Die Tür ins Unmögliche - Oskar Baum - E-Book

Die Tür ins Unmögliche E-Book

Oskar Baum

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Beschreibung

"Warum torkelt die Menschheit so hilflos weiter ins Leere? Alle verbluten an der Angst davor, daß es ärger werden könnte, wenn man's mal mit dem nächsten geraden Weg der unerschrockenen Wahrheit versuchen wollte." Der ledige Oberbeamte Krastnik gesteht einen Mord, den er nicht begangen hat. Er kommt ins Gefängnis. Als seine Schuldlosigkeit festgestellt wird, weigert er sich, wieder in Freiheit zu leben. Das spricht sich in der Öffentlichkeit herum, die Zeitungen greifen den Fall auf. Baum propagiert hier einen messianischen Anarchismus, sein Protagonist Krastnik nimmt die Schuld aller auf sich und hofft auf die Erlösung aller Menschen. Das begeistert die Massen, aber die Politik nimmt sich seinen Erlösungsideen an und verfälscht sie für eigene Zwecke. Oskar Baum (*1883 in Pilsen) erblindete als elfjähriger Junge. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Organist und Klavierlehrer. 1908 debütierte er mit seinem Roman »Uferdasein«, die Blindheit der Sehenden ist vielfach Thema seiner Werke. Mit Max Brod und Franz Kafka (der "Die Tür ins Unmögliche" immer wieder las) war er befreundet. Freier Schriftsteller im Prager Kreis. Er schrieb für Die Weltbühne (von Siegfried Jacobsohn), Die Aktion (von Franz Pfemfert) und Der Sturm (von Herwarth Walden). Lebte bis zu seinem Tod 1941 in Prag. Oskar Baum hat dem Leser Die Tür ins Unmögliche geöffnet und jetzt kann dieser visionäre Roman endlich auch als E-Book gelesen werden.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Die Tür ins Unmögliche

1

2

3

4

5

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag:

 

Oskar Baum

 

Die Tür ins Unmögliche

 

Roman

 

 

Reese Verlag

 

 

 

 

 

Die Tür ins Unmögliche

 

1

 

Krastik wählte einen neuen hechtgrauen Anzug, trat vor den Spiegel und modellierte zwischen Daumen und Zeigefinger die einen Schatten dunklere Krawatte. Im Café wartete seine Gesellschaft: der Varietébesitzer, der Kunsthändler und diesmal auch ein ehemaliger Freund, ein junger Fabrikant aus der Provinz, der hier zum Einkauf war und wieder mal eine Großstadtnacht durchbummeln wollte.

Er drehte eben, schon zur Treppe gewandt, den Schlüssel, als im Dämmer des Korridors das Mädchen vor ihm aus dem Steinboden wuchs. Er sah nur die Augen und die Lippenbewegungen; der Aufzug fuhr gerade vorbei ins obere Stockwerk.

Keine Überraschung oder Freude packte ihn, als sei es nicht das beglückende Gesicht aus dem Fieber tausend heimlicher Wünsche. Sie kam zu ihm! Aber eben anders, ganz anders!

Ein wenig mißmutig, - ja, ja, dessen erinnerte er sich nachher genau, drehte er den Schlüssel zurück und trat wieder ins Zimmer, mit dem behandschuhten Finger die Mauer hin nach dem Ausschalter tappend.

Sie zwängte sich sonderbar eilig, fast grob, hinter ihm hinein und schloß - ein wenig eigenmächtig, wie ihm schien - sogleich die Tür.

Atemlos erzählte sie leise, wie etwas, das nur sie beide anging: das Kind sei gestorben. Ihr Gesicht war blutleer, fast grau, nur auf den Backenknochen je ein scharfrandiger runder, roter Fleck und große, rote Augen mit einem schrecklichen Ausdruck.

„Was?“

„Schon in der Nacht.“

„Wie, gestern?“ Es tat ihm nachher oft leid, daß er so lange nicht begriffen hatte.

„Ja, ja, in der Nacht!“ Und sie behielt die Klinke in der Hand, als wollte sie gleich wieder gehen oder verhüten, daß jemand hereinkäme.

Er beherrschte im Augenblick die große Freude und das lähmende Entsetzen, das gleich darauf folgte, wollte einiges sagen, etwa: Armer Wurm! Gott, drüben hat er's besser! - Aber sie saugte so angstvoll an seinen Mienen, daß er kein Wort herausbrachte.

Sie erzählte Einzelheiten, nicht sehr, aber doch ein wenig anders, als in den Tagen darauf. Ihre Hand, die feuchte, klammerte sich zitternd um sein Handgelenk. Ihre Stirn, ihre Wange, ihr Hals waren feucht. Er roch ihres Zimmers Wäsche - Gas, Holzkohlenluft. Aber der leise, bittere Atem aus ihrem Mund durchrann ihn kalt, durchschauerte ihn bis in die tiefste Seele.

„Sie sollten zufrieden sein“, hörte er sich unsicher sagen, indem er mit letzter Willenskraft, sein Gesicht von ihren Blicken loszubinden, ein wenig umherging.

„Schon in der Nacht“, wiederholte sie und sah mit demselben Blick wie bisher auf ihn, auf das Stück Wandmalerei, das er verstellt hatte.

Und nun wandte sie sich ohne weiteren Anlaß, senkte den Kopf tief zur Erde und wollte wieder gehen.

Er sprang voll Schrecken zur Tür. So wollte sie durchs Haus hinunter, auf die Gasse hinaus?

Er führte sie zu einem Sessel mit plumpem Scherz über ihre Angst vor dem Junggesellenzimmer, goß ihr Kognak ein, wusch ihr mit Kölnischwasser die Schläfen, blieb dann neben ihr stehen und hieß sie ein wenig still sein, sich zurücklegen und nur atmen, langsam, tief, gleichmäßig! Er sprach, indem er über den Tisch hinsah, auf dem noch das Geschirr vom Abendessen stand, von dem Einfluß des richtigen Atmens, der vollkommenen Körperruhe auf das Gemüt, die Seele, die Auffassung von allen Dingen.

Da sah er sie an. Sie hörte gar nicht zu. Lautlose Tränen überflossen ihr in vergeblichem Ankämpfen zornig verzerrtes Gesicht.

Als er erschrocken mitten im Wort abbrach, lachte sie stechend auf, wandte sich und war fort. Er konnte kaum die Hand heben, so schnell.

Er sah auf das Fläschchen Kölnischwasser in seiner Linken und stellte es wieder in den Schrank.

Er hatte keine Lust mehr, fortzugehen, aber - wohl, weil er schon in Handschuhen und Überrock dastand, ging er dennoch.

An der Ecke sah er zu den Ladenfenstern hinauf; sie waren dunkel. Er griff nach der Türklinke: nein, sie war nicht nach Hause gegangen. Ja, aber wohin konnte sie gegangen sein? Zu anderen Bekannten? - Warum fürchtete er das so sehr?

Er ging am „Café Prinz“ vorbei. War froh, als es hinter ihm lag.

Ziellos schritt er durch die hallenden, nachtstillen Straßen.

Er kam immer und immer wieder an Polizeiwachstuben vorüber. Wie viele es in so einer Stadt gab! Brücken, Gekreisch und Geklimper aus Weinstuben, an einsamen Posten vorüber, an lautem Gezänk zweier Dirnen an einer Ecke, rote Laternchen auf gerissener Straße voll Gasgeruch und Staub, wo in den Gruben tief unsichtbar Arbeiter stumm hackten.

Er schellte an einer Apotheke und kaufte Bromate. Vielleicht würde sie ihn auf dem Rückweg zu sich einlassen, vielleicht morgen. - Lange stand er vor einem alten, verfallenen Haus, an dem eigentlich nichts auffiel, als daß ein unordentlich gekleidetes Weib eben darin verschwunden war. Er sah hinauf. Es beleuchtete sich ein Fenster, blieb lange still und gleichmäßig beleuchtet. Das beruhigte ihn schließlich wieder, und er ging nach Hause. Er versuchte im Vorbeigehen gar nicht erst bei ihr anzuklopfen.

Am Morgen aber sah sie ihn, als er eintrat, kalt und fragend an, so daß er nur von Kragen und Manschetten sprach, die er hier zu holen hatte.

Von seiner Hausbesorgerin erfragte er, wann das Begräbnis des Kindes war.

 

 

Deutlich hatte er in den Tagen darauf, immer deutlicher, das Gefühl des Versinkens in rettungslose Tiefe, gleichmütig, mit selbstgebundenen Händen. Besonders wenn er das kleine, wie zusammengedrückte Gesicht der Detektivin sah, verdeckte Pfiffigkeit in den ruhelosen Augen, wenn sie geschwätzig unter den Leuten hier in der Gasse umherquirlte, beim Kaufmann stand und bei der Höklerin, Mittelpunkt bei allen Zusammenkünften in den Haustoren, wenn sie die ahnungslose Helrit umschlich, schon recht vertraut mit ihr.

Es verfolgte ihn, daß er in wachen und halbwachen Nächten wie fremd in seinem Körper lag und schlafwandelnd bei Tage wie zugedeckt, tief in sich eingeschlossen, seine Beschäftigung abhaspelte. Qualvolles Gefesseltsein von einer nicht verständlichen, unbekämpfbaren Art. Ein enges, dichtes, eisernes Netz schloß sich schneller und schneller um ihn, drückte die Luft vor seinem Mund zusammen. - Befreiung! Es schrie, es stieß und trieb in ihm: Befreiung! Ein offener Kampf, ein wildes Auf und Ab von Ja und Nein.

Aber wie kurz und dünn, wie spielzeughaft leicht und schwankend ist die Brücke vom Willen zu den Tatsachen! Hätte er vielleicht, wenn er an dem Abend länger in der Fabrik aufgehalten worden und auch in den folgenden Tagen der Detektivin zufällig nirgends mehr begegnet wäre, gar nichts getan? Hätte er das liebe Wesen untergehen lassen, er, der Einzige, der durch ihr Unglück sah wie durch ein klares Wasser auf den greifbar nahen reinlichen Sand eines Quellgrundes? Hätte er ruhig an dem Tage, da sie verhaftet wurde, Fakturen nachrechnen, seinen Namen unter Briefe setzen können? Und an dem Tage, da sie hingerichtet wurde, vielleicht gerade Gehalt nehmen, ins Kaffeehaus gehen, vor Bekannten auf der Straße den Hut ziehen und mit manchem ein Weilchen stehenbleiben, um ihn nicht zu beleidigen? Wäre er nach dem Essen mit Zigarre und Zeitung auf dem Sofa gelegen und hätte gedacht: „Es geht einfach nicht anders. Man kann nicht alle Wege gerade machen. Das ist nun mal der Lauf der Welt. Wenn man jemand noch so lieb hat, kann man er werden? Nein!“ Und dabei im Innersten genau gefühlt, daß er so mit einer rohen, unsauberen Leichtfertigkeit den einzig richtigen, wichtigen Halt losließ und mit unheimlicher, unbegreiflicher Trägheit in einen widerlichen, schüttern Sumpf versank? - Nein, nein! Er hatte auf den Augenblick gewartet! Der Entschluß war in ihm bereit gelegen, hundertmal im Träumen und Wachen ausgeführt. Er hätte die Detektivin aufgesucht, und wenn sie sich verborgen hätte, durch schwerste Hindernisse wäre er zu ihr gedrungen!

Diesmal auf dem Heimweg hatte er wohl gar nicht daran gedacht, im Vorbeigehen an der Ecke nicht einmal zum Ladenfenster der Helrit aufgesehen, aber als es ihn bei dem heranklopfenden Damentritt wie plötzliche Eingebung überfiel, fühlte er dennoch deutlich seine Absicht aus unabhängiger Tiefe emporschnellen und erkannte nur, mehr beschämt als dankbar, nachsichtiges Entgegenkommen des Schicksals darin, daß sie mit ihm in einem Hause wohnte, und der Augenblick ihm immer wieder angeboten wurde, bis er bereit war.

Er stieg eben erst den untersten Absatz der gekrümmten, steilen Treppe zu Ende, als er hoch oben, wohl noch eineinhalb Stockwerke entfernt, die energische, federnde Eile der dicken, kleinen Füße herabkommen hörte. Dieser leichte, gedämpfte Takt der Gummiabsätze zu dem Marktweibdialekt, dem verschossenen Baumwollrock und Kopftuch war eine unvorsichtige Unterschätzung der Bevölkerungsintelligenz hier in der Gegend; eine Schlamperei!

Durch das Stiegenhaus, still und leer um diese Stunde, kam die gleichmäßige, fühllose Eile näher, näher. - Krastik klang es, als komme die Maschinerie der menschlichen Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Vernunft selbst auf ihn zu, so voll grauenhaft gelassener Unaufhaltsamkeit!

Noch wußte Krastik nicht, nein nicht im mindesten, wie er es sagen wollte. Wer weiß, wo sie da eben hinging? Vielleicht war es der letzte Augenblick, an dem es möglich war. Er durfte sie nicht vorbeilassen. Er suchte gehetzt, verzweifelt in seinem Hirn: womit nur beginnen?

Noch stieg er langsam eine, noch eine Stufe weiter, ihr entgegen, verringerte selbst die Bedenkzeit. Er würde sie nicht ansehen, damit ihre prüfenden oder unschuldig verwunderten Blicke, ihr Kleid, ihre Haartracht oder sonst ein betrügerisches Sinnbild der Harmlosigkeit ihn nicht etwa jetzt noch von seiner wilden, blinden Willenssicherheit abbrächte!

Er blieb erst stehen, als sie schon vorbei war. Sie summte etwas vor sich hin.

„Erlauben Sie, Frau, hören Sie, bitte!“ Er streckte, ohne es zu wissen, ein wenig die Hand aus, als fürchte er, sie könnte fliehen wollen. Ein Zittern war in seinem ganzen Körper, ein Klopfen, als hätte jede Zehe, jedes Fingerglied, jedes Stückchen Haut ein Herz für sich bekommen.

Sie sah nur mit gewissermaßen von Überraschung gemildertem Befremden in sein von Unordnung erhitztes Gesicht.

„Aber Sie haben vielleicht Eile - ich halte Sie auf -“

„Nein, nein!“ Sie schüttelte freundlich den Kopf.

„Es ist etwas für mich äußerst Wichtiges, über das ich - ich glaube gerade mit Ihnen - aber hier - Kommen Sie zu mir hinauf!“ Er beugte sich vor und lächelte ungemein hilflos und verlegen. Es verwirrte ihn, daß er sichtlich nicht den Ton fand, mit ihr, dem Stande ihrer Kleider und Ausdrücke entsprechend zu reden. Sie würde etwas merken; sie mußte doch! Er würde alles verderben! Oder sie glaubte etwas anderes! Und es quälte ihn die bestimmte Erwartung, daß sie ihn im nächsten Augenblick mit irgendeiner gewandten derben Volkswendung stehen lassen würde und fort war.

Aber sie folgte ihm ohne weiteres. Es hatte etwas Beschämendes, wie wenig sie sich über des Fremden Anrede und Zumutung wunderte. Dirnenartig. Nur als Höflichkeit, gewissermaßen als Formalität, soweit man es erwarten mußte, knapp so viel wunderte sie sich.

Sie trat, als er aufgeschlossen hatte, ohne Zögern, resolut bei ihm ein, fast ein wenig geschäftsmäßig; gut, daß ihm noch im letzten Augenblick eingefallen war, ihr nicht den Vortritt zu lassen.

Sein Zimmer empfing ihn wohlbekannt, alltäglich, unverändert.

Die Frau blieb unweit der Tür stehen und fragte geduldig lächelnd, fast als sei sie es, die verlegen zu sein habe: Was er denn also wünsche?

Er stand wie hinter Glas und schwieg und sah um sich und sah sie an. Die Wipfelspitzen vor den Fenstern und die kühle Sommerabendluft, die sie beide in den Kleidern mitbrachten, die nasse Erde mit dem klebrigen Morastgefühl vom durchweichten Alleeweg an seinen Schuhen - alles schrie ihm zu: Die Welt ist doch schon geschaffen, rollt nur weiter! Was willst du denn? - Aber er ließ sich nicht, nein, auf keine Weise narkotisieren!

Wird sie es glauben? Er, Oberbeamter Krastik! Er sei verrückt geworden, konnte sie denken. Unter Umständen würde das übrigens nicht schaden.

Merkte sie nicht, wie zudringlich es war, daß sie so wohlwollend und geduldig dastand und nun gar sich setzte, sobald er nur die Hand nach dem Rand einer Stuhllehne ausstreckte? dachte er angeekelt, und es erleichterte ihm die Verstellung.

Sie habe ihm solches Zutrauen, begann er, unsagbar grenzenloses Zutrauen eingeflößt, als sie eben an ihm in einem Augenblick verzweifelter Verlassenheit und Angst vor sich selbst vorbeigekommen war. Wenn man so niemanden, gar niemanden auf der Welt hat! (Er behielt seine Stuhllehne in der Hand und beugte sich weit vor, um ihr Gesicht deutlicher zuhören zu sehen; er hatte vergessen, daß es den bequemeren Weg gab, sich zu setzen, von der Schwierigkeit der Körperstellung irgendwie beruhigt.) Ihr Gesicht, ihr Wesen habe so etwas, - er müsse ihr vielleicht schon irgendwo begegnet sein, wenn er sich auch nicht mehr erinnern könne, wo. Nun, - Er wartete wieder und sah sie flehentlich an: Er möchte ihr etwas zum Aufbewahren geben, sich einmal ganz, ganz ausschütten, das letzte seines Innern! Er habe es noch nie im Leben getan. Sie sehe so aus, daß sie es nicht verübeln, und daß es sie nicht langweilen würde. Vielleicht würde sie sogar manches verstehen. Sie müsse ihm aber eine Antwort geben, ein Echo ihrer Auffassung, einen Rat!

Sie nickte.

„Was mich verwirrt und umhertreibt, so daß ich mich nicht auskenne in mir und Hilfe haben muß, das ist: daß ich keine Gewissensbisse habe. Ich fühle mich dadurch so ausgeschnitten aus der Menschengesellschaft. Ob ich durch Vererbung, Erziehung, Umgebung - oder ob mich Gott auf andere Weise verdammt hat? - Das Kind war arg verkrüppelt; Sie können es sich nicht vorstellen. Es war ja eben gestorben, als Sie hier in die Gegend kamen, nicht wahr? Ja, ich erinnere mich, wir wunderten uns, wozu das Vermittlungsbureau gerade jetzt im Sommer, wenn die Damen auf dem Lande sind und die stellungslosen Mädchen auf den Feldern arbeiten, eine Gehilfin aufnimmt. - Vorn und hinten war es bucklig, hinkte und hatte immerfort anderswo Geschwüre, der Eiter troff ihm von den roten, entzündeten Augen. - Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Drunten an der Ecke, ja! Zwei Häuser von da. Sie werden sie noch nicht bemerkt haben. Die Filiale einer ehemaligen Putzanstalt und eine Plätterei nebstbei. Helrit heißt die Person. Ein fleißiges junges Weib!“

Leises Grauen beschlich ihn, und er schämte sich, als es ihm so von den Lippen floß. Kein Mensch hätte merken können, daß er sie alle Tage bei der Helrit im Zimmerchen hinter dem Laden gesehen hatte, wenn er eigens abends oder um die Mittagsstunde zum Fenster geschlichen war, aus Angst vor dieser dicken Freundschaft.

„Ich muß täglich viermal vorbei“, fuhr er fort, „auf dem Weg in die Fabrik und wieder heim. Und wenn ich nach dem Abendessen noch ausgehe - ich bin ein lediger Mensch - was soll ich immer einsam in meinen vier Wänden? - dann wird es sechsmal, aber das zählt nicht, denn da schlief das Kind schon. Oder nein! Das zählt gerade! Da sah ich das arme Ding in der Glückseligkeit, Anmut und reinen Güte, wie sie wirklich war, wie sie ohne das Kind gewesen wäre. Oft war Mitternacht und sie stand noch und plättete. Das Licht in ihrem Fenster gehörte zum Nachtbild der Straße. Am Samstag besonders. Da rieb und wusch sie alles im Laden und Zimmer. Die Fenster, die Metallgriffe und Beschläge, Geschirr und Leuchter, tat frisches Papier in die Schränke, - wenn ich heimkam, hielt sie gewöhnlich schon an der Schwelle. Ihr Heim putzte sich heraus, machte Toilette für den Sonntag. Sie war so zufrieden und leise bei dieser Arbeit, eilte gar nicht, konnte sich wohl nicht entschließen schlafenzugehen, diese herrliche Zeit nicht zu genießen. Sie sang meist dabei, aber leise, um die Glücklichen nicht zu stören, die schlafen durften und sich nicht vor der Zeit zu fürchten brauchten, da ihre Kinder wach waren. Seltsame Musik, diese unwillkürlich leise schüchterne Lobpreisung, dieser sanfte, demütige Dank für das himmlische Geschenk dieses Augenblicks Ruhe! Und oft noch klang er nachher weiter, wenn die Rollvorhänge hinabgeklappert waren, die alten mit ihren unregelmäßigen Abständen, zwischen denen man so gut durchsehen konnte. Da stand sie nun und wusch in wohlriechendem warmen Wasser mit Liebe und Sorgfalt den biegsamen, jungen, weißen Leib und kämmte und flocht lange die weiche, helle Menge Haar und saß dann mit hängenden Händen am Tisch und sah ins Licht, durchs Licht, - wohin? Vorwärts? Rückwärts? Das junge Wesen! Solche Sonntagsnacht einer vertrockneten alten Höklerin! - Aber sie, die gleiche, was für ein schreckliches, böses Tier wurde sie, wenn das häßliche Kleine, das immer schmutzige, um sie herkroch und humpelte! Wie sie sinnlos wütete, sobald es nur das Geringste anstellte, oder auch ohne Grund, wie sie es zerrte und schlug, von grauenhaftem Ekel und Haß geschüttelt, es tobsüchtig an den Haaren riß! Wenn ich das schwächliche Stimmchen leise, hilflos und seiner Hilflosigkeit so vollkommen sicher und klar bewußt, in sich hineinjammern hörte, oder wenn es sich manchmal, ich sah's! nur noch stumm wand und krümmte, das Sinnlose, ja Verschlimmernde jeden Lauts so sehr schon im Gefühl, - da hätte ich sie zerreißen mögen! Mich schwindelte! Es zuckte in mir, das Weib zwischen die Fäuste zu nehmen, ihren Kopf, ihre festen Brüste, ihre feisten Schenkel zu zermahlen! Aber das ist es eben, daß ich gewohnt bin, immer an mich zu halten, alles Aufflammen und Gepacktsein als innere Angelegenheit zu nehmen, schon von klein auf. So ist der Held! dachte ich immer, wenn ich statt über die Welt über mich Herr wurde. Oft im Kontor unter meinen Untergebenen, zwischen Ziffernreihen, Adressenregistern, Geruch von Tinte, Papier, Dampfheizung, durchgeschwitzten Bureauröcken sah ich plötzlich vor mir, wie jetzt, in diesem Augenblick, fern im Eckladen die unschuldig milden, jungen Augen im Megärenwahnsinn sich verdunkeln und wiederaufflackern, Hexengrimasse die weichen, blassen Züge zerriß, und hörte, wie die reine, klanggesegnete Stimme, geborsten von unmenschlicher Wildheit, bewußtlos wie alles andere ihres Körpers, um sich schlug, das übergroße Entsetzen und Unglück auszutoben, das als Verunreinigung ein Instinkt nicht in ihr lassen wollte. In Todesangst winselnd das zitternde Stimmchen dazwischen. - Da flockte es rot vor meinen Augen, sauste mir in den Ohren, die Finger ballten sich gekrampft um den Federstiel, und ich leistete etwas damit, daß ich nicht von meinen Büchern und Briefen fortsprang, den jungen Menschen, der mir eben ehrfurchtsvoll Fakturen vorlegte, überrannte und zu ihr hinraste, sie zu packen, zu zähmen oder zu töten. Ja, aber fragen Sie, ob einer im Kontor auch nur ein einziges Mal etwas gemerkt hat!“

Er redete zuviel, was wahr war! Die Worte trieben einander nur so über seine vertrockneten, fieberzerrissenen Lippen, als hätte er versehentlich ein falsches Ventil geöffnet. Der Schweiß rann ihm über die Augen. Jeder Pulsschlag in den Schläfen ein Stich. Er atmete mehrmals hintereinander tief aus. Er konnte einfach nicht weiter.

Sie sah mit schlecht verdeckter Spannung ungeduldig an ihm vorbei.

„Sie haben wohl noch niemals eine Fliege getötet?“ fragte er, „ich glaube übrigens, daß das auch schwerer sein müßte. - Also einmal um Mitternacht ungefähr, - die Obduktion der Leiche wird

wohl die genaue Stunde ergeben haben, - tat ich es.“

„Was taten Sie?“ fragte sie.

„Kletterte zum offenen Fenster hinein -“

„Das Fenster war offen?“ entfuhr es ihr, aber gleich darauf senkte sie mit einem zornigen Ruck der Kiefer das Gesicht.

„Ich war vollkommen gelassen. Ich schwöre es Ihnen! Nichts trieb mich. Was würden meine Erzieher sagen, sähen sie, welche vollkommene Selbstbeherrschung mich bestimmte? Wenn mich Wut, Haß oder Sehnsucht, irgend etwas getrieben hätte, ich hätte an mich zu halten gewußt, aber ich hatte vielleicht ein wenig Furcht vor den Folgen! Es widerstand mir, glaube ich sogar, und deshalb erschien es mir, natürlich unüberlegt, im Bruchteil einer Sekunde, als das Höhere, Vorschriftsmäßige. Nachher wußte ich, ich hatte besondere Angst davor, daß ich es einfach nicht zuwege bringen würde, und tat es vielleicht nur, um der nicht nachzugeben.“

Mit unschuldiger Leere starrten ihn angestrengt, verständnislos und nicht ohne Besorgnis die wasserblauen Augen an. Am liebsten hätte er ihr gesagt: Getrost den Notizblock heraus und Protokollstenogramm aufnehmen! Ich werde wegschauen.

„Es war so leicht!“ erzählte er, „das Leben saß nur locker in dem Körperchen. Ich drückte kaum und es war weg. Ein Samstag war's. Der leise Gesang der waschenden, zufriedenen, jungen Arbeiterin draußen begleitete es. Eine Arie der Zerline. Ich stieg wieder aus dem Fenster hinaus, und die Mutter, die natürlich abends beim Niederlegen keinen Blick nach dem stillen Bettchen geworfen, - wozu auch? - fand das Kind erst morgens so, und so sagt man, es sei im Schlaf gestorben, so friedlich, daß sie, die mit ihm im Zimmer schlief, kein Bewegen, kein Röcheln, nicht einen Laut gehört hatte. Und so wurde es begraben. Niemandem steigt der geringste Verdacht auf. Aber das wäre nicht das Schlimmste. Ich könnte ja hingehen und mich anzeigen. Aber ich habe nicht den mindesten Gewissensdruck, denken Sie nur, gar nichts! Mit richtig stolzer, fast eitler Selbstzufriedenheit denke ich an die Tat zurück. Ich kann nicht ohne ein - wie schwer es einem wird, so etwas zu gestehen, so wahr ist es, - nicht ohne ein außerordentliches, ja Glücksgefühl an dem Hause Vorbeigehen und mir die Erinnerung an alle Einzelheiten, an jede meiner Bewegungen damals wachrufen. Was mir leid tut, ist nur, daß der kleine Wurm nicht für den einen Augenblick aufgeweckt werden kann, zu spüren, was für ein Glück ihm geschehen ist. Ich male mir gern aus, wie glücklich es wäre, wenn es empfinden könnte, daß es nicht mehr lebt. Affektiert, was? Aber, was lügt man sich nicht alles vor, wenn man glaubt, sich hoch über die Durchschnittsmenge emporgeschwungen zu haben! - Es langweilt Sie schon? Nein, nein, das tut es nicht, ich weiß, auch nicht abstoßen. Oder doch? - Warten Sie! Das eine muß ich jedenfalls noch hinzufügen, ehe Sie eine Antwort geben: Denken Sie, das liebe junge Ding drunten, - die Helrit meine ich, - die will mich jetzt nicht. Ist das nicht in gewissem Sinne tragisch? - Ja, ich habe schon bei ihr vorgesprochen; ich hatte die Kühnheit, oder vielmehr, es erschien mir gar nicht als solche. ,Früher', sagte sie sogleich ganz unbefangen in ihrer herrlichen, natürlichen Geradheit, ,früher, als der Krüppel noch lebte, hätte sie selbstverständlich gern zugegriffen, aber jetzt - jetzt stände ihr doch die Welt offen!' - Das war nun natürlich einerseits schmerzlich, ja, im Augenblick fast niederschmetternd für mich, aber da ich dennoch das Getane nicht bedauerte, ja, wie ich aufrichtig sagen kann, glücklicher darüber war als vordem, - denken Sie doch: Die Welt offen! So habe ich dadurch ja andererseits die kostbare Sicherheit gewonnen, - die ich sonst auf keine Weise hätte erlangen können, - daß es bei mir nicht aus Eigennutz geschehen ist. Aber überlegen Sie, sie weiß noch gar keinen Bessern und weist mich ab. Das ist mal eine richtige, vollständige und unzweideutige Abweisung. Ja, so ein ausgemergelter alter Junggeselle mit meinem Käsegesicht! - O bitte, fast vierzig Jahre ist immer alt. - Ach innen, innen! Für Mädchen kommt es immer darauf an, wie man außen ist.“

Darauf also verstand sie sich fraglos vorzüglich, diese sonst so dumm-schlaue Person, daß sie, kaum sie nun genug zu wissen glaubte, ohne jede auffällige Wendung, - er hatte gar nicht gemerkt, wie sie es zuwege gebracht hatte, - plötzlich dastand, im Begriffe, sich zu verabschieden.

„Jetzt werden Sie begreifen“, sagte er, voll von dem Wichtigen, das er noch zu sagen hatte, und gehetzt von der Vorstellung, daß sie mitten in seinem nächsten Satz zur Tür draußen sein würde, „kann ich solches meinem Bruder oder meiner Hauswirtin anvertrauen? Kann ihr Urteil mir Spiegel oder Narkotikum sein? Sehen Sie, Sie, eine Unbekannte, wirklich Unbeteiligte...“

„Es ist ganz natürlich! Wer würde das nicht begreifen?“ Und sie erklärte ihm, welche Ehre es ihm mache, daß es ihm seine Ruhe gelassen habe, und daß dies nur eine andre Form von Gewissensbissen sei.