Die Totenbändiger - Band 10: Geister der Vergangenheit - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 10: Geister der Vergangenheit E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Was ist vor drei Jahren in den West End Arkaden passiert und welchen schrecklichen Erinnerungen muss sich vor allem Gabriel bei der Planung des erneuten Einsatzes stellen? Doch nicht nur der Einsatz in den Arkaden beschert Gründe zur Sorge. Es steht außerdem auch noch der Einbruch in die Akademie an … Der 10. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Geister der Vergangenheit

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Vorschau

Impressum

Die Totenbändiger

Band 10

Geister der Vergangenheit

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Um mehr über geminus obscurus, die geheimnisvolle Inschrift an der Wand des Kellers zu erfahren, in dem Cam vor dreizehn Jahren gefunden wurde, suchen Gabriel, Sky, Connor und Matt einen Professor auf, der sich auf die Geschichte der Totenbändiger spezialisiert hat. Von ihm erfahren sie, dass es um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert einen Totenbändiger namens Kenwick gab, der im Norden Englands mit Kindern experimentierte, um einen geminus obscurus hervorzubringen. Dieser geheimnisvolle Zwilling sollte seiner Vorstellung nach dazu in der Lage sein, nur durch eine Berührung aus Normalos Totenbändiger zu machen. Wichtige Bestandteile dieses Rituals sind die unerklärlichen Kräfte, die in Unheiligen Nächten herrschen, besonders in Unheiligen Jahren. Kenwick versuchte diese Kräfte in Totenbändigerkinder einzupflanzen und nachfolgend durch das Bändigen von dreizehn Geistern in den entsprechenden Nächten zu stärken. Genauere Details kann Professor Winkler allerdings nicht liefern. Es gibt zwar Hinweise darauf, dass Kenwick ein Manifest mit all seinen Erkenntnissen geschrieben hatte, doch da sein Anwesen von einem Mob wütender Normalos niedergebrannt und Kenwick getötet wurde, kennen die Geschichtsforscher nur wenige Seiten von Kenwicks Aufzeichnungen. Es gibt allerdings Vermutungen, dass seine Anhänger einige vollständige Abschriften gerettet haben könnten.

Professor Winkler bietet an, sich danach umzuhören und rät Sky, Connor, Gabriel und Matt, in der Akademie der Totenbändiger danach zu fragen. Byron Carlton, der frühere Schulleiter, war ein begeisterter Sammler von alten Schriften und Büchern über Totenbändiger. Dies erhärtet den Verdacht der Hunts und der Reapers, dass Cornelius Carlton etwas mit der Sekte zu tun haben könnte, die offensichtlich Kenwicks Rituale nachstellt. Sollte geminus obscurus tatsächlich dazu in der Lage sein, aus Normalos Totenbändiger zu machen, würde das Carlton bei seinem Vorhaben, die Totenbändiger zur herrschenden Rasse zu erheben, sehr in die Hände spielen.

Derweil kämpft Cam noch immer mit den Erkenntnissen, die ihm seine Erinnerungen an die Nacht des Massakers gebracht haben. Die Tatsache, dass er an Äquinoktium siebzehn Repeater bändigen konnte, spricht sehr dafür, dass in ihm dieser sonderbare Zwilling steckt. Um mehr über geminus obscurus, das Ritual und auch die Sekte zu erfahren, will er – gemeinsam mit Jaz, Jules und Ella – in die Akademie einbrechen, um in Carltons Privaträumen nach dem Manifest zu suchen. Seine Familie ist nicht begeistert von seinen Plänen, trotzdem willigen Gabriel, Sky, Matt und Connor ein, ihnen zu helfen.

Da Cam nach seinem Kräfteboost seine neuen Grenzen zunächst unter Aufsicht austesten soll, nimmt Matt ihn sowie die anderen Kids mit zu einem Auftrag, den er für die Ghost Reapers bekommen hat: Die Säuberung von Covington Garden, einem alten Anwesen mit stillgelegtem Nostalgie-Jahrmarkt. Während sie ein heruntergekommenes Gruselhaus von Geistern befreien, bittet Cam Gabriel, Matt und Jules darum, zwei Experimente durchführen zu dürfen. Beim ersten lässt er sich von einem Schatten verschlingen – in der Hoffnung, das Wispern zu hören und so über den Geist mehr über geminus obscurus zu erfahren. Dieses Experiment ist nur bedingt erfolgreich. Cam hört zwar das Wispern, aber außer geminus hört er nichts anderes. Allerdings richtet der Geist abgrundtiefen Hass auf Cam, der ihm schlimmste körperliche Schmerzen bereitet.

Beim zweiten Experiment lässt Cam sich bis zur Besinnungslosigkeit von einem Geist seine Lebensenergie rauben, um die Theorie zu überprüfen, dass der verborgene Zwilling nur dann in Erscheinung tritt, wenn sein Leben in Gefahr ist. Dieses Experiment glückt. Als Cam bewusstlos wird, erscheint aus seiner Hand ein roter Nebel – ähnlich seiner Silberenergie – und vernichtet den Geist. Gabriel, Matt und Jules nehmen den Vorgang auf Video auf und haben damit den Beweis dafür, dass es eine weitere Macht gibt, die Totenbändiger in sich tragen können.

Als sie nach Hause zurückkehren, erfahren Gabriel, Sky und Connor von Thad, dass man sie als Spuks in einem Sondereinsatz in die West End Arkaden schicken will, einen der Verlorenen Orte Londons. Bereits vor drei Jahren hatte es den Versuch gegeben, die Arkaden von Geistern zu reinigen, doch der endete in einer der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Londoner Polizei.

Bei den Mitgliedern des Stadtrates geht eine E-Mail der Death Strikers ein, in der die Terrorgruppe damit droht, London einen weiteren Verlorenen Ort zu bescheren, sollte sich der Stadtrat nicht gegen den Sitz für die Totenbändiger aussprechen.

Kapitel 1

 

Drei Jahre zuvor

 

Graue Wolkenberge hingen tief am Himmel und es war ungewöhnlich kalt für Ende Mai. Janey schlug den Kragen ihrer Polizeijacke hoch und zog ihre Silberweste über, während sie gemeinsam mit Gabriel, Sky und Connor zum Koordinierungspunkt ihres Einsatzorts hinüberlief. Aufregung flatterte in ihrem Magen und sie freute sich tierisch, dass sie bei der Säuberung mit dabei sein durfte. Sie war die Einzige aus dem ersten Ausbildungsjahr der Polizeiakademie, der man die Teilnahme an diesem Einsatz erlaubt hatte.

Neben ihnen ragte der Ostflügel der West End Arkaden in den trüben Himmel, als die vier durch die schmale Straße liefen. Die Arkaden bestanden aus vier alten Backsteinbauten, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Markthallen gebaut worden waren. Verbunden durch einen kleinen Marktplatz lagen sie kreuzförmig in alle vier Himmelsrichtungen zueinander und hatten einst vier verschiedene Handelsmärkte beherbergt: Fisch und Fleisch, Obst und Gemüse, Getreide sowie Wolle und Stoffe. Im Zuge der Modernisierung der Stadt und des Ausbaus der nahegelegenen Vergnügungsmeile, waren die Handelsmärkte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch aus der Innenstadt in die Randgebiete verlagert worden und aus den historischen Markthallen wurden in aufwändigen Umbau- und Renovierungsarbeiten die West End Arkaden. Die Backsteingebäude blieben, wurden aber zu Shops, Cafés und Restaurants in nostalgischem Ambiente umgebaut. Der kleine Marktplatz, der die vier Hallen sowie einige Nebengebäude in der Mitte miteinander verband, bekam einen hübschen Springbrunnen und um das Flaniererlebnis für Einheimische und Touristen wetterunabhängig zu machen, wurden die kleinen Gassen zwischen den Gebäuden mit kunstvollen Glasdächern versehen, für die der Erbauer mehrere architektonische Preise erhielt, da es zu seiner Zeit eine der größten Glasdachkonstruktionen der Welt gewesen war. Etliche Jahrzehnte lang erfreuten sich die West End Arkaden besonders wegen ihres nostalgischen Flairs großer Beliebtheit – bis ein Terroranschlag sie vor fünf Jahren in einen Verlorenen Ort verwandelt hatte.

Janey war damals fünfzehn gewesen und erinnerte sich noch gut daran. Die Death Strikers hatten zugeschlagen, eine Terrorgruppe, von der niemand wusste, wer sich hinter ihnen verbarg. Sie waren kurz nach dem letzten Unheiligen Jahr zum ersten Mal in Erscheinung getreten und hatten die Stadt um Geld erpresst. Als man nicht auf ihre Forderung einging, leiteten sie während einer Abendvorstellung Giftgas in ein vollbesetztes Theater. Über zweitausend Menschen fanden dabei den Tod und das Theaterhaus wurde zu einem Verlorenen Ort. Die Death Strikers drohten mit weiteren solcher Anschläge und die Stadt bezahlte. Seitdem hatte die Terrorgruppe die Stadt in unregelmäßigen Abständen immer wieder um Geld erpresst und durch Giftgas oder Explosionen für weitere Verlorene Orte in London gesorgt, wenn man ihre Forderungen nicht erfüllt hatte.

Die West End Arkaden gehörten ebenfalls dazu. An einem gut besuchten Samstag im September vor fünf Jahren verriegelten die Attentäter die Glastüren der Haupteingänge sowie alle Neben- und Notausgänge und leiteten durch das Lüftungssystem Giftgas in die Markthallen. Einer groben Schätzung nach fanden an die zehntausend Menschen dort ihren Tod. Genau ließ sich das nicht feststellen. Da niemand den Anschlag überlebt haben konnte, wurden die Zugänge zu den Arkaden sofort versiegelt. Allen war klar, dass die Übermacht an Geistern, die dort entstehen würde, nicht gebändigt werden konnte, und niemand wollte riskieren, dass eine Armee von Seelenlosen in das benachbarte Vergnügungsviertel entkommen und weitere Todesfälle verursachen konnte. Die Leichen wurden nie aus den Arkaden geborgen und die genaue Anzahl an Todesopfern konnte nicht ermittelt werden.

Doch jetzt hatten einige Stadtoberhäupter entschieden, dass es an der Zeit war, sich die Arkaden zurückzuerobern. Zu viel verschenktes Potenzial, zu viele lukrative Möglichkeiten bot dieser Ort, als dass man länger gewillt war, ihn den Geistern zu überlassen. Einige Wissenschaftler gingen ohnehin davon aus, dass sich die entstandenen Geister nach fünf Jahren aufgelöst haben mussten. In dem hermetisch abgeschlossenen Gebäude hatten sie schließlich keine Lebensenergie bekommen, die sie hätte stärken können. Und selbst wenn sie sich vielleicht nicht völlig aufgelöst haben mochten, sprachen die durchgeführten Experimente im Tower dafür, dass die Seelenlosen zu schwachen Schemen verkommen waren oder sich gar nicht erst über dieses Stadium hinaus entwickelt hatten. Mit genügend Auraglue und gut geschützten Spuk Squads waren alle Verantwortlichen zuversichtlich, dass man die Arkaden erfolgreich von allen Geistern säubern und für die Angehörigen der Opfer endlich die sterblichen Überreste bergen können würde.

Deshalb waren sie heute hier. Knapp über hundert Spuks aus ganz London plus vierzehn Kadetten aus der Polizeiakademie würden gleich in kleinen Teams durch die zahlreichen Eingänge in die Arkaden eindringen und die noch vorhandenen Geister vernichten. Für die Trainees aus dem zweiten Jahr wie Gabriel, Sky und Connor zählte dieser Sondereinsatz als Teil ihrer praktischen Abschlussprüfung. Janey selbst war erst im ersten Jahr, gehörte aber dank Gabriel zu den Besten in ihrem Jahrgang, daher hatte ihr Ausbilder ihr die Teilnahme am Einsatz genehmigt, als sie darum gebeten hatte. Jetzt sollten sie sich mit ihren Teamführern am Koordinierungspunkt des Ostflügels treffen. Da die Kadetten nicht allein in den Einsatz ziehen sollten, waren sie erfahrenen Spuk Squads zugeteilt worden. Vier dieser Teams würden sich ausgehend von verschiedenen Eingängen den Ostflügel der Arkaden vornehmen und dabei die ihnen zugewiesenen Läden, Cafés und Restaurants inspizieren und gegebenenfalls von Geistern säubern.

»Da seid ihr ja«, grüßte sie am Treffpunkt Commander Ford, ein stämmiger Mitvierziger, der die Leitung des Koordinierungspunkts Ost innehatte. Sein Blick glitt kurz über ihre Silberwesten und Rucksäcke hin zu ihren Ausrüstungsgürteln, an denen sie Auraglues, Dienstwaffen mit Silberkugeln sowie jede Menge Munition trugen. »Wie ich sehe, habt ihr eure Ausrüstung für diesen Einsatz bereits beim Briefing durch eure Ausbilder erhalten.« Er wies auf einen Versorgungswagen, der hinter ihnen am Straßenrand parkte. »Für Nachschub an Munition, Silberboxen und Eisenspänen ist gesorgt.« Jetzt sah er in die komplette Runde. »Seid also nicht sparsam. Die Wissenschaftler mögen mit ihrer Einschätzung, dass die Geister in den Arkaden nur Winzlinge sind, vermutlich recht haben, aber sollten da drin zehntausend von diesen Biestern sein, sind sie in der Masse ebenfalls gefährlich. Sichert Ladenlokale also großzügig ab, haltet euch mit den Spänen einen Fluchtweg frei und falls ein paar der Biester doch stärker sein sollten, bannt sie in die Boxen. Noch Fragen?«

»Die haben nicht die beiden Freaks ausgerechnet unserem Flügel zugeteilt.« Ein durchtrainierter Spuk um die Fünfzig musterte Gabriel und Sky abschätzig, als er die schwarzen Totenbändigermale an ihren Schläfen entdeckte. »Es ist nervig genug, dass wir bei diesem Einsatz Babysitter für Frischlinge spielen sollen, aber dass man uns dazu zwingt, mit Freaks zusammenzuarbeiten, ist echt die Krönung.« Das Namensschild an seiner Silberweste wies ihn als Chief Inspector Chatham aus.

Janey sah, wie Gabriel die Kiefer aufeinanderpresste, aber nichts dazu sagte. Dass er und Sky angefeindet wurden, kam nicht selten vor. Selbst in der Polizeiakademie passierte es immer wieder, obwohl dort eine Null-Toleranz-Politik gegen Ausgrenzung und Anfeindungen aufgrund von Rasse, Herkunft, Glauben, Geschlecht oder sexueller Orientierung herrschte. Zumindest theoretisch. In der Praxis musste Janey immer wieder feststellen, dass es leider nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Reihen der Polizei noch genügend Hinterwäldler gab, die sich mit Offenheit und Toleranz schwertaten. Janey konnte darüber nur immer wieder den Kopf schütteln, besonders, wenn sie auf engstirnige Kollegen traf, die Totenbändigern misstrauisch gegenüberstanden oder sich schlicht weigerten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie selbst hatte direkt bei ihrem ersten gemeinsamen Training mit Gabriel und Sky verstanden, was für ein unglaublicher Gewinn Totenbändiger für die Spuk Squads der Polizei waren.

Sie nahm Gabriels Hand und als er sich ihr zuwandte, schenkte sie ihm ein kleines Lächeln. Er erwiderte es und drückte ihre Finger. Er war besser darin geworden, sich nicht provozieren zu lassen. Zumindest hatte Sky ihr das gesagt. Bevor Gabriel vor zwei Jahren zur Polizeiakademie gekommen war, hatten Wut, Frust und Hass ihn oft die Beherrschung verlieren lassen, wenn die Gesellschaft ihm mit Anfeindungen und Diskriminierung begegnet war. Gemeinsam mit seinem Freund Matt hatte Gabriel mit dummen Aktionen dagegen rebelliert, bei denen sie sich meistens nur selbst in Gefahr gebracht hatten, wie das Einbrechen in leer stehende Lagerhallen, um beim Bändigen von einer Übermacht an Geistern den Rausch von Adrenalin und Lebensgefahr zu spüren, statt Wut und Frust auf die Gesellschaft. Sie hatten sich allerdings auch immer wieder von Normalos zu Schlägereien provozieren lassen, bei denen es zum Glück nie über den Einsatz von Fäusten hinausgegangen war. Normalos durften schließlich auch Messer oder andere Waffen straffrei gegen Totenbändiger einsetzen, wenn sie sich von diesen bedroht fühlten oder gar angegriffen wurden. Richtig übel war es dagegen geworden, als Gabriel und Matt angefangen hatten, für den ultimativen Adrenalinkick die Versiegelungen von U-Bahnzugängen aufzubrechen. Damit hatten sie nicht mehr nur sich, sondern auch andere in Gefahr gebracht, weil durch die gebrochenen Siegel Geister entkommen konnten. Erst als es bei einer dieser Aktionen fast zu einem Todesfall gekommen war und Gabriel und Matt beim Retten des Normalos selbst fast umgekommen waren, hatte sie das wachgerüttelt. Die beiden hatten sich getrennt und den Kontakt zueinander abgebrochen. Kurz darauf hatte Gabriel die Chance bekommen, auf die Polizeiakademie zu gehen, wo die eiserne Disziplin, der harte körperliche Drill sowie das Deeskalationstraining, das alle Polizeikadetten absolvieren mussten, ihm dabei geholfen hatten, sich wieder in den Griff zu bekommen. Wut, Frust und Hass waren zwar nicht verschwunden, wenn Leute ihn angingen, weil er ein Totenbändiger war, doch er ging jetzt souveräner damit um. Bis zu einem gewissen Punkt. Überschritt man den oder griff man ihn oder Sky nicht nur verbal, sondern auch körperlich an, schaffte er es noch nicht immer, die Leute auflaufen zu lassen. Aber jeder Mensch hatte eben seine Grenze. Das konnte Janey absolut verstehen. Und Gabriel arbeitete hart an seiner.

»Nein, Chatham. Dass wir bei diesem Einsatz mit Totenbändigern zusammenarbeiten ist einfach nur der Weg, weltfremden Vollidioten wie dir zu zeigen, dass es Zeit für ein Umdenken ist«, gab Chief Inspector Thaddeus Pearce zurück. »Urteile erst über die beiden, wenn du sie im Einsatz gesehen hast. Und nennst du sie noch einmal Freaks, reiche ich persönlich eine Dienstbeschwerde wegen rassistischer Anfeindungen gegen dich ein. Verstanden?«

Janey verkniff sich nur mit Mühe ein schadenfrohes Grinsen. Sie kannte Chief Pearce von ein paar Einsätzen und mochte ihn sehr. Er arbeitete in der Spuk Squad in Hackney, war aber im Gespräch dafür, eine eigene Squad in Camden zu bekommen, sobald der Stadtrat zustimmte, mehr Stadtteile mit Spuk Squads auszustatten. Die Squad von Hackney nahm regelmäßig Kadetten der Polizeiakademie mit auf ihre Schichten und Chief Pearce war ein alter Freund von Gabriels Eltern. Er kannte ihn und Sky schon seit sie auf der Welt waren und er war es gewesen, der sich dafür eingesetzt hatte, dass sie als erste Totenbändiger eine Ausbildung zu Spuks machen durften. Janey war sich ziemlich sicher, dass er Gabriel, Sky und auch Connor in seine Squad holen würde, sobald der Stadtrat sie endlich genehmigte.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Chief Chatham von meinen Qualitäten als Spuk zu überzeugen«, sagte Gabriel betont freundlich.

»Ausgezeichnet.« Ford sah von ihm zu Chatham. »Ich gehe davon aus, dass es keine Schwierigkeiten damit gibt, dass Ihrer Squad die Kadetten Gabriel Hunt und Jane Heller zugeteilt sind, oder etwa doch?« Sein Blick war herausfordernd und Chatham nicht so dumm, ein Disziplinarverfahren wegen Diskriminierung und Befehlsverweigerung zu riskieren.

»Nein, natürlich nicht«, gab er eisig zurück.

»Gut.« Ford ignorierte Chathams grimmigen Blick und wandte sich an alle fünf Squads, die ihm zur Koordinierung zugeteilt waren. »Sie kennen Ihre Einsatzbereiche. Sowohl der Haupteingang am Ostende als auch der Nebeneingang sowie die beiden Feuerfluchtwege wurden von den Kollegen der Feuerwehr bereits entsiegelt. Um keine Geister entkommen zu lassen, wurden die Eingänge von außen mit Silbernetzen gesichert. Sichern Sie sie von innen zusätzlich ab, sobald Sie das Gebäude betreten haben. Chief Sonders wird mit seiner Squad zunächst draußen bleiben und das Back-up bilden, sollte ein Team Unterstützung brauchen. Sichern Sie die einzelnen Ladenlokale Ihres Quadranten systematisch ab und machen Sie Meldung, in welchen Bereichen die Sicherung abgeschlossen ist. Sobald Sie neues Equipment benötigen, geben Sie das ebenfalls durch, dann stellen wir die Versorgung mit Nachschub her. Noch Fragen?«

Keiner meldete sich.

Ford warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Der Einsatz beginnt in exakt zehn Minuten, also begeben Sie sich zu Ihren Ausgangspunkten und lassen Sie uns die Arkaden zurückerobern.«

»Passt auf euch auf.« Gabriel verabschiedete sich von Sky, Connor und Thad mit einem Fistbump.

»Keine leichtsinnigen Aktionen«, schärfte Thad ihm und Janey ein.

Beide nickten.

Dann trennten sie sich und jedes Team lief zu seinem Eingang.

Chathams Squad bestand außer ihm aus drei weiteren Spuks. Die Sergeants Prentice und Stratton waren gestandene Männer um die Vierzig, Baker war Ende zwanzig. Er warf Gabriel einen abfälligen Blick zu, als sie in die schmale Seitengasse einbogen, die an einem der Notausgänge der Arkaden endete, wandte sich dann aber mit deutlich mehr Interesse Janey zu.

»Hab gehört, du bist mit ihm zusammen?« Er nickte kurz in Gabriels Richtung.

»Yep.«

Baker grinste mitleidig. »Warum? Hast du irgendeine Wette verloren?«

»Nein.«

»Himmel, echt nicht? Und warum ist eine heiße Braut wie du dann mit so einem zusammen?«

Janey bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. »Es geht dich zwar nicht das Geringste an, aber ein Grund ist, dass er mich nicht heiße Braut nennt.« Damit ließ sie ihn stehen.

Gabriel grinste süffisant, als er an Baker vorbeilief und dabei wie so oft dieses großartige Gefühl in seinem Inneren spürte, weil sich diese unglaubliche Frau tatsächlich für ihn entschieden hatte. Denn mit einem lag Baker ziemlich richtig: Janey hätte so gut wie jeden haben können. Sie war klein und zierlich, mit langem blondem Haar, Stupsnase, niedlichen Sommersprossen und frechen grünen Augen – und sie war ein genauso ungestümer unbekümmerter Sonnenschein wie seine kleine Schwester Ella. Bei vielen Kollegen weckte Janey aufgrund von Größe und Körperbau den Beschützerinstinkt – oder sie unterschätzten sie. Aber Janey war taff, ließ sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen und sie kämpfte für das, was ihr wichtig war. Offiziell war sie zu klein, um den Beruf einer Polizistin ausüben zu dürfen. Davon hatte sie sich aber nicht abhalten lassen, sondern einen flammenden Brief an den Commissioner der Londoner Polizei geschrieben, in dem sie argumentiert hatte, dass jemand, der sich nur aufgrund seiner überlegenen Körpergröße als Polizist durchsetzen konnte, auf keinen Fall besser für den Job geeignet war, als jemand der sich trotz seiner geringen Größe durchzusetzen wusste. Außerdem sollte es beim Großteil der Einsätze schließlich ohnehin um Deeskalation gehen und dabei konnte jemand, der weniger einschüchternd wirkte durchaus von Vorteil sein. Hinzu kam noch, dass sie eine Spuk werden wollte und beim Kampf gegen Geister und Wiedergänger war die Körpergröße nun wirklich völlig egal.

Ihr Brief hatte Eindruck gemacht und der Commissioner war bereit gewesen, ihr eine Chance einzuräumen, unter der Voraussetzung, dass sie sowohl den Sporttest bei der Einstellung als auch alle folgenden Tests dieser Art während der Ausbildung bestand. Janey meisterte sie mit Bravour. Beim Geistertraining war sie mittlerweile sogar schon auf dem Level des zweiten Jahrgangs. Was vermutlich vor allem daran lag, dass sie so oft mit Gabriel, Sky und Connor in ihrer Freizeit loszog, um Geister zu jagen und das Blocken zu trainieren.

Gabriel hätte nicht sagen können, wann genau er sich in Janey verliebt hatte, aber er hatte sie sofort gemocht, als sie sich beim Training in der Akademie über den Weg gelaufen waren und sie ähnlich offen und neugierig auf ihn und Sky zugegangen war wie Connor, als der zum ersten Mal Totenbändiger kennengelernt hatte. Jeder mochte Janey und an der Polizeiakademie imponierte es vielen, wie sie für ihre Aufnahme gekämpft hatte. Gerade unter den männlichen Kadetten gab es daher auch einige, die nicht bloß freundschaftliches Interesse an ihr zeigten.

Wieder spürte Gabriel dieses großartige Gefühl in sich, weil Janey sich für ihn entschieden hatte – einen Totenbändiger. Und egal, wie schief man sie deshalb ansah, oder welche blöden Kommentare sie sich deshalb immer wieder anhören musste, sie hielt zu ihm, verteidigte ihn und liebte ihn mit einer unerschütterlichen Standhaftigkeit und Loyalität, die seine Seele auf eine Weise berührte, wie es noch nie zuvor jemand getan hatte.

»Okay«, riss Chief Chatham ihn aus seinen Gedanken, als sie am Notausgang ankamen. Wie von Commander Ford angekündigt war von den Kollegen der Feuerwehr an der Tür ein weiterer Rahmen mit Silbernetzen angebracht worden. »Wir teilen uns in drei Zweierteams auf.«

Das war Standard bei der Polizei. Egal, ob als Fußstreife oder in der Mordkommission, man arbeitete immer mit einem Partner zusammen. Prinzipiell verstand Gabriel dieses Vorgehen auch, obwohl er von Kindesbeinen an bei seinem Geistertraining gelernt hatte, immer in einem Dreierteam zu arbeiten. Wurde einer verletzt oder hatte er zu viel Energie beim Geisterbändigen verloren, konnte sich der Zweite um ihn kümmern, während der Dritte für Verteidigung und Schutz sorgte und gegebenenfalls Hilfe organisierte. Gabriel fand das Vorgehen in Dreierkonstellation bedeutend sicherer, war sich allerdings durchaus darüber im Klaren, dass das Aufstocken auf Dreierteams deutlich mehr Kosten verursacht hätte. Und immerhin konnte man als Polizist ja Verstärkung rufen.

»Ich gehe mit Baker. Prentice und Stratton, ihr seid das zweite Team, und die beiden Frischlinge das dritte«, legte Chatham fest.

Prentice warf einen Blick zu Gabriel und Janey und sah dann zweifelnd zu seinem Vorgesetzten. »Sicher, dass die Frischlinge allein losziehen sollten?«

Chatham lächelte schmierig. »Na, als Totenbändiger sollte die Aktion da drin für Hunt ja wohl ein Kinderspiel sein. Hat man uns doch gerade so verkauft. Und Heller ist die Überflieger-Streberin aus dem ersten Jahrgang.« Er bedachte die beiden mit spöttischen Blicken. »Aber wenn ihr damit nicht einverstanden seid, teile ich die Teams selbstverständlich gern anders ein und ihr bekommt einen Profi an eure Seite, der eure Händchen hält.« Sein Blick bohrte sich in Gabriel. »Metaphorisch gesprochen. Du fasst keinen meiner Leute an oder machst irgendwelchen Hokuspokus mit deiner Silberenergie bei uns, verstanden?«

»Das heißt, ich soll auch nicht helfen, falls einer von Ihnen durch den Kontakt zu einem Geist Lebensenergie verloren hat, die ich zurückgeben könnte?«

Es war unfassbar frustrierend, diese Frage stellen zu müssen. Jemandem zu helfen, der von einem Geist geschwächt worden war, war purer Instinkt, zumindest für ihn und Sky. Doch als sie in ihrem ersten Training ungefragt Kadetten nach einem Angriff geholfen hatten, hatte es mächtigen Ärger gegeben, weil nicht jeder Totenbändigern genügend Vertrauen entgegenbrachte, um sich von ihnen berühren lassen zu wollen. Man hatte ihr Vorgehen als übergriffig und bedrohlich empfunden, denn schließlich hätten sich Gabriel und Sky ja auch Energie nehmen statt geben können, um sich für einen Kampf aufzuputschen, im Training besonders gut dazustehen oder in Prüfungen Konkurrenten auszustechen. Daraufhin waren die beiden strikt angewiesen worden, vor jedem Training und jedem Einsatz vor Zeugen abzuklären, welche Kollegen eine Berührung erlaubten und gegebenenfalls ihre Hilfe wollten, und welche nicht.

»Exakt. Du rührst keinen von uns an.« Noch immer bohrte Chatham seinen Blick in Gabriel.

Der sah zu Prentice, Stratton und Baker. Alle nickten knapp.

»In Ordnung. Ich werde niemanden von Ihnen berühren. Weder mit meinen Händen noch mit meiner Silberenergie. Allerdings werde ich Letztere dazu einsetzen, Geister zu bändigen oder mich selbst vor Seelenlosen zu schützen. Das ist mein Recht während jedes Einsatzes. Außerdem werde ich sie bei Kadett Heller einsetzen, um sie zu schützen, ihr Energie zu geben oder mir welche zu nehmen. Dafür habe ich ihr schriftliches Einverständnis.«

Gabriel beherrschte den Tonfall seiner Stimme, während er die erniedrigenden Formalitäten ruhig darlegte, nicht jedoch seinen Blick. In seinen Augen funkelte die Wut.

»Na, dann passt unsere Teambildung doch ganz perfekt«, meinte Chatham gehässig. Er zog sein Smartphone aus einer Tasche an seinem Gürtel und tippte kurz darauf herum. »Ich habe allen Teams Ladenlokale in unserem Quadranten zugewiesen. Nehmt sie euch ausgehend von diesem Notausgang einzeln vor und säubert sie, wenn nötig. Trifft ein Team auf Schwierigkeiten, helfen die anderen aus. Fragen?«

Alle schüttelten die Köpfe und zogen ihre Handys hervor. Gabriel verkniff sich nur mit Mühe ein Schnauben, als er sah, dass Chatham ihm und Janey den Gang zugewiesen hatte, was nichts weiter bedeutete, als dass sie jede Menge Eisenspäne verstreuen sollten, um den Ausgang zu sichern. Doch das war typische Frischlingsarbeit, deshalb konnte er dagegen nichts sagen. Und immerhin sollten Janey und er sich danach noch ein Eiscafé und das Second Chances, einen Laden für Secondhand-Klamotten vornehmen.

Ihre Handys summten. Das war das Startsignal für ihren Einsatz.

»Na, dann mal los. Frischlinge, ihr sorgt als Erstes dafür, dass der Ausgang sicher ist, klar? Und wehe, ihr macht keinen guten Job dabei. Ich will nicht in diesem verdammten Bau festsitzen.«

»Keine Sorge, Chief.« Janey hatte den Kanister mit den Eisenspänen bereits aus ihrem Rucksack geholt. »Wir sichern Orte nicht zum ersten Mal.«