Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der Geister zum Alltag gehören. Jeder sieht sie und jeder weiß, wie gefährlich sie uns Menschen werden können. In dieser Welt gibt es Verlorene Orte, die man den Geistern überlassen musste, und Unheilige Zeiten, in denen die Toten besonders gefährlich sind. Camren Hunt ist ein Junge ohne Vergangenheit. Im vergangenen Unheiligen Jahr fand man ihn im Keller eines verlassenen Herrenhauses – umgeben von Leichen mit durchschnittenen Kehlen. Niemand weiß, was dort passiert ist, nicht einmal Camren selbst. Jetzt, dreizehn Jahre später, schlagen sich die Menschen durch ein weiteres Unheiliges Jahr, in dem Geister und Wiedergänger noch gefährlicher sind als sonst. Plötzlich tauchen erneut Leichen mit durchschnittenen Kehlen auf … Die komplette erste Staffel der Erfolgsserie.

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Table of Contents

Äquinoktikum

Unheilige Zeiten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Die Akademie

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Vollmondnächte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Feindschaften

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Hinterhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Unheilige Nacht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Leichenfunde

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Das Herrenhaus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Nachwort

Impressum

Die Totenbändiger

 

Äquinoktikum

- Die gesamte erste Staffel -

 

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

 

 

I

 

Unheilige Zeiten

 

 

 

Äquinoktium

 

Substantiv, Neutrum. (Plural: Äquinoktien, vom lateinischen aequus 'gleich' und nox 'Nacht') Äquinoktium oder Tagundnachtgleiche werden die beiden Tage im Jahr genannt, an denen der lichte Tag und die dunkle Nacht gleich lang andauern. Die Äquinoktien fallen auf den 19., 20. oder 21. März und den 22., 23. oder 24. September. Frühlings- und Herbstäquinoktium gehören zu den vier Unheiligen Nächte, in denen Geister und Wiedergänger besonders gefährlich sind.

 

Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der Geister zum Alltag gehören.

Jeder sieht sie und jeder weiß, wie gefährlich sie uns Menschen werden können.

In dieser Welt gibt es Verlorene Orte,

die man den Geistern überlassen musste,

und Unheilige Zeiten,

in denen die Toten besonders gefährlich sind.

Eine Handvoll Menschen vermag es, diese Toten zu bändigen.

Du denkst, das macht sie zu Helden?

Weit gefehlt.

Denn mit ihren Kräften können sie nicht nur die Geister der Toten auslöschen,

sie können genauso den Lebenden den Tod bringen.

 

Willkommen im London der Unheiligen Zeit.

Willkommen in der Welt der Totenbändiger.

Prolog

 

 

Die Nacht des Frühlingsäquinoktiums vor dreizehn Jahren

 

Lichtkegel von Autoscheinwerfern durchschnitten die Finsternis der Nacht. Als der Wagen näherkam, entriegelte Phil die Schlösser und zog die Haustür auf. Sue schob sich an ihm vorbei und trat vorsichtig hinaus. Ihr Atem kondensierte zu feinem Nebel und sie schlang ihre Strickjacke fester um sich, die sie über ihren Schlafanzug gezogen hatte. Es war eiskalt. Die Temperatur lag sicher kaum über dem Gefrierpunkt. Der Frühling ließ auf sich warten. Doch in einem Unheiligen Jahr war ein langer Winter nichts Ungewöhnliches.

Mit routiniertem Blick scannte Sue die Umgebung, bevor sie die Stufen in den kleinen Vorgarten hinunterstieg, der ihr Zuhause von der Straße trennte. Der Crescent Drive lag im Dunkeln, nur der Vollmond warf sein Licht auf Häuser und Gärten und tauchte sie in ein bizarres Schattenspiel. Hampstead gehörte zu den Mittelschichtvierteln Londons. Straßenlaternen mit Magnesiumlicht gab es hier nur entlang der Hauptstraßen und rund um wichtige öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten oder Schulen. In Wohngebieten fand man Laternen nur in den Nobelvierteln der Innenstadt.

Trotzdem war ihre Straße recht sicher. Alle Nachbarn schützten ihre Häuser mit Eisenzäunen, einige wenige hatten sich sogar Außenleuchten geleistet und in den Gärten wurden Schutzpflanzen gehegt und gepflegt, die Geister und Wiedergänger fernhielten. Doch die anhaltende Kälte hatte den Pflanzen bisher keine Chance gegeben, aus ihrem Winterschlaf zu erwachen, und heute war die erste Unheilige Nacht in diesem Unheiligen Jahr. Wer wusste schon, wozu die Seelenlosen da fähig waren?

»Bleib drinnen«, wies Sue ihren Mann an, als der Wagen vor ihrem Haus stoppte und Phil ihr zur Straße folgen wollte.

Er hielt inne.

Geister wurden von der Lebensenergie der Menschen angezogen. Je mehr Menschen sich dicht beieinander aufhielten, desto mehr Lebensenergie sammelte sich an einem Fleck. Auf Geister wirkte das wie Licht auf Motten.

Phil trat zurück hinter die eiserne Türschwelle. Sue dagegen lief zum Gartenzaun und öffnete das Tor, noch immer mit wachsamem Blick auf die Umgebung. Das Mondlicht schimmerte auf ihrem schneeweißen Haar und die feinen schwarzen Linien, die sich wie ein Tribal-Tattoo ihre linke Schläfe entlang bis hinunter zum Ohr schlängelten, schienen auf ihrer hellen Haut noch deutlicher hervorzutreten als sonst.

Phil hätte Sue jederzeit sein Leben anvertraut. Sie war eine Totenbändigerin. Sollte hier irgendwo ein Geist lauern und sich auf Thaddeus stürzen wollen, sobald er aus dem Auto stieg, würde sie mit ihm fertigwerden.

Doch sein bester Freund blieb unbehelligt, als er aus dem Wagen sprang, eilig die hintere Tür aufriss, ein Bündel in die Arme nahm und zum Haus hetzte. Im Lichtschein, der aus dem Flur hinaus in den Vorgarten fiel, erkannte Phil zwei nackte Kinderfüße und entsetzlich dürre Beine, die aus der Polizeijacke herausschauten, die Thad um den kleinen Körper gewickelt hatte.

»Als ich ihn gefunden hab, dachte ich, er wäre tot«, stieß Thaddeus hervor, als er hastig ins Haus trat und Sue die Tür hinter ihnen verriegelte.

Phil deutete nach rechts auf den Durchgang zum Wohnzimmer. »Leg ihn aufs Sofa dicht ans Feuer.«

In der Stube hing noch der Duft von Salbei und Lavendel, die sie am Abend mit den Kindern zum Schutz vor den Gefahren der Unheiligen Nacht im Feuer verbrannt hatten. Edna stand am Kamin und war dabei, die Flammen neu zu entfachen, um für Wärme zu sorgen, sah aber sofort auf, als die anderen eintraten.

»Oh Himmel«, seufzte sie, als Thad das Häufchen Mensch vorsichtig auf dem Sofa ablegte und zur Seite trat, um Phil Platz zu machen.

Der schlug die Jacke zurück und zum Vorschein kam ein kleiner Junge. Kreidebleich, kaum mehr als Haut und Knochen und noch unglaublich jung. Drei, höchstens vier Jahre alt.

Phils Herz zog sich zusammen.

So alt wie Jules und Ella, die oben in ihren Zimmern schliefen und denen er vor dem Zubettgehen flauschige Schlafanzüge und Ednas selbstgestrickte Wollsocken angezogen hatte, weil die Nacht so bitterkalt werden sollte.

Der Kleine vor ihm trug nur ein verdrecktes dünnes T-Shirt, das einmal weiß gewesen war, und eine kurze graue Trainingshose. Sein Haar war pechschwarz und verfilzt, seine Haut kaum sauberer als seine Kleider. Er hatte blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden in verschiedenen Stadien an Armen und Beinen, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und ein dünnes Rinnsal Blut war irgendwann in den letzten Stunden aus seiner Nase gesickert. Über seine linke Schläfe zogen sich die feinen schwarzen Linien, die alle Totenbändiger von Geburt an zeichneten und so der Welt verrieten, was sie waren.

Phil seufzte innerlich und während ein Teil von ihm mit Mitgefühl für den Jungen und unbändigem Hass auf diejenigen kämpfte, die ihm das angetan hatten, hatte ein anderer Teil bereits in den Medizinermodus umgeschaltet und seine Finger suchten am Hals des Kleinen nach seinem Puls. Er konnte nicht tot sein, sonst wäre Thaddeus im Auto von seinem Geist angegriffen worden. Doch die Frage war, wie viel Leben noch in ihm war und ob sie ihn noch retten konnten.

»Und?«, fragte Thaddeus angespannt und hoffte, dass er auf dem Weg hierher nicht umsonst so gut wie jede Verkehrsregel gebrochen hatte. Zum Glück traute sich in Unheiligen Nächten kaum jemand vor die Tür und auf den Straßen war nichts los gewesen.

»Sein Herz schlägt noch. Aber nur gerade so.« Phil zog seine Hand zurück und wandte sich zu Sue um. »Ich denke, er braucht dich jetzt mehr als mich.«

Sie nickte sofort und kniete sich neben dem Kleinen vor die Couch. Vorsichtig schob sie sein T-Shirt hoch, wobei noch mehr Blutergüsse zum Vorschein kamen. Doch sie zwang sich, alle negativen Gefühle beiseitezuschieben, und legte ihre linke Hand sanft auf sein Herz. Energieübertragung funktionierte am besten bei direktem Hautkontakt. Ihre rechte legte sie auf seine Stirn. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und ihre Atmung.

Machte sich bewusst, wie das Leben durch ihren Körper strömte.

Kraftvoll und ungehemmt.

Suchte nach derselben Energie im Körper des Kleinen – und prallte mental zurück.

Unsagbare Angst.

Das Gefühl traf sie so heftig, dass sie beinahe nicht nur mental, sondern auch körperlich zurückgewichen wäre.

Was immer diesem Kind widerfahren war, es hatte Todesängste ausgestanden und ein Echo dieser Angst hallte noch immer in ihm nach.

Sue schluckte und widerstand dem Drang, darüber nachzugrübeln, was ihn so verängstigt haben mochte. Sie brauchte ihre Konzentration, denn das Wichtigste war jetzt, dem Kleinen das Leben zu retten. Um seine Psyche konnten sie sich danach kümmern.

Wieder streckte sie ihre Lebensenergie nach dem Jungen aus und suchte nach seiner. Die musste irgendwo sein, sonst hätte sie seine Angst nicht fühlen können.

Es dauerte, doch schließlich fand sie einen kaum spürbaren Rest, völlig versteckt, wie ein verängstigtes Tier, das sich unendlich tief in seine Höhle verkrochen hatte. Rasch legte sie Wärme und das Gefühl von Sicherheit in ihre Energie und stupste damit sanft an seine. Der Kleine zögerte, ließ die Vereinigung dann aber zu, und als er spürte, dass es etwas Gutes war, stürzte er sich wie ausgehungert darauf und sog dankbar alles, was sie ihm gab, in sich auf.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ich hab ihn«, sagte sie, damit die anderen sich keine Sorgen mehr darüber machen mussten, ob der Kleine es schaffen würde. »Und er ist ein Kämpfer. Er will leben.«

»Gutes Kind. Dann geh ich jetzt mal und sorge für Tee und heiße Schokolade.«

Sue hörte, wie Edna das Wohnzimmer verließ, hielt aber die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf den Fluss ihrer Lebensenergie. Der Junge sog sie in sich auf wie ein Erstickender, dem man eine Maske mit rettender Atemluft aufgesetzt hatte. Es war ein Reflex. Er war bewusstlos und konnte es nicht steuern. Deshalb musste sie aufpassen, dass er nicht zu viel von ihr nahm und sie dadurch tötete. Sie spürte bereits, wie ihre Kräfte schwanden.

Als sich ein leichtes Schwindelgefühl in ihrem Kopf einstellte und es hinter ihren Schläfen zu pochen begann, trennte sie behutsam die energetische Verbindung.

Es überraschte sie, wie bereitwillig der Junge sie losließ. Die meisten, denen sie Lebensenergie schenkte, klammerten und wollten mehr. Der Kleine dagegen ließ sie sofort gehen und zog sich wieder in seine Höhle zurück.

Sue öffnete die Augen.

Hauchfeiner Silbernebel umspielte ihre Hände, die noch immer auf Stirn und Brust des Jungen lagen. Als sie sie fortzog, verweilten die zarten Schwaden über seiner Haut, bis sie sich langsam verflüchtigten.

»Ungewöhnlich«, murmelte Phil, der die beiden keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. »Warum hat er nicht versucht, den Rest deiner Energie auch noch aufzusaugen?«

»Ich glaube, er hat gelernt, sich mit dem zu begnügen, was er bekommt, und nicht zu wagen, mehr zu erwarten.«

Liebevoll strich Sue dem Kleinen über das verfilzte Haar und stand dann auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Ihr war kalt und sie fühlte sich zittrig. Kopfschmerzen pochten hinter ihren Schläfen und sie schwankte leicht, weil ihr schwindelig war und ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.

Phil half ihr zu einem der Sessel beim Kamin. »Ruh dich aus.« Er küsste ihre Stirn, legte eine Wolldecke um sie und reichte ihr ein Glas Wasser.

Dankbar trank sie einen Schluck und deutete zu dem Kleinen. »Ich konnte keine schlimmen Schmerzen bei ihm spüren. Er hat also keine inneren Verletzungen oder Knochenbrüche. Er ist aber schrecklich geschwächt und ausgehungert. Und völlig verängstigt. Er muss Todesängste ausgestanden haben, bevor er das Bewusstsein verloren hat.«

Phil setzte sich zu dem Jungen, holte das Stethoskop aus seiner Arzttasche und überprüfte Herzschlag und Atmung seines kleinen Patienten. Beides war regelmäßig und kräftiger als zuvor, doch die Lungen hörten sich nicht gut an. Er zog eine Stiftlampe hervor und leuchtete dem Kleinen in die Augen. Die Pupillen reagierten sofort und zogen sich zusammen. Das war ein gutes Zeichen.

»Erzähl uns, was passiert ist und wo du ihn gefunden hast«, bat Phil Thad, während er die Körpertemperatur des Jungen maß. »Dein kryptischer Anruf war nämlich nicht sehr aufschlussreich.«

»Ich komme mit einem Jungen zu dir, den ich an einem Tatort gefunden hab. Ich dachte zuerst, er wäre tot wie die anderen. Aber ich glaube, er ist nur bewusstlos. Du musst ihm helfen, Phil. Und weck Sue. Der Kleine ist ein Totenbändiger.«

Das waren die gehetzten Worte gewesen, die Phil um kurz nach halb drei aus dem Schlaf gerissen hatten. Doch Thad hatte so schnell wieder aufgelegt, dass keine Zeit für Nachfragen geblieben war.

Edna kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer. Sie stellte ihrem Sohn eine Schüssel mit warmem Wasser hin und legte ein paar Tücher zum Waschen, einen Schlafanzug und dicke Socken daneben. Dann brachte sie ihrer Schwiegertochter eine Tasse mit heißer Schokolade. Zucker würde ihr helfen, die verlorene Energie schneller zu regenerieren.

Sue lächelte zu ihr auf. Sie liebte Schokolade. »Danke, du bist die Beste.«

Edna drückte ihr die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Du hast gerade einem Kind das Leben gerettet. Heiße Schokolade ist da das Mindeste, was ich für dich tun kann.«

Dann trat sie zu Thad und reichte ihm einen Tee. »Das Gleiche gilt für dich, aber ich weiß, du trinkst lieber Tee. Und Phil hat recht. Erzähl uns, was passiert ist. Aber sag bitte nicht, dass irgendwelche Spinner durchgedreht sind, weil heute die erste Unheilige Nacht in diesem verdammten Unheiligen Jahr ist.«

Sie stellte ihrem Sohn ebenfalls einen Tee hin und setzte sich mit einer eigenen Tasse neben Sue in den zweiten Kaminsessel.

Ächzend wischte Thad sich über die Augen und wirkte mit einem Mal deutlich älter als Anfang dreißig. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber in Unheiligen Zeiten spielen sich so viele kranke Dinge ab …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.

Seit Menschengedenken entstanden Geister, wenn ein Mensch einen gewaltsamen Tod fand. Dabei war es nicht von Bedeutung, ob der Tod absichtlich herbeigeführt wurde, wie bei einem Mord, oder er durch einen Unfall geschah. Wurde ein Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen und starb nicht friedlich im hohen Alter oder durch eine schwere Krankheit, entstand ein Geist. Diese Wesen hatten nichts mehr mit der Person gemein, aus der sie entsprungen waren. Sie waren Seelenlose, die einzig und allein nach dem Leben gierten, das ihnen abrupt genommen worden war. Deshalb stürzten sie sich erbarmungslos auf jeden erreichbaren Menschen, um ihm seine Lebensenergie zu rauben.

So wie es seit Menschengedenken Geister gab, gab es in jedem Jahr auch vier Unheilige Nächte, in denen die Seelenlosen besonders aggressiv und gefährlich waren. In den Nächten des Frühlings- und Herbstäquinoktiums, zu Samhain und in der Nacht der Wintersonnenwende wagte sich niemand, der nicht unbedingt musste, aus dem Haus.

Alle dreizehn Jahre erstarkten Geister und Wiedergänger zudem und verhielten sich ein gesamtes Jahr lang noch angriffslustiger und grausamer als sonst. Warum das so war, wusste niemand, doch es hatte diesen Jahren den Namen Unheiliges Jahr eingebracht. In den Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres potenzierte sich die Gefahr, die von den Seelenlosen ausging, noch einmal ins Unermessliche, und leider rief genau dieser Umstand immer wieder Verrückte und Fanatiker auf den Plan, die mit fehlgeleiteten oder kranken Weltvorstellungen irrsinnige und gemeingefährliche Dinge taten.

Phil warf einen mitfühlenden Blick zu Thaddeus, während er sacht das getrocknete Blut von der Nase des Jungen wischte. Thaddeus war auf das zweite Sofa gesunken, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt sein Gesicht in den Händen vergraben. Im letzten Unheiligen Jahr hatte er seine Eltern verloren. Damals war Thad gerade achtzehn gewesen und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Hilf uns«, bat Phil sanft, während er weiter das Gesicht des Jungen säuberte, der ohne den Schmutz noch viel bleicher wirkte als zuvor. »Erzähl uns, was passiert ist, damit wir dem Kleinen helfen können. Dann wirst auch du dich sicher besser fühlen.«

Als Arzt hatte Phil schon viele schlimme Dinge gesehen und auch privat kämpfte er immer wieder an Fronten, die ihn oft an seinen Mitmenschen und der Gesellschaft zweifeln ließen. Doch welche Grausamkeiten und menschlichen Abgründe Thaddeus als Polizist bei der Abteilung für Gewaltverbrechen aushalten musste, wollte er sich gar nicht vorstellen.

Thad presste einen Moment lang seine Finger auf die Augen, um sich zu sammeln. Als er wieder aus seinen Händen auftauchte, warf er einen Blick zum Durchgang in den Flur.

»Schlafen die Kinder? Sie sollten das hier nicht hören.«

Edna nickte. »Keine Sorge, sie sind oben in ihren Zimmern.«

Thaddeus atmete tief durch. »Erinnert ihr euch an all die Vermissten aus den Armenvierteln?«

Böses ahnend nickte Phil langsam. Er arbeitete mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen in einer Gemeinschaftspraxis des Hampstead Health Centres, übernahm aber jeden Freitag unentgeltlich eine Schicht in einer Notfallambulanz im East End, einem der schlimmsten sozialen Brennpunkte der Stadt. Seit Beginn des Jahres waren dort und in anderen Armenvierteln vermehrt Obdachlose verschwunden. In einem harten Winter nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Viele starben in ihren notdürftigen Verstecken an der Kälte und wurden oft wochenlang nicht gefunden. Außerdem besaßen die meisten, die sich auf der Straße durchschlagen mussten, kaum Mittel, um sich vor Geistern zu schützen. Das war schon in normalen Jahren für viele Obdachlose tödlich. In einem Unheiligen Jahr erst recht. Doch die schiere Anzahl an Menschen, die in den Armenvierteln plötzlich verschwunden waren, hatte schließlich doch Aufmerksamkeit erregt, weil die Einwohner Londons sich vor einer Flut möglicher neuer Geister fürchteten.

»Wir haben sie heute Nacht gefunden«, fuhr Thad fort. »Im Keller eines leer stehenden Herrenhauses am Wimbledon Park. Und es waren deutlich mehr als die knapp dreißig, von denen wir wussten.«

»Wie viele?«, fragte Sue.

»Das stand noch nicht fest, als ich zu euch gefahren bin, aber mit Sicherheit doppelt so viele. Man hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Vermutlich erst heute Nacht. Irgendein Irrer hat in diesem Keller ein Blutbad angerichtet.« Thad ballte die Hände zu Fäusten. »Und mitten drin waren die Kinder.«

Er blickte zu dem Jungen, dem Phil das T-Shirt ausgezogen hatte, um seinen Oberkörper zu waschen. Seine Rippen schienen durch die blasse Haut stechen zu wollen, so dürr war der kleine Kerl. Aber man konnte sehen, wie die schmale Brust sich hob und senkte, und das war es, was zählte.

»Es waren sechs. Drei Mädchen und drei Jungen.« Thads Stimme klang bitter. »Alle waren Totenbändiger und ähnlich alt wie der Kleine. Sie waren in Holzkisten eingesperrt. Kaum ein Meter mal ein Meter. Sie konnten nicht mal darin stehen und hatten nichts bei sich außer einer Decke und einer Wasserflasche.«

Edna zischte eine Verwünschung und spuckte ins Feuer.

»Alle hatten Nasenbluten, blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden. Äußerlich nichts Ernstes, aber sie sind alle tot. Außer dem Kleinen. Ich hab auch ihn erst für tot gehalten. Sein Puls war wohl zu schwach. Doch dann konnte ich in der verdammten Kälte seinen Atem sehen.«

Phil versuchte, ruhig und professionell zu bleiben und die Informationen zu ordnen, die Thaddeus ihnen gab, während in seinem Inneren Wut und Mitgefühl tobten. Er war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten, als er dem Kleinen das Oberteil des Schlafanzugs überzog, denn sonst hätte er seine Fäuste irgendwo reinschlagen müssen.

Sue schloss die Augen und schluckte hart. »Denkst du, jemand wollte die Kinder quälen? Testen, wie viele Geister sie bändigen können, bevor sie sterben?«

Thad hob die Schultern und nickte knapp. »Die Vermutung liegt nahe, oder?«

Ednas Finger krallten sich um ihre Teetasse. »Es waren kleine Kinder«, grollte sie voller Abscheu.

Phil seufzte schwer und verdrängte die Vorstellung daran, was der kleine Kerl, der jetzt hier bei ihm auf dem Sofa lag, in dieser Nacht hatte durchmachen müssen.

Doch die schreckliche Wahrheit war, dass es solche Verbrechen gegen Totenbändiger immer wieder gab und weiter geben würde, wenn sich nicht endlich die Gesetze änderten. Totenbändiger galten als unheimlich und unberechenbar, weil sie Kräfte besaßen, mit denen sie Geister und Wiedergänger auslöschen konnten, indem sie den Seelenlosen ihre Todesenergie raubten. Dasselbe konnten Totenbändiger allerdings auch mit der Lebensenergie der Menschen tun und diese nur durch Handauflegen töten. Niemand verstand diese Kräfte und niemand wusste, woher sie kamen. Nicht einmal die Totenbändiger selbst. Sie wurden so geboren und machten nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung aus. In manchen Familien traten sie allerdings häufiger auf, besonders, wenn zwei Totenbändiger Kinder bekamen.

Manchmal wurden Totenbändiger jedoch auch in unbefleckte Familien geboren, waren dort jedoch in der Regel nicht willkommen. Wer wusste schon, ob sie ihre tödlichen Kräfte wirklich nur gegen Geister und Wiedergänger einsetzten? Und selbst wenn sie nur das taten, wer konnte sagen, was es mit ihrer Psyche oder ihrer Seele machte, wenn sie die Todesenergie der Seelenlosen schluckten?

Niemand wollte eine tickende Zeitbombe in der Familie haben.

Niemand wollte soziale Ächtung und Ausgrenzung erfahren.

Da die meisten Menschen so dachten, stand es nicht unter Strafe, Babys zu töten, die als Totenbändiger zur Welt kamen. Und quälte oder tötete man einen Totenbändiger, weil man sich von ihm bedroht fühlte, kam es nie zu einem Prozess.

»Werdet ihr ermitteln?« Sue wusste, dass Thaddeus auf ihrer Seite stand. Er kämpfte als Polizist immer wieder gegen Geister und Wiedergänger und sah in Totenbändigern wertvolle Unterstützer, deren Fähigkeiten man nutzen sollte, statt ihnen mit Misstrauen zu begegnen oder sich vor ihnen zu fürchten. Doch er war nur ein einfacher Sergeant und seine Bosse entschieden, welche Fälle bearbeitet wurden. Und bei seinen Bossen standen tote Obdachlose und Totenbändigerkinder auf der Prioritätenliste vermutlich nicht besonders weit oben.

Doch Thad nickte mit grimmiger Entschlossenheit. »Auf jeden Fall. Wer immer das getan hat, ist ein kranker Massenmörder, und er läuft frei in London herum. Ihn nicht zu suchen, wäre absolut verantwortungslos.«

»Allerdings!«, stimmte Edna ihm aus tiefstem Herzen zu.

Phil hatte auch Füße und Beine des Jungen notdürftig gesäubert und zog ihm jetzt Schlafanzughose und Socken an. »Willst du, dass ich mit zum Tatort komme?« Er wickelte seinen kleinen Patienten in eine Wolldecke und strich ihm sanft über Stirn und Haar. »Wenn es so viele Tote gibt, könnt ihr Unterstützung gebrauchen. Eure Gerichtsmediziner werden alleine Tage brauchen, um bei allen Leichen den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Und um die Kinder wird sich vermutlich gar keiner kümmern.«

Sofort schüttelte Thad den Kopf. »Du kommst auf keinen Fall mit mir. Und es darf niemand wissen, dass ich hier gewesen bin.« Er beugte sich vor und blickte ernst von einem zum anderen. »Der Junge ist der einzige Zeuge dieses Massakers. Ich weiß, er ist noch sehr jung. Vermutlich zu jung, als dass er eine Aussage machen könnte, die uns helfen würde, den Täter zu finden. Aber das weiß dieser Irre nicht. Sollte er erfahren, dass eins der Kinder überlebt hat, wird er sicher alles daransetzen, den Kleinen zum Schweigen zu bringen.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann sagte Sue: »Du willst, dass wir ihn in unserer Familie verstecken.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Thaddeus atmete schwer durch. »Ich weiß, ich bitte euch damit um sehr viel. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu unterstützen. Außer mir und meinem Boss weiß niemand, dass der Kleine überlebt hat, und Oswald können wir hundertprozentig vertrauen. Er setzt sich genauso für die Gleichstellung von Totenbändigern ein wie ich. Offiziell ist der Kleine mit den anderen Kindern gestorben. Da es keinerlei Vermisstenanzeigen gibt, die auf ihn oder eins der anderen Kinder passen, gehen wir davon aus, dass sie nicht aus Totenbändigerfamilien stammen. Vermutlich hat dieser Irre sie als Babys irgendwelchen Müttern abgenommen, die froh waren, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Dann hat er die Kinder großgezogen, um mit ihnen im Unheiligen Jahr irgendwelche kranken Experimente zu machen. Aber das ist nur meine Vermutung. Noch wissen wir so gut wie gar nichts, außer dass der Kleine mit Sicherheit in Gefahr ist, wenn der Täter erfährt, dass er noch lebt und reden könnte.«

Thaddeus blickte zu Phil. »In ein paar Tagen könntest du sagen, dass jemand den Jungen in deiner Notfallambulanz abgegeben hat. Erzähl allen, die fragen, dass seine Mutter eine Totenbändigerin war, die als Wächterin an den Grenzen des Vergnügungsviertels im West End gearbeitet hat. Dort ist sie heute in der Unheiligen Nacht gestorben. Zu viele hungrige Geister, zu wenig Personal. Das glaubt jeder sofort. Sie war alleinerziehend und hat ihren Sohn während ihrer Schichten zu Hause gelassen. Nachbarn hatten ein Auge auf ihn, und als die Mutter nicht zurückkam, haben sie den Kleinen zu dir in die Ambulanz gebracht, weil sie wissen, dass du schon zwei Totenbändigerkinder in deiner Familie aufgenommen hast. Sollten Rückfragen kommen, unterstützen Oswald und ich diese Geschichte und wir besorgen euch alle nötigen Papiere. Obwohl ich nicht glaube, dass irgendjemand nachfragen wird. So traurig wie es ist, es wird niemanden interessieren, wo ein kleiner Totenbändiger herkommt und was ihm widerfahren ist.«

Wieder sah Thaddeus zwischen seinen Freunden hin und her. »Wie gesagt, ich weiß, ich bitte euch um sehr viel. Aber der Junge hat niemanden, ihr seid fantastische Eltern und diese Familie hält zusammen wie Pech und Schwefel. Nach allem, was der Kleine durchgemacht haben muss, hat er ein Zuhause wie dieses hier verdient, und ich weiß, dass er bei euch in Sicherheit wäre.«

Sue und Phil tauschten einen Blick und sahen dann zu Edna. Doch bevor die etwas sagen konnte, erklang eine Stimme vom Durchgang zum Flur.

»Wir können ihn nicht wegschicken.«

Alle fuhren herum und Phil seufzte, als sein Ältester ins Wohnzimmer kam, jenen sturköpfigen Ausdruck im Blick, den er in den letzten Monaten perfektioniert hatte.

»Wie lange hast du uns schon belauscht?«, fragte er den Elfjährigen und fühlte sich zu müde und ausgelaugt, um die eigentlich nötige Vaterstrenge in Blick und Stimme zu legen.

»Lange genug, um zu wissen, dass ein Irrer dem Kleinen wehgetan hat, weil er ein Totenbändiger ist.« Gabriel trat ans Sofa und betrachtete den bewusstlosen Jungen. Sofort ballte er wütend die Fäuste. »Er ist noch so klein. Warum hassen die Leute uns so sehr? Wir haben niemandem etwas getan!«

Sue stand aus ihrem Sessel auf und zog ihren Sohn in ihre Arme. Zärtlich streichelte sie ihm durch die vom Schlaf zerzausten Haare und fuhr mit dem Daumen über die schwarzen Linien an seiner Schläfe.

»Weil viele Menschen dumm sind und das fürchten, was sie nicht verstehen. Und sie vorverurteilen lieber andere, statt sich mit ihren eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen.«

Gabriel löste sich aus ihrer Umarmung, lehnte sich aber an sie und schaute von ihr zu seinem Dad und seiner Grandma. »Ihr werdet ihn nicht wegschicken, oder? Ella und mich habt ihr auch aufgenommen. Und Thad hat gesagt, der Kleine hat niemanden. Wo soll er denn dann hin? In die Akademie? Mum, du hasst die Akademie!«

Die drei Erwachsenen tauschten erneut einen Blick und waren sich wortlos einig.

»Nein«, sagte Sue entschieden. »Er kommt ganz sicher nicht in die Akademie. Er wird bei uns bleiben.«

Erneut ballte Gabriel die Fäuste, aber diesmal nicht aus Wut, sondern um mit ihnen triumphierend in die Luft zu boxen. »Yes!«

Sue fasste ihren Sohn bei den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Aber du hast gehört, was Thad gesagt hat. Niemand darf wissen, wer der Kleine wirklich ist. Das heißt, du darfst niemandem erzählen, was du heute Nacht hier gehört hast, verstanden?« Sie maß ihn mit ernstem Blick.

Gabriel nickte gewissenhaft. »Ja, ich weiß. Und ich verspreche, ich passe auf, dass ihm keiner mehr wehtut.« Dann wandte er sich zu dem Kleinen um. »Darf ich ihm was von meiner Lebensenergie geben, damit er schnell wieder gesund wird?«

Sue lächelte gerührt und gab ihm einen Kuss auf den strubbeligen Hinterkopf. »Okay. Aber ich zähle. Bis zehn, dann trennst du die Verbindung zwischen euch wieder.«

»Bis elf! Ich bin elf. Für jedes Jahr eine Sekunde. Das schaffe ich.«

Wieder musste Sue lächeln. »Okay. Bis elf. Aber keine Sekunde länger. Wenn der kleine Mann morgen aufwacht, braucht er einen großen Bruder, der fit ist, klar?«

Grinsend hob Gabriel den Daumen. »Glasklar.«

Dann setzte er sich neben seinen neuen kleinen Bruder und legte eine Hand auf seine Stirn und eine auf sein Herz.

Thaddeus sah noch einen Moment lang zu, wie Sue ihrem Ältesten Anweisungen gab, dann stand er auf und blickte zu Phil. »Ich muss zurück zum Tatort.«

Phil nickte und begleitete seinen Freund zur Haustür. »Halte uns auf dem Laufenden.«

»Natürlich. Ich komme wieder her, sobald ich kann.«

Bevor Thad über die Türschwelle trat, drückte Phil ihm die Schulter. »Pass auf dich auf. Die Kinder waren noch viel zu klein, um die Geister von all diesen Toten bändigen zu können. Sei also vorsichtig. In diesem Herrenhaus muss es vor Geistern jetzt nur so wimmeln.«

Thaddeus schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie, nein?«, hakte Phil stirnrunzelnd nach.

»Ich habe keine Ahnung, warum, aber trotz all der Toten gab es am Tatort nicht einen einzigen Geist.«

Kapitel 1

 

 

Dreizehn Jahre später

1. September

Ein Sonntagabend

 

Camren Hunt starrte in den Spiegel und zwei dunkelblaue Augen starrten zurück – aus einem schmalen Gesicht mit bleicher Haut, umrahmt von einem schwarzen Haarschopf, der sich nie richtig bändigen ließ, völlig egal, was er damit anstellte. Manche Totenbändiger wurden mit krassen Haarfarben geboren. Sue hatte schneeweißes Haar, das sie an Sky und Jules weitervererbt hatte. Ellas Haare hatten einen blaugrünen Farbton. Gabriels dagegen waren einfach nur dunkelblond, doch er hatte einen Freund, dessen Haare zartrosa und himmelblau waren.

Cam fuhr sich durch seinen eigenen struppigen Haarschopf und war froh, dass ihm so ein Farbwunder erspart geblieben war. Ella behauptete zwar steif und fest, dass seine Haare nicht einfach nur pechschwarz waren, sondern im Sonnenlicht einen mitternachtsblauen Schimmer hatten, doch ganz ehrlich, den hatte er noch nie gesehen.

Aber solange seine Haare nicht rosa und hellblau waren, war ihm alles egal.

Nur nicht auffallen.

Er betrachtete sich prüfend.

Er sah weder besonders gut noch schlecht aus.

Normal halt.

Durchschnittlich.

Für seine geschätzten siebzehn Jahre war er eher klein und laut Granny zu dürr, doch das war okay. Besser, als ein muskelbepackter Riese mit rosablauen Haaren. Klein und dürr konnte man unsichtbar in der Menge untertauchen. Oder zumindest hätte er das gekonnt, wenn da nicht die schwarzen Linien an seiner linken Schläfe gewesen wären. Die machten es ihm unmöglich, morgen, an seinem ersten Schultag in einer öffentlichen Schule, unsichtbar zu bleiben.

Bei jedem Totenbändiger zeichneten die Linien ein etwas anderes Muster und manche trugen sie rechts, andere links, doch immer gingen sie von der Schläfe aus und schlängelten sich hinunter bis zum Ohr.

Sie zu verstecken, war strengstens verboten.

Trotzdem gab es immer wieder Totenbändiger, die es taten. Auch wenn sich in den letzten Jahren in London einiges zum Besseren geändert hatte, gab es noch immer zu viel Ablehnung und dumme Vorurteile. Entgegen der Vorstellungen mancher ihrer Mitbürger ernährten Totenbändiger sich nämlich weder von der Energie der Toten noch von der der Lebenden. Sie brauchten die gleiche Nahrung wie alle anderen Menschen und für die mussten sie Geld verdienen. Genauso wie für die Miete, denn auch wenn Totenbändiger den Geistern und Wiedergängern nicht so schutzlos ausgeliefert waren wie der Rest der Bevölkerung, waren sie weder immun gegen sie noch unsterblich, was ein sicheres Zuhause äußerst erstrebenswert machte. Und dafür brauchte man einen Job. Doch es gab nur wenige Arbeitgeber, die Totenbändiger einstellten, deshalb blieb vielen oft keine andere Wahl, als ihre Zeichen zu verstecken, um Geld verdienen zu können.

Cam hatte noch keine Ahnung, wie er später sein Leben finanzieren wollte. Aber er wusste definitiv, dass er sein Zeichen dafür nicht verstecken würde. Früher oder später flog es immer auf und die Strafe dafür waren bis zu sechs Wochen Gefängnis. In eine enge Zelle gesperrt zu werden, war schlimmer als zu hungern oder auf der Straße leben zu müssen. Allein die bloße Vorstellung, irgendwo eingesperrt zu sein, ließ ihm schon kalten Schweiß ausbrechen und es fühlte sich an, als würde irgendetwas seine Brust zusammenquetschen und ihn kaum atmen lassen.

Seine Abneigung gegen geschlossene Räume war so schlimm, dass er selbst Nebeltage, an denen es zu gefährlich war, das Haus zu verlassen, nur schwer aushielt. Phil hatte ihm erklärt, dass seine Klaustrophobie vermutlich daher rührte, dass man ihn als kleines Kind in einer engen Kiste eingesperrt hatte. Irgendein Irrer hatte ihn und fünf andere Kinder gefangen gehalten und gequält, weil er Totenbändiger hasste. Gefasst worden war der Mistkerl leider nie.

Cam schaute sich im Spiegel in die Augen und versuchte wie so oft, irgendeine Erinnerung an damals zu finden.

Doch da war nichts.

Selbst an die erste Zeit hier bei den Hunts konnte er sich kaum erinnern.

Sue, Phil und Granny hatten ihm erzählt, dass er lange mit einer schweren Lungenentzündung krank gewesen war und schreckliche Angst gehabt hatte. Doch wovor er sich so sehr gefürchtet hatte, wusste Cam nicht. Selbst damals hatte er es nicht sagen können. Auch nicht, wenn er nachts schreiend aufgewacht war.

Irgendwann waren diese Träume zum Glück seltener geworden und quälten ihn nur noch bei Nebel oder Vollmond. Und garantiert in jeder Unheiligen Nacht. Immer, wenn die Toten rastloser und gefährlicher waren als ohnehin schon, machte ihn das unruhig und das schien seine Albträume zu begünstigen. Er konnte sich noch immer nicht daran erinnern, was er träumte. Er wachte zwar nicht mehr schreiend auf, dafür aber meist nassgeschwitzt und mit solcher Todesangst, dass er in den ersten Momenten nach dem Aufwachen wie gelähmt war.

Absolut ätzend.

Vor allem, weil der Mist wieder deutlich schlimmer geworden war.

Seit Beginn dieses verfluchten Unheiligen Jahres suchten die Albträume ihn wieder häufiger und ohne erkennbares Muster heim. Schlafen war die Hölle und die Schatten unter seinen Augen verrieten das ziemlich schonungslos.

Auch die verdammte Unruhe, die er sonst nur in Unheiligen Nächten spürte, war in den letzten Monaten ein zu häufiger Begleiter, der sich oft nur durch drastische Maßnahmen abschütteln ließ.

Aber hey, es hatte ja niemand behauptet, dass das Leben was für Weicheier war.

Seufzend drehte Cam den Wasserhahn auf und klatschte sich ein paar Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht. Mit nassen Fingern fuhr er sich durch die Haare, änderte damit an ihrer Strubbeligkeit allerdings rein gar nichts. Sie standen jetzt bloß in andere Richtungen ab. Pechschwarz und kein bisschen mitternachtsblau.

Er schnitt sich selbst eine Grimasse, zog sein Handtuch vom Haken und trocknete sein Gesicht.

Es hätte wahnsinnig geholfen, wenn der Sommer nicht so kalt und verregnet gewesen wäre. Ein bisschen Sonnenbräune und schon wären die dämlichen Schatten unter seinen Augen jetzt vielleicht nicht ganz so auffällig.

Vielleicht sollte er sich von Sky oder Ella einen Eyeliner ausleihen. Dann konnte er auf coolen Gothic Boy machen. Da er eh nur schwarze Klamotten trug, wäre der Rest der Verwandlung wahrscheinlich gar nicht so schwer.

Mit der Schuluniform, die er ab morgen tragen musste, funktionierte der tolle Plan allerdings nicht wirklich und hätte ihn vermutlich eher wie einen trashigen Zombie aus irgendeinem peinlichen B-Movie aussehen lassen.

Außerdem war er einfach kein Goth.

Und er wollte auch gar keiner sein.

Er wollte einfach nur, dass man ihn morgen in Ruhe ließ.

Es klopfte.

»Ja?«

Gabriel streckte seinen Kopf zur Tür herein. »Hey Kleiner, will ich wissen, was du hier drin so ewig machst?«

Gabriel war der Einzige, der ihn noch Kleiner nennen durfte. Weil es nie abwertend gemeint war. Es war eher wie ein Spitzname, der haften geblieben war, weil Kleiner sein Name gewesen war, bevor Cam einen richtigen bekommen hatte.

Wie immer sah Gabriel verdammt gut aus – auf seine typisch lässig coole Art. Mit Jeans, Longsleeve, Boots und seiner schwarzen Lederjacke, ohne die er nie das Haus verließ.

»Ich übe schon mal für morgen, wenn ich mich vor den Mobbern der Schule auf dem Klo verstecken muss«, gab Cam sarkastisch zurück. »Ich hab nämlich keine Lust, mich in den nächstbesten Müllcontainer werfen zu lassen, weil irgendwelche Vollidioten die Vorstellung nicht ertragen können, dass jetzt ein paar Totenbändiger mit auf ihre Schule gehen.«

Gabriel hob eine Augenbraue. »Wow. Es geht doch nichts über eine optimistische Erwartungshaltung.«

»Optimismus ist total out. Der wurde eh immer überbewertet. Realismus mit einem ordentlichen Schuss Zynismus – das ist das Must-have, wenn man mit dem Leben klarkommen will.«

Blitzschnell nahm Gabriel ihn in den Schwitzkasten und strubbelte ihm durch die Haare. »Es erfüllt mein Herz immer wieder mit unbändiger Freude, zu sehen, wie du zu einem echten Sonnenschein heranwächst.«

Geschickt befreite Cam sich aus dem Griff mit ein paar Tricks, die Gabe ihm bei ihrem Selbstverteidigungstraining beigebracht hatte.

»Gut gemacht.« Anerkennend klopfte Gabriel ihm auf die Schulter. »Siehst du, du musst dich morgen nicht auf dem Klo verstecken. Wehr dich, wenn dir jemand blöd kommt.«

Sicher. Kommt bestimmt super an, wenn einer der Totenbändiger-Freaks gleich am ersten Tag in eine Schlägerei gerät. Vermutlich überlebe ich dann nicht mal bis zum Mittagessen.

Laut sagte Cam: »Musst du nicht zur Nachtschicht?«

Der abrupte Themenwechsel ließ Gabriel die Stirn runzeln, doch er ging trotzdem darauf ein. »Yep. Aber bevor ich mich um unsere ungeliebten paranormalen Mitbürger kümmere, wollte ich dir noch schnell viel Spaß für deinen ersten Schultag wünschen.«

»Ich glaube, unsere Definitionen von Spaß liegen Lichtjahre auseinander.«

Gabriel betrachtete ihn einen Moment lang und ließ seine flapsige Art dann fallen. »Hey, das wird schon. Das, was morgen passiert, ist ein riesiger Schritt für ein gemeinsames Miteinander ohne Angst und Diskriminierung. Stell dir nur mal vor, dass ein Totenbändigerkind, das morgen geboren wird, in ein paar Jahren ganz selbstverständlich mit allen anderen Kindern eingeschult werden kann, weil du, Jules und Ella bewiesen habt, dass gemeinsam unterrichtet zu werden, keine Gefahr darstellt. Damit bist du Teil von etwas unglaublich Wichtigem.«

Cam seufzte. »Ja, schon klar. Ich finde es ja auch super, dass Sue, Phil und Granny sich so für die Rechte der Totenbändiger einsetzen. Und für uns.«

»Aber?«

»Aber ich bin nicht scharf darauf, einer der Beweise zu sein, der zeigen soll, dass wir total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit sind.«

»Aber du bist total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit.«

Missmutig wandte Cam sich ab und kickte gegen den Korb, in dem sie ihre dreckige Wäsche sammelten. »Das weißt du nicht.«

Gabriel fasste ihn an der Schulter. »Hey, sieh mich an.«

Widerwillig drehte Cam sich zu ihm um und hob den Blick.

»Kein Vierjähriger kann zig Leuten die Kehlen durchschneiden. Schon gar nicht, ohne sich mit Blut zu besudeln. Oder wenn er in eine Holzkiste eingesperrt ist. Klar?« Er bohrte seinen Blick in Cams. »Ich hab dich in der Nacht gesehen, als du zu uns gekommen bist. Du warst nur Haut und Knochen und so krank und schwach, dass du tagelang nur geschlafen hast. Und deine Muskeln waren von der verdammten Holzkiste so verkümmert, dass du dich kaum auf den Beinen halten konntest, als du endlich aufgewacht bist. Du hättest niemandem irgendetwas antun können. Weder mit einem Messer noch mit deinen Kräften. Also rede dir nicht irgendwelchen Schwachsinn ein, verstanden?«

Eine Antwort blieb Cam erspart, weil sich draußen auf dem Flur Schritte näherten.

»Gabe? Wir müssen los.« Sky steckte ihren Kopf zur Tür herein. Wie immer standen ihre kinnlangen Haare wuschelig in alle Richtungen ab wie Büschel schneeweißer Ausrufezeichen. Sie trug enge schwarze Jeans, ein helles Top, Boots und die dunkelrote Cordjacke, die Ella ihr genäht hatte. Ihren Augen hatte sie einen dicken schwarzen Lidstrich verpasst und bei ihr sah es kein bisschen wie trashiger Zombie aus, sondern einfach nur cool.

»Oh, sorry, störe ich gerade einen wichtigen Brüder-Moment?«, fragte sie, als sie Gabe und Cam zusammen sah.

Gabriel dolchte seinen Blick noch einen Moment länger in Cam, dann klopfte er ihm auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir waren gerade fertig.«

»Prima. Dann lass jetzt mal die große Schwester ran.« Sky schob Gabriel zur Seite und zog Cam in ihre Arme. »Ich wünsch dir für morgen alles und nichts.«

Unvermittelt musste Cam lächeln.

Alles, was dich glücklich macht.

Nichts, was dich verzweifeln lässt.

Es war das, was sich die Menschen gegenseitig zur Julzeit, der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres, wünschten.

Sky hatte verstanden, was dieser verdammte Schulanfang für ihn bedeutete.

Dankbar erwiderte er die Umarmung.

»Kopf hoch, okay?« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Sonst kann niemand deine hübschen Augen sehen. Und ich wette, mit denen wirst du in den nächsten Wochen so einige Herzen erobern.« Sie zwinkerte vielsagend.

Cam verzog das Gesicht.

Ja, klar. Funktionierte bei Jules ja auch ganz wundervoll – nicht.

Er strafte seine Schwester mit einem ironischen Blick.

Lachend boxte Gabriel ihm gegen die Schulter. »Okay, und falls das mit dem Herzen erobern nicht funktioniert, funkle sie einfach alle in Grund und Boden. Den Blick hast du nämlich perfekt drauf.«

Connor klopfte an die offen stehende Tür. »Hey Cam, alles Gute für morgen.« Er lächelte aufmunternd und nickte bedeutungsvoll Richtung Gabriel. »Und was immer dieser Chaot dir an tollen Ratschlägen mitgegeben hat – mach das Gegenteil.«

Empört wollte Gabriel einen passenden Kommentar zurückschießen, doch bevor er irgendwas sagen konnte, fuhr Connor ihm über den Mund und scheuchte ihn und Sky zur Tür.

»Spar dir den Atem, wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät.«

Sky wandte sich zu ihm um, gab Connor einen Kuss und schnappte sich dabei den Autoschlüssel aus seiner Hand. »Nicht, wenn ich fahre.«

Kapitel 2

 

 

Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, das Polizeirevier von Camden glich immer einem quirligen Ameisenhaufen. Einsatzteams kamen und gingen, Verdächtige wurden verhört, Zeugen befragt und überführte Täter warteten auf den Abtransport ins Gefängnis.

Geleitet wurde das Revier von Commander Jonathan Pratt, einem energiegeladenen Mitfünfziger, der zu den besten Polizisten ganz Londons zählte. Seit einer Schießerei, bei der ihn eine Kugel in den Rücken getroffen hatte, saß er im Rollstuhl und hatte deshalb den Dienst auf der Straße quittieren müssen. Jetzt ging er dafür ganz in seiner Rolle als Leiter des Camdener Polizeireviers auf und führte seine Leute mit harter, aber fairer Hand.

»Hi Betty!«

Gabriel, Connor und Sky stürmten zum Empfangstresen, an dem eine ältere Polizistin mit Argusaugen den Eingang des Reviers bewachte und sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Besucher den Begrüßungszerberus gab.

»Die Sergeants Hunt und Fry.« Mit hochgezogener Augenbraue schüttelte Betty den Kopf. »Mal wieder gerade so auf den letzten Drücker pünktlich zum Dienst eingecheckt.« Sie vermerkte die Ankunft der drei in ihrem Computer.

»Das lag nur an den ganzen Sonntagsfahrern, die heute Abend unterwegs waren«, verteidigte Sky sich und war eigentlich sehr stolz darauf, dass sie es trotz dieser Schnecken auf den Straßen noch pünktlich hergeschafft hatten.

»Na, wow. Diese Entschuldigung hab ich ja schon ewig nicht mehr gehört«, meinte Betty sarkastisch. »Ich sollte mir ein Bingofeld mit typischen Ausreden zulegen und sobald ich eine Reihe voll habe, schuldet ihr mir Tee, Sandwiches und Scones. Und zwar die guten von Fred’s. Nicht irgendeinen ungenießbaren Fließbandmüll.«

»Ehm … Granny lässt dich schön grüßen«, lenkte Gabriel das Gespräch schnell in eine andere Richtung und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Sie freut sich auf euer Squashspiel am Dienstag.«

»Lenk nicht ab, junger Mann! Die Bingo-Idee ist brillant.« Eifrig gab Betty etwas in ihren Computer ein. »Und dieses Lächeln ist bei mir sinnlos«, schob sie hinterher, doch alle drei sahen, dass ihre Mundwinkel verräterisch zuckten. »Aber bestellt eurer Granny einen lieben Gruß zurück. Ich freue mich auch.«

Sie betätigte den Buzzer, der die Tür in der schusssicheren Glasfront öffnete, die den Empfangsbereich vom Rest des Reviers trennte. Panzerglas hielt irdische Kugeln ab, eiserne Schwellen an den Türen und Gitter vor den Fenstern schützten gegen paranormale Eindringlinge. Das Revier war gut gesichert und in den knapp drei Jahren, in denen Gabriel und Sky hier arbeiteten, hatte es noch nie irgendwelche Zwischenfälle gegeben. Thaddeus Pearce, der beste Freund ihres Vaters, hatte sich damals für sie stark gemacht. Die Polizei hatte zwar eigene Mittel und Wege, Geister und Wiedergänger einzufangen und unschädlich zu machen, doch Totenbändiger mit an Bord zu haben, wenn man Tatorte von Gewaltverbrechen untersuchen musste, war ein ungemeiner Vorteil. Frisch entstandene Geister zu eliminieren war für einen Totenbändiger keine große Herausforderung und so sparte ihr Einsatz eine Menge Steuergelder, denn die Mittel zum Einfangen und Vernichten von Geistern waren sündhaft teuer.

Fast jedes Polizeirevier in der Stadt hatte eine Einheit, die sich um Angriffe von Geistern und Wiedergängern kümmerte. London war kein einfaches Pflaster. Viele Menschen auf engem Raum, da stieg die Anzahl der Toten, die durch Verbrechen oder Unfälle gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden, stetig an. Geister entstanden, die ebenfalls Menschen töteten und so für noch mehr Geister sorgten. Dem konnte man nur mit genügend Personal entgegenwirken, daher hatte die Polizei schließlich die Zustimmung des Stadtrates bekommen, auch Totenbändiger für diese Aufgabe einstellen zu dürfen.

Seitdem waren fast drei Jahre vergangen und mittlerweile arbeitete in beinahe jeder Spuk Squad mindestens ein Totenbändiger. Es war ein harter Kampf gewesen, doch die meisten Polizisten hatten ihre Totenbändiger-Kollegen inzwischen schätzen gelernt oder respektierten sie zumindest insoweit, als dass sie froh waren, sich nicht selbst mit den Geistern und Wiedergängern herumschlagen zu müssen, die die Bürger von London bedrohten.

Connor, Sky und Gabriel traten durch die Glastür in den Hauptraum des Polizeireviers. Hinter dem Empfangstresen lag das zentrale Großraumbüro der Innendienstler, die Recherchen für die einzelnen Teams betrieben, jede Menge Papierkram für die Bosse erledigten und, falls nötig, die verschiedenen Einheiten und Einsätze koordinierten. Treppen führten hinauf zu den Büros der einzelnen Abteilungen und hinunter zu Arrestzellen, Verhörräumen und Ausrüstungskammer.

Sky wollte sich gerade zur Treppe wenden, um in den ersten Stock hinaufzusteigen, als eine Stimme sie zurückhielt.

»Hey, Sky! Wow! Du siehst heute ja wieder echt heiß aus.« Einer der jüngeren Innendienstler lehnte sich breitbeinig in seinem Schreibtischstuhl zurück, fasste sich in den Schritt und zwinkerte ihr bedeutungsschwer zu.

Sky rang sich ein müdes Lächeln ab. »Wow, Theo. Prince Charming. Wie immer.«

»Tja, wer kann, der kann. Heute mal Lust auf ein bisschen Spaß nach der Schicht?«

Er war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Trotzdem ging er ihr mit seinen plumpen Anmachversuchen mittlerweile tierisch auf den Keks.

»Hatte ich das jemals? Was genau braucht es, damit du endlich schnallst, dass ich mit Connor zusammen bin? Seit ungefähr einem Jahr. Er wohnt sogar bei mir und meiner chaotischen Familie. Viel ernster kann eine Beziehung kaum sein. Also, was brauchst du noch, um das zu kapieren? Eine Leuchtreklame? Oder soll ich es dir irgendwo eintätowieren?«

Theo blickte kurz zu Connor, hob dann aber nur leichthin die Schultern. »Ich hab kapiert, dass ihr zusammen seid. Na und? Ist doch kein Problem, oder? Ihr Totenbändiger treibt es doch mit jedem. Männlich, weiblich, inter, trans, fluid und was immer da draußen noch so rumläuft – ist euch doch alles egal. Also könnten wir zwei ja auch mal …«

Er bedachte sie mit einem Lächeln, das er vermutlich für unwiderstehlich hielt, und machte ein paar eindeutige Hüftbewegungen.

Sky rollte die Augen und fragte sich, warum ausgerechnet sie diesen widerlichen Trottel auf den Pfad der Erkenntnis führen musste. Sie stiefelte zu seinem Schreibtisch, kickte seinen Papierkorb zur Seite und setzte sich halbschräg auf die Tischplatte.

»Okay, erst mal: Bravo, Theo, gut gemacht.« Sie deutete auf seinen Computer. »Du hast erfolgreich gegoogelt, dass Totenbändiger pansexuell sind.«

Er grinste breit. »Oh, yeah. Und das klingt echt heiß.« Lüsternd ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern.

»Nur leider hast du dabei überhaupt nichts verstanden.«

»Hä?«

Sie änderte ihren Tonfall, als würde sie mit einem unterbelichteten Dreijährigen sprechen. »Ja, Gender ist uns völlig egal und ja, das bedeutet, wir können prinzipiell mit jedem Spaß haben. Und das haben etliche Totenbändiger auch. Genauso wie manch andere Queers oder Heteros stehen einige von uns auf unverbindlichen Sex. Aber, Überraschung! Manche von uns ticken auch völlig anders. Die stehen nicht auf schnellen Sex, sondern auf feste Beziehungen. Ich zum Beispiel. Welche Genitalien ein Mensch hat, ist mir schnuppe, aber ich steh total auf Treue und Verlässlichkeit. Und ich verliebe mich in den Charakter, die Persönlichkeit und die Seele eines Menschen. Da steh ich voll drauf und wenn die passen, dann macht mich das so richtig an. Und weißt du, das ist genau der Grund, warum aus uns beiden selbst dann nichts werden würde, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst. Dein Charakter ist nämlich unterirdisch, deine Persönlichkeit widerlich und deine Seele hab ich noch nie gesehen.« Sie bohrte ihren Blick in seinen. »Message jetzt angekommen?«

Wutschnaubend sprang Theo von seinem Stuhl auf. »Bitch!«

»Gut, das nehme ich mal als ein Ja.« Sky rutschte vom Schreibtisch und stieß ihm ihren Finger gegen die Brust. »Und spar dir in Zukunft deine dämlichen Sprüche, klar?«

Damit ließ sie ihn stehen, ging zu Connor und schnappte sich dessen Hand.

Als sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen, rief Theo ihnen hasserfüllt hinterher: »Connor, dir ist schon klar, dass dieses Miststück dich irgendwann in den Wind schießt, weil du alleine ihr nie ausreichen wirst?«

Mitleidig schüttelte Connor den Kopf. »Der schnallt es wirklich nicht.«

Sky drückte seine Hand. »Solange die wichtigen Leute es schnallen, ist mir scheißegal, was so ein Vollidiot wie Theo denkt.«

Sie ignorierten ihn entsprechend und stiegen weiter die Treppe hinauf.

Gabriel sah den beiden hinterher und schlenderte dann zu Theos Schreibtisch.

»Hey, Horny. Da du ja bei Sky offensichtlich nicht landen kannst, wie wäre es denn nach der Schicht mit uns beiden?« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich bin für unverbindlichen Spaß gerne mal zu haben und ich könnte Dinge mit dir anstellen, von denen du bisher nicht mal in deinen kühnsten Träumen fantasiert hast.« Er ließ seinen Blick über Theos Körper wandern und leckte sich provozierend über die Lippen. »Na? Wie wär’s?«

Angewidert wich Theo vor ihm zurück. »Spinnst du? Mann, ich steh nicht auf Kerle! Also guck weg und hör auf, mich so anzugraben. Das ist ekelhaft!«

Schlagartig änderte sich Gabriels Gesichtsausdruck. »Ach? Du findest es ekelhaft, wenn dich jemand mit widerlichen Blicken auszieht?« Schneidende Kälte lag in seiner Stimme. »Na, dann weißt du ja jetzt, wie Sky sich gerade gefühlt hat. Oder jede andere Frau, bei der du deine abartige Anmachtour ablässt.«

»Du bist ein verdammtes Arschloch«, fauchte Theo.

»Au contraire, das Arschloch bist du. Und wenn du meine Schwester noch einmal blöd anmachst oder auch nur ansatzweise schräg in ihre Richtung guckst, mach ich dich fertig, klar?«

Theo hob eine Augenbraue. »Ernsthaft, du willst mir drohen?«

»Auf jeden Fall.«

Sofort kehrte Theos Selbstsicherheit zurück und ein niederträchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Du weißt, dass ich dich dann jetzt erschießen kann, du Freak. Jeder darf einen von deiner Sorte töten, wenn er sich von ihm bedroht fühlt. Völlig straffrei.«

Gabriel erwiderte das Lächeln unbeeindruckt. »Natürlich. Aber dir ist schon klar, dass ich zum Geist werde, wenn du mich tötest, ja? Bist du schon mal gegen den Geist eines Totenbändigers angetreten? Ach nein, warte. Hast du überhaupt schon mal gegen einen Geist gekämpft? Wahrscheinlich nicht, oder? Wird schließlich seine Gründe haben, warum du Sesselfurzer den sicheren Innendienst gewählt hast.« Er bedachte Theo mit einem letzten abschätzigen Blick, dann stand er vom Schreibtisch auf und lief zur Treppe, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Schöne Schicht noch, Theo.«

»Leck mich!«

»Nein, ich denke nicht. Ich stehe zwar auf unverbindlichen Sex, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht wählerisch bin.«

Gabriel stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf und öffnete die Tür zu dem Büro, das er sich mit Sky und Connor teilte. Vier Schreibtische standen sich jeweils zu zweit gegenüber. Außerdem gab es ein paar Aktenschränke und ein Sideboard mit Kaffeemaschine, Wasserkocher und einem kleinen Kühlschrank. Einen der Arbeitsbereiche teilten sich Connor und Sky, über die anderen beiden Tische hatte Gabriel sich großzügig ausgebreitet. Angeblich sollten sie irgendwann eine Verstärkung ins Team bekommen, doch bisher ließ die auf sich warten. Die Begeisterung von Absolventen der Polizeiakademie, sich den Einheiten zur Bekämpfung von paranormalen Bedrohungen anzuschließen, hielt sich in Grenzen. Kaum einer meldete sich freiwillig für den Dienst bei den Spuk Squads. Nicht einmal die Aussicht, schon nach einem Jahr auf den Rang eines Sergeants befördert zu werden, konnte locken. Der Job der Spuks galt als gefährlich, ständige Nachtdienste machten ihn unattraktiv und es gab immer noch zu viele Menschen, denen die Vorstellung nicht gefiel, eng mit Totenbändigern zusammenarbeiten zu müssen.

»Wow, nicht mal Zeit für einen Kaffee?«, fragte Gabriel mit einem bedauernden Seufzen, als er sah, dass Sky und Connor die Gürtel mit ihrer Ausrüstung umschnallten. Die bestand im Wesentlichen aus ihren Dienstwaffen, einem extra Magazin, Taser, Handschellen und einer speziellen Taschenlampe, die nicht nur auf gewöhnliche Weise leuchtete. Man konnte sie zusätzlich umschalten auf Magnesiumlicht, das Geister vertrieb, was ein nicht zu verachtender Vorteil war, wenn man von mehreren Seelenlosen gleichzeitig angegriffen wurde.

Spuks – wie die Polizisten der Spuk Squad genannt wurden – trugen zudem noch eine Spezialwaffe: eine Auraglue. Diese Pistolen waren den normalen Dienstwaffen recht ähnlich, enthielten aber keine Kugeln, sondern eine Kartusche mit einem flüssigen Gemisch aus Eisen- und Silberpartikeln, Salz, Zitronensäure und Extrakten verschiedener Bannkräuter.

Gabriel hatte keine Ahnung, wie die Wissenschaftler es hinbekommen hatten, doch schoss man Auraglue auf einen Geist, heftete sich die Substanz mit feinen Tröpfchen an die Aura des Seelenlosen, schwächte ihn und machte ihn im Idealfall bewegungsunfähig oder zumindest langsamer. Das hing allerdings stark von der Stärke des Geistes ab und war nur ein Nachteil von Auraglue. Ein weiterer waren die extrem hohen Herstellungskosten – und jede Kartusche reichte nur für einen Schuss. Außerdem ätzte das Zeug Löcher in Kleidung und Haut, wenn man damit in Berührung kam.

Deshalb tauschte Sky auch ihre Cordjacke gegen eine alte aus Leder. Ihre Kollegen aus anderen Einheiten trugen zumeist entweder Uniformen oder Anzüge. Spuks durften in einem angemessenen Rahmen tragen, was sie wollten.

»Nein, keine Zeit für einen Kaffee. Wir wurden angefordert.« Connor zog seine Jeansjacke aus, um seine Schutzweste darunter anzuziehen. Da er kein Totenbändiger war, musste er sich vor Geisterberührungen schützen.

Totenbändiger konnten sich gegen solche Übergriffe wehren. Griff ein Geist nach ihrer Lebensenergie, griffen die Totenbändiger nach der Todesenergie des Seelenlosen. Es war wie ein Tauziehen, das der Stärkere gewann. War es der Totenbändiger, vernichtete er den Geist. War es der Geist, starb der Totenbändiger. Griff ein Geist nach der Lebensenergie eines Menschen ohne Totenbändigerkräfte, hatte derjenige dem Seelenlosen nichts entgegenzusetzen. Silberschmuck half, um sich vor Angriffen zu schützen. Doch da Silber neben Eisen paranormale Wesen am effektivsten auf Abstand hielt, zählte es zu den wertvollsten Materialien der Welt, und nur die wirklich Reichen konnten sich diesen Schutz leisten. Bei der Polizei gab es für Spuks, die keine Totenbändiger waren, Schutzwesten mit eingewebten Silberfäden, die sie auf ihren Einsätzen vor Geisterangriffen schützen sollten.

Thaddeus erschien in der Verbindungstür, die vom Büro seiner Truppe in sein eigenes führte. »Wo zum Henker warst du so lange?«, fragte er, als er sah, dass Gabriel ihn endlich mit seiner Anwesenheit beehrte.

»Sorry, ich musste Theo noch kurz die Welt erklären.« Gabriel trat zu seinen Schreibtischen und holte seinen Ausrüstungsgürtel sowie einen Rucksack mit Silberboxen aus dem Safe.

Schnaubend schüttelte Thad den Kopf. »Dann sprich nächstes Mal schneller und benutz kürzere Sätze. Wir haben einen Tatort. Die Kolleginnen der Mordkommission aus Islington haben uns angefordert. Also schnapp dir deine Ausrüstung und dann avanti. Da draußen gibt es drei frische Geister.«

Kapitel 3

 

 

Mann, Mann, Mann.« Sky parkte hinter Thad in zweiter Reihe und stieg mit Connor aus dem Dienstwagen. »So wie achtzig Prozent in dieser Stadt Auto fahren, wundert mich die ständig steigende Zahl der Unfalltoten kein bisschen. Bei wem haben die denn bitte fahren gelernt?«

Gabriel war aus Thads Wagen gestiegen und schwang sich den Rucksack über die Schulter. »Nicht bei Granny.«

»Ja, großer Fehler. Ich sollte sie überreden, eine Fahrschule aufzumachen, jetzt, da sie Jules, Ella und Cam nicht mehr unterrichten muss. Damit würde sie der Gesellschaft einen echten Dienst erweisen.«

Sie liefen auf die kleine Menschenmenge zu, die sich trotz einsetzender Dämmerung vor dem Absperrband versammelt hatte, das von den Kollegen der Streife in sicherer Entfernung zum Tatort aufgespannt worden war.

»London Metropolitan Police! Machen Sie Platz, sonst mache ich welchen!«, bellte Thaddeus die Schaulustigen an, als diese nur widerwillig zur Seite wichen, um die vier passieren zu lassen. Viele hielten ihre Handys hoch und filmten, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was sich hinter der Absperrung ereignete.

Angewidert verzog Gabriel das Gesicht. Er hasste Gaffer, die sensationsgeil die Arbeit von Polizei und Rettungskräften behinderten, um Videos für irgendwelche bescheuerten Social-Media-Kanäle aufzunehmen. Warum tätowierte man denen nicht Asoziales Arschloch in Leuchtbuchstaben auf die Stirn und begegnete ihnen dann mit derselben Ablehnung wie Totenbändigern? Im Gegensatz zu den meisten Totenbändigern hätten diese Arschlöcher so eine Ächtung absolut verdient.

Hinter dem Absperrband standen drei Streifenwagen, die sowohl als Straßensperre als auch als Sichtschutz dienten. Dazwischen hatten mehrere Constables Position bezogen und achteten darauf, dass keiner aus der Menge die Grenze überschritt.

Die Belleston Road war eine der vielen schmaleren Durchgangsstraßen, wie man sie in London zu Hauf fand. Es gab ein paar Schnellrestaurants und einen Corner Shop, eine Bushaltestelle und ein Maklerbüro. In den oberen Stockwerken der meist dicht an dicht stehenden Häuser lagen Wohnungen der unteren Mittelschicht. Es war keine besonders ansehnliche Wohngegend, doch sie zählte zu den sicheren, denn die Belleston Road hatte Straßenlaternen, auch wenn nur jede dritte mit Magnesiumlicht ausgestattet war.

Thaddeus zeigte einer jungen Constable seinen Dienstausweis und wurde in die Richtung einer schmalen Gasse verwiesen, an der zwei Frauen in praktischen Businessanzügen und ein Team von Forensikern standen. Vor ihnen auf dem Boden lag eine dicke Eisenkette, mit der man sichergestellt hatte, dass kein Geist aus der Gasse entkommen konnte. Die Gasse selbst schien nicht viel mehr als eine schmale, vielleicht zehn Meter lange Ausbuchtung zwischen den Häusern zu sein, die vom benachbarten Chinarestaurant und den Anwohnern als Abstellplatz für Müllcontainer genutzt wurde. Fenster gab es keine, aber am rechten Haus führte eine Wartungsleiter hinauf aufs Dach.

»Chief Inspector Pearce. Das sind meine Leute, die Sergeants Hunt und Fry«, stellte Thaddeus sich und sein Team vor.

»Chief Inspector Najafi«, antwortete eine schwarzhaarige Pakistani um die vierzig und deutete auf ihre etwa gleichaltrige Kollegin. »Das ist meine Partnerin, Chief Inspektor Dutch. Danke, dass Sie uns aus Ihrem Revier unterstützen. Unsere eigene Spuk Squad muss sich um einen Notfall an der Finsbury Park Station kümmern. Irgendwelche Vollidioten haben dort das Siegel zur U-Bahn aufgebrochen.«

»Schon wieder ein gebrochenes Siegel?« Thaddeus fluchte. »Wenn ich diese Mistkerle in die Finger bekomme …«

Der Londoner Untergrund war der größte Verlorene Ort der Stadt. Vor knapp zwanzig Jahren waren zur Rush Hour zwei Züge der Bakerloo Line in der Oxford Circus Station zusammengeprallt. Es hatte eine Explosion und ein verheerendes Feuer gegeben, bei dem Hunderte von Menschen gestorben waren. Oxford Circus sowie die umliegenden Stationen waren daraufhin abgeriegelt und versiegelt worden. Das Unglück hatte so viele Geister auf einmal hervorgerufen, dass es unmöglich war, das Gebiet zu säubern. Man hatte allerdings gehofft, den Schaden begrenzen zu können, und nach einigen Wochen den Betrieb auf anderen Strecken wieder aufgenommen.

Mit fatalen Folgen.