf sein Smartphone und wandte sich dann halbherzig Eggers und seinen Ausführungen zu.

„So, und hier sind unsere momentanen Sorgenkinder“, schnarrte der. „Buden mit Keller, möchte man sagen. Was da unten alles ist, wissen wir noch gar nicht. Einen Teil haben wir schon ausgehoben, aber hier ist es recht schwierig.“

Cedric Abramovic nickte, setzte seinen Helm auf und trottete zur nächstgelegenen Laube. Wilfried Gerlach verlor die Geduld. Er hatte nicht die leiseste Lust, zwischen Chemieabfällen und vermoderten Fäkalien umher zu stapfen.

„Also nun mal ehrlich, Eggers, was soll denn das? Haben Sie mich nur hergeholt, damit ich mir anschaue, wie dieser Mensch in alten Lauben und Bodenluken herumstochert? Soll das ein Witz sein?“ Er schnippte ein unsichtbares Stäubchen von seiner regendichten Wachsjacke.

Johannes Eggers sah ihn bestürzt an.

„Also, ich dachte, Sie wollten sich ein Bild von der Lage machen. Was glauben Sie eigentlich, was wir hier den ganzen Tag machen? Wir können den ganzen Kram nicht einfach zusammenschieben und wegwerfen. Wenn Sie alles, was wir hier finden in die Müllverbrennung kippen, geht der ganze Laden hoch. Außerdem müssen wir ausschließen, dass etwas von dem Chemiemist ins Grundwasser gelangt. Der Boden hier ist wahrscheinlich sowieso schon konterminiert. Und wenn meine Männer ohne Schutzkleidung damit rumhantieren, können sie schwere Verletzungen davontragen oder sich vergiften. Hätten Sie für eine ordentliche Übergabe gesorgt, würden wir hier nicht derartig im Trüben fischen.“

Wilfried Gerlach zog den Kopf ein, wie eine müde Schildkröte.

Sie hörten Cedric Abramovic rufen und traten näher an die Laube heran, in der er verschwunden war.

„Was gibt es denn hier schönes?“, fragte Johannes Eggers grimmig und steckte den Kopf durch die Tür.

„Jede Menge alte Zelte, Schlafsäcke, Campingkocher und Gasflaschen, dazu uralte Verpflegung. Als wollte jemand auf eine Expedition gehen“, hörten sie Cedrics Stimme. Gerlach und Eggers sahen den Strahl einer Taschenlampe im Dämmerlicht der Hütte herumgeistern.

„Die Flaschen scheinen voll zu sein, zumindest sind sie schwer“, fuhr Abramovic fort. „Wenn wir die rausholen, kann das gefährlich werden. Ich habe keine Ahnung, wie lange der Krempel hier schon liegt. Die Schilder auf den Flaschen sind alle rostig. Vielleicht sollte das eine Spezialfirma machen.“

Johannes Eggers grinste in sich hinein. Abramovic machte das perfekt. Dann wandte er sich listig zu Wilfried Gerlach um. „Das ist es, was ich meine, in einigen Hütten warten echte Überraschungen auf uns. Das kostet Zeit. Möglicherweise müssen wir noch andere Firmen beauftragen. Kommen Sie, ich zeige ich Ihnen mal, was wir schon alles gefunden haben.“

Er zwinkerte Abramovic zu und eilte behände zum Containerplatz. Gerlach folgte ihm missmutig und gelangweilt.

Es sah aus, wie in einem Second-Hand-Laden. Fein säuberlich sortiert standen Möbel aller Art neben Waschmaschinen, Kühlschränken, Gas- und Elektroherden und anderen Haushaltsgroßgeräten.

Die Auswahl von Elektrokleingeräten, die man in fast jedem Haushalt antraf, ließ sich ebenfalls sehen. Radios, Fernsehgeräte, Hi-Fi-Anlagen, Küchenmixer, Heizlüfter tummelten sich in einem Container, Drucker, PC Monitore und Computer in einem anderen. Kinderspielgeräte für den Garten, Rutschen, Wippen, Swimmingpools in allen erdenklichen Größen, Klettergerüste, Schaukeln und Sandkästen füllten einen Weiteren. Gartenmöbel, Sonnenschirme, Grills und Blumenkübel warteten darauf, aufgeladen zu werden.

Kurios und zugleich befremdlich für Gerlach war ein Container, in dem einige Pflegebetten, Rollatoren und Rollstühle standen.

Er schüttelte angeekelt den Kopf.

„Wer braucht denn so etwas in einem Kleingarten?“

„Das kann ich Ihnen nun beim Besten Willen nicht verraten“, polterte Johannes Eggers grimmig. „Und es ist mir auch vollkommen gleichgültig.“

Dann stapfte er an einem großen Stapel ausrangierter Bahnschwellen vorbei, die wegen gesundheitsschädlicher Holzschutzmittel als Sondermüll entsorgt wurden. Vor zwei fest verschlossenen Containern blieb er stehen und zog einen dicken Schlüsselbund hervor.

„So, jetzt zeige ich Ihnen mal die wirklich guten Sachen. Das andere ist ja Kinderkram.“

Die dicken Vorhängeschlösser waren geölt und ließen sich leicht öffnen. Die Containertür bereitete schon mehr Schwierigkeiten. Aber Johannes Eggers war kein schwächlicher Mann. Mit seiner riesigen Pranke packte er den Hebel und stemmte die schwere Tür auf. Mit wuchtigen Schritten betrat er den Container.

Wilfried Gerlach folgte ihm zögernd. Auf den ersten Blick sah er nur große weiße Säcke aus festem Material. Aufgeklebte Warnhinweise und Warntafeln.

Johannes Eggers schob eine Abtrennung aus dicker Folie beiseite, dahinter türmten sich ordentlich in Gitterboxen gestapelte Kanister und Flaschen verschiedenster Größen und Farben.

„Schicke Sammlung, nicht wahr?“, grunzte er zufrieden.

„Sondermüll, soweit das Auge reicht, so wie ich es Ihnen schon gesagt habe.“

Breitbeinig pflanzte er sich vor Wilfried Gerlach auf, stemmt wieder die Fäuste in die Seiten und fragte herausfordernd.

„Wollen Sie den anderen Container auch besichtigen? Damit Sie den Stadtverantwortlichen auch alles richtig beschreiben können? Nach meiner Meinung müssten diese Kleingärtner alle vor den Kadi gezerrt werden. Und da gibt es doch auch Vereinsvorstände, die regelmäßig die Gärten abklappern, soweit ich weiß. Was zum Kuckuck haben die denn all die Jahre besichtigt? Bestimmt nur selbstgebackenen Kuchen und schwarzgebrannten Schnaps.“

„Darum werde ich mich kümmern, keine Sorge, ich habe bereits mit den zuständigen Mitarbeitern bei der Stadt gesprochen“, beschwichtigte Wilfried Gerlach. „Zeigen Sie mir doch mal Ihre Aufzeichnungen, hoffentlich können wir damit was anfangen.“

„Das will ich meinen“, brummte Eggers. „Wollen Sie den Kram in den anderen Containern nun sehen, oder nicht?“ Er klapperte aufmunternd mit seinem Schlüsselbund.

„Danke bestens“, winkte Wilfried Gerlach ab. „Zeigen Sie mir nur die Unterlagen. Schrott habe ich für heute genug gesehen.“

Sorgfältig schloss Johannes Eggers ab und stapfte mit großen Schritten zu seinem Bürocontainer. Wohlige Wärme empfing die Männer und Wilfried Gerlach rieb sich froh die kalten Hände.

„Was haben Sie eigentlich mit dem ganzen Grünzeug gemacht? Das müssen doch etliche Kubikmeter gewesen sein.“

„Das war unterm Strich bisher am problemlosesten, auch wenn tatsächlich eine gewaltige Menge zusammengekommen ist. Der Großteil ist schon weg, alles, was schnell verrottet, Gras, Zweige, Blätter, kleine Pflanzen, das ganze Gartenzeug eben. Das ist alles ins Kompostwerk gewandert und kann da in Ruhe zerfallen. Die größeren Äste und Baumstämme werden für Mulch gehäckselt.“

Prüfend schaute er Wilfried Gerlach an. Hoffentlich wollte der das nicht allzu genau wissen, weil er die großen Stämme und dicken Äste zu einem ausgezeichneten Preis als Kaminholz verkauft hatte. Gerlach war einer von der Sorte, die gern etwas vom Kuchen abbekamen. Aber zu seiner Erleichterung war der Bauleiter mit der Erklärung zufrieden und nickte nur abwesend.

„So, hier ist die Dokumentation.“ Johannes Eggers zeigte auf die große Übersichtskarte, die im Bürocontainer hing. Die Parzellen waren mit Nummern und Namen gekennzeichnet. Daneben gab es eine Legende.

Der Bauleiter betrachtete die Karte verständnislos. „Und woher weiß ich jetzt, was da gelagert war?“

„Mann, sind Sie von vorgestern?“, entfuhr es Eggers. „Es gibt natürlich eine Computerdatei, wo Sie Eintragungen zu allen Parzellen finden. Ein Mitarbeiter kommt jeden Tag für ein paar Stunden und gibt alles sorgfältig ein.“

Er tippte auf seinem Laptop herum und eine schicke farbige Aufstellung erschien, über die sich der Bauleiter gierig beugte. In verschiedenfarbig unterlegten Spalten waren die unterschiedlichsten Einträge zu finden. Sorgfältig unterteilt nach Herkunft und Entsorgungsart. Gerlach war begeistert, hielt sich trotzdem betont zurück, damit die Forderungen von Johannes Eggers nicht ins Uferlose stiegen.

„Ja, recht schön, aber was ist denn das hier?“ Er zeigte auf eine Spalte in Hellviolett.

„Lebende Tiere“, schnauzte Eggers. „Es gab einige, die ihre Meerschweinchen, Kaninchen oder Zwerghühner zurückgelassen haben. Und natürlich Katzen.“

„Was haben Sie mit denen gemacht?“, fragte Wilfried Gerlach entsetzt. Vor seinem geistigen Auge tummelte sich eine Schar Arbeiter an einem Lagerfeuer mit einem Kaninchen am Spieß.

Johannes Eggers verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Was soll die Frage?“, schnaubte er wütend. „Es gibt so was wie ein Tierheim, schon mal gehört? Oder haben Sie gedacht, wir haben die Viecher einfach abgemurkst? Was glauben Sie eigentlich?“

„Kann ich eine Kopie davon haben?“, fragte Gerlach ablenkend, indem er auf den Laptop zeigte.

„Sicher“, antwortete Johannes Eggers langsam mit einem überlegenen Lächeln. „Sobald Sie mir schriftlich die Zusage über die Verlängerung gegeben haben. Sie haben es ja nun selbst gesehen, ich denke, dass eine Woche vertretbar ist.“

Wilfried Gerlach schnaubte wütend. „Ja, verdammt, Sie kriegen Ihre Woche Verlängerung, also schicken Sie mir die Dateien per Mail, damit wir die Pächter zur Kasse bitten können.“

Johannes Eggers warf ihm unter halb geschlossenen Lidern einen schnellen Blick zu. Mit Sicherheit zog der mit den Informationen doch die ganze verdammte Bande im Rathaus über den Tisch, setzte zusätzlich eine fette Kostenposition für sich selber obendrauf und leistete sich davon den nächsten Karibikurlaub oder einen langen Segeltörn.

Laut sagte er. „Geht klar, sobald ich die schriftliche Zusage habe.“

Gerlach räusperte sich unzufrieden, nickte aber und zog seine Handschuhe wieder an, um den Container zu verlassen. Eggers hielt ihn zurück und fragt mit einem verschlagenen Blick. „Was wäre denn für ein Bonus drin, wenn wir den Platz bis zum nächsten Mittwoch räumen, wie geplant?“

„Sie haben mir doch gerade gesagt, das wäre unmöglich.“

„Normal nicht, das ist wahr.“ Der Bauunternehmer kratzte sich den Kopf. „Aber wir könnten vielleicht ein paar Stunden dranhängen. Eventuell kann ich auch von einer anderen Baustelle ein paar Männer abziehen. Was wäre es Ihnen denn Wert, den Platz fristgemäß übergeben zu können?“

Gerlach überlegte kurz und nannte eine Summe, mit der Johannes Eggers mehr als zufrieden war. Trotzdem wiegte er zögernd den Kopf, sagte dann aber zu. „In bar, versteht sich“, brummte er unter zusammengezogenen Brauen.

Der Bauleiter nickte ergeben und verabschiedete sich hastig, bevor Eggers noch etwas fand, um Geld abzusahnen. Auf dem Weg zum Wagen rechnete er sich aus, was er draufschlagen sollte, damit er selber bei dem Geschäft nicht zu kurz kam.

Dann wandten sich seine Gedanken der überaus entgegenkommenden brünetten jungen Dame zu. Schutt und Müll waren vergessen. Im Rückspiegel lächelte er seinem Konterfei verführerisch zu und tippte grüßend an den Mützenschirm. Der Tag entwickelte sich prächtig. Er überlegte, sich eines der schmalen, schicken Zigarillos anzustecken, entschied sich aber dagegen. Das hatte Zeit für später, wenn er ausgelotet hatte, wie sie zum Thema Rauchen stand.

Nachdem Gerlach den Baucontainer verlassen hat, blieb Eggers allein zurück und schlürfte genüsslich Kaffee.

Von Cedrics Fund hatte er dem Bauleiter nichts erzählt.

Der Vorarbeiter sah den glänzenden dunkelblauen Wagen ebenfalls davonfahren und fragte sich, ob die beiden Männer darüber gesprochen hatten.

Kapitel 3

Ungehalten trat Julie Wagner in die Pedale des geliehenen Kinderfahrrads. Bei jeder dritten Umdrehung klackte es unangenehm im Tretlager und ihr rechter Fuß ruckte ein Stück ins Leere. So etwas mochte das kleine Mädchen überhaupt nicht.

Ihr eigenes Fahrrad lief spielend leicht, ohne zu rucken oder zu klappern. Sie putzte es immer sorgfältig, die Speichen blitzten im Sonnenlicht wie Silber und der Lenker glänzte, sodass sie sich darin spiegelte. Aber die Familie hatte die Räder dieses Mal nicht mitgenommen.

Das abgenutzte Kinderfahrrad vom Vermieter der Ferienwohnung, mit dem sie sich herumärgerte, hatte überall unansehnliche Roststellen. Lenker, Felgen und Speichen waren stumpf und mit ekeligen braunen Pickeln übersäht. Die Plastiküberzüge an den Griffen klebten an den Fingern. Außerdem war auf der linken Seite das Endstück des Griffes eingerissen und klappte immer hin und her, wenn Julie dagegen kam.

Das Mädchen schaute zu Lotti hinüber, die unermüdlich neben ihrem Rad trabte. Die rosa Zunge hing aus der langen Schnauze und die weichen Haare hinter den Ohren wippten im Takt. Sie würde niemals vorauslaufen oder zurückbleiben. Ihre Nase hielt sie exakt auf gleicher Linie mit dem Vorderreifen des Rades.

Ab und an warf die Bordercollie-Hündin Julie einen Blick zu, um die Distanz zu prüfen. Die Ohren mit dem seidigen Fell bewegten sich unentwegt vor und zurück.

Einige Meter hinter Julie fuhr ihre Mutter, Sandra. Lars Wagner bildete den Schluss. Er transportierte das jüngste Familienmitglied, den dreijährigen Sven im Kindersitz auf dem Gepäckträger. Lächelnd beobachtete er seine Familie, den stets aufmerksamen und eifrigen Hund, seine achtjährige Tochter, die sich tapfer mit dem fremden Fahrrad abmühte, ohne sich zu beschweren, und seine Frau, die eine Picknickdecke, Lunchpakete und Getränke in Ihrem Fahrradkorb verstaut hatte.

Der Radweg war angenehm zu fahren, links schimmerte das träge fließende Wasser der Aller im weichen Sonnenlicht, rechts dehnten sich Wiesen und Felder unter einem zartblauen Himmel. Die Sonne schien um die Mittagszeit noch kräftig und warm. Es roch nach Erde und modrigem Schilf. Um diese Jahreszeit hatten die Mücken keinen Appetit mehr auf Menschenblut. Und es war mild genug, für eine lange Radtour und ein Picknick am Flussufer. Bienen und Hummeln gaukelten in spät blühenden Wiesenblumen und suchten summend nach Nektar.

Sandra hielt an und drehte sich zu Lars um. Sie zeigte auf eine kleine Lichtung mit dichtem, festgetretenem Gras unweit des Flusses. Er stieg vom Rad und nickte zustimmend. Dann hob er Sven aus dem Kindersitz. Sandra rief nach ihrer Tochter.

„Julie, komm zurück, wir machen hier Rast. Lotti hat bestimmt Durst.“

Das Mädchen sprang vom Fahrrad und trottete mit dem Hund zu den Eltern. Sorgfältig lehnte sie das Rad an einen Baumstumpf. Die Hündin stand dicht bei ihr und wartete geduldig, bis Julie das Rad so abgestellt hatte, dass es nicht umfiel.

„Ich geh mit ihr zum Fluss, da kann sie dann gleich trinken“, zwitscherte die Kleine und hüpfte mit wippendem Pferdeschwanz die wenigen Schritte bis zum Ufer, dicht gefolgt von der Hündin. Lotti schaute das Mädchen fragend an und suchte sich eine flache Stelle. Mit den Vorderpfoten im Wasser stehend soff sie geräuschvoll, schüttelte sich nach Hundeart und trabte an Julies Seite zurück zu den Eltern. Sicher war in den köstlich duftenden Päckchen etwas Leckeres für sie zu fressen dabei. Erwartungsvoll schaute die Hündin zu Sandra auf, die ihr lächelnd eine Plastikschüssel mit Hundekeksen hinstellte.

Aber Lotti verschmähte die Kekse und schob sich voller Hoffnung zwischen Sven und Julie, die bequem auf der weichen Thermodecke saßen. Das Mädchen nahm sich ein Brot mit Salami, teilte es in zwei Hälften und hielt Lotti eine davon hin, bevor sie herzhaft in die andere biss.

Die Hündin nahm das Brot vorsichtig aus der Kinderhand und legte sich hin, um es genüsslich zu vertilgen. Dann schnüffelte sie auf der Decke umher, um etwaig heruntergefallene Krümel aufzulesen. Julie lachte und griff nach einem Brot mit Löcherkäse, das sie ebenfalls mit Lotti teilte.

Sven kaute bedächtig an einem Käsebrot und beobachtete aufmerksam, wie die Hündin geschickt das Brot verzehrte. Er hielt ihr ein Stück von seinem eigenen hin. Lotti pulte die zerdrückte Schnitte mit dem zermatschten Käse umständlich zwischen seinen Fingerchen heraus, ohne die Haut des Jungen mit den Zähnen zu berühren.

Zum Schluss leckte sie mit der feuchten rosa Zunge die krümelige Pampe aus Butter und Brot sorgfältig ab.

„Das kitzelt“, lachte Sven vergnügt und streckte seiner Mutter die klebrige Handfläche entgegen.

„Sie wird dick und faul werden“, sagte Lars grinsend und kraulte Lotti liebevoll.

„Das wird sie nicht“, widersprach Julie energisch und mit Hundekennermiene. „Schließlich musste sie den ganzen Weg zu Fuß gehen und das auch noch neben den Fahrrädern, da braucht sie Kraft.“

Sandra und Lars zwinkerten sich zu. Ihre tierverrückte Tochter. Vor sieben Jahren war Lotti als Welpe zu den Wagners gekommen. Damals versuchte sich ihr Töchterchen an den ersten paar Schritten auf wackeligen Beinchen.

Eine Familie aus der Nachbarschaft hatte sich den kleinen Hund angeschafft und zog wenige Wochen später plötzlich fort. Niemand aus der Gegend verstand, warum sie Hals über Kopf die Koffer packten.

Der Umzugswagen hatte vor der Tür gestanden, als die Nachbarin mitten im Gewühl der Möbelpacker mit dem jungen Hund an der Leine zu den Wagners gekommen war. Ohne jedes Mitleid hatte sie gefragt, ob sie ihn nehmen würden, weil er sonst ins Tierheim käme.

Die Wagners hatten keinen Moment gezögert. Sie hatten nur einem Blick auf die ungeliebte und unglückliche kleine Hündin geworfen, sie kurzerhand aufgenommen und in ihre Herzen geschlossen.

Lotti hatte sich ohne Federlesen in die Familie integriert und war überall dabei. Sie liebte ihre Menschen innig, wenn man das von einem Hund behaupten kann. Bei Julies Einschulung schien sie erstaunt zu sein, dass sie nicht mit den anderen Kindern im Klassenzimmer sitzen durfte. Aber letztlich betrachtete sie es als ihre Aufgabe, am Vormittag auf den kleinen Bruder und die Spielsachen aufzupassen. Nachmittags lag sie zu Julies Füßen, wenn diese ihre Hausaufgaben erledigte, und war aus dem Haus der Wagner nicht wegzudenken.

Sandra schraubte die Thermoskanne auf und goss Kaffee für sich und Lars in dickwandige Becher. Die Kinder bekamen Limonade.

Bald war das leckere Mahl verzehrt. Die Eltern packten zusammen, das Mädchen und die Hündin liefen wieder zum Ufer hinunter. Der Hund sprang ins Wasser und wartete darauf, dass Julie kleine Stöckchen warf.

Dicht am Ufersaum führte ein schmaler, mit Kaninchenkot übersäter Pfad durch morastiges Gelände. Gemächlich schlenderten Lars und Sandra Wagner den Weg entlang. Sven saß wippend auf der Schulter seines Vaters und hielt sich an dessen Ohren fest. Das Mädchen hüpfte hinterher. Lotti tapste neben ihnen im flachen Wasser.

Direkt an der Wasserkante drängten sich Erlen mit herbstlich verfärbten Blättern. Der leichte Wind verfing sich darin und erzeugte ein raues, seltsam rasselndes Geräusch.

Etwas weiter entfernt stand eine kleine Gruppe Birken mit dürren, herabhängenden Zweigen.

Zwischen den Wiesen schlängelte sich von der nächsten Ortschaft her ein schmaler, geteerter Fahrweg zum Ufer herunter, wo er in einem kleinen Wendeplatz mündete. Hier stand eine mächtige Trauerweide dicht am Wasser, die ihre weichen Zweige mit den typischen, länglichen Blättern weit hin ausbreitete. Etliche Buchen und Ahornbäume bildeten zusammen mit der Weide, einem Kastanienbaum und allerlei Sträuchern fast so etwas wie ein kleines Wäldchen. Zu Sandras Erstaunen waren die Grasflächen um den geteerten Wendekreis zerfahren und aufgewühlt. Duzende Reifenspuren waren zu erkennen, einige schon eingetrocknet und hart, andere frisch. Dicke Lehmbrocken aus den Reifen zierten die Fahrbahn.

„Meine Güte, so weit weg von der nächsten Ortschaft, wer mag sich denn hierher verirren“, wunderte sich Sandra.

„Ich könnte mir schon so einige Leute vorstellen, die sich hier mal eben so treffen“, grinste Lars und kicherte, als seine Frau errötete.

„Also weißt Du! Aber anscheinend wird der Platz aber auch zu anderen Gelegenheiten genutzt“, konterte Sandra scharf und deutete auf diverse Gartenabfälle, Rasenschnitt und Zweige von Hecken und Sträuchern, die sich hinter den hohen Bäumen türmten.

Die Luft roch durchdringend nach vergorenem Fallobst.

Julie rümpfte angeekelt die Nase.

„Igitt, das stinkt ja schauderhaft. Komm Lotti, lass uns lieber wieder ans Wasser gehen.“

Munter hüpfte sie dem Hund voraus zurück zum Ufer. Mitten in der Bewegung blieb das Tier stocksteif stehen. Die Hündin drehte sich um und hob die Nase witternd in die Luft. Dann stakste sie steifbeinig auf Lars zu, sah unverwandt zu ihm auf und trottete langsam in Richtung der hohen Berge mit Gartenabfällen. Sie richtete die Nackenhaare auf und knurrte leise.

Lars Wagner schaute seine Frau fragend an, die unmerklich mit dem Kopf nickte, dann folgte er dem Tier. Nach ein paar Schritten sah er unter einem Haufen von langen Strauchabschnitten ein kariertes Stück Stoff oder Plastik herausragen. Lotti blieb davor stehen, winselte leise und heftete ihren Blick wieder auf Lars.

Sandra kam hinter den beiden her.

„Was hat sie denn?“, fragte sie ihren Mann.

„Ich weiß nicht, aber ich werde mal nachschauen. Nimmst Du den Jungen?“

Sandra nahm Sven auf den Arm. Lars näherte sich dem karierten Fetzen vorsichtig. Er bückte sich hinunter, richtete sich dann blitzschnell wieder auf und stolperte hastig ein paar Schritte zurück. Um ein Haar wäre er über einen dicken Ast gefallen und behielt nur mühsam das Gleichgewicht. Aufgeregt drehte er sich zu seiner Frau um und eilte auf sie zu. „Lotti“, rief er den Hund, „komm her, du bist ein gutes Mädchen, aber jetzt komm her.“

Schon hatte er das Handy in der Hand, tippte und sprach, als er Sandra erreichte. Seine Stimme klang gehetzt und etwas schrill. Er war bleich und sah erschrocken aus.

„Hallo, ja? Mein Name ist Lars Wagner. Wir sind hier an einem kleinen Wäldchen am Flussufer in der Nähe, äh Moment, wie heißt doch dieser Ort...? Hier liegen Gartenabfälle und so. Wissen Sie wo ich meine? Ach, Sie können mein Handy orten, sehr gut. Ich denke, Sie sollten sehr schnell herkommen, hier liegt etwas, das aussieht wie die Hand eines Menschen.“

Bei den letzten Worten trat er ein paar Schritte beiseite und drehte sich um, damit Sven ihn nicht hören würde. Sandra verstand, sagte aber nichts und stellte keine Fragen. In einer unbewussten Bewegung drückte sie ihren Sohn an sich und legte die Hand auf sein Ohr. Lars Wagner entfernte sich ein Stück, sprach, fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht. Hin und wieder nickte er, gestikulierte, als würde die Person am anderen Ende ihn sehen und wanderte dabei aufgeregt auf und ab.

Lotti saß folgsam neben Sandra und schaute unverwandt zu ihr auf. Julies Stimme war vom Flussufer her zu hören. Sie rief nach der Hündin und das Tier winselte leise.

Lars beendete das Gespräch und kam mit langen Schritten zu Sandra gestürmt. Sein Gesicht war kalkweiß. Er nahm seine Frau in den Arm und flüsterte leise in ihr Ohr. „Wir müssen unbedingt vermeiden, dass die Kinder etwas davon mitbekommen. Ich weiß nicht genau, was dort wirklich liegt, aber wenn es das ist, wonach es aussieht.....! Und dann dieser Geruch.“ Er schüttelte sich angewidert. „Am besten, Du gehst zurück zu den Rädern. Ich warte hier auf die Polizei.“

Sandra schluckt schwer, nickte dann aber. „Ja, klar, wir trinken noch was und essen Schokolade.“