Die Träne von Sol - Sabrina Grünenfelder - E-Book

Die Träne von Sol E-Book

Sabrina Grünenfelder

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Beschreibung

Ein göttliches Gebot, das einst gebrochen wurde, eine Liebe, die nicht sein darf und die Geburt einer neuen Welt. Was wärst du bereit zu opfern für die Welt, die du liebst? Erst recht, wenn du die Macht hättest sie zu zerstören? Das Spiel der Götter hat begonnen. Katherine lebt im Herzen von Arizona und besitzt eine besondere Gabe. Sie kann das Flüstern der Sonne hören. Als sie dem rätselhaften Liam begegnet, spürt sie, dass auch er ein Geheimnis hütet. Je näher sich die beiden kommen, desto mehr Antworten findet Katherine auf ihre Fragen. Aber dadurch lastet auch eine Bürde auf ihren Schultern, die bedrückender nicht sein könnte. Allem voran die Tatsache, dass ihr die Nähe zu Liam verboten wird, denn Seinesgleichen darf nicht in ewige Liebe mit Ihresgleichen fallen. Dass Katherine sich wie magnetisch zu Liam hingezogen fühlt, macht es nicht leichter. Zu allem Übel wird sie von emotionsgestörten Wesen verfolgt, die denken, dass sie eine Gefahr für das Universum darstellt. Doch ist das wirklich wahr? Und was in Hades Namen haben schwarze Löcher mit der Sache zu tun? Nur die Entschlüsselung einer alten Prophezeiung könnte die Antworten liefern. Aber niemand weiss, wo sie sich befindet. Eine aussichtslose Zeit beginnt, in der es plötzlich um alles geht. Griechische Mythologien vereinen sich mit nordischen Göttern.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Über dieses Buch

Danksagung

Über die Autorin

© 2022 Sabrina Grünenfelder

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-7543-6685-1

Cover- und Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

Kapitel-Design: Melanie Strohmaier

Lektorat: 1. Durchgang durch Norman Doderer, Phönixschmiede

2. Durchgang durch Claudia Fluor, Schreib-weise

Korrektorat: Claudia Fluor, Schreib-weise

Layout und Satz: Anika Ackermann

 

 

FÜR MEINE OMA.

Ich hoffe, du lebst das ewige Leben,

an das du immer geglaubt hast.

Kapitel 1

KATHERINE

 

Mit geschlossenen Augen saß ich auf einer Campusbank des PC – des Phoenix College in Encanto im Bundesstaat Arizona. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel. Ich genoss die Wärme, die sie ausstrahlte, und das Prickeln, das sie auf meiner Haut hinterließ. Für die meisten war die Hitze im Tal der Sonne kaum auszu­halten, ich jedoch liebte sie und wollte nirgendwo anders leben als in Phoenix.

Ich spürte, dass jemand näher zu mir herantrat, denn die hellen Punkte vor meinem inneren Auge verdunkelten sich.

»Caroline, endlich. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen. Meine nächste Vorlesung beginnt schon in weniger als zwei Stunden, wir haben nicht viel Zeit«, sagte ich und öffnete die Augen, wobei ich fest damit rechnete, in das Gesicht meiner besten Freundin zu schauen. Doch stattdessen wurde ich von einer fremden Gestalt angestarrt, in deren dunklen Augen ich etwas aufblitzen sah. War es Neugier?

Der junge Mann war groß und beugte sich leicht zu mir herunter, sodass er mir den Blick auf die Sonne versperrte. Sein langes Haar war ebenso schwarz wie die Kleidung, die er trug. Seine Haut bildete hingegen einen krassen Kontrast, denn sie war schneeweiß. Ich blickte auf seinen Mund, der leicht zuckte.

Als ein Hupen hinter mir ertönte, schreckte ich auf, drehte mich um und erkannte Carolines Pick-up.

»Katherine, ich weiß, ich bin spät dran, sorry!«, rief sie mir durch das geöffnete Seitenfenster zu.

»Schon gut. Ich komme gleich.« Als ich mich wieder dem merkwürdigen Typen zuwandte, war er nicht mehr da. Fragend sah ich mich um, doch weit und breit war nichts mehr von ihm zu sehen.

»Seltsam …«

Erneut hupte es laut hinter mir. Ich stand auf, griff nach meinem Rucksack und ging kopfschüttelnd auf Caroline zu.

»Kannst du das bitte lassen? Wenn du so weitermachst, bekommen wir bestimmt Ärger mit dem Rektor.«

»Ach, mach dir da keine Gedanken. Beeil dich lieber, damit ich hier nicht noch länger im Halteverbot rumstehen muss.«

Typisch Caroline. Sie stand schon immer mit beiden Beinen fest im Leben. Wohingegen ich oft das Gefühl hatte, dass das Leben – mein eigenes Leben – mich überholen wollte, was im Grunde lächerlich klingt. Und doch … Genauso fühlte es sich an. Die einzigen ­Konstanten, die mir Halt in meinem Leben boten, waren meine Eltern, die Liebe zur Astronomie und natürlich Caroline. Ein weiteres Hupen ertönte.

Ich schmunzelte. »Ich komme ja schon!«

Unbeholfen stieg ich in ihr Auto. Als ich in den Sitz sank, kratzte der Stoff an meiner Haut. Sofort entfuhr mir ein leises Stöhnen.

»Irgendwann wirst du dich schon an den Wagen gewöhnen«, sagte Caroline, als hätte sie in meinen Gedanken gelesen, dass mir der Pick-up nicht zusagte. Sie zwinkerte mir zu.

»Niemals«, entgegnete ich trotzig.

Caroline verdrehte belustigt ihre grau schimmernden Augen, die mich oft an den Londoner Himmel im Januar erinnerten.

Wunderschön.

Sie musterte mich und zog eine Schnute.

»Was denn?«

»Warum versteckst du dich andauernd hinter dieser nervigen Sonnenbrille? Das hast du doch gar nicht nötig. So sieht ja nie jemand deine schönen, blauen Augen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich trage sie eben gerne.«

Doch Caroline hatte recht. Im Grunde benötigte ich dieses Accessoire nicht, denn im Gegensatz zu ­anderen konnte ich problemlos direkt in die Sonne sehen und musste dabei nicht einmal blinzeln. Es machte mir nichts aus. Zumindest hatte mein Augenarzt keine Schädigung durch UV-Strahlen feststellen können.

Doch das war noch nicht alles. Da gab es etwas, das selbst Caroline nicht wusste. Kaum jemand wusste davon. Ich besaß eine besondere Fähigkeit, denn ich war imstande, das Flüstern der Sonne zu hören. Genauso wie Dad. Anfangs mochte ich das leise Flüstern nicht, zumal ich es oft auch nicht richtig verstehen konnte. Aber heute würde ich diese Gabe um nichts in der Welt mehr hergeben wollen. Dennoch … Mit einer besonderen Begabung geboren zu werden, war alles andere als ein Zuckerschlecken. Außerdem musste ich stets darauf achten, dass ich mich nicht aus Versehen bei Caroline verplapperte. Deshalb bereitete mir diese Geheimniskrämerei immer noch einen flauen Magen.

Ich hob den Blick und beobachtete eine dicke Wolken­decke, die sich vor die Sonne schob. Schlagartig verstummte das sanfte Flüstern, doch das war keine Überraschung für mich. Immer wenn die Sonne von Wolken überschattet wurde, konnte ich sie nicht länger hören.

Ich nahm die Sonnengläser ab und steckte sie in die Seitentasche meines Rucksacks.

Obwohl ich den klassischen, sexy Augenaufschlag nicht besonders gut beherrschte, blinzelte ich in die Richtung meiner Freundin und übte mich in einem mehr oder weniger passablen Abklatsch davon.

Caroline lachte.

»Ich kann das nicht so gut wie du«, jammerte ich.

Meine Freundin warf geschickt ihr aschblondes Haar zurück. Sowas hatte sie echt gut drauf.

Sie bedachte mich mit einem Seitenblick. »Was redest du denn da? Natürlich kannst du das.«

»Danke für die Blumen«, erwiderte ich, »aber ich denke, wir wissen beide, dass das eine glatte Lüge ist.«

»Na ja, den Typen von vorhin scheinst du ziemlich beeindruckt zu haben.«

»Du hast ihn gesehen?«

»Ja, natürlich. Aber er war so schnell weg, dass ich ihn mir nicht genauer ansehen konnte. Schade eigentlich. Kennst du ihn?«

»Nein, ich habe keine Ahnung, wer das war.«

»Vielleicht ein Verehrer?«

»Bestimmt nicht. Um ehrlich zu sein, fand ich ihn unheimlich.« Mich fröstelte es bei dem Gedanken an seine dunklen Augen.

»Was hat er denn zu dir gesagt?«

Ich zuckte mit den Schultern und seufzte. »Das ist es ja, er hat gar nichts gesagt. Er hat mich nur angestarrt.«

Caroline schüttelte sich kurz. »Ja, gut. Das kann unangenehm sein. Manche Kerle verstehen einfach nicht, wie man mit Frauen umzugehen hat. Aber vielleicht wollte er dich nach deiner Nummer fragen und hat sich nicht getraut. Armer Kerl.«

»Ja, vielleicht.« Ich nickte. Doch das seltsame Gefühl in meiner Magengegend ließ mich stark daran zweifeln. Da ich nicht länger darüber reden wollte, lenkte ich unser Gespräch in eine neue Richtung. »Willst du das Ungeheuer nicht langsam starten?«

»Ja, du hast recht. Wir sollten los.«

Als sie den Schlüssel im Zündschloss drehte, heulte der Pickup kurz auf und begann dann zu blubbern. Ich zuckte zusammen.

»Angsthase«, zog sie mich auf.

»Ich habe keine Angst, ich teile bloß nicht dieselbe Liebe für monströse Autos wie du.«

»Aber das ist ja das Aufregende daran.« Das Auf­blitzen in ihren Augen entging mir nicht. Als sie den Gang einlegte und das Gaspedal durchdrückte, setzte sich der Wagen ruckartig in Bewegung.

»Also, was genau müssen wir bei deinem Schreinerfreund abholen?«, fragte sie.

»Eine Kommode. Jacob war so lieb, mir ein besonderes Exemplar aufzuheben, damit ich es restaurieren kann.«

»Jacob, ist das nicht der alte Freund deines Vaters?«

»Ja, genau.«

»Na gut, dann sag mir einfach, wo ich lang muss.«

Ich nickte.

»Mit deinem Hobby kannst du bestimmt irgendwann dein eigenes Geld verdienen«, meinte Caroline. »Anstelle des Astronomie Studiums könntest du ja diesen Jacob fragen, ob du in seiner Schreinerei ­arbeiten darfst.«

»Nein, deswegen mache ich das nicht, sondern weil ich es mag, aus alten Dingen das Schönste herauszukitzeln. An der nächsten Kreuzung musst du dann rechts abbiegen.«

»Alles klar.«

Ich sah durch die Windschutzscheibe gen Himmel. Er war inzwischen mit weiteren dunklen Wolken verhangen.

Seltsam!

 

Nur wenige Minuten später erreichten wir die alte Schreinerei in der Central City, nahe des Encanto Parks. Sie grenzte direkt an das Wohnhaus von Jacob.

Als wir hineingingen, atmete ich den Geruch von erdig würzigem Holz ein. Meine Nasenflügel ­plusterten sich sofort auf. Caroline stand direkt neben mir. So wie sie sich umsah, erkannte ich deutlich die begrenzte Begeisterung in ihrem Gesicht.

Sobald Jacob uns entdeckte, kam er auf uns zu. Sein grau meliertes Haar erinnerte mich an George Clooney. Doch anders als Clooney wies Jacob in seinem Gesicht tiefe Furchen auf. Sein dichter, schwarzer Bartschatten wurde hingegen vom Rad der Zeit verschont. Jacob legte seine Hände auf meine Schultern, deren Gewicht mich beinahe auf den Boden drückte. Sofort zog er die Hände zurück.

»Wie ich sehe, hast du Verstärkung mitgebracht.«

Ich hakte mich bei Caroline unter, die mir ein breites Lächeln schenkte.

Jacob führte uns in den hinteren Bereich der ­Schreinerei. Er wies auf eins der gut verpackten Objekte.

»Darf ich sie heute schon mitnehmen?«, wollte ich wissen.

»Natürlich. Sie ist verpackt, gesichert und abholbereit. Warte, ich lasse sie dir gleich auf den Wagen heben.«

Sofort winkte ich ab. »Bitte keine Umstände, wir kommen auch allein zurecht.«

Jacob wirkte, als wollte er widersprechen, als er aber unsere entschlossenen Gesichter sah, behielt er wohl deswegen jeglichen Einwand für sich.

 

Als wir mit der Kommode vor dem Pickup standen, versuchten wir sie mühselig auf die Gepäckablage zu hieven, was alles andere als leicht war. Frustriert betrachtete ich das gut verpackte Objekt meiner Begierde in meinen Händen, das mich wegen diesem Umstand still und heimlich zu verspotten schien.

»Noch ein kleines Stückchen«, hörte ich Caroline sagen.

Sofort übte ich mehr Druck aus, doch ich rutschte ab.

»Katherine, nicht loslassen!«

Aber es war zu spät. Das fürchterlich schwere Ding, das ich schon halbfluchend vor mir in Trümmern sah, entglitt mir. Doch anstatt auf den Boden zu krachen, tauchten wie aus dem Nichts zwei helfende Hände auf, stark genug, um die Kommode rechtzeitig vor der Zerstörung zu bewahren. Sie war in Sicherheit!

»Das war echt knapp.« Ich schnappte nach Luft und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, ehe ich mich mit einem »Danke dir!« zu meinem Retter umdrehte.

Ich hatte ihn noch nie gesehen. Arbeitete er für Jacob?

»Kein Problem«, sagte er. In seiner Stimme schwang noch etwas anderes mit, aber was es war, konnte ich nicht eindeutig sagen. Der Fremde betrachtete mich mit wachen Augen, die so intensiv hell schimmerten, dass ich blinzeln musste.

Das Blut rauschte mir hörbar in den Ohren. Die Welt drehte sich plötzlich ohne mich weiter, so dass ich augenblicklich aus dem Takt fiel und ins Taumeln geriet.

»Pass auf!«, rief er und bevor ich seinen Bewegungen folgen konnte, umfasste er bereits meine Handgelenke. Umgehend landete ich in seinen Armen.

Sofort fing ich seinen Blick wieder auf. Wir ­standen nahe beieinander. Zu nahe, immerhin konnte ich seinen Herzschlag unter meinen Händen spüren.

In diesem Moment fiel mir auf, wie unnatürlich sich sein Körper anfühlte. Heiß oder kalt? Ich konnte es nicht genau sagen. Er duftete nach einer Mischung aus erdiger und zitrischer Note. Göttlich. Beruhigend und erhaben. Tragischerweise ergab die Geschichte um Adam und Eva plötzlich einen tieferen Sinn für mich. Ich konnte durchaus nachvollziehen, warum Eva den Apfel gegessen hatte, wenn dieser so gerochen hatte. Moment! Hatte ich diesen Kerl gerade mit einer ver­botenen Frucht verglichen?

Ach, du Scheiße …

Verlegen machte ich einen Schritt zurück. Brachte die nötige Distanz zwischen uns, da mir die Nähe unangenehm war.

Verstohlen beäugte ich den jungen Mann vor mir. Das schwarze Poloshirt betonte seine unnatürlich hellen Augen, die mich an silbernes Mondlicht erinnerten. Das schwarze Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Sein verführerisches Lächeln gab mir den Rest und entlockte mir ein tiefes »Oh«.

Der Kerl überragte mich um mindestens einen Kopf, was bei meinen 160 cm aber nicht sonderlich schwierig war.

Mir fiel seine Halskette auf. Der Anhänger hatte die Form einer Träne mit einem eingravierten ›M‹.

Vielleicht die Initiale seiner Freundin?

»Ist alles okay? Katherine?« Carolines Stimme katapultierte mich zurück in die Gegenwart. Ich hatte sie total vergessen.

»Ja, natürlich. Mir war nur etwas schwindlig, entschuldige. Ich war …«

Ich sah zu, wie der Fremde das glänzende Schmuckstück unter seinem schwarzen Shirt verschwinden ließ. Das lenkte meine Aufmerksamkeit jedoch auf seine Muskeln, die sich darunter leicht abzeichneten.

Schluss damit!

Als ich den Kopf hob, musterte er mich interessiert.

Warum sah er mich so an?

Sofort dachte ich an den fremden Kerl, der mir auf dem Campus begegnet war. In seinen Augen hatte ich einen ähnlichen Funken gesehen.

Ich spürte deutlich, wie meine Ohren heiß wurden.

Na, prima.

»Ist wirklich alles okay?«, fragte Caroline.

»Ja, alles gut.«

»Dann gehe ich schnell den Parkschein einlösen. Bleib du bitte so lange hier. Kann ich euch allein lassen?«

Ich nickte und betrachtete die Kommode, die schräg auf der Ablage des Pickups ruhte und mich weiterhin fröhlich verhöhnte, während der süße Kerl sie ­schweigend sicherte.

Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Ein Wunder, dass es nicht komplett in Flammen aufging, so glühend wie sich meine Haut anfühlte.

Als ich wieder zu meinem vermeintlichen Helden schaute, hob er seinen Blick. Beinahe verlor ich mich in seinen Augen, deren Farben lebendig wirkten, so als seien sie in Bewegung. Wie Meereswellen, die silbern schimmerten und heftig ausschlugen. Beinahe so, als wollten sie jeden Moment ausbrechen. Er sprang von der Gepäckablage und wollte einen Schritt auf mich zu machen, doch dann stolperte er rückwärts. Es war nur ein Sekundenbruchteil, aber in genau dieser Zeitspanne sah ich die Überraschung in seinen Augen aufblitzen, ehe er mich forsch fixierte.

Was war denn jetzt passiert?

Gerade als Caroline wieder zu uns stieß, machte er auf dem Absatz kehrt.

»Hey! Warte mal«, rief Caroline.

»Wie heisst du?«, setzte ich nach.

Er hielt inne, ohne sich umzudrehen.

»Du stellst die falschen Fragen«, antwortete er mir und ließ uns stehen.

 

 

ERIC

 

»Verdammt nochmal«, fluchte Eric, der die Szene auf dem Parkplatz der Schreinerei widerwillig beobachtet hatte. Liam war ihm tatsächlich zuvorgekommen. Das bedeutete, dass die silberne Familie ebenfalls hier war.

»Und jetzt?«, wandte er sich hilfesuchend an Colin. So wie sein Bruder die Szene beobachtete, wirkte dieser genauso wenig begeistert wie er selbst. Wäre Liam nicht aufgetaucht, wäre die Situation günstig gewesen.

»Wir werden abwarten.«

»Schon wieder?«

Colin nickte und ein Zucken umspielte seine Mundwinkel.

»Und wie lange?«

»Solange es nötig sein wird.«

Eric ließ seinen Blick erneut in die Richtung der beiden jungen Frauen schweifen. »Warum schlagen wir nicht jetzt zu? Liam ist weg.«

»Nein.«

»Aber …«

»Ich habe Nein gesagt. Halt dich an den Plan.«

»Der Plan hat sich aber gerade in Luft aufgelöst«, widersprach Eric und wies zu den beiden Mädchen auf dem Parkplatz.

»Es gibt immer einen Plan B. Hast du denn überhaupt nichts gelernt?«, knurrte Colin genervt und fuhr sich durch das schwarze, lange Haar.

Eric schnaubte verärgert, dennoch hütete er sich, seinen Bruder zurechtzuweisen. Immerhin besetzte Colin die oberste Spitze der grauen Familie.

Als Eric die beiden Mädchen genauer in Augenschein nahm, fiel ihm das neckische Grinsen auf, das auf den Lippen der Blondine erschien. Sie gefiel ihm. Sie wirkte nicht so, als gehörte sie der schüchternen Sorte an, was ihn darin bestärkte, sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Jedes Detail in ihrem Gesicht sog er in sich auf. Er musterte sie wie ein Maler, der sein Modell penibel genau studierte. Sein eigentliches Ziel, das schüchtern wirkende Mädchen daneben, erschien ihm dagegen eher langweilig.

Dabei war es doch genau sie, die das in sich trug, nach dem seine Familie und besonders Colin so gierig trachteten.

»Ich werde mich darum kümmern«, erklärte Eric einer spontanen Eingebung folgend und legte den Blick wieder auf das strahlende Gesicht des Blondschopfs, der wild mit den Armen gestikulierte.

Eric schürzte die Lippen. »Mir ist da soeben eine Idee gekommen, Bruder.« Er deutete mit dem Kinn in die Richtung der Blondine.

Colins Lachen klang verstört. »Das passt zu dir. Du warst schon immer ein Kavalier. Also gut, ich gewähre dir hiermit einen Vertrauensbonus. Vermassle es nicht.«

Eric ignorierte die spitze Bemerkung. Stattdessen verfolgte er interessiert jede einzelne Bewegung des Mädchens vor ihm. Er hatte sich schon länger keinen Spaß mehr erlaubt und es war höchste Zeit, diesen Umstand zu ändern.

 

 

KATHERINE

 

Auf leisen Sohlen schlich ich mich hinter einigen Studenten vorbei und setzte mich auf meinen Platz.

»Was wissen wir über die Milchstraße?«, fragte Professor Flemming, der unten am Podium stand. »Der griechischen Sage zufolge war es Herkules, der Sohn des Zeus, der sie formte. Wie sind die Griechen darauf gekommen?«

»Als Baby saugte er zu stark an der Brust seiner Mutter, woraufhin sich die Milch im hohen Bogen ergoss und dabei die Milchstraße geformt hat«, antwortete Serina, die nur zwei Plätze von mir entfernt saß. Als ich zu ihr sah, lehnte sie sich zufrieden zurück und schenkte mir ein herablassendes Lächeln.

Wir werden wohl keine Freundinnen mehr.

Vorsichtig zog ich meine Unterlagen aus dem Rucksack und konzentrierte mich auf das Bild einer Hercules Figur, das Professor Flemming an die Wand projizierte, um Serinas Antwort zu untermauern. Das Bild war mir bekannt, denn die Sonne hatte mir schon oft Bilder aus der Sagenwelt gezeigt und mir dabei die Geschichten und Legenden aus verschiedenen Mythologien zugeflüstert. Doch waren sie wirklich wahr? Ich wusste es nicht, aber ich wünschte es mir.

Gebannt beobachtete ich das projizierte Bild eines langgezogenen, weißen Bandes, das aus abertausenden Sternen bestand. Ein Strom aus hellem Staub.

Die Milchstraße war beeindruckend.

Ich bemerkte, wie Professor Flemmings Augen abwartend über die fragenden Gesichter der Studenten wanderten, an Serina vorbei und schließlich bei mir hängen blieben.

Oh, nicht doch!

»Sie da, in dem blauen Kleid, wie ist nochmal Ihr Name?«

»Katherine Haddon.«

»Also gut, Miss Haddon, da Sie als letzte dazugestoßen sind, möchte ich jetzt gerne von Ihnen wissen, was Sie über die bemerkenswerte Milchstraße in unserer Galaxie zu erzählen haben?«

Er hatte es also bemerkt, wunderbar …

Ich hörte Serinas Kichern. Als ich kurz zu ihr schaute, schüttelte sie amüsiert den Kopf und flüsterte ihrer Nachbarin etwas ins Ohr, das ich von meinem Platz nicht hören konnte. Wahrscheinlich besser so.

»Miss Haddon?«

»Oh«, begann ich Zeit zu schinden, »wo soll ich da bloß anfangen?«

Die Augenbrauen des Professors rutschten ein Stück höher, wo sie beinahe den graudurchzogenen Haar­ansatz erreichten. Mit Zeige- und Mittelfinger schob er sich die viel zu groß geratene Hornbrille wieder auf die bucklige Nasenwurzel zurück. Wahrscheinlich, um mich auf diese Weise besser in Grund und Boden zu starren.

»Es spielt keine Rolle, wo Sie beginnen. Wenn wir vom Universum und seinen Galaxien reden, sprechen wir von einer Unendlichkeit, wie wir sie uns nur schwerlich vorzustellen vermögen. Das, Miss Haddon, geht dann doch über Ihre und auch meine Fähigkeiten hinaus, muss ich leider gestehen. Also nur Mut, finden Sie Ihren eigenen Anfang.« Professor Flemming räusperte sich und wandte sich wieder dem projizierten Bild zu, wobei er auf­klärend mit den Armen herumfuchtelte.

»Im Studium der Astronomie werden Sie alles lernen, was wir bisher über das Universum wissen. Was unsere Milchstraße hier betrifft, gibt es da einige interessante Fakten.«

Wieder blieb sein Blick bei mir hängen. Heraus­fordernd sah er mich an.

»Ihr Durchmesser beträgt in etwa 100.000 Lichtjahre«, antwortete ich auf seine stumme Frage hin.

Das Gesicht des Professors erhellte sich.

»Richtig, Miss Haddon. Und was bedeutet das genau?«

Als ich die erwartungsvolle Miene von Serina bemerkte, rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. In der Hoffnung, souverän zu wirken, räusperte ich mich. »Dass das Licht 100.000 Jahre braucht, um mit der Lichtgeschwindigkeit von einem Ende der Milchstraße an das andere zu gelangen.«

Der Professor nickte. »Wunderbar, Miss Haddon. Können Sie Ihren Kommilitonen auch erklären, was die Lichtgeschwindigkeit bedeutet?«

»Ich glaube, das ist die unvorstellbare Geschwindigkeit, mit der sich Licht fortbewegen kann.«

»Und das Lichtjahr?«

»Beim Lichtjahr handelt es sich um eine Maßeinheit.«

Professor Flemming ließ nicht locker. »Vielleicht noch ein Beispiel, Miss Haddon?«

Meine Kehle war staubtrocken, als ich weitersprach. »Sie beschreibt die Entfernung, die ein Licht innerhalb eines Jahres zurücklegt. Aber die Verwendung ›Lichtjahr‹ ist vielmehr etwas für die Allgemeinheit.«

»Korrekt!«, rief er. »Sehr schön, Miss Haddon. Wirklich sehr schön. Ich bin gespannt, was Sie noch alles an Fachkunde beisteuern werden.«

Verlegen lächelte ich ihm zu. Mir graute jetzt schon bei der Vorstellung, in jeder weiteren Stunde an den Pranger gestellt zu werden.

»Gut gemacht«, hörte ich Serina sagen, doch irgendwie glaubte ich nicht daran, dass es ehrlich gemeint war.

Der Professor klatschte in die Hände. »Ich werde in den kommenden Jahren einiges aus Ihnen heraus­kitzeln und dabei auch vieles in Ihre Köpfe ein­trichtern. Ich hoffe, Sie sind bereit für diese inter­galaktische Reise durch ferne Galaxien, denn ich bin es.«

 

Kapitel 2

KATHERINE

 

Als ich nach der Vorlesung zu Hause angekommen war, steuerte ich auf die Küche zu. Ich stand im offenen Türrahmen und sah Mom an der Kücheninsel stehen. Sie schnibbelte das Gemüse, während Dad aus dem Fenster hinauf zum Himmel schaute, der inzwischen wieder in einem leuchtenden Blau erstrahlte.

Die beiden hatten mich noch nicht bemerkt.

»Katherine kommt definitiv nach dir«, sagte Mom, »einer von euch beiden starrt andauernd da hoch.« Sie zeigte mit dem Küchenmesser aus dem Fenster, durch das sich einige Sonnenstrahlen schoben.

Dad fuhr sich über die glänzende Glatze, die vage an Mr. Proper erinnerte.

»Du weisst doch, wie gerne ich der Sonne lausche«, hörte ich ihn. Ich sah zu, wie er nach ihrer rechten Hand fischte. Sie legte das Messer ab und ließ sich in eine Umarmung ziehen.

»Der Sonne lauschen. Ich werde nie verstehen, was genau du damit meinst.«

»Na, das, was ich sage. Ich lausche und sie erzählt mir Geschichten. Manchmal sind es Worte, die ich höre, manchmal auch Bilder, die ich sehe. Wie bei einem Mosaik fügen sich die Teile zu einem Gesamtkunstwerk zusammen.«

»Was genau erzählt dir die Sonne?«

»Geschichten aus vergangenen Zeiten. Sagen und Legenden.«

»Manchmal auch solche aus der Mythologie«, warf ich ein und zog die Aufmerksamkeit der beiden auf mich, während ich meinen Rucksack auf die Küchentheke legte.

»Katherine, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht so anschleichen sollst«, ermahnte mich Mom. In ihrer Stimme schwang jedoch keinerlei Strenge mit.

»Entschuldige«, antwortete ich. »Was hat die Sonne heute alles gewusst?«, wandte ich mich an Dad, der auf mich zukam und mir spielerisch in die Seite zwickte. »Als wüsstest du das nicht.«

Ich zuckte mit den Achseln und schmunzelte.

»Es ist schön, euch bei eurem Hobby zu beob­achten«, sagte Mom und strich sich die Schürze glatt.

»Das ist kein Hobby«, widersprach ich ihr.

»Wie nennst du es dann?«

»Die ganz große Liebe? Bestimmung? Innere Verbundenheit? Erfüllung?«

»Schon gut, ich habe verstanden.« Der Klang ihrer Stimme vermittelte mir ein Gefühl von Geborgenheit, die mich wie ein Duft aus einem Parfümzerstäuber einhüllte.

»Wie du es auch nennen willst, ihr beide wirkt in solchen Momenten völlig entspannt und ausgeruht, wie nach einem Wellnesstag, den ich übrigens auch mal wieder gebrauchen könnte.«

»Warum das denn?«, wollte Dad wissen.

Sie lachte. »Weil ihr manchmal ganz schön anstrengend sein könnt.«

»Wir? Deine Tochter vielleicht, ja. Aber ich? Wohl kaum.«

»Hey!«, protestierte ich.

»Du ebenso, mein Lieber«, rügte sie Dad. »Manchmal denke ich, mein Geduldsfaden muss bis nach Portland reichen.«

»Ein hübscher Ort«, bemerkte er.

»Aber nicht an meiner Geduld gemessen.«

»Touché.«

»Wir werden uns bessern«, versprach ich.

»Das höre ich so oft von euch.« Sie seufzte, schaute mir in die Augen und hielt in ihrer Bewegung inne.

»Was?«

»Wusstest du, dass du manchmal ein unglaubliches Strahlen in deinen Augen hast? Jetzt gerade wieder. Das ist mir an deinem Vater auch schon aufgefallen. So als hafte eine andere Aura an euch.«

Ich blinzelte und zog den Rucksack näher zu mir hin, um ihn wie ein Schutzschild zu umklammern.

»Du meinst, so wie von einem anderen Stern?«, fragte ich,

während ich nach der Sonnenbrille wühlte. Doch ich fand sie nicht. Aber ich hatte sie doch auf der Fahrt zu Jacob darin verstaut?

»Nennt mich verrückt«, die Worte von Mom rissen mich aus meinen Gedanken, »aber an den Tagen, an denen die Sonne besonders stark scheint, sehe ich in euren Augen einzelne Farbpartikel, die ich so noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe. Manchmal wirken sie gelblich und manchmal schimmern sie wie flüssiges Gold. Ganz selten wirken sie sogar rötlich. Das erinnert mich immer an ein Lichterspiel.«

»Ein Lichterspiel?«, hakte ich nach.

»Ja.« Sie machte eine Kreisbewegung mit der Hand. »Die Farben wirken lebendig, so als bewegten sie sich. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das alles auch nur ein. Ja, das liegt bestimmt an der schwülen Hitze. Wenn ich nämlich genauer hinsehen will, ist nichts Ungewöhn­liches mehr zu sehen. Ich frage mich, woran das liegt.«

Diese Frage wünschte ich auch gelöst, doch Dad hatte mir nie eine Antwort gegeben. Immer dann, wenn ich ihn so weit hatte, dass er mir erzählt hätte, warum wir gewisse Fähigkeiten besitzen, kam etwas dazwischen.

Ich schaute zu Dad, doch anstelle mir in die Augen zu sehen, senkte er seinen Blick und wandte sich von mir ab. Wie üblich.

 

 

LIAM

 

Liam betrachtete die Villa. Für die nächsten Wochen war hier sein Zuhause. Er betrat das alte Anwesen nahe der Haddon Ranch und ging direkt zur Treppe. Unten angekommen steuerte er auf die verschlossene Tür zu und stieß sie auf. Fahles Kerzenlicht flackerte ihm entgegen und hieß ihn willkommen. Als sich seine Augen an das schummrige Licht in dem Raum gewöhnt hatten, trat er ein und erblickte seinen Vater, der an einem großen Tisch saß, der ein wenig an eine Tafelrunde erinnerte.

Liam deutete eine Verbeugung an, so wie er es bereits früh lernen musste. Als er seine Stimme erhob, bebte sie förmlich. »Ich habe sie gefunden!«

Liam suchte den Blickkontakt mit dem König.

Wie Liam trug auch er das Sonnensymbol, allerdings in Form eines Rings anstelle einer Kette.

»Bist du dir sicher?«, fragte sein Vater und fuhr sich über den Old Dutch Bart. »Hast du dich dabei auch nicht täuschen lassen?«

»Vater, ich bin mir sicher. Ich habe meine Quellen. Außerdem habe ich den Farbwechsel in ihren Augen selbst gesehen«, bestätigte er.

Liam glaubte zu erkennen, dass sich ein gewisser Stolz in seinem Vater ausbreitete, denn der König verschränkte die Arme so, wie er es immer dann tat, wenn er zufrieden war. »Dann ist die Zeit gekommen!«

Liam verbeugte sich erneut. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Vater!«

Der König erhob sich und ging langsam um den Tisch herum. Direkt vor Liam blieb er stehen und fuhr ihm mit einer steifen Bewegung über das wirre Haar. Die plötzliche Nähe irritierte Liam. Es war eine äußerst liebe­volle Geste, wenn man bedachte, dass sie nicht unbedingt das beste Verhältnis zueinander ­pflegten. Dass der König ihn nun mit einer tiefen Furche ­zwischen den Augenbrauen musterte, passte wiederum gut zu dem strengen Oberhaupt des Mondreiches.

»Vielleicht täuscht mich mein Auge auf meine alten Tage hin, aber du erscheinst mir verändert«, bemerkte der König.

Bevor sie schweigend um die Wette starren würden, brach Liam den Blickkontakt mit seinem Vater ab. »Ich weiß nicht, was Ihr damit meint.« Er spürte genau, wie der König versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Als er die Hände seines Vaters auf seinen Schultern spürte, hielt Liam beharrlich dagegen an. Der Mondkönig hatte längst nicht mehr die gleiche Wirkung auf ihn wie früher und Liam wusste, dass das auch seinem Vater klar war.

»Mein Sohn, du weißt um die Wichtigkeit deines Fundes.«

»Nennt sie nicht so. Sie ist kein Fund«, widersprach Liam grob. Sofort hätte er sich auf die Zunge beißen können. Seine Widerworte mussten auf den König wie ein trotziger Ungehorsam wirken. Immerhin widersprach Liam seinem Vater selten. Doch seit jenem Tag, der eine Ewigkeit zurücklag, summierte sich Liams respekt­lose Haltung. Liam konnte nichts dagegen tun, auch wenn er es noch so sehr versuchte. Er konnte Mēness – dem König – nicht verzeihen, was geschehen war. Nicht damals und auch nicht heute.

»Du erscheinst mir aufgebracht«, stellte sein Vater fest und bedachte Liam mit einem tadelnden Blick.

»Ihr täuscht Euch«, log Liam mehr schlecht als recht.

»Was ist es dann?«

»Ich muss mich nur an die neue Situation ge­­wöhnen. Hier auf der Erde kenne ich mich nicht aus. Ich war nie zuvor hier. Das ist alles.«

»Du wirst dich schnell zurechtfinden. Das Wichtigste ist, dass wir wachsam bleiben. Hörst du? Das Mädchen wird uns früher oder später brauchen. Bis dahin darf sie nicht von unserer Existenz erfahren, verstanden?«

Liam nickte. Im Raum war es absolut still. Einzig Liams Gedanken veranstalteten einen solchen Krach, dass er befürchtete, sein Vater könnte jeden einzelnen Ton davon hören. Gedanken, die Liam sich aus dem Kopf schlagen musste, und die sich dennoch wie ein injiziertes Virus in ihm festsetzten: Er wollte sie wiedersehen. Er wollte sie wiedersehen, so schnell wie möglich.

 

 

KATHERINE

 

»Du siehst nachdenklich aus«, bemerkte Dad, der mir eine heiße Tasse Tee reichte und sich zu mir auf die Veranda­stufe unserer Ranch setzte.

Dankbar umschlang ich die Tasse mit beiden Händen und pustete die dampfenden Wölkchen weg, die in kringelnden Formen nach oben stiegen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig.

Ich nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit breitete sich aus und wärmte mich von innen.

»Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst. Oder, Katherine?«

»Das sagst du zwar immer wieder, aber bei dir kommt es stark auf das Thema an«, antwortete ich, ohne ihn dabei anzusehen.

Dad nahm schweigend einen Schluck aus seiner Tasse.

»Wie kann es sein, dass Mom die Farben sieht? Du hast mir gesagt, dass andere Menschen es nicht sehen können. Aber warum kann sie es dann?«

Dad verschluckte sich, wodurch ich ihm auf den Rücken klopfte. »Alles okay?«

»Alles gut.« Er klopfte sich mit der Faust gegen die Brust und räusperte sich. »Katherine, ehrlich gesagt kann ich dir diese Frage nicht wirklich beantworten. Aber ich denke, sie ist über die Jahre affin geworden.«

»Hm.«

»Mach dir keine Sorgen, niemand außer uns kann die Farben sehen.«

»Aber das ist es ja, ich mache mir Sorgen und ich bin mir da nicht wirklich sicher. Dad, was ist, wenn du dich irrst?«

»Ich irre mich nicht. Okay, deine Mom hat gesagt, dass sie gewisse Farbpartikel in unseren Augen sieht. Na und? Das spielt keine Rolle für sie. Sie akzeptiert uns so, wie wir sind. Außerdem kann das, was sie sieht, nicht das volle Ausmaß sein, denn dann hätte ihr auch auf­fallen müssen, dass die Farben sich nicht nur ab und zu, sondern ständig bewegen. Du weißt doch, sie verharren selten bei einer Farbe.«

»Die Farben fließen eher ineinander über, ich weiß. Aber warum wollte sie nie mehr darüber erfahren?«

»Keine Ahnung. Ich habe nie nachgefragt. Ich war froh, dass sie keine Fragen gestellt hat.«

Ich schnaubte. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen.«

»Katherine, glaube mir. Du musst keine Angst haben.«

»Aber, Dad, warum tragen wir diese Farben überhaupt in uns? Ich meine, wie kann es sein, dass wir das Flüstern der Sonne hören können? Das ist alles andere als normal und genau das macht mir Angst. Denkst du nicht, ich verdiene die Wahrheit? Darüber, was diese Gabe bedeutet, wer ich bin?«

»Ich möchte dich nur beschützen.«

»Wovor?«

Dad seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«

Ich stellte die Tasse neben mir auf die Stufe und verschränkte die Arme. »Ich habe Zeit. Ich habe keine Hausaufgaben auf, Caroline ist anderweitig beschäftigt und Abendessen gibt’s heute laut Mom erst später.«

»Na gut, ich werde es dir erzählen.«

Kurz hielt ich die Luft an. Endlich! Gespannt rückte ich näher an ihn heran.

Dad bedachte mich mit einem Blick, den ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Sofort lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

»Daniel, Katherine, ich dachte mir schon, dass ich euch hier draußen vorfinden würde.«

Ich zuckte zusammen und brauchte einen ellen­langen Moment, ehe ich auf Jacob reagieren konnte. Auch mein Vater wirkte durch Jacobs Anwesenheit kurz überrascht. Sofort stand er auf und gab Jacob einen freundschaftlichen Handschlag.

»Ich habe dich fast vergessen. Entschuldige.«

»Ja ja, schon gut. Es beruhigt mich, auf meine alten Tage hin zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der seine grauen Zellen anstrengen muss.«

»Trotzdem bist und bleibst du der Ältere von uns beiden.«

Jacob zuckte mit den Schultern. »Ich bin auch der Weisere.«

»Dad«, wandte ich mich dazwischen und stand ebenfalls auf. Fragend sah ich ihn an.

»Wir reden ein anderes Mal«, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

»Aber …«

»Später, Katherine!«

Geschlagen setzte ich mich zurück auf die Verandastufe.

Dad ging an mir vorbei, direkt ins Haus. Jacob wollte ihm gerade folgen, blieb dann aber vor mir stehen.

»Entschuldige, Katherine, ich wollte euch nicht unterbrechen.«

»Schon okay.«

»Ich brauche ihn auch nur kurz. Danach wirst du deinen alten Herrn gleich wieder haben.«

Jacob wollte gerade gehen, dann aber drehte er sich nochmals zu mir. »Bist du mit der Kommode zu­­frieden?«

Ich nickte. »Caroline hat sie in die Scheune gestellt. Ich konnte noch nicht daran arbeiten, da ich fast die Vorlesung verpasst hätte. Ich werde sie mir morgen ansehen. Nochmals danke, auch an Ihren Mitarbeiter. Es war lieb, dass er uns geholfen hat.«

Jacob legte den Kopf schief. »Wer hat euch denn geholfen?«

»Er hatte schwarze Haare, helle Augen. Sah nett aus.«

»Nett?« Jacob hob die Augenbrauen.

Ich schmunzelte. »Ja, nett.«

»Dann werde ich Liam deinen Dank gerne aus­richten.«

»Liam?« Ich lächelte.

»Ja, so heißt der nette Mann. Er wird mir eine Zeitlang zur Hand gehen. Der Junge scheint harte Arbeit nicht zu scheuen, genau das, was ich brauche. Du bist jederzeit willkommen, falls du dich nochmals persönlich bedanken möchtest.«

Verlegen verdrehte ich die Augen. »Nicht nötig.«

Jacob zwinkerte mir zu. »Es war mir wieder eine Freude, Geschäfte mit dir zu machen.«

»Bestimmt nicht das letzte Mal.«

Jacob lachte und verschwand im Haus. Lächelnd griff ich nach der Tasse und starrte auf die dunkle Brühe. Sein Name war also Liam. Ein schöner Name.

 

Beim Abendessen griff ich nach einem frisch ge­­backenen Brötchen und teilte es entzwei. Während ich die eine Hälfte neben den Teller legte, tunkte ich die andere in die Sauce.

»Was wollte Jacob?«, fragte Mom, die sich

ein Glas Wein einschenkte.

»Es ging um seine Versicherung, nichts Besonderes.«

»Er hätte zum Essen bleiben können.«

»Du kennst doch Jacob. Immer auf dem Sprung. Er hatte noch eine andere Verabredung.«

Ich legte das Besteck auf den Teller und fixierte Dad, bis er meinen Blick auffing. Ich brauchte keine Worte, er verstand sofort, was ich sagen wollte.

»Ich habe dich nicht vergessen, okay? In den ­kommenden Tagen wird es etwas ruhiger bei mir, dann können wir reden.«

»Na gut.« Besser als nichts.

»Habe ich was verpasst?« Mom sah abwechselnd von mir zu Dad, als verfolgte sie ein Tennisspiel.

»Nein, natürlich nicht. Wir wollen uns nur ein wenig über das Flüstern unterhalten. Katherine hat ein paar Fragen.«

Mom nickte und nahm einen Schluck Wein. Ich konnte nicht verstehen, warum sie kein bisschen neugierig war, noch nicht einmal jetzt. Aber vielleicht wollte sie sich auf diese Weise einfach nur ein Stückchen Normalität bewahren. Mir aber reichte das, was ich wusste, nicht aus. Ich wollte alles wissen. Ich musste alles wissen.

 

Kapitel 3

KATHERINE

 

Am nächsten Tag nutzte ich die Zeit nach den Vor­lesungen produktiv und beschäftigte mich den gesamten Nachmittag über mit der alten Kommode. Zu meinem Bedauern erkannte ich, dass die Schicht unter der abgetragenen Oberfläche stark angegriffen war. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich sie überhaupt noch retten konnte, wollte ich es versuchen. Klar, die ­Restauration war nur ein Hobby, doch ich besaß inzwischen Kenntnisse, die sich sehen lassen konnten. Daher griff ich zum Schleifpapier und fuhr über die Oberfläche. Mehrmals wiederholte ich diesen Vorgang. Ich wischte mir mit dem Ärmel meines Marvel Hoodies über die feuchte Stirn und hinterließ einige Schweißperlen auf dem Gesicht von Captain America. Ich erhob mich aus der mittlerweile unbequemen Position.

»Kann den ganzen Tag so weitergehen«, zitierte ich sein berühmtes Motto. Automatisch spürte ich eine deutliche Zuversicht in mir aufsteigen. »Danke, Steve, immer wieder schön, dich an meiner Seite zu wissen«, witzelte ich salutierend. Der süße Held Steve Rogers alias Captain America hatte es mir schon immer angetan.

Ich atmete tief durch und starrte stirnrunzelnd auf das störrische Ding vor mir, das sich all meinen Ver­suchen, es zu retten, widersetzen wollte. Ich neigte den Kopf. »Wir zwei werden noch einen Draht zueinander finden. So stur kannst du doch nicht sein, oder?«

Natürlich wartete ich vergeblich auf eine Antwort.

Überall um mich herum hingen Werkzeuge an den Wänden, die Dad gehörten. Neben seinem Job, bei dem er sich mit langweiligen Versicherungs­abschlüssen herumschlug, kümmerte er sich um die Arbeit auf der Ranch. Deshalb beschränkte sich mein Werkzeug nur auf die rechte Wandhälfte der Scheune. Doch mein Equipment wuchs mit meiner stetigen Erfahrung. Mein Blick blieb an einem Foto hängen, das schräg über einer Sammlung von aneinandergereihten Drehschlüsseln hing. Mein Grandpa lächelte mir darauf entgegen. Von ihm hatten wir die Ranch übernommen, nachdem er vor fünf Jahren gestorben war.

Als ich ein Geräusch hörte, sah ich aus dem ge­­öffneten Scheunentor, das mir eine gute Sicht direkt auf unser Haupthaus freigab.

Ich streifte mir die Arbeitshandschuhe ab und legte sie zusammen mit dem Schleifpapier auf die Kommode. Wieder hörte ich ein Geräusch. Ich ging hinaus. Als ich das schwere Scheunentor zuziehen wollte, klemmte es wie so oft, doch ich schaffte es.

»Hallo, Katherine.«

Ich schrie und fuhr herum. Die Stimme konnte ich zunächst nicht zuordnen, doch als ich sah, wer da vor mir stand, stand mir der Mund offen und ich sah in diese unglaublich hellen Augen, an die ich mich nur zu gut erinnerte. Mehr als ein »Hallo« brachte ich nicht heraus.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf seine Wangengrübchen.

»Entschuldige. Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.« Sein Blick blieb an meinem Marvel Hoodie hängen.

Warum musste ich den Kapuzenpulli auch ausgerechnet heute tragen?

»Liam, richtig?«

Er nickte.

»Und was suchst du hier?«, fragte ich ihn, um von meiner heutigen Kleiderwahl abzulenken.

»Ich wollte dir das hier zurückgeben. Jacob meinte, es sei deine«, antwortete er und hielt mir eine Sonnen­brille hin. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und nahm ihm die Sonnengläser ab. »Sie muss mir bei dem Durcheinander aus dem Rucksack gerutscht sein. Danke dir.«

»Kein Problem. Jacob hat mich gebeten, sie dir vorbeizubringen. Von daher, keine große Sache.«

»Oh, okay.«

Er lachte auf. Es war ein schönes Lachen.

»Bilde ich mir das vielleicht ein, oder bist du jetzt etwa enttäuscht?«

»Warum sollte ich?« Ich steckte die Sonnenbrille in die Seitentasche meiner Jeans und wich seinem Blick aus.

Als ich bemerkte, dass er mich musterte, zupfte ich an meinem Pony herum. Ihm musste meine Unsicherheit aufgefallen sein, denn kurz darauf senkte auch er seinen Blick, ehe er seine Hände mit einer lässigen Geste in die Hosentasche seiner Bluejeans steckte.

»Wann musst du zurück?«

»Für heute bin ich durch«, antwortete er. Als er mich wieder ansah, lockten mich seine hell­schimmernden Augen.

Ich fuhr mir unbeholfen durch das Haar. Mein Herz geriet in ein nervöses Stolpern. Etwas an ihm zwang mich wegzusehen. Ein leichter Schmerz durchfuhr mich. Woher kam das plötzlich? Als ich bemerkte, dass Liam näher an mich herangetreten war, wich ich einen Schritt zurück.

»Pass auf!«

Es war zu spät, denn ich stolperte über meine ­eigenen Füße und landete auf meinem Allerwertesten.

Das schien wohl langsam zur Gewohnheit zu werden.

»Du solltest wirklich mehr auf dich Acht geben«, stellte er kopfschüttelnd fest, doch sein leichtes Grinsen verriet mir, dass ihn meine Tollpatschigkeit amüsierte.

Wie peinlich!

Liam machte einen weiteren Schritt auf mich zu und half mir wieder auf die Beine. Vorsichtig legte er seine Hände an meine Arme und streichelte kurz ­darüber. Die Berührung reichte aus, um eine elektrisierende Spur zu hinterlassen, die man bestimmt sehen konnte.

Der Schimmer in Liams silbernen Augen stach beinahe heraus. Bildete ich mir das ein, oder flammte eine Unruhe in seinen Augen auf, die gerade zunahm?

Mein Puls beschleunigte sich.

Plötzlich hörte ich sanfte Gitarrenklänge aus der Scheune, die sich mit dem Klimpern eines Klaviers vermischten.

»Ich habe vergessen das Radio auszumachen.«

Liam zog seine Hände zurück. Sofort spürte ich die Kälte, dort, wo eben noch seine Hände gelegen waren.

Er öffnete mit einem Ruck das Scheunentor, das ein lautes Knarren von sich gab, als wollte es ein Veto einlegen.

Als die raue Stimme von Amy Wadge aus dem Radio ertönte, hielt ich die Luft an. Ihr Lied brannte sich direkt in mein Herz. Noch nie zuvor hatte mich dieser Song so sehr berührt wie gerade in diesem Moment. Liam lehnte sich leicht zu mir und flüsterte mir ins Ohr. »Ein schönes Lied.«

»Faith‘s Song ist eins meiner Lieblingslieder«, entgegnete ich und betrat die Scheune. Liam folgte mir.

»Vertrauen«, wisperte er, während er mich musterte und dabei den Kopf leicht schief legte.

Ich nickte.

Die Melancholie des Songs hatte sich auf seine Gesichtszüge übertragen. Wo er wohl mit seinen Gedanken war?

Ich drückte auf Off und drehte mich Liam zu. Als hätte ich gerade ein Déjà-vu, strauchelte er plötzlich rücklings. So als hätte ich ihn von mir weggeschupst wie schon bei unserer ersten Begegnung. Schnell verließ er die Scheune und ich folgte ihm nach draußen.

»Liam, ist alles okay?«

»Ja, natürlich.«

»Bist du sicher, du hast gerade ausgesehen, als wäre dir ein Geist begegnet.«

»Nichts ist, wie es scheint, Katherine.«

»Kann es sein, dass du gerne in Rätseln sprichst? Dann musst du wissen, dass ich darin eine absolute Niete bin. Ehrlich, ich bin lausig, wenn es ums Rätsel­raten geht. Also, kannst du nicht einfach sagen, was du meinst?«

Er seufzte. »Pass einfach auf dich auf, okay?«

»Ja, gut.«

Mir wurde klar, dass Liam etwas zu verbergen schien oder ein Geheimnis hatte, aber was für eins? Der Kerl verwirrte mich. Was versuchte er mir zu sagen? Zu gerne wüsste ich es. Aber statt ihn danach zu fragen, starrte ich ihm fassungslos hinterher, als er mich zum wiederholten Mal einfach stehenließ.

 

Um meine Gedanken zu ordnen, hatte ich mich in mein Zimmer zurückgezogen. Leider half es nicht, denn jetzt starrte ich dafür Löcher in die Decke, während im Hinter­grund leise meine Lieblingsplaylist über das Smartphone lief. Ich liebte Musik. Durch sie wurden die Momente bunter. Außerdem half sie mir bei der mühseligen Entschlüsselung meiner täglichen Dosis an Grübeleien. Ich dachte gerne nach, es beruhigte mich und mit Musik war einfach alles besser. Als erneut Faith‘s Song erklang, stöhnte ich. Ich blies die Backen auf und verlagerte meine Position in den Schneidersitz, woraufhin mir die Sonnenbrille in den Hintern stach. Ich legte sie weg und zog mir den Marvel-Hoodie über den Kopf, den ich daraufhin in die Ecke warf. Dann zupfte ich an meinem Shirt herum, das ich unter dem Hoodie trug.

Dieser Liam war ein seltsamer Kerl. Woher er wohl kam? Die Helligkeit in seinen Augen war heute besonders anziehend gewesen und ich hatte mich wie eine Motte gefühlt.

Ich schüttelte den Kopf. Jetzt verglich ich mich schon mit lichtsüchtigen Käfern. Wo würde das enden?

Meine Synapsen arbeiteten auf Hochtouren. Wahrscheinlich würden gleich feine Dampfschwaden aus meinen Ohren rauchen wie aus einem Schornstein. Ich rieb mir über die pochenden Schläfen, in dem verzweifelten Versuch, die sich ankündigenden Kopfschmerzen wegzumassieren. Diesmal war sein Blick beinahe stechend. War das schon bei der ersten Begegnung so?

»Nichts ist, wie es scheint«, wiederholte ich seine Worte.

Ich fischte nach den Hausschuhen und trat an die große Fensterfront. Dann schob ich die weißen Vorhänge zur Seite. Mein verzerrtes Spiegelbild starrte mir entgegen. Meine Augen funkelten rötlich. Blutunterlaufen. Das war die Farbe, die ich am wenigsten an mir mochte. Allerdings bemerkte ich, dass meine Augen heute wesentlich intensiver strahlten als üblich. Das Lichterspiel, wie es Mom nannte, schien auf Liam zu reagieren. Immerhin war es noch nie zuvor so lebendig gewesen. Der rote Schimmer in meiner Iris lief in einen Gelbton über und kam Tigeraugen gleich. Die Farbe verlieh mir eine gewisse Wildheit. Ein angenehmer Kontrast zu meinen haselnussbraunen Haaren.

Ich zog die Vorhänge wieder zu.

»Ich muss den Kopf frei kriegen.« Ich ging zum Bett, griff nach der Sonnenbrille und verließ das Zimmer. Draußen angekommen, setzte ich mir die Sonnenbrille auf die Nase.

 

Der leichte Juni-Wind streichelte mein Gesicht, als ich den Salt River etwa vierzig Minuten später erreichte.

Abrupt blieb ich stehen. »Liam? Hallo.«

Als er sich umdrehte, sah ich Überraschung in seinen Augen aufblitzen.

Ich ging auf ihn zu. »Ich habe dich hier noch nie gesehen. Kommst du oft her?«

Er grinste mich an und wischte sich über den Nacken. »Eigentlich nicht. Reiner Zufall. Du schon?«

»Das hier ist einer meiner Lieblingsplätze. Ich mag die Atmosphäre hier«, antwortete ich lächelnd und ließ meinen Blick über den schwarzen Fluss schweifen.

»Ah, und du hattest keine Lust mehr zu arbeiten, deshalb bist du hergekommen?«

Ich nickte.

»Dein schicker Hoodie, war das deine Arbeitskleidung?«

Entgeistert sah ich ihn an.

»Stand dir gut«, erklärte er schmunzelnd.

»Danke«, stotterte ich verlegen.

»Du magst also Heldengeschichten«, stellte er fest und richtete sein Augenmerk auf den Fluss.

»Ja, wer mag solche Geschichten nicht?«

»Dann wartest du nicht auf den Prinzen in silberner Rüstung, sondern auf den Helden, der dich rettet?«

»Weder noch. Ich bin eigentlich eher …«

»Unromantisch?«, fiel er mir ins Wort.

Ich kaute auf der Unterlippe. »Ich wollte sagen Realistin. Aber wenn ich mich zwischen einem Prinzen und dem Helden entscheiden müsste, würde ich den zweiten wählen.«

»Warum nicht den Prinz?«

Ich zuckte mich den Achseln. »Mir gefällt die Vorstellung von einem Helden besser. Das Leben wäre deutlich spannender.«

»Und gefährlicher«, ergänzte er.

»Ja, das wäre dann wohl der Preis, den ich zahlen müsste. Kennst du die Marvel Filme?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht ändere ich das.«

»Unbedingt, tu das«, pflichtete ich ihm bei und sah zum Fluss. »Wusstest du, dass man hier Wildpferde beobachten kann? Die Tiere sind ein Traum, ich liebe es, ihnen zuzusehen.«

»Wirklich?«

Ich nickte.

»Was genau magst du an ihnen?«

»Na ja, da gibt es viel. Für mich sind sie der Inbegriff von Freiheit und Stärke.«

»Du klingst beinahe so, als beneidest du sie darum.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht ein ­bisschen.«

»Ich habe noch nie Wildpferde gesehen. Das wäre mal was anderes.«

Verblüfft sah ich ihn an. »Ist das dein Ernst?«

»Ja, leider. Ich bin nicht von hier. Aber vielleicht werde ich in den nächsten Tagen ja mal auf eins stoßen. Das wäre schön.« Er schenkte mir ein Lächeln, das seine Grübchen betonten. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Schnell sah ich weg. Bestimmt hatte er es gemerkt. Doch als ich ihm einen scheuen Seitenblick zuwarf, betrachtete er weiterhin die Gegend. Wahrscheinlich hielt er Ausschau nach den Pferden. Seine Chancen standen jedenfalls gut, schließlich tauchten sie besonders gerne an ruhigen Tagen wie heute auf. Wobei, wenn ich Liam so betrachtete, war der Tag alles andere als ruhig. Zumindest was mich betraf. Denn ein aufregendes Kribbeln breitete sich in mir aus. »Warum beneidest du sie gerade um Freiheit und Stärke?« Liams Augen ruhten nun auf mir.

Ich überlegte. »Hm, weil sich ein Teil von mir danach sehnt, komplett frei zu sein. Ich stelle mir das schön vor. Du etwa nicht?«

»Ja, klar. Aber bist du denn nicht frei, in dem, was du tust?«

»Doch, in gewisser Weise schon, aber ich bin auch an die Grenzen gebunden. Wir besitzen zwar einen freien Willen, doch es gibt Regeln, an die wir uns alle halten müssen. Gesetze, die sagen, was wir tun und lassen sollen. Daher sind wir nur begrenzt frei.«

»Das bedeutet, du würdest gerne Regeln brechen?«

»Nein, so meinte ich das nicht. Regeln schieben uns einen Riegel vor. Die Frage ist, ob wir mit der Masse gehen, oder uns darüber hinwegsetzen, um unsere eigenen Regeln zu schreiben. Ich spreche eher von Selbstverwirklichung. Nur wenige besitzen genug Mut und Stärke, ihre eigenen Wege zu gehen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich nach der High-School für ein Astronomie-Studium entschieden habe. Durch das Studium komme ich meiner Vorstellung von Selbstverwirklichung am nächsten, denn wenn es um die Weite des Universums geht, fühle ich mich tatsächlich so frei wie sonst nie. Klingt das verrückt?«

Er schüttelte den Kopf. »Absolut nicht. Das klingt fast schon philosophisch.«

Ich musste lachen. »Von Philosophie verstehe ich leider rein gar nichts. Aber ich nehme das mal als ­Kompliment an.«

»Das solltest du auch.« Sein Blick war durchdringend.

Ich räusperte mich. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, daher zupfte ich ständig an meinen Fingern herum.

»Also, du hast gesagt, du bist nie einem Wildpferd begegnet. Darf ich fragen, woher du kommst?«

Liam zögerte. Wieder wischte er sich über den Nacken und wirkte dabei verlegen. Wie süß.

»Hast du es etwa vergessen?«, scherzte ich.

Liam räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Es ist ein kleiner Ort, den kaum jemand kennt.«

»Wo liegt dieser geheimnisvolle Ort?«

Liam warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Er wollte gerade etwas sagen, als uns ein Wiehern unterbrach und unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.

Das Pferd, das im Bett des knietiefen Flusses stand, starrte uns an.

»Wow, ich habe es nicht mal kommen hören«, vernahm ich Liams leise Stimme neben mir.

»Ja, es ist gut darin sich anzuschleichen.«

Liam deutete auf das Tier. »Du kennst es?«

»Ja, das ist Bonito«, flüsterte ich ihm stolz zu.

Ich würde diesen Hengst überall erkennen.

Ich signalisierte Liam, keine schnellen Bewegungen zu machen. Ich wollte nicht, dass Bonito gleich wieder verschwand.

»Warum bist du dir so sicher, dass er es ist?«, wollte Liam wissen, dessen Blick weiter auf dem Wildpferd ruhte.

»Weil keins der anderen Wildpferde so zutraulich ist wie dieses hier.«

Bonito kam langsam näher.

»Guter Junge«, lobte ich ihn. Dann wandte ich mich an Liam. »Siehst du, er kennt mich.«

»Er ist wunderschön.«

Ich nickte. Obwohl Bonito nicht mein Pferd war, fasste ich mir dennoch vor Stolz an die Brust und beobachtete den Hengst. Sein Hinterrücken war fast komplett weiß gescheckt, nur einige Stellen waren dagegen schwarz gesprenkelt. Bonito schüttelte seine schwarze Mähne, ehe er sich umdrehte und flussabwärts galoppierte.

»Das war kurz, aber sehr beeindruckend«, staunte Liam.

»Normalerweise kannst du die Tiere länger beob­achten. Besonders Bonito. Aber du hast Recht, auch für mich ist es jedes Mal eindrucksvoll«, schwärmte ich.

Liam sah sich wieder um und wirkte dabei beinahe wie ein Kind, das zum ersten Mal die Natur erkunden durfte. Dann drehte er sich mir zu.

»Wollen wir ein Stück gehen?«

Ich nickte. »Gerne.«

Während wir einige Minuten, die mir wie Stunden erschienen, schweigend dem Salzfluss entlang­spazierten, berührten sich hin und wieder unsere Hand­rücken. Nur leicht, doch die Berührung reichte aus, um mir eine Gänsehaut zu verschaffen. Ich blieb abrupt stehen. Liam wandte sich mir zu. In seinem Gesicht erschien ein großes Fragezeichen. Genau in diesem Moment reagierte mein gesamter Körper auf ihn. Mein Mund wurde trocken und meine Hände zitterten. Ich wollte nicht, dass er es bemerkte, daher versteckte ich sie unauffällig hinter meinem Rücken.

»Mache ich dich etwa nervös?«

Verdammt, er hatte es doch bemerkt.

Ich drehte mein Gesicht weg. »Nein«, log ich.

Kurzes Schweigen trat zwischen uns. Ich hörte, wie Liam die Luft tief einsog, bevor seine Stimme wie ein Dolch die sich aufladende Atmosphäre zwischen uns zerschnitt.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«

»Hast du nicht«, beteuerte ich. Doch ich schaffte es nicht, ihn dabei anzusehen. Plötzlich spürte ich Liams Hände auf meinen Schultern. »Bist du dir sicher? Du wirkst nämlich sehr aufgewühlt.«

Das war mein Stichwort. Schnell schaute ich zu ihm. »Nein, ich bin nicht nervös. Auch nicht aufgewühlt. Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber das liegt nicht an dir. Ich meine … okay doch … irgendwie schon.«

Während ich Liam eine wild gestikulierende Show­einlage darbot, beobachtete er mich amüsiert. Na, wunderbar …

»Also, was denn nun?«

»Weißt du, ich kann das nicht so gut«, stöhnte ich.

Liam zog seine Hände zurück und vergrößerte die Distanz zwischen uns. »Was meinst du?«

Ich wandte mich ab und ging einfach weiter. Doch Liam holte mich schnell ein und lief schweigend neben mir her.

»Also?« Bestimmt würde er nicht lockerlassen. Da musste ich wohl oder übel durch.

»Ich spreche von solchen Dingen, wie Leute kennen­zulernen oder neue Freundschaften zu schließen. Weißt du, ehrlich gesagt bin ich darin nicht sehr gut. Ich bin wohl eher introvertiert drauf«, gestand ich mit leiser Stimme und biss mir dann auf die Unterlippe.

»Na, und? Ich finde, du machst dich ganz gut, aber ich verstehe, was du meinst.«

»Ach, wirklich?«, fragte ich skeptisch.

»Natürlich. Besonders am Anfang, wenn man auf neue Leute trifft, ist es schwierig, abzuschätzen, wie sie reagieren werden. Da man sich ungern ver­stellen möchte, setzt man sich selbst unter Druck. Das geschieht manchmal auch unbewusst. Man verbiegt sich, anstelle sich so zu offenbaren, wie man eben ist. Glaub mir, das passiert selbst den Besten.«

Ich dachte an unsere erste Begegnung. Er war sehr auf Distanz bedacht und wenn ich jetzt so darüber nachdachte, erkannte ich, dass ich rein gar nichts über ihn wusste. Da ich vermutete, dass auch er etwas verbarg, war ich jedoch kaum überrascht. Waren wir uns ähnlich? Jedenfalls fühlte ich mich von ihm verstanden. Liam weckte die Neugier in mir.

»Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Kommt auf die Frage an.« Er grinste.

»Hast du dich deinen Freunden gegenüber jemals verstellt oder einem von ihnen etwas vorgemacht?«

Liam blieb stehen und schaute mich einfach nur an.

»Ja.«