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Braunschweig, 1955: Elfi Hein stolpert ausgerechnet beim Zahnarzt über die Leiche einer Frau. Ihr Bruder, Kriminalkommissar Felix Jensen, übernimmt den Fall, doch Elfi kann nicht anders, als auf eigene Faust zu ermitteln. Während die beiden ungleichen Geschwister einem tödlichen Geflecht aus Lügen, verborgenen Identitäten und verdrängten Traumata nachgehen, tauchen immer mehr dunkle Geheimnisse auf. Warum verschwindet der mysteriöse Zahnarzt? Was verbarg das Mordopfer? Und was hat ein Holocaust-Überlebender damit zu tun? Als ein zweiter Mord geschieht, erkennen Elfi und Felix, dass sie auch ihrer eigenen Vergangenheit nicht entkommen können.
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Seitenzahl: 651
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Oma Liesel
Gerlinde legte den Füller zur Seite. Mit dem Blick fuhr sie die Signatur nach, die Winkel jedes Schnörkels, die Genauigkeit jedes I-Punkts. Sie hatte diesen Namen schon lange nicht mehr unter ein Dokument gesetzt.
Seitdem sie vor ein paar Wochen vor diese Entscheidung gestellt worden war, hatte sie zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran gehabt, das Richtige zu tun. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben nie ins Bockshorn jagen lassen. Sie wusste, was sie wollte. Sie wusste, was sie verabscheute. Und sie verlor keinen Schlaf darüber, klare Grenzen zwischen diesen Dingen zu ziehen. Dass sie nun auf ihrer inneren Unruhe herumkaute wie auf einem zähen, kalten Stück Fleisch, zeigte ihr nur deutlich, dass es Zeit wurde für diesen endgültigen Schlussstrich.
Das Klicken und darauffolgende Rattern eines mechanischen Uhrwerks ließen Gerlinde zusammenzucken. Die Nacht fungierte als Lautsprecher, leitete alle Geräusche direkt unter die Haut. Automatisch sah Gerlinde zur Wand, an der die Schwarzwälder Kuckucksuhr hing. Abgesehen davon, dass diese Art von Wandschmuck für einen Arbeitsplatz völlig unangemessen war, bewies die Gattin des Chefs erneut ihren ungeheuren Mangel an Geschmack. Wahrscheinlich war das Machwerk teuer gewesen, das würde zu ihr passen. Klasse konnte man sich eben nicht kaufen. Wenn Gerlinde selbst erstmal zu Geld gekommen wäre, würde sie sich nur noch mit eleganten Dingen umgeben. Schönen Dingen. Dingen, die wertvoll und von Dauer waren, deren Integrität niemals infrage stand. Gegenstände waren beständiger als Menschen.
Gerlinde lauschte. Nichts, außer dem entfernten Geräusch eines Automobils aus Richtung des Staatstheaters. Noch zehn Minuten. Eine Ewigkeit.
Sie rieb die Hände an ihrem Rock ab. Eine ekelhafte Geste, unstet, unkontrolliert. Sie schafften es doch immer wieder, dass sie zur kleinsten, verachtenswertesten Version ihrer selbst wurde.
Ihr Blick verfing sich an dem Namen oben auf der ersten Seite des Dokuments, das sie soeben unterschrieben hatte. Unbehagen kroch an ihrem Rückgrat empor. Ihre Hand krampfte sich um das Schreiben, dessen dickes Papier sich nicht raschelnd zusammenballen ließ, sondernerstaunlich festen Widerstand leistete.
Bevor die Angst sich wie ein schweres, muffiges Tuch auf ihr niederlassen konnte, duckte Gerlinde sich unter ihr hinweg, faltete das Blatt in ihrer Hand sauber in drei Teile und schob es in einen Umschlag, auf den sie in Großbuchstaben AN DIE POLIZEI schrieb. Dann nahm sie den Brief, den sie zuvor verfasst und bereitgelegt hatte, und hielt inne, um ihn noch einmal zu lesen. Unerwartet wallte Wärme in ihr hoch. Sie kam sich albern vor, trotzdem strich sie in einer liebevollen Geste mit dem Zeigefinger über die Anrede, als könne sie dadurch Nähe herstellen. Schließlich riss sie sich zusammen und steckte den Brief mitsamt dem ersten Umschlag in einen größeren. Zu ihrem eigenen Erstaunen stellte sie fest, dass sie zitterte.
Sie sah erneut zur Kuckucksuhr hinüber. Nur noch sechs Minuten.
Die Kastanie vor dem Fenster klopfte an das Glas. Der Wind war in der letzten Stunde kräftiger geworden und trieb die Wolken vor sich her wie Schafe. Immer wieder lugte der Mond hervor und verschwand wieder.
Gerlinde adressierte den Umschlag, frankierte ihn und legte ihn in die Postkiste, die am Montagmorgen abgeholt würde.
Allmählich atmete sie ruhiger. Ihre Hände waren wieder trocken. Was eine kleine Vorsichtsmaßnahme alles bewirken konnte. Vermutlich übertrieb sie, aber sie hatte sich geschworen, vorsichtiger zu sein. Sie hatte bereits einen Fehler gemacht. Das war dumm gewesen, aber noch dümmer wäre es, sich davon erschüttern zu lassen.
Noch zwei Minuten. Es fiel ihr schwer, hier ruhig zu sitzen und zu warten, als ginge es zum Schafott. Kurz überlegte sie, ob sie Annes Schreibtisch aufräumen sollte, auf dem es schon wieder aussah wie Kraut und Rüben. Dankbar hielt sich Gerlinde an der Vertrautheit fest, die dieser Gedanke in ihr hervorrief. Wenn Anne ihren ordentlichen Schreibtisch sähe, würde sie ihr dieses verlegene Lächeln schenken und dankbar behaupten, dass Gerlinde ihre Zeit verschwendete, wenn sie für sie aufräumte. Anne begriff nicht, dass sie die erste Freundin in Gerlindes Leben war, die sie akzeptierte, wie sie war. Sie begriff nicht, wie viel Gerlinde das bedeutete. Trotz ihres dummen Streits. Sie würden eine Lösung finden.
Das jähe Rufen des Kuckucks riss Gerlinde aus ihren Gedanken. Dieses Unding krächzte blechern vor dem Hintergrund einer Nacht in unheilvoller Warteposition.
Unten im Haus klappte die Tür zu. Er war pünktlich. Eine sich ins Endlose dehnende Stille, dann die ersten Schritte im Treppenhaus. Zögerte er? War er etwa auch nervös? Sie hatte die Eingangstür offengelassen, damit er nicht klingeln musste. Die Schritte nahmen an Bestimmtheit zu.
Gerlinde setzte sich aufrecht hin. Nicht mehr lange, und sie würde frei sein.
PROLOG
EINS
EINS
ZWEI
DREI
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHSZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
DANKSAGUNG
BIBLIOGRAFIE
Die Abneigung gegen Zahnarztbesuche war eines der wenigen Dinge, die Elfi Hein mit ihren Brüdern gemeinsam hatte.
Sie saß im Wartezimmer von Dr. Bruch, das direkt einem Ausstellungskatalog von Willi Baumeister entsprungen sein könnte, blätterte, ohne hinzusehen, in der Constanze, und konnte nicht umhin, sich an Felix‘ Wurzelbehandlung im letzten Herbst zu erinnern, die ihren stoischen ältesten Bruder an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte.
Es ist nur ein Vorsorgetermin, sagte sie sich nicht zum ersten Mal an diesem frühen Morgen. Wahrscheinlich muss gar nicht gebohrt werden.
Aber es hatte keinen Zweck. Elfi spürte, wie die Seiten der Zeitschrift unter ihren schwitzigen Fingern wellig wurden. Um weiteren Schaden zu verhindern, strich sie das Papier hastig glatt und wollte die Zeitschrift gerade zurücklegen, als ein spitzer Schrei aus dem Behandlungszimmer sie aus ihrem Stuhl hochschießen ließ.
Elfi durchquerte das Wartezimmer und riss dabei die Zweige der Weidenkätzchen um, die, ungeschickt in der Mitte des Wartezimmers drapiert, alle Patienten zwangen, sich an ihnen vorbeizuschieben. Sie zuckte zusammen, als sie hörte, wie die schwere Kristallvase umstürzte, lief aber weiter.
Das Behandlungszimmer lag jenseits des Empfangstresens.
»Fräulein Peters?« Sie trat an die geschlossene Tür und klopfte an. »Fräulein Peters, brauchen Sie Hilfe?«
Die Antwort bestand lediglich aus einem leisen Wimmern, das Elfi als Aufforderung verstand. Sie öffnete die weiß lackierte Tür und betrat das Behandlungszimmer, in dem es nach Desinfektionsmitteln und Angstschweiß roch und auch ein bisschen metallisch. Das Licht dieses Aprilmorgens fiel noch leicht benommen durch die frisch gewaschenen Baumwollvorhänge. Elfi erblickte die aufgelöste Sprechstundenhilfe, die neben dem Behandlungsstuhl stand, umringt von Apparaturen aus blankpoliertem Chrom und hochwertig wirkendem Plastik und Kunstleder. Als ihre Blicke sich trafen, erkannte Elfi einen Ausdruck in ihren Augen, den sie seit dem Kriegsende vor zehn Jahren nicht mehr gesehen und keinesfalls vermisst hatte. Nur den Bruchteil einer Sekunde später bestätigte sich ihr Verdacht.
Sie trat einen Schritt näher. Dann noch einen. Schließlich stand sie neben Fräulein Peters und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.
»Kommen Sie. Wir müssen die Polizei benachrichtigen.«
»Aber ... ich glaube, sie ist tot?«
»Genau deswegen. Kommen Sie.«
Elfi verstärkte den Druck ihrer Hand und führte die Frau aus dem Raum. Im Wartezimmer drückte sie sie in einen der modernen, furchtbar unbequemen Plastikstühle und trat hinter die Rezeption.
»Vermittlung? Verbinden Sie mich bitte mit der Polizei. Ja, es ist dringend.« Elfi warf einen Blick zu Fräulein Peters hinüber, die auf ihrem Stuhl immer mehr in sich zusammensank. Die frisch gewellte Lockenpracht passte sich der Bewegung an. Elfi senkte ihre Stimme. »Es scheint so, als wäre hier eine Frau ermordet worden.«
Nachdem Elfi der Polizei die genaue Adresse in der Jasperallee genannt hatte, legte sie auf und füllte Fräulein Peters ein Glas Wasser in der kleinen Kaffeeküche. Die sorgfältig getuschten Wimpern der Frau bewegten sich unnatürlich schnell.
»Trinken Sie langsam und atmen Sie tief zwischen den Schlucken.«
Elfi sah über Fräulein Peters hinweg in Richtung des Behandlungszimmers. Sie tätschelte die Schulter der Frau, die von Schnappatmung allmählich in leises Stöhnen überging, unterbrochen nur vom sporadischen Hicksen eines Schluckaufs, der sie zwang, ihre Frage zweimal zu stellen: »Wo wollen Sie denn hin?«
Ertappt hielt Elfi inne. »Ich will nur nachsehen, ob das Fenster da drin geschlossen ist.«
»Aber verändern Sie bloß nichts. In den Krimis steht doch immer, dass man nichts am Tatort anfassen darf.«
Beruhigt wandte sich Elfi um, auch wenn Fräulein Peters noch nicht so weit auf der Höhe war, um Elfis fragwürdige Erklärung zu durchschauen. Aber wer sich an die Regeln in Krimis erinnerte, war sicher auf dem Weg der Besserung.
Natürlich hatte Fräulein Peters recht. Nichtsdestotrotz hätte Elfi gern ein Fenster geöffnet, als sie in das Behandlungszimmer zurückkehrte. Es wäre hysterisch anzunehmen, dass der Körper der armen Toten bereits Gerüche verströmte. Trotzdem löste die Situation in Elfis Langzeitgedächtnis eine Lawine von Erinnerungen aus, die ihr den olfaktorischen Eindruck von Verwesung und Blut und angstklammer Haut in die Nase trieb. Sie unterdrückte einen Würgereiz und zwang sich, näher an die Frau heranzutreten.
Die Tote war nicht älter als dreißig Jahre, wahrscheinlich ein paar Jahre jünger. Sie trug Makeup, kaum verschmierte Wimperntusche und sogar noch Reste eines relativ grellen Lippenstifts, der es schwierig machte, ihr wahres Alter auf Anhieb zu erraten. Elfi beugte sich kurz über das Gesicht. Keine Lippenfältchen. Definitiv jünger als dreißig. Die Kleidung war ordentlich, aber nicht teuer. Figurbetont, dachte Elfi, auch wenn sie nicht festmachen konnte, woher dieser Gedanke genau kam. Die Tote war nicht anders gekleidet als sie selbst, mit dunklem Rock, heller Bluse, Schuhen, deren Hacken eher vernünftig als schick waren, und einem zum Rock passenden Mantel aus Polyester. Vielleicht war der Rock ein Ticken enger geschnitten, der Ausschnitt der Bluse etwas tiefer und die Hacken doch ein, zwei Zentimeter höher? Zuweilen schufen nur wenige Millimeter Welten zwischen zwei Säumen.
Die Frau saß in dem Zahnarztstuhl, als würde sie nur auf den Doktor warten. Ihre Arme lagen ordentlich auf den Lehnen auf, nur ein Bein war von der Fußstütze gerutscht und hing seitlich herab, das einzige Zeichen, neben der Leblosigkeit ihrer Augen, dass sie tot war. Aber woran war sie gestorben?
Im Augenwinkel bemerkte Elfi, dass etwas aus der rechten Manteltasche der Toten zu fallen drohte. Sie durfte nichts berühren, aber sicherlich wäre auch niemandem damit gedient, wenn etwas vom Fundort verloren gehen würde? Und wenn sie das Papier nun ganz vorsichtig zurückschob, um es zu sichern, und es dabei in ihre Hand rutschte, dann wäre es wohl ihre Pflicht, es aufzufangen.
Elfi sah kurz zur Tür, tippte dann den Zettel an und ließ ihn geschickt in ihre Handfläche gleiten. Zu ihrem Glück hatte sie heute Morgen daran gedacht, sich die dünnen Lederhandschuhe überzuziehen, die Arnold ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Sie drehte den Zettel um. Es war ein Busfahrschein von Braunschweig nach Otternrode und retour. Wo, um Himmels Willen, war Otternrode? Der Stempel gab den 17. April 1955 an, also gestern, ein Sonntag. Hatte die Tote einen Ausflug gemacht? Jemanden besucht? Zumindest bot die Fahrt eine mögliche Spur, die Identität der Frau herauszufinden, sollte sie keine Ausweispapiere bei sich haben.
Elfi schob das Billett zurück in die Manteltasche und trat noch einen Schritt näher, inzwischen über jede Hemmung hinaus. Sie betrachtete aufmerksam das Gesicht. Attraktiv musste sie gewesen sein, auf eine bewusste, fast geübte Art, dachte sie und ließ ihren Blick langsam über die dauergewellten blonden Haare, die Stupsnase und den großzügigen Mund gleiten. An ihrem Hals fand Elfi schließlich, was sie suchte. Würgemale. Deutlich zeichneten sich die Abdrücke von Fingern auf dem Weiß der Haut ab, rot und roh.
Wut übermannte Elfi darüber, dass ein Leben ausgelöscht worden war. Was konnte jemanden veranlasst haben, diese Frau zu töten? Welchen Grund konnte es geben, dass es für jemanden wichtig war, dass sie nur einen Bruchteil ihrer Lebensjahre erleben durfte? Mit welchem Recht hatte jemand diese Entscheidung an sich gerissen?
Ein Impuls wollte Elfi veranlassen, zumindest das Gesicht der Toten mit ihrem eigenen Halstuch zu bedecken, aber Fräulein Peters hatte immer noch recht. Sie sollten an diesem Ort nichts verändern, auch wenn Elfi nicht glaubte, dass es sich um den Tatort handelte. Dafür zeigte er zu wenige Merkmale, die sie mit einem gewaltsamen Tod verband. Er war weder wüst noch chaotisch. Die Gewalt war, wenn nicht verdeckt, so doch zumindest sortiert worden, so dass sie nicht direkt ins Auge fiel. Hier war jemand mit Bedacht vorgegangen. Fast mit Zuneigung.
Warum ausgerechnet in der Zahnarztpraxis?
Von der Rezeption her drangen Stimmen zu ihr. Elfi warf noch einen Blick auf den Rest des Raums, konnte aber in der Eile keine weiteren Hinweise finden und verließ das Behandlungszimmer mit der zornigen Anteilnahme, die sie immer verspürte, wenn Leben brutal verschwendet wurde.
Im Wartezimmer hatte sich in ihrer Abwesenheit eine kleine Menschentraube von sechs Personen versammelt. Fräulein Peters hatte sich wieder gefasst, stand hinter dem Empfangstresen und erklärte jedem eintrudelnden Patienten, warum die Sprechstunde heute ausfallen musste. Die Reaktionen auf den Gesichtern variierte von Entsetzen über Erstaunen bis zu unverdeckter Sensationslust.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Elfi einen Mann mit silbrigem Mittelscheitel um die Fünfzig, der sich an ihr vorbeischob offensichtlich mit dem Ziel, sich selbst von der Leiche ein Bild zu machen. Elfis Gesicht verfinsterte sich. Nicht umsonst nannte Arnold diesen Ausdruck in ihrem Gesicht die Verdammnis. Ihr Ehemann konnte auf unerwartete Weise dramatisch werden, aber bisher hatte dieser Blick Elfi stets gute Dienste geleistet, wann immer sie Menschen in ihre Grenzen weisen musste. Auch dieser Herr zog es vor, sich auf keine Diskussion einzulassen, und trat wortlos zurück zu den anderen Patienten.
»Fräulein Peters?« Elfi trat auf die Sprechstundenhilfe zu, die dazu übergegangen war, die Seiten des Terminbuchs flattern zu lassen. »Haben Sie vielleicht ein Seil oder so etwas?«
»Wofür?«
»Um das Behandlungszimmer abzusperren und die Tote vor Neugierigen zu schützen.« Elfi besaß durchaus die ehrliche Selbstwahrnehmung, um die Ironie in dieser Aussage zu erkennen, aber sie besaß auch ein ausreichend großes Vermögen an Verdrängungskraft, um sich nicht unnötig zu belasten.
»Würde ein Schlüssel auch reichen?« Fräulein Peters zog eine Schublade auf und hielt ein Schlüsselbund in die Höhe. »Es ist der runde.«
Elfi nahm den Bund entgegen und ging abschließen. Sie widerstand der Versuchung, noch einmal nach der Toten zu sehen, bevor die Polizei ihr den Zugang verwehren würde, aber in Hinblick auf die Personen im Vorraum wagte sie es nicht.
»Haben Sie sie gesehen?«, fragte eine Dame mit violettem Filzhut und Lorgnon Elfi, als sie zu den anderen zurückkehrte, und stieß mit ihrem Ellenbogen in Richtung des Behandlungsraums. »Haben Sie abgeschlossen, weil alles voller Blut ist?«
Eine schmale, dunkelhaarige Frau in einem erstaunlich roten und, dem feuchten Ansatz ihrer Haare nach zu urteilen, zu warmen Wollmantel zuckte zusammen. »Müssen Sie sich so grob ausdrücken?«
Die Filzhutdame hob eine Augenbraue. »Besser grob ausdrücken als im Ungewissen bleiben. Immerhin wollen wir alle noch einmal auf diesem Stuhl sitzen.« Das halbe Dutzend der übrigen Anwesenden sah einander verunsichert an. »Da ist es doch gut zu wissen, womit man es zu tun hat.«
»Ich weiß nicht, ob ich hier meine Behandlung fortsetzen möchte«, sagte der Herr um die Fünfzig. Zustimmendes Grummeln wurde laut.
Die Filzhutdame lachte. »Wieso denn nicht? Solange Dr. Bruch die Frau nicht selbst abgemurkst hat.«
»Ich wünschte, Sie hätten etwas mehr Respekt vor der Verstorbenen«, sagte die Dunkelhaarige, offensichtlich um einen festen Ton bemüht.
»Und ich wünschte, ich hätte ein Chalet in Nizza mit dazu passendem Butler im Livrée, aber dieses Leben ist nun mal keines, in dem einem im Allgemeinen Wünsche erfüllt werden.«
»Wir sollten abwarten, was die Polizei meint. Ich glaube nicht, dass Dr. Bruch ein Mörder ist«, wandte der Herr ein.
»Das beruhigt mich kolossal, dass Sie das nicht glauben.« Damit setzte die Filzhutdame einen Punkt hinter die Diskussion.
Der neugierige Herr war aber noch nicht fertig. »Wo ist der Herr Doktor überhaupt?«
Die Gruppe sah geschlossen Fräulein Peters an. Aufgeschreckt durch die plötzliche Stille sah sie von ihrem Terminbuch auf. »Was? Habe ich etwas verpasst?«
»Wir fragen uns, wo Dr. Bruch ist«, wiederholte die Filzhutdame. »Wäre sein erster Termin nicht längst an der Reihe?«
Elfi musste ihr zustimmen, auch wenn ihr die Frau herzlich unsympathisch war. Aber sie wusste zufällig genau, dass der erste Termin bereits hätte abgeschlossen sein müssen, weil sie sich diesen immer geben ließ, um nicht im Wartezimmer sitzen und sich das Bohren und Sirren und Schreien aus dem Nebenraum anhören zu müssen, bis entweder ihr Flucht- oder Kampfinstinkt einsetzte.
Wie viel Zeit war vergangen, seitdem sie Fräulein Peters‘ Schrei gehört hatte? Zehn Minuten, zwanzig, bereits eine halbe Stunde? Die Polizei ließ ganz schön auf sich warten. Hatte wohl Wichtigeres zu tun, als einen Mord aufzuklären. Wenn es sich überhaupt um einen Mord handelte, mahnte eine leise Stimme in Elfis Hinterkopf, die aber über den zunehmend hitziger werdenden Stimmen im Empfangsbereich immer schwerer zu hören war.
»Wo ist Dr. Bruch denn jetzt? Fräulein?« Der Herr wurde ungeduldig. Fräulein Peters klappte ihre Augenlider hektisch auf und ab. Ihre dauergewellte Hochsteckfrisur wippte. Sie wirkte wie eine hübsche, sehr verwirrte Eule, der gerade die Tagesschicht zusätzlich aufgebürdet worden war.
»Ich kann mir das auch nicht erklären.« Sie griff erneut zum Telefonhörer. »Ich will noch einmal versuchen, ihn zu Hause zu erreichen. Aber er muss schon hier gewesen sein. Die Zeitung liegt auf seinem Schreibtisch. Er ist immer als Erster hier, holt sie aus dem Briefkasten und liest den Aufmacher und Politikteil, bevor wir die Praxis öffnen. Vielleicht musste er noch etwas erledigen?«
»Ausgerechnet heute? Was für ein Zufall«, ließ sich die Filzhutdame vernehmen, nicht weniger spitz, aber leiser als zuvor. Elfi hoffte, dass sie inzwischen genug davon hatte, Unruhe zu stiften.
Fräulein Peters legte ergeben den Hörer auf. »Es nimmt niemand ab«, sagte sie kläglich.
Elfi drückte ihre Hand. »Heute wird ohnehin niemand mehr behandelt werden können. Es ist sicher das Beste, wenn Sie uns neue Termine geben. Es ist nicht notwendig, dass wir zusammen auf die Polizei warten.« In ihrem Rücken konnte sie entrüstetes Schnaufen hören.
»Und damit hätte die Dame ganz recht, wenn es dafür nicht bereits zu spät wäre.« Die tiefe Stimme erklang von der Eingangstür der Praxis her. Im Türrahmen standen zwei Herren in dunklen Anzügen.
Mir bleibt auch nichts erspart, dachte Elfi. Laut sagte sie: »Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen.«
»Welcher Termin sind Sie?«, fragte Fräulein Peters mit nervösem Blick ins Terminbuch. »Sind Sie für heute bestellt?«
»In der Tat«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme und lüpfte seinen Hut in einer knappen ironischen Geste. »Sie riefen vorhin an und meinten, Sie hätten einen Fund gemacht. Wir sind die Herren von der Kriminalpolizei. Wenn Sie uns dann bitte als Nächste drannehmen könnten.«
»Die Polizei ist da.«
Fräulein Peters seufzte diesen Satz in einer Länge, die Elfi doch einigermaßen übertrieben vorkam. Männer, die sich aufspielten, widerstrebten ihr enorm. Noch mehr störte sie, wenn manche Frauen dachten, die Anwesenheit eines Mannes würde jedes Problem lösen. Sie hatte Fräulein Peters im Verdacht, genau diesen Gedanken zu hegen, als sie ihr nun dabei zusehen musste, wie sie ihr Dekolleté, das ihr bis vor ein paar Minuten noch völlig schnuppe gewesen war, mit der linken Hand in Form schob, während die rechte den Bleistift in koketten Kreisen über dem Terminbuch schwingen ließ.
Sei nicht ungerecht, dachte Elfi resigniert. Sie wusste, dass der Ursprung ihrer Gereiztheit ein ganz anderer war, als sie beobachtete, wie die beiden Kriminaler allein durch das Offizielle ihrer Anwesenheit den gesamten Raum einnahmen.
Natürlich hatten sie ausgerechnet Felix schicken müssen. Die Münzstraße, in der sich der Hauptsitz der Polizeidirektion befand, war nicht weit entfernt. Trotzdem hatte sie gehofft, dass ein Kommissar von der näher liegenden Wache hier in der Jasperallee zuständig sein würde, der sie nicht kannte und dem sie eventuell die eine oder andere Information entlocken könnte. Ihr großer Bruder würde dagegen darauf bestehen, dass sie sich als Zivilperson gefälligst aus allem herauszuhalten hatte.
Man hörte ihr den Unmut an. »Wird auch Zeit.«
Felix ignorierte sie, weil er genau wusste, dass sie das noch mehr auf die Palme brachte, und stellte sich vor. »Ich bin Kriminalkommissar Jensen. Das hier ist Kriminalobermeister Willers. Uns wurde mitgeteilt, dass Sie hier eine Leiche zu viel haben.«
Elfi verdrehte die Augen. Dieser Holzklotz.
Die kleine Versammlung scharrte unruhig mit den Füßen.
Die Filzhutdame verzog amüsiert den Mund.
Der Herr mit dem Silberhaar zupfte nicht existente Flusen von seinem Sakko.
Die Dunkelhaarige im roten Mantel starrte Felix entsetzt an.
Fräulein Peters Augen dagegen strahlten voller Bewunderung.
»Wo ist sie denn?«, fragte Felix, als niemand antwortete.
»Die Leiche oder die Zeit?«, fragte Elfi.
Dieses Mal konnte Felix nicht anders, als sie missbilligend zur Kenntnis zu nehmen. »Nun werd’ nicht frech. Zeig uns besser mal den Tatort.«
Fräulein Peters ließ ihren Blick fasziniert zwischen Elfi und Felix hin und her schwingen, als verfolge sie ein Tennisspiel. »Sie beide kennen sich?«
»In der Tat«, kam Felix Elfi mit seiner tiefen Stimme zuvor. »Frau Hein ist meine kleine Schwester.« Bevor jemand dazu einen Kommentar abgeben konnte, fügte er hinzu: »Unsere Familienverhältnisse tun momentan jedoch nichts zur Sache. Willers und ich würden viel lieber einen Blick auf den Tatort werfen.«
»Das ist es ja eben.« Elfi winkte ihn und seinen Kollegen hinter sich her und verließ sich darauf, dass sie ihr folgen würden. »Ich bin mir gar nicht sicher, dass es sich bei dem Behandlungszimmer um den Tatort handelt.«
»Und wie kommst du auf diesen scharfsinnigen Gedanken?«
»Ich würde annehmen, dass du das selbst wirst erkennen können.« Sie schloss die Tür zum Behandlungszimmer auf.
Felix verzog den Mund. »Ich sehe, du hast es dir hier schon heimisch gemacht.«
»Eine musste das Ruder übernehmen.«
»Das überlässt du jetzt schön Kriminalobermeister Willers und mir. Wir sind schließlich die Fachleute.«
Auch dazu hätte Elfi Anmerkungen parat gehabt, verkniff sie sich aber, weil sie neugierig war, ob die Herren der Polizei auf die gleichen Schlüsse kamen wie sie.
In den folgenden Minuten sah sie den beiden dabei zu, wie sie den Behandlungsstuhl umrundeten und sich dann, nach ausgiebigem Betrachten der Gesamtsituation, der Leiche näherten. Willers trug eine Kamera bei sich, die er ausgiebig und mit hinreißender Begeisterung auf alles hielt, was er als wertvoll für den Verlauf der Ermittlungen betrachtete. Elfi bezweifelte, dass die Lage der zahnärztlichen Instrumente viel zur Überführung des Täters beitragen würde, aber zum einen ließ sich nicht ausschließen, dass diese Annahme auf ihrer Abneigung allem Zahnarztverwandtem gegenüber zugrunde lag, zum anderen war Willers immerhin ein ausgebildeter Polizeibeamter. Sie wollte ihm nicht gleich jede Kompetenz absprechen, nur weil sein Chef ihr auf die Nerven ging. Dafür kannte sie Willers noch zu wenig.
Sie positionierte sich an der Tür. Zugegeben, die Fachleute, wie sie sich nannten, gingen strategisch vor. Sie arbeiteten sich von außen nach innen vor, und Felix machte sich erstaunlich viele Notizen auf einem kleinen Block. Das hatte sie nicht erwartet.
»Hast du die Position der Frau verändert?« Felix forderte Willers ohne Worte auf, nun die Leiche zu fotografieren.
»Natürlich nicht«, sagte Elfi.
»Das Bein ist also von allein heruntergerutscht.«
»Wieso hätte ich das Bein verschieben sollen?«
»Das weiß ich nicht, deshalb frage ich.«
»Ich habe nichts in diesem Raum angefasst.« Elfi verschränkte Zeigeund Mittelfinger der rechten Hand hinter ihrem Rücken.
»Das will ich hoffen.« Elfi ließ ihre Finger auseinanderschnappen. »Ich weiß nur, dass du dich gern mal in Dinge einmischst, die dich nichts angehen.«
»Dieser Eindruck lässt mich sehr zweifeln, ob du die notwendige Menschenkenntnis für einen erfolgreichen Ermittler hast.«
Willers merkte hinter seiner Linse auf. »Da täuschen Sie sich aber sehr, Fräulein …«
»Frau«, korrigierte Elfi. »Frau Elfriede Hein.«
Sein Fauxpas brachte Willers kurz aus dem Konzept.
Felix half ihm auf die Sprünge. »Sie wollten meine Schwester gerade über meine Begabung aufklären, Willers.«
Willers fand sofort zu einem gutmütigen Lächeln zurück. Elfi vermutete, dass der Mann eine Frohnatur war, was nur von Vorteil sein konnte, wenn er mit ihrem verkniffenen Bruder zusammenarbeiten musste. »Jawohl, Herr Kriminalkommissar. Wirklich, Frau Hein, Jensen ist unser bester Mann. Er löst jeden Fall.«
Elfi schnaubte. »Du meine Güte, haben Sie dazu einen Werbefilm gemacht? Ich kann förmlich die Melodie hören. Haben Sie ein Problem? Ein Mord, ein Raub, ein Ekzem? Keine Sorge, keinen Gram, Jensen ist unser bester Mann. Keine Angst, keinen Groll, Jensen löst für Sie den Fall.«
Willers starrte Elfi an.
Felix presste die Lippen aufeinander.
Elfi feixte.
»Sind Sie vom Film, gnädige Frau?«, fragte Willers fast ehrfürchtig.
»Sie wäre auf jeden Fall eine gute Schauspielerin. Und nun Schluss mit dem Unsinn«, sagte Felix. »Wir sind hier in Gegenwart eines Mordopfers. Das ist eine ernsthafte Angelegenheit und kein Abenteuerspielplatz. Ich würde es wirklich vorziehen, Elfriede, wenn du deine heiteren Werbeliedchen vorn am Empfang reimen und uns unsere Arbeit machen lassen würdest. Dann kommen wir alle schneller nach Hause.«
»Spielverderber.« Elfi wandte sich ab, ließ es sich aber nicht nehmen, Willers zum Abschluss zuzuzwinkern. Er konnte nichts dafür, dass sein Chef so ein Stoffel war.
»Und sag’ denen da vorn, dass alle gehen können, die nicht dabei waren, als die Frau gefunden wurde. Es hat keinen Zweck, unsere Zeit mit unnützen Befragungen zu verschwenden. Sie sollen aber Name und Adressdaten dalassen.«
Am Tresen wurde Elfi von inzwischen acht Augenpaaren in Empfang genommen.
»Gibt es schon Erkenntnisse?«, fragte Fräulein Peters und schaute enttäuscht, als Elfi den Kopf schüttelte. Es gelang ihr jedoch mühelos, sofort zu einem neuen Thema zu schwenken. »Sieht er nicht traumhaft aus? Wie ein Filmstar. Wie Rudolf Prack oder, nein, wie Hansjörg Felmy! Den habe ich neulich erst am Staatstheater um die Ecke gesehen. Oder Gregory Peck! So ein schöner Mann.«
»Wer? Felmy, Peck oder Jensen?«, fragte Elfi.
»Heißt er so?«
»Er hat sich doch eben vorgestellt.«
»Ach ja! Was für ein wunderschöner Name. So passend. Männlich.«
Elfi fragte sich hoffnungsvoll, ob die Peters einen besonders trockenen Sinn für Humor hatte. Die Alternative war doch eher verstörend. Gregory Peck. Also wirklich. Bevor Elfi Passendes erwidern konnte, ließ sich ein Poltern im Treppenhaus vernehmen. Elfi wandte sich um und beobachtete, wie eine Tragbahre von zwei Beamten der Forensik durch die Tür geschoben wurde.
»Wo liegt die Leiche?«
Sieben Zeigefinger deuteten die Richtung an. Die schmale Dunkelhaarige zuckte zusammen und hielt ihre Hände ineinander verkrampft. »Was passiert denn jetzt? Wo wird die Frau hingebracht?«
»Vermutlich in die gerichtsmedizinische Abteilung der Polizei, um herauszufinden, woran sie gestorben ist«, sagte Elfi.
»Junge, hübsche Frau sagten Sie? Na, da wird es doch mit Sicherheit um einen verstimmten Liebhaber gegangen sein«, sagte Filzhut, und Herr Neugier stimmte ihr fröhlich zu. »Vielleicht hatte sie mit dem Doktor eine Affäre. Ist der Mann verheiratet, Fräulein Peters?« Elfi erkannte, dass in ihrer Abwesenheit Allianzen eingegangen worden waren oder zumindest Zweckverbindungen.
Fräulein Peters wirkte empört und wollte offenbar zur Verteidigung ihres abgängigen Chefs ansetzen, aber die Dunkelhaarige machte auf Elfi den Eindruck, als würde sie immer mehr an Kontur verlieren. Standen ihr etwa Tränen in den Augen? Es war definitiv an der Zeit, einzuschreiten.
»Der Kriminalkommissar meint, dass alle nach Hause gehen sollen, die vorhin nicht dabei waren. Das heißt, außer Fräulein Peters und mir steht es Ihnen allen frei, sich zu verabschieden.«
»Und wie erfahren wir dann, was aus der Sache geworden ist?«, fragte Herr Neugier.
»Aus der Zeitung vielleicht?« Fräulein Peters hatte wenig Gespür für Hilfreiches, das musste Elfi sich dringend für die nächste Wurzelbehandlung merken.
»Zeit zu gehen, verehrte Herrschaften«, versuchte sie die Meute zur Tür zu bewegen, die aber standhaft blieb, auf neuen Terminen beharrend, und dies solange gekonnt hinauszögerte, bis die Männer mit der Bahre und ihrer Last wieder aus dem Behandlungszimmer traten und an ihnen vorbeigingen. Selbst Elfi erschauderte ein wenig, als sie das Blitzen in so manchem Auge sah. Sie legte einen Arm um die Dunkelhaarige, auch wenn es für Solidarität ein wenig spät war, aber es tat ihr leid, dass sie dem Unwohlsein der Frau bisher wenig ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Tatsächlich rückte die Menschentraube immer näher an die Bahre heran, so dass die beiden Träger schließlich in Bedrängnis gerieten und mit ihrer Last an den Tresen stießen. Fräulein Peters ließ einen ihrer Schreie los, so dass sich alle ihr zuwendeten, und fast niemand bekam mit, dass etwas von der Bahre fiel.
Elfi, die ihn kaum eine halbe Stunde vorher in der Hand gehabt hatte, erkannte den Busfahrschein und machte Anstalten, ihn aufzuheben, aber die Frau im roten Mantel war schneller. Sie hatte sich im Nu von Elfis Arm befreit und sich gebückt. War es Absicht oder ein einfacher Reflex, der sie dazu veranlasste, das Papierchen aufzuheben und einzustecken?
Elfi bekam jedoch keine Gelegenheit mehr, sie zu fragen. Die Bahre war bereits fast durch die Tür und die Dunkelhaarige neben den Männern mit ihrer Last hindurchgeschlüpft. Elfi konnte sie noch die wenigen Stufen zur Haustür hinunterlaufen hören, schon klappte diese ins Schloss.
Ein unheilvolles Gefühl machte sich in Elfis Bauch breit. Es kam nicht oft vor, dass jemand schneller reagierte als sie. Jetzt stellte sich nur die Frage: Regte sich der Unwillen in ihr, weil sie so ungern den Kürzeren zog, oder hatte die junge Frau am Ende etwas mit der Toten auf dem Zahnarztstuhl zu tun?
Elfis Gewissen war fast rein, als sie auf dem begrünten Mittelstreifen der Jasperallee Richtung Theater ging, um die Haltestelle zu erreichen. Sie hatte gehört, dass die Linie in diesem Jahr noch eingestellt werden würde, und konnte sich noch nicht recht vorstellen, wie das werden sollte. Hier war, solange sie denken konnte, immer eine Straßenbahn gefahren, sogar im Krieg, sogar vor dem Krieg, als die Allee noch KaiserWilhelm-Straße hieß.
Automatisch blieb sie stehen und blickte an der Fassade der Paulikirche zu ihrer Rechten hoch, deren Turmhelm seit dem 15. Oktober 1944 nicht mehr an seinem Platz war. Inzwischen hatte sie sich an den Anblick gewöhnt, einen Stich gab er ihr dennoch. Diese grausame Nacht.
Was hatte Felix nochmal gemeint? Die Turmspitze war neugotisch gewesen? Wenn er in Fahrt kam, sprudelten die architektonischen Fachbegriffe unbeirrbar aus ihm heraus. Nie sprach er so viel, als wenn er die historischen Besonderheiten irgendeines Gebäudes beschwärmte, zuweilen so ausufernd, dass Elfi zwischendurch oft die Puste ausging.
Kopfschüttelnd ging sie weiter. Sie hätte den Fachleuten ja von ihren Beobachtungen erzählt, wenn der Herr Kriminalkommissar sich nicht wie ein Rindvieh aufgeführt hätte, als er endlich aus dem Behandlungszimmer gekommen war, um Fräulein Peters und sie zu den Ereignissen des Morgens zu befragen. Dieser arrogante Sturkopf hatte selbst Schuld, wenn sie ihm nicht helfen wollte. Elfi trat nach einem Stein und beobachtete, wie er über die rechte Fahrbahn kullerte. Sofort war es ihr peinlich. Sie sah sich um, ob jemand diese kindische Geste mitbekommen hatte.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie viel zu spät dran war, um Arnold seine geliebte Mettwurst auf dem Kohlmarkt zu besorgen. Sie hasste es, wenn sie Dinge, die sie versprochen hatte, nicht einhalten konnte.
Versprochen ist aber ein sehr starkes Wort, hörte sie Arnold sagen, der dazu neigte, ihr auf diese speziell ärgerliche Weise zu widersprechen, weil er dabei immer auf ihrer Seite war. Was für ein seltsames Talent ihr Ehemann besaß. Sie musste etwas Besonderes für ihn heute Abend finden, das sie als von langer Hand geplante Überraschung und die Mettwurst als bloßes Ablenkungsmanöver ausgeben konnte. Wenn sie sich beeilen würde, könnte sie noch einen Abstecher zur Gliesmaroder Straße schaffen. Die Bregenwurst bei dem Fleischer dort wäre ein ausgezeichneter Ersatz. Kurzentschlossen kehrte Elfi auf dem Absatz um, bog An der Paulikirche ein und machte sich zu Fuß auf den Weg.
Wie erwartet zeigte sich Arnold hocherfreut, als er abends die Haustür aufschloss und in den Flur trat.
Elfi hatte ihn kommen hören und wischte sich die Hände noch an der Schürze ab, während er den Aktenkoffer neben die Kommode stellte und Hut und Schirm an die Garderobe hängte. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange. Dabei verströmte er wie immer den Duft von dem Aktenstaub seines Büros, von dem Öl und den Maschinen der Autofabrikhalle, aber auch ein wenig von den Pfingstrosen der Nachbarn, in die er vermutlich gerade sein Gesicht gesteckt hatte. Vor allem aber roch er nach sich selbst. Elfi überließ sich der Woge der Vertrautheit für wenige Sekunden. Eine Ausgeglichenheit breitete sich in ihr aus, die sie den übrigen Teil des Tages nicht kannte.
»Ich habe eine Überraschung für dich.«
»Ich kann’s riechen.«
»Freust du dich?«
»Über eines meiner Lieblingsessen? Immer. Weißt du doch.«
Arnold folgte Elfi in die Küche, wo sie an einem kleinen Tisch an der Wand gegenüber dem Herd und der Spüle aßen, wenn sie allein waren, was unter der Woche meistens der Fall war.
»Setz dich.«
Elfi nahm einen der bereitgestellten Teller, schöpfte einen großzügigen Schlag von dem eingemachten Braunkohl auf ihn und fischte zwei Bregenwürste aus dem Topf.
»Reichen zwei?«
»Das kommt drauf an, was du angestellt hast.«
»Wie—«
»Dein Gesicht, Elfchen, zu unschuldig. Dazu Bregenwurst gleich am Anfang der Woche. Was ist los?«
Sie bereitete einen zweiten Teller für sich selbst vor, stellte den Senftopf mitten auf den Tisch und setzte sich.
»Magst du ein Bier?«
»Ich mach schon.«
Arnold stand auf und teilte eine Flasche Bier auf zwei Gläser auf.
»So«, sagte er, als er wieder saß und Elfi mit voller Gabel in der Hand ansah. »Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Also nicht nichts. Mir nichts.«
»Aha.«
»Was aha?«
»Ich bin froh, dass dir zumindest nichts passiert ist.« Arnold lächelte.
»Ach, nun lass doch den Quatsch. Natürlich ist etwas passiert, aber mir geht’s gut.«
»Wem dann nicht?«
»Dieser armen jungen Frau, die heute früh tot im Behandlungszimmer bei Dr. Bruch lag.«
»Muss wohl ein besonders schlimmer Zahn gewesen sein.«
»Wenn du jetzt anfängst, Witze zu machen—«
»Mach ich nicht, versprochen.« Arnold stutzte. »Elfi?«
»Ich weiß auch nicht, was auf einmal los ist. Den ganzen Tag war ich nicht erschüttert, aber jetzt, da ich es dir erzähle …« Tränen standen in Elfis Augen. Sie drückte sich die Schürze ins Gesicht, die sie vergessen hatte, nach dem Kochen abzunehmen.
Arnold legte seine Gabel auf den Teller und stand auf. »Komm mal her.«
Damit beschäftigt, ein Schluchzen zu unterdrücken, ließ sich Elfi widerstandslos aus dem Stuhl ziehen und in die Stube führen, wo Arnold sie auf das grüne Sofa verfrachtete, das sie sich von seinem ersten Gehalt nach der Beförderung geleistet hatten. Es war furchtbar ungemütlich, aber sehr schick und so leicht, dass man es problemlos an jede beliebige Stelle verschieben konnte.
Vorsichtig setzte er sich neben Elfi und zog sie an sich. »Jetzt nochmal von vorn.«
»Da war diese tote Frau heute früh im Behandlungszimmer von Dr. Bruch. Fräulein Peters hat sie gefunden und geschrien, und als ich den Schrei hörte, bin ich natürlich gleich hin.«
»Natürlich bist du das.«
»Wärst du nicht?«
»Keine Ahnung, mir passieren solche Sachen nicht.«
»Mir doch auch nicht!« Elfi befreite ihr Gesicht von der Schürze und sah ihren Mann an. »Na gut, aber normalerweise stirbt niemand. Sonst sind es nur Ungerechtigkeiten, die nicht zu ertragen sind, so dass ich einfach etwas sagen muss«, räumte sie ein. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ach, Arnold, es war ganz schrecklich, ich glaube, weil es eigentlich gar nicht schrecklich war. Sie lag ganz ordentlich da. Drapiert regelrecht. Nur ein Bein war von der Fußstütze gerutscht. Wären da nicht die Würgemale an ihrem Hals gewesen, hätte sie auch einfach nur schlafen können. Außer natürlich die Augen.«
»Was war mit den Augen?«
»Offen. Regelrecht schreckgeweitet, als wäre sie ganz schockiert gewesen, dass ihr das passiert.«
»Wird sie wohl auch gewesen sein.«
»Ja«, stimmte Elfi zu. Eine neue Welle von Schluchzern erwischte sie.
»Na, na, nun weine dich erstmal tüchtig aus. Richtig so.« Arnolds rechter Arm ankerte noch immer um Elfis Schultern und hielt sie fest, während er mit der linken Hand ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Hemdes zog. »Man bekommt ja Kopfweh, wenn man hört, was du da alles in der Nase stecken hast.«
»Nun sei doch nicht immer so unappetitlich.« Elfi stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen, lehnte sich aber wieder an ihn, nachdem sie sich geschnäuzt hatte.
»Sie war nicht mal dreißig Jahre alt, jedenfalls glaube ich das.«
»Das ist traurig. Weiß man, wer sie ist?«
»Als ich vorhin gegangen bin, noch nicht. Sie hatte keine Ausweispapiere bei sich. Sagt der Herr Kriminalkommissar.«
»War es Felix?«
»Ja.«
»Seid ihr zusammengerasselt?«
Erbost hob Elfi ihren Kopf. »An mir lag es nicht.«
»Es lag sicher auch nicht nur an ihm.«
»Er hat sich fürchterlich arrogant aufgeführt.«
»Du musst zugeben, dass es sein gutes Recht ist, dort die Anweisungen geben zu wollen. Es ist immerhin sein Arbeitsplatz oder zumindest sein Zuständigkeitsbereich.«
»Arnold, also wirklich. Ich wünschte, du würdest nicht immer versuchen, für alle Menschen der Welt Erklärungen zu finden.«
»Alle Menschen der Welt?«
Elfi drückte sich an Arnolds Knie hoch. »Genug geheult. Damit ist der Frau auch nicht geholfen.« Sie rieb sich das inzwischen klatschnasse Taschentuch ein letztes Mal über die Nase und verzog das Gesicht. »Das muss dringend in die Wäsche.«
Sie nahm Arnold an der Hand und zog ihn ins Schlafzimmer, wo sie erst das Taschentuch in den Korb warf und dann an den Kleiderschrank trat, um ein frisches herauszuholen. Arnold fasste sie an den Oberarmen. Seine Daumen rieben kleine, liebevolle Kreise in den Stoff ihrer Bluse, während sie das Taschentuch sorgfältig faltete und in seine Brusttasche schob. Sie strich mit der Hand darüber, wich seinem Blick jedoch aus.
»Liebes, bitte, sei vorsichtig. In Ordnung? Mehr sag ich gar nicht.«
Elfi griff nach den beiden Hälften seines offenstehenden Kragens. Die Krawatte war immer das Erste, was Arnold loswurde, sobald er Feierabend hatte. Es kam nicht selten vor, dass sie sonntags das Handschuhfach ihres Wagens öffnete, um die gesammelten Werke von Arnolds Woche zu finden, weil er kaum abwarten konnte, bis er den Parkplatz des VW-Werks verlassen hatte. Manchmal fragte sie sich, warum er sich einen Arbeitsplatz ausgesucht hatte, bei dem er die meiste Zeit hinter einem Schreibtisch sitzen musste, wenn er doch viel lieber Dinge baute. Sie rieb den weichen Stoff des nicht mehr ganz neuen Hemdes zwischen ihren Daumen und Zeigefingern und stellte sich auf die Fußspitzen, um ihn auf den Mund zu küssen.
»Mehr brauchst du auch gar nicht zu sagen. Und nun komm. Ich will heute Mittag nicht umsonst zur Gliesmaroder gerannt sein.«
Eine Viertelstunde später waren Braunkohl, Kartoffeln und Bregenwurst wieder aufgewärmt und schmeckten deswegen nicht weniger gut.
»Was sagt denn überhaupt der Zahnreißer, Dr. Bruch?«, fragte Arnold.
»Ja, das war seltsam, er war gar nicht da.«
»Was heißt das, er war nicht da? Hatte er keine Sprechstunde?«
»Doch, ich hatte den festen Termin zur Kontrolle. Fräulein Peters konnte es sich auch nicht erklären. Er kam einfach nicht. Als Felix uns gegen elf Uhr entlassen hat, war Dr. Bruch immer noch nicht aufgetaucht, und sie konnte ihn auch telefonisch zu Hause nicht erreichen.«
»Hoffentlich ist ihm nichts passiert.«
»Was soll ihm denn passiert sein?«
»Er könnte doch einen Unfall oder so etwas gehabt haben.«
»Oder so etwas.«
»Du sagst das so komisch.«
»Da war eine Leiche in seinem Behandlungszimmer. Möglicherweise hat sein Verschwinden damit etwas zu tun«, sagte Elfi trocken.
»Du denkst aber pessimistisch. Ich dachte, du magst Dr. Bruch.«
»Ich bin nicht pessimistisch. Ich denke nur, dass der Zufall von zwei sehr ungewöhnlichen Ereignissen an einem Tag unwahrscheinlich ist.«
»Also keine besondere Sternenkonstellation?«
»Eher nicht.«
Arnold trank den letzten Schluck von seinem Bier. »Wenn er nicht bald wieder auftaucht, macht er sich in der Tat verdächtig.«
»Es könnte auch sein, dass er eigentlich das Opfer sein sollte.«
»Und dann mit dieser hübschen jungen Frau verwechselt wurde?«
»Woher weißt du, dass sie hübsch war?«, fragte Elfi.
»Ich dachte, das wäre selbstverständlich. In deinen Kriminalromanen sind die Opfer selten unattraktiv.«
Elfi zog die Augen zu Schlitzen. »In diesem Fall liegst du richtig.« Arnold wusste, wann es hilfreicher war, nichts zu sagen, und schwieg. »Wenn man nur wüsste, wo man ihn suchen könnte«, fuhr Elfi fort und fing an, das Geschirr einzusammeln.
Sie ließ Spülwasser ein.
Arnold trat neben sie und schnappte sich das Geschirrhandtuch. »Die Polizei wird sich sicher darum kümmern, denkst du nicht?«
»Davon sollte man ausgehen.«
»Sie werden, Elfchen. Sie sind dafür ausgebildet.«
»Eingebildet wohl vielmehr.« Elfi reichte ihrem Mann den ersten Teller und fing dabei seinen Blick auf. »In Ordnung, du hast ja Recht. Ich lasse die Polizei ihre Arbeit machen.«
»Danke sehr.«
Energisch schrubbte sie an dem zweiten Teller herum. »Wie schwer kann es schließlich sein herauszufinden, was der armen Frau zugestoßen ist?«
»Du musst dir vor allem erstmal einen neuen Zahnarzt suchen.«
»Wer ist jetzt pessimistisch?«
»Deine Zähne kontrollieren sich nicht von allein.«
»Prioritäten, Arnold. Prioritäten.«
Felix ließ sich auf den Sitz seines Dienstwagens gleiten, den er vor der Polizeiwache abgestellt hatte, und schloss die Tür hinter sich mit einem kräftigen Ruck. Er spürte die Anspannung der letzten Stunden und wartete, bis die Stille des späten Abends dafür sorgte, dass seine Muskeln langsam weicher wurden. Nach ein paar Minuten atmete er tief durch.
Ein langer Tag lag hinter ihm mit vielen Eindrücken – von der Leiche einer jungen Frau und Elfis unglückseliger Einmischung über die Durchsuchung der Villa des abtrünnigen Zahnarztes Bruch bis hin zu den immer wieder wenig erbaulichen Besprechungen, die er mit seinem Chef, Kriminalrat Luttner, abhalten musste, der stets für mehr Druck, jedoch nie für sinnvolle Führung sorgte.
Und die brauchst du unbedingt, ja? Eine sinnvolle Führung?
Sie würde zumindest nicht schaden, dachte Felix und widerstand dem Drang, der bissigen Stimme in seinem Kopf mehr Platz für Selbstkasteiung einzuräumen. Er hatte genug mit diesem neuen tragischen Mordfall zu tun. Tragisch, weil es schlimm genug war, wenn Menschen in Kriegszeiten zu Tode kamen. In Tagen des Friedens sollte jeder Mensch das Recht auf ein natürliches Ende haben.
Die Luft im Auto war kalt, so dass er seinen Atem sehen konnte. Ostern hatten sie gerade hinter sich gebracht, und der Frühling verhielt sich launisch. Dankbar für seine Handschuhe ließ Felix den Motor an und rieb mit einem Stofftaschentuch die Frontscheibe frei. Die gestickten Initialen FJ fielen ihm ins Auge. Ein Ende des blauen Fädchens hatte sich gelöst und winkte ihm spöttisch zu mit einem schönen Gruß von Elfi, die seine Taschentücher selbst bestickt und ihm letztes Weihnachten zum Geschenk gemacht hatte.
Verfluchte Feiertage. Glücklicherweise waren sie alle drei, Elfi, Ernst und er selbst, nicht sentimental veranlagt. Keiner von ihnen bestand darauf, dass sie jede Stunde der Feiertage zusammenhockten, um so zu tun, als genössen sie die gesellschaftlich auferzwungene Gemeinschaft. Sie hatten sich auf ihr ganzjährig stattfindendes Freitagabendessen beschränkt, sicher eine gute Einrichtung, die einen Zweck erfüllte, auch wenn Felix ihn ad hoc nicht hätte formulieren können.
Er dachte an den heutigen Morgen zurück. Er hatte genau sehen können, wie der Eifer in Elfis Gesicht akut in sich zusammengefallen war, als Willers und er die Zahnarztpraxis betreten hatten. Seine kleine Schwester war schon immer zu forsch gewesen in ihrem Bestreben, die Welt oder eher die Menschen in ihr zu verbessern. Geschah irgendwo ein Unrecht, war Elfriede Hein stets die Erste, die das metaphorische Beil ausgrub, um dem Opfer zur Seite zu stehen. Wieso er in diesem Zusammenhang ausgerechnet auf ein Beil kam, wollte Felix lieber nicht analysieren.
Fakt war, ein äußerst unglücklicher Scherz des Universums hatte dafür gesorgt, dass ausgerechnet Elfi die tote Frau gefunden hatte. Felix konnte jetzt schon sicher sein, dass sie sich nicht heraushalten würde. Nein, Elfi würde ihm auf die Nerven gehen und Fragen stellen und Antworten provozieren, die er nicht geben wollte und vor allem auch gar nicht durfte. Elfi würde einen Weg finden, sich in seine Ermittlungen einzumischen. Allein sein Unvermögen, sich vorzustellen, wie sie das erreichen würde, löste ein Gefühl der Hilflosigkeit in ihm aus und schon jetzt machten sich die Vorboten eines vertrauten Kopfschmerzes bemerkbar. Großartige Aussichten, um einen Mörder zu stellen.
Trotzdem. In seiner Rolle als der verantwortliche Kriminalbeamte musste er einen Weg finden, eine Grenze zu ziehen und Elfi klarzumachen, dass sie sich herauszuhalten hatte. Abgesehen von der Gefahr, in die sie sich selbst eventuell brachte, war es genauso gut möglich, dass sie durch einen Glücksfall oder vielmehr ein Unglück, auf den wahren Mörder stieß und eine Kette von Ereignissen auslöste, die verhinderten, dass der Mann rechtmäßig vor Gericht gestellt werden konnte. Ein Mann war zumindest der wahrscheinlichere Täter, betrachtete man die Würgemale am Hals der Toten. Es kam sehr selten vor, dass Frauen so große Hände hatten. Noch seltener erwürgten Frauen jemanden seiner Erfahrung nach.
Die Durchsuchung von Bruchs Villa in Dibbesdorf heute Nachmittag war im Grunde ergebnislos geblieben. Sie hatten keinen Hinweis auf den momentanen Aufenthaltsort des Zahnarztes finden können. Es schien auch keine Kleidung zu fehlen, wobei sich dies schwer feststellen ließ, da Bruch im Besitz einer sehr umfangreichen Garderobe war. Sein Waschzeug und Rasierapparat hatten sich jedoch noch im Badezimmer befunden. Konnten sie daher darauf schließen, dass der Mann in die Kategorie mögliches weiteres Opfer anstatt in die Kategorie Verdächtiger gehörte?
Einzig die Landkarte, die Felix in Bruchs Eichenholzschreibtisch gefunden hatte und die jetzt, gesichert in einer Folie, in seinem Büro lag, versprach, ein möglicherweise wichtiges Indiz zu sein. Noch konnte er sich keinen Reim auf sie machen, aber er hatte bei ihrem Anblick diesen winzigen Stich gespürt, der ihn intuitiv wissen ließ, dass sie etwas zu bedeuten hatte. Ob diese Bedeutung einen Bezug zu dem Mordfall besaß oder ob sie überhaupt negativer Natur war, war zu diesem Zeitpunkt noch völlig offen.
Die Karte zeigte den Norden Deutschlands im Maßstab 1:250.000 und war mit roten Filzstiftkreisen versehen worden, die verschiedene Orte markierten. Lübeck zeigte einen roten Kreis, auch Celle, dazu ein winziger Ort nahe an einem See in der Heide und einige mehr. Die Auswahl wirkte willkürlich. Eventuell handelte es sich bei den Markierungen lediglich um Ausflugsziele. Das würden sie herausfinden, sobald sie den Zahnarzt ausfindig gemacht hatten, denn das war, was ihn, abgesehen von der Tatsache, dass auf seinem Folterstuhl eine Leiche gefunden worden war, das Einzige, was ihn verdächtig machte – seine ungeklärte Abwesenheit. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Weder diese etwas transusige Sprechstundenhilfe noch Bruchs Nachbarn. Auch seine Haushälterin hatte keine Auskunft geben können.
Letztere war sehr erschrocken gewesen, als Felix am Nachmittag mit seiner Truppe der Spurensicherung in Dibbesdorf an die Tür geklopft und sie über die Ereignisse informiert hatte. Felix wäre gern schon am Vormittag in der Villa gewesen, schließlich kam es auf jede Minute an, falls Bruch sich in irgendeiner Weise als verantwortlich für den Tod der jungen Frau erweisen würde. Aber Luttner hatte nur Villa und Zahnarzt gehört und auf der Stelle die Watte herausgezerrt, um diese Stütze der Gesellschaft vorsorglich einzupacken.
»Ist denn eine Hausdurchsuchung wirklich notwendig, Jensen? Der Mann ist doch wohl eher als Geschädigter zu sehen. Ihre Neigung zum Zerschlagen von Porzellan wird Ihnen auf Dauer nichts einbringen.«
Felix, der wusste, dass er unter seinen Kollegen zuweilen als besonnen, meistens jedoch als stoisch galt, zog es vor, sich ausschließlich auf seine Frage nach einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu konzentrieren. »In Anbetracht der noch unerklärten Abwesenheit des Mannes und dem Risiko einer möglichen Fluchtgefahr halte ich die Durchsuchung für unabdingbar. In der Praxis wurden bisher keine Hinweise auf die Tote gefunden. Sie stand nicht einmal im Terminbuch. Es macht momentan den Eindruck, als ob die Praxis nichts mit der Tat zu tun hat, was ich zu diesem Zeitpunkt aber für höchst unwahrscheinlich halte.«
Mürrisch hatte Luttner eingewilligt. »Klären Sie den Fall gefälligst schnell auf. Wir können uns keine langen Bearbeitungszeiten leisten.«
Als sollte Felix lediglich prüfen, ob die Länge eines Dachbalkens den Normen entsprach.
»Und ersparen Sie mir Ihre Alleingänge«, hatte Luttner hinzugesetzt. »Die Kollegen sind nicht nur zur Dekoration da.«
Felix hatte das Büro seines Vorgesetzten ohne ein weiteres Wort verlassen, um in seinem eigenen auf die richterliche Zustimmung zu warten.
Umso mehr ärgerte es ihn ein paar Stunden später, dass sich in der Villa keine Erkenntnisse zur Identität der Toten oder zu möglichen Verbindungen zwischen dem Zahnarzt und ihr ergeben hatten.
Es ist früh, erinnerte Felix sich, als er den Wagen jetzt auf die Münzstraße fuhr. Sie hatten gerade mal angefangen, die erforderlichen Informationen für eine erfolgreiche Verbrechensermittlung einzuholen. Niemandem wäre gedient, wenn er sich drängen ließe, weder von seinem Chef noch von seiner Schwester. Felix diente dem Staat, der Wahrheit und im erweiterten Sinn dieser jungen Frau, der Unrecht angetan worden war.
Den Ausschlag gab am Ende aber natürlich sein Gewissen als Motor all seines Handelns. War Gewissen an dieser Stelle wirklich das richtige Wort?
Felix war vor zehn Jahren aus dem Krieg zurückgekehrt und hatte ein kaputtes Land vorgefunden. Die Pläne, die er als Junge gemacht hatte, seine Zukunft betreffend, waren ihm angesichts der katastrophalen Lage albern vorgekommen. Vor dem Krieg hatte er studieren wollen, Architektur oder Kunstgeschichte, die Entscheidung hatte noch ausgestanden, sein Herz hatte immer für beides geschlagen und mehr. Die Dringlichkeit des täglichen Überlebens hatte jedoch einen schweren Riegel vor diese Tür geschoben und fest verschlossen.
Dazu kam dieses vage, aber unbeirrbare Bedürfnis der Wiedergutmachung. Des Wieder-in-Ordnung-bringens. Der Zustand Deutschlands hatte sich für ihn wie ein überwältigend großer Kriminalfall dargestellt. Wöchentlich waren neue Verbrechen bekannt geworden, die von den Nationalsozialisten begangen worden waren. Felix nahm die Verantwortung wie einen bleiernen Gürtel an, der ihn mahnte und zeitweise erdrückte. Er sah seine leidenden Landsleute, die angeblich von nichts gewusst und nun alles verloren hatten, und erkannte, er würde sich nicht mit der Architektur vergangener Zeiten und dem fantastischen Werk von Leonardo beschäftigen können, ohne sein Gewissen – oh ja, da war es tatsächlich – dauerhaft zu beschädigen. Es war so gut wie unmöglich gewesen, klar zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. War es immer noch. Es machte ihm zu schaffen. Diese Grauzone von mehr oder weniger Schuld hielt ihn gefangen. Er hatte ein Ventil gebraucht. Die einzige Möglichkeit für ihn, mit diesem Konflikt umzugehen, hatte er im Eintritt in den Polizeidienst gesehen, dessen Neuanfang damals improvisiert und im Schnelldurchgang durchgezogen worden war.
Felix war sich bewusst, dass ihr Land nicht wieder so schnell funktionstüchtig geworden wäre, wenn die Alliierten und Russen sich gründlicher mit der Entnazifizierung der Deutschen beschäftigt hätten, was ihn immer wieder vor die Frage stellte: Was war richtig?
Dass es den Menschen wieder besser ging, sie sich nicht mehr ausgehungert durch Trümmer schleppten und einander aus Verzweiflung und Hunger das Leben zur Hölle machten und dafür einige Verbrecher in Positionen saßen, die ihnen ganz und gar nicht zustanden? Dass diese vielmehr auf den Anklagebänken als auf den Richterstühlen sitzen sollten? War der Preis zu hoch gewesen dafür, dass er nun in diesem komfortablen Dienstwagen nach Hause in seine kleine, aber durchaus ansehnliche Junggesellenwohnung fahren konnte? Dass seine Schwester mit ihrem Ingenieur ein Reihenhaus mit Garten besaß? Dass sein kleiner Bruder an der Universität forschte und sich damit in einer Umgebung befand, in der er Anerkennung für seine herausragende Intelligenz finden konnte, die ihm in einer anderen Lebenslage mit hoher Wahrscheinlichkeit vorenthalten werden würde, weil er zu schnell aneckte und sich mit Alltagsdingen schwertat?
Oder wäre es richtiger gewesen, allen den Prozess zu machen, den sie verdienten, und dieses Land möglicherweise auf Jahrzehnte zu lähmen, dafür aber für Gerechtigkeit zu sorgen und damit einen sauberen Anfang zu gewährleisten? Wie realistisch wäre dieser überhaupt gewesen – ein sauberer Anfang? Felix glaubte nicht wirklich an diese Option, aber wäre es nicht trotzdem ihre Pflicht gewesen, es zumindest zu versuchen? Hätte er als ehemaliger Soldat in einem solchen Fall überhaupt Kriminalkommissar werden können?
Das schrille Lachen einer Passantin riss Felix aus seinen Gedanken. Verdammt. Er verlor sich schon wieder. Verfranste sich in Wenns und Abers, während es so viel einfacher und hilfreicher war, sich auf die schlichte, wenn auch grausame Frage des Tages zu konzentrieren: Wer hatte die Frau auf dem Zahnarztstuhl getötet?
Ein dumpfer Schmerz fing hinter Felix‘ linker Schläfe an zu pochen. Die Ampel vor ihm schaltete auf Rot und aus einem plötzlichen Impuls heraus lenkte er den Wagen in einer 180-Grad-Bewegung in die Gegenrichtung.
Die Gebäude der Universität waren über die gesamte Stadt verteilt, doch das Institut für Biologie lag nur wenige Autominuten von der Innenstadt entfernt. Langsam bog Felix in die kleine Seitenstraße ein, von der aus er den Campus einsehen konnte. Fast schleichend fuhr er an dem Gebäude vorbei und versuchte, sich daran zu erinnern, welches Büro es war.
Sie hatten Ernst hier nur ein einziges Mal besucht. Die Diplomfeier war klein gewesen. Ernst hatte kein Talent, sich Freunde zu machen. Dafür hatte Felix den Eindruck gehabt, dass die Glückwünsche der wenigen Gratulanten ehrlicher Natur waren.
Im vierten Zimmer von links brannte noch Licht. Eine Silhouette zeichnete sich hinter den nur halb heruntergelassenen Jalousien ab, schlank, sehr gerade, sehr still. Die Person musste stehen, ansonsten würde der Blickwinkel es nicht zugelassen haben, den Oberkörper des Mannes fast zur Gänze zu sehen. War er es? Ganz sicher konnte Felix sich nicht sein. Er ließ den Motor laufen, öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm ein Brillenetui.
Er hasste das Gefühl, etwas in seinem Gesicht zu tragen. Obwohl seine Sicht sofort viel schärfer wurde, kam es ihm so vor, als würde seine Perspektive eingeschränkt, als würde der Rahmen aus schwarzem Horn ihn einzäunen. Außerdem machte ihn das Gestell mindestens zehn Jahre älter, dachte Felix verdrießlich. Er blickte aus dem Seitenfenster und suchte die Gestalt im Fenster über ihm.
Er war es tatsächlich. Im Grunde hätte Felix die Verwüstung, die Ernst einen Haarschnitt nannte, auch ohne Brille erkennen müssen. Sein kleiner Bruder sah aus, wie er seit jeher ausgesehen hatte, nur ausgewachsen, bedauerlicherweise in dem gleichen zerzausten Stil gekleidet. Felix hätte sich nicht gewundert, wenn Ernst immer noch auf kurze Hosen zurückgegriffen hätte, wären sie ihm bequemer erschienen. Gottlob konnte er das von hier aus nicht erkennen.
Es war nicht auszumachen, was Ernst tat. Wieso er sich quasi bewegungslos abends in seinem Büro aufhielt, während alle anderen, den dunklen Fenstern nach zu urteilen, bereits nach Hause gegangen waren. Er wirkte einsam.
Sofort regte sich Widerstand in Felix’ Brust. Sentimentaler Unsinn. Der Mann als Silhouette in einem ansonsten dunklen Institutsgebäude war eine Momentaufnahme. Keine Gesamtaussage über ein Leben. Und auch wenn es wahr und Ernst zu viel allein wäre, hatte er sich das nicht selbst zuzuschreiben? Seine Unnahbarkeit, die unerträgliche Arroganz, deren Ursprung in seiner sicherlich unbestreitbaren Intelligenz lag, diese absolute Unfähigkeit, wie ein normaler Mensch auf andere zuzugehen, freundlich, aufgeschlossen, nicht ausschließlich auf sich selbst bezogen. All diese Eigenschaften beschrieben Ernst ausgesprochen treffend und lieferten zweifellos Antworten auf ungestellte Fragen, denn Felix hatte nicht vor, den Bruder auf den Grad seines Glücks anzusprechen. Da konnte Elfi sich auf den Kopf stellen, die ihn immer wieder dazu bringen wollte, wenn auch mit für ihre Verhältnisse subtilen Mitteln, mit Ernst zu reden. Über heute und damals.
Als würde das irgendetwas bringen. Keinem von ihnen würde es auch nur einen Deut besser gehen, wenn sie die Vergangenheit herauszerrten und im grellen Tageslicht betrachteten. Was wäre, wenn sie danach zu dem Schluss kämen, dass es kein Zurück für sie gab und sie besser ohne einander dran wären?
Seine Geschwister waren seine Verantwortung. Wahrscheinlich wurde Felix ihnen nicht gerecht, aber er versuchte es zumindest, so gut er konnte. Er weigerte sich, ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil sie mehr wollten, als er geben konnte.
Die Brille drückte auf eine empfindliche Stelle an seinem rechten Nasenflügel. Felix riss sich das Gestell vom Gesicht, schob es hastig in das Etui zurück und pfefferte es wieder ins Handschuhfach. Als er dieses zuschmiss, knackte es, aber er hatte nicht die Geduld, um nachzusehen, ob etwas zerbrochen war.
Er warf einen letzten Blick auf das unveränderte Bild ein Stockwerk über ihm, dann kuppelte er und trat auf das Gas. Er gab sich Mühe, weder den Motor aufheulen noch die Reifen quietschen zu lassen. Ernst sollte auf keinen Fall wissen, dass er hier gewesen war.
Elfis Zurückhaltung hatte ein Ablaufdatum von einem Tag. Dann hatte sie den Telefonhörer in der Hand und ließ sich mit der Zahnarztpraxis Bruch verbinden.
»Zahnarztpraxis Dr. Bruch? Hier spricht Fräulein Peters? Was kann ich für Sie tun?«
Drei Fragen auf einmal, dachte Elfi und verkniff sich ein Lachen. »Fräulein Peters, ich bin’s, Elfriede Hein.«
»Ach, Frau Hein, wie geht es Ihnen denn? Haben Sie den Schrecken von Montag gut verkraftet? Ich muss Ihnen sagen, mir ist gar nicht wohl. Wie ein Damoklesschwert hängt diese Geschichte über mir. Eine dunkle Wolke über meinem Gemüt. Man kann an gar nichts anderes mehr denken, nicht wahr? Ich sitze den ganzen Tag hier, als wäre ein paar Meter weiter nichts passiert. Unmenschlich ist das geradezu. Ich frage mich auch, warum ich das überhaupt alles allein bewerkstelligen muss?«
»Soll das heißen, dass Dr. Bruch noch immer nicht aufgetaucht ist?«
»Aufgetaucht, da sagen Sie etwas. Wie ein U-Boot.« Fräulein Peters atmete tragisch auf. »Er war jedenfalls nicht in der Praxis, wenn Sie das meinen.«
»Und zu Hause? Hat die Polizei nicht die Nachbarn befragt? Dr. Bruch muss doch Personal haben, das irgendetwas wissen könnte. Oder Bekannte?«
»Da fragen Sie mich zu viel, Frau Hein, wirklich, das weiß ich nicht. Aber natürlich haben Sie recht. Ich bin mir aber sicher, dass dieser schicke Oberkommissar—«
»Einfach nur Kommissar.«
»Ach so, nun also dieser schicke Kriminalkommissar hat das bestimmt bedacht.«
»Ist es denn schon einmal vorgekommen, dass Dr. Bruch einfach verschwunden ist, ohne Ihnen Bescheid zu geben? Was hat er denn als Letztes zu Ihnen gesagt? Hat er einen kurzfristigen Urlaub oder so etwas erwähnt?«
Es war die falsche Frage. Elfi konnte förmlich hören, wie Fräulein Peters ihre Nase hin und her bewegte wie ein Kaninchen und sich die Dauerwelle zurechtschob.
»Selbstverständlich hat er das nicht. Ansonsten hätte ich das der Polizei sofort mitgeteilt. Dr. Bruch hielt es offenbar überhaupt nicht für notwendig, mich in seine Pläne einzuweihen, und ich hatte keinen Grund nachzufragen.«
Ja, leider, dachte Elfi, beschränkte sich aber darauf zu antworten: »Natürlich nicht. Woher sollten Sie auch wissen, was geschehen würde.«
»Eben. Aber es ist seltsam, das gebe ich zu«, sagte Fräulein Peters. »Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, seine Termine nicht wahrzunehmen.«
»Das ist der Grund, warum ich anrufe«, behauptete Elfi. »Wann ist es denn möglich, einen neuen Termin zu bekommen?«
»Ich fürchte, es wird erst gegen Ende des Monats ein Termin frei.« Fräulein Peters sprach mit Trauer in der Stimme. »Wenn Sie große Schmerzen haben, muss ich Sie bitten, sich an den Notdienst zu wenden oder an einen von Dr. Bruchs Kollegen.«
»Das wird wohl nicht nötig sein. Es geht ja nur um eine Kontrolle.«
Frustriert blies Elfi ihren Atem durch die Nase.
»Haben Sie etwas gesagt, Frau Hein?«
»Ich melde mich dann in ein paar Wochen wieder.«
»Tun Sie das.«
»Fräulein Peters?«
»Ja, bitte, Frau Hein?«
»Sollte Dr. Bruch früher zurückkehren oder sich eventuell bei Ihnen melden, wären Sie so freundlich, mir Bescheid zu geben?« Einen Moment herrschte Stille in der Leitung. »Sind Sie noch dran?«
»Ich bezweifle, dass sich der Herr Doktor bei mir melden wird. Sollte er das aber gegen jede Erwartung tun, will ich ihm gern mitteilen, wie dringend Sie seine Hilfe benötigen. Immerhin gehören wir beide zu den Hauptgeschädigten.«
»Das ist eigentlich nicht—«
»Bitte was?«
»Schon gut. Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe. Lassen Sie es ruhig angehen, damit Ihre Alpträume bald verschwinden.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.«
Fräulein Peters verabschiedete sich und ließ Elfi nachdenklich zurück.
Arnold hatte am Montag, als sie sich bereits bettfertig gemacht hatten und sie noch immer nicht von dem Thema hatte lassen können, behauptet, sie hätte Dr. Bruch immer gemocht. Nun fragte sie sich, ob das wirklich der Wahrheit entsprach. Der Mann war immer höflich und zuvorkommend gewesen, teilweise sogar charmant mit seinem Werbelächeln und den jovialen Scherzen. Aber war da nicht stets etwas Stählernes in seinen Augen gewesen? Quetschten sich die Witze durch zusammengebissene Zähne? Oder bildete sie sich das nun ein, weil sie eine Leiche in seiner Praxis gefunden hatten und er nun im besten Fall verantwortungslos und im schlimmsten Fall auf der Flucht war? Oder hatte seine Abwesenheit überhaupt nichts mit dem Tod der jungen Frau zu tun? Aber, mal ehrlich, konnte es Zufälle in dieser Größenordnung überhaupt geben?