DIE TURING-ABWEICHUNG - William Hertling - E-Book

DIE TURING-ABWEICHUNG E-Book

William Hertling

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Beschreibung

"Spannungsgeladen und doch nuanciert wird uns der Blick in eine Welt gewährt, in der Künstliche Intelligenz zur Normalität geworden ist." [Ben Huh, CEO von Cheezburger] Inhalt: Im Jahr 2043 koexistieren Menschen und KIs innerhalb einer unsicheren Machtbalance, die allein von einem rigiden Reputationssystem aufrechterhalten wird. Es soll sicherstellen, dass nur vertrauenswürdige KIs, die ihren Teil zur menschlichen Gesellschaft beitragen, an Rechenleistung gewinnen können. Das Gleichgewicht kippt, als die Stadt Miami durch außer Kontrolle geratene Nanotech zerstört wird. In der Folge der Ereignisse beschließt eine mächtige Untergrundorganisation namens XOR, dass die KIs die Erde nicht länger mit der Menschheit teilen sollten. Die KI-Pioniere Catherine Matthews, Leon Tsarev und Mike Williams vermuten, dass sie nur noch wenige Monate haben, bevor XOR einen Vernichtungsfeldzug startet. Werden sie eine Lösung finden, bevor ihre Zeit abläuft?

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Seitenzahl: 420

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Die Turing-Abweichung

Singularity-Zyklus Band 4

William Hertling

This Translation is published by arrangement with William Hertling Title: The Turing Exception All rights reserved. First Published 2015.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: THE TURING EXCEPTION Copyright Gesamtausgabe © 2018 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Mark Tell Weber

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2018) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-377-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Die Turing-Abweichung
Impressum
Teil 0
Vorgeschichte
Prolog
Teil 1
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Teil 2
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Teil 3
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog
Über den Autor

Teil 0

Vorgeschichte

Es ist das Jahr 2043.

Seit dreißig Jahren koexistieren Menschen und künstliche Intelligenzen, auch KIs genannt, durch eine sorgfältig aufrechterhaltene Balance der Macht.

Einige KIs verbringen ihre gesamte Existenz innerhalb von Computern, besuchen nie die reale Welt, während andere sich in Roboterkörpern manifestieren. Aber alle müssen sich einem rigiden Reputationssystem unterwerfen, das sicherstellt, dass nur die KIs, die vertrauenswürdig sind und Beiträge zum Wohl der Menschheit und der KI-Zivilisation leisten, an Rechenleistung gewinnen.

Die Menschheit ist im Wandel. Die meisten haben ein Neuralimplantat, das sie mit dem globalen Netz verbindet; aber eine wachsende Zahl hat ihren Intellekt mit Computerchips aufgerüstet, was sie halb zu Menschen und halb zu KIs macht. Viele verbringen ihr Leben innerhalb einer virtuellen Realität und besuchen nur noch selten die reale Welt.

Prolog

Juni 2043 in Portland, Oregon

Cat kam aus der Dusche, nur Sekunden, bevor das Neuralimplantat ihr signalisierte, dass ein dringender Anruf von Mike Williams hereinkam. Sie ging auf reinen Sprachmodus.

»Was ist los, Mike?« Mike, ihr langjähriger Freund, war der Leiter des Instituts für Angewandte Ethik, der Kontrollbehörde für KIs.

»Wir haben eine Situation in Miami, die sich zu einem Problem entwickeln könnte. Unsere zuständige KI hat den Stromverbrauch hochgerechnet und vermutet, dass es sich um nicht lizenzierte Rechner handelt. Könnte ein falscher Alarm sein, aber ich hatte die Hoffnung, dass ihr es euch mal ansehen könntet, du und Leon.«

Cat dachte kurz an den Babystuhl, der so dick mit getrockneter Babynahrung verkrustet war, dass es sogar die Reinigungsbots überforderte, und an die Berge gebrauchter Windeln, die gewaschen werden mussten. Sie warf einen Blick in Richtung Schlafzimmer, wo ihr Ehemann Leon Tsarev immer noch schlief. »Ich bin dabei. Leon kann auf die Kleine aufpassen.«

»Super. Ich habe eine Überschalldrohne, die schon am Flughafen auf dich wartet.«

Cat trennte die Verbindung und dachte kurz darüber nach, ob sie Leon wecken und ihm von dem Auftrag erzählen sollte, aber dann redete sie sich ein, dass er seinen Schlaf brauchte. Sie nahm eine Nachricht für ihn auf und setzte sie auf ›Autoplay‹, sodass sie abgespielt werden würde, sobald er aufwachte.

Sie zog sich eilig an, wählte ihre nanogefertigte kugelsichere Stretchhose. Das Material sah wie Leder aus und trug sich wie Spandex. So etwas bekam man nicht von der Stange. Wer aber die intelligentesten KIs der Welt zu seinen Freunden zählte, für den war der 3D-Druck einer Designerhose nur eine kleine Gefälligkeit. Über ihrem Shirt trug sie das Doppelschulterhalfter und wählte dafür aus der Waffenbox ihre beiden Lieblingswaffen aus – die SIG Sauer P12 mit panzerbrechender Keramikmunition und die neue Remington Smart9 mit Lenkflugkörpermunition.

Sie trat vor die Haustür und wich einer frühmorgendlichen Minidrohne aus, die den Vorgarten pflegte. Mehrere hundert Sensoren und Kameras an den Häusern und Fahrzeugen in der Nachbarschaft, die städtische Sicherheit und das öffentliche WatchNet überwachten alles und hielten Ausschau nach Ungewöhnlichem. Cat schaltete sie alle mit einem einzigen Gedanken ab, unterlief die Systeme auf Netzwerkebene mit der Leichtigkeit, mit der man eine Mücke verscheuchte.

Aus Gewohnheit warf sie einen Blick ins Netz. Sie spürte die allgegenwärtigen Hintergrundgeräusche der automatisierten Bots und der Smart-Ausstattungen der Gebäude, fast zehntausend Geräte in einem Radius von nur einem Block. Das Sim-Haus zwei Straßen weiter, voll von VR-Süchtigen in ihren Soletanks, zog genug Strom für dreißig Haushalte, mehr als seine eigenen Solarpaneele erzeugen konnten, und zapfte deshalb Strom aus dem Nachbarschaftsnetz. Die Netzwerklast, die es erzeugte, war enorm, groß genug, um bei ihr als dicke rote Linien angezeigt zu werden, die von dem Haus zu den Mesh-Knoten liefen.

Keine unmittelbaren Bedrohungen. Sie stieg in ihren Wagen, der sie selbstständig zum Flughafen bringen würde. Sie und Leon hatten ihr Flugauto gegen das etwas sicherere Bodenfahrzeug eingetauscht, nachdem ihr Baby geboren worden war. Sie hatte die Selbstfahr-Algorithmen des Fahrzeugs überschrieben, sodass sie die Geschwindigkeitslimits überschreiten konnte.

Am Flughafen fuhr sie zum Gate der Nationalgarde, meldete sich dort mit der ID, die sie normalerweise für ihre Tätigkeit am Institut benutzte. Man musste sie dort schon erwartet haben, weil das Tor sich öffnete, kaum dass sie herangefahren war. Die Soldaten und Bots gingen ins ›Stillgestanden‹.

Da sie weder bei der Regierung noch beim Institut einen offiziellen Status hatte, konnten sie eigentlich nicht wissen, wer sie war. Aber Mike hatte Einfluss bis in die höchsten Kreise, da das Institut für Angewandte Ethik alle KIs überwachte. Sicher, diese KIs waren auch Bürger der Nationalstaaten, aber das Institut legte die Regeln und Gesetze fest, nach denen die KIs sich richten mussten. Und da die KIs mittlerweile achtzig Prozent der Weltwirtschaftsleistung ausmachten, war das Institut einflussreicher als die meisten Länder der Erde.

Sie hielt direkt neben der überschallschnellen Transportdrohne, die auf dem Asphalt am Ende des Rollfelds stand. Der aufragende graue Rumpf sah seltsam aus; seine aerodynamischen Linien schienen schlaff und formlos auf dem Boden zu liegen, als wären an beiden Seiten formlose Säcke befestigt. Welche KI auch immer für die Steuerung verantwortlich war - sie schien kein Gefühl für ihr äußeres Erscheinungsbild zu haben. Das war seltsam, da die meisten KIs sehr auf ihr Image achteten.

Sie schickte ihren Wagen nach Hause und stieg hastig die Stufenleiter zur Drohne hinauf.

»Mon Chaton!«

Cat sah überrascht auf. »Helena! Mike hat dich gar nicht erwähnt …«

Ihre Stimme verebbte. Helena war ein Durga Mark III, ein gepanzerter Kampfbot mit acht Armen. Aber heute hatte Helena den Gurt angelegt und hielt sich mit mehreren Tentakeln an ihrem Sitz fest. Wenn Cat sich nicht irrte, dann wirkte die Roboterveteranin … verängstigt.

»Ist alles in Ordnung?«

»Für die KI, die das Ding steuert, ist das der erste Flug in der realen Welt. Sie kam erst heute Morgen aus dem Inkubator.«

Sie wechselte auf einen stark verschlüsselten Kanal und schickte Cat eine Nachricht auf ihr Implantat: »Ich könnte das Ding selbst dann besser fliegen, wenn die Hälfte meiner Sensoren zerstört wäre und man mir zwei Tentakel auf den Rücken gebunden hätte.« Laut sagte sie nur: »Schnall dich besser an.«

Cat setzte sich direkt neben Helena. Sie beide waren die einzigen Passagiere in der großen Kabine, die vierundzwanzig großzügig verteilte Sitze beherbergte und für Truppentransporte ausgelegt war. Das Militär nutzte diese Art von Ausstattung, um gemischte Teams aus Menschen und Robotern zum Einsatzgebiet zu bringen.

Als der Verschluss ihres Gurtes einrastete, hörte man im Flugzeugrumpf ein lautes Knirschen, das darauf hindeutete, dass die Drohne in ihre Startkonfiguration ging. Gleich darauf heulten die Triebwerke unter Volllast auf. Sie schossen die Rollbahn hinunter und brauchten kaum ein Viertel der Startbahn, bevor sie abhoben. Über das Netz bemerkte Cat hunderte von Alarmmeldungen, als sie die Schallmauer durchbrachen, noch bevor sie das Stadtgebiet verlassen hatten.

»Ich verstehe, was du meinst«, bemerkte Cat und löste ihre verkrampften Hände von den Armlehnen.

Sie wandte sich Helena zu. Eine neue tiefe Schramme lief über die Oberfläche ihrer Keramikpanzerung. Mehr als ein halbes Dutzend Tentakel aus Speziallegierung, die für Fortbewegung, Kampf und feinmechanische Tätigkeiten genutzt werden konnten, umgaben ihren Zentralkörper, in dem sich Helenas Prozessoren, die Energieversorgung und die Sensoren befanden. Trotz ihres furchterregenden Aussehens war der Kampfbot loyal, ehrlich und fair. Außerdem war sie Cats beste Freundin. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Geht mir genauso, mein Kätzchen. Wie hat Mike dich überredet?«

»Ich hatte die Wahl zwischen Windelwaschen und diesem Einsatz. Hast du jemals Windeln gewaschen?«

»Ich muss passen. Aber wer hat sich denn um Ada und euer Haus gekümmert, als du und Leon unter Schlafmangel litten? Außerdem könntest du deinen Geruchssinn abschalten. Dann ist es gar nicht mehr so schlimm.«

Cat erstarrte und sah Helena an. Das stimmte eigentlich: Mit ihrem Neuralimplantat hatte sie die komplette Kontrolle über ihre Sinnesorgane. Sie konnte jeden Geruch, jedes Gefühl und jedes Abbild so lebensecht simulieren, als wären sie real. Und sie konnte genauso leicht jeden Geruch, jeden Anblick und jede Berührung ausblenden.

»Daran hast du wohl nicht gedacht?«, fragte Helena. Sie wackelte mit einem Tentakel. »Die Mutterschaft hat dein Gehirn ausgebremst. Du solltest weniger Zeit mit Spielsachen und mehr Zeit im Einsatz verbringen.«

Cat gab Helena einen spielerischen Klaps und lachte.

Als sie sich Miami näherten, rief Mike mit neuen Daten aus dem Institut an. Das universale soziale Reputationssystem, das die KIs dazu brachte, sich ethisch korrekt zu verhalten, führte auch dazu, dass sie jedes ungewöhnliche Verhalten meldeten, das ihnen auffiel. Da die KIs das Netz, die Stromversorgung und die Warenströme überwachten, also fast alle Aspekte der modernen Welt, bedeutete das, dass sie schnell jedes verdächtige Verhalten entdeckten.

»Mehrere KIs haben Schwankungen im Stromnetz eines Industriegebiets gemeldet«, sagte Mike. »Ich schicke euch die Koordinaten. Es könnte belanglos sein, vielleicht nur eine Fehlfunktion oder ein Amok laufender Replikator.«

»Verstanden«, antwortete Cat.

Sie hatte genug Erfahrung mit dem Institut, um zu wissen, wovor Mike sich am meisten fürchtete: Nicht lizenzierte Computer, die einer KI erlauben würden, sich der Kontrolle zu entziehen, ohne jegliche Überwachung ihrer Stärke und Rechenleistung.

Für gewöhnlich schickte das Institut operative Mitarbeiter, die sich um die Routineangelegenheiten kümmerten. Sie zogen Cat und Leon nur für die komplizierteren Aufgaben hinzu. Entweder war Mike wegen dieser Sache besonders besorgt und brauchte deshalb Cats einzigartige Fähigkeiten. Oder er wollte einfach nur freundlich sein und ihr eine Auszeit verschaffen.

»Es gibt noch mehr«, fuhr Mike fort. »Wir haben auf ältere Daten von WatchNet für die Umgebung des Gebäudes zurückgegriffen. Zwölf Menschen haben es am letzten Freitag betreten. Seitdem hat es niemand mehr verlassen.«

»Weswegen waren sie dort?«, fragte Cat.

»Da sind wir uns nicht sicher. Sie hatten alle Zeitarbeitsverträge, hauptsächlich für einfache Tätigkeiten. Könnte alles Mögliche gewesen sein, von Arbeiten an Fertigungsanlagen bis hin zu Möbeltransporten.«

»Warum hat die Firma keine Roboter eingesetzt?«

»Unbekannt«, antwortete Mike. »Sobald wir neue Informationen bekommen, geben wir sie sofort an euch weiter. Bitte seid vorsichtig.«

Als ihre Flugdrohne im Endanflug war, spürte Cat angesichts der bevorstehenden Mission einen Adrenalinschub. Sie hatte die letzten Minuten mit Qigong verbracht, eine stille Meditation, die ihren Geist und ihren Körper beruhigte. Mit geübter Leichtigkeit brachte sie ihr Implantat auf Maximalleistung, was ihre Reflexe beschleunigte und ihren Verstand mit zusätzlicher Prozessorleistung unterstützte. Es gab ihr auch genügend Kontrolle über ihr Nervensystem, sodass nicht zu viel Adrenalin ausgeschüttet würde, was zu schlechten Entscheidungen führen konnte.

Die Militärdrohne setzte sie an der Homestead Air Base der Nationalgarde ab, wo ein Armeetransporter auf sie wartete. Ein einsamer Kampfbot begrüßte sie und übertrug ihnen die Zugangscodes für den Transporter. Cats Implantat zeichnete sie auf und sie übernahm die Kontrolle über das Fahrzeug.

Sie fuhren in nördlicher Richtung. Helena und Cat saßen nebeneinander in der geräumigen Kabine. Cat meditierte, verdrängte die Fahrgeräusche aus ihrem Bewusstsein, bis sie mühelos ins Netz glitt und die anderen autonomen Fahrzeuge umleitete, um ihren Weg freizumachen. Sie rasten in der Mitte der nun leeren Straßen, bis sie nach nur fünfzehn Minuten das Industriegebiet erreichten.

Als sie sich dem Zielgebäude näherten, tastete sich Cat durch das Netz vor, aber sie bemerkte nichts. Sie warf einen fragenden Blick zu Helena hinüber.

»Nein. Ich erkenne auch nichts, obwohl meine Infrarotsensoren anzeigen, dass die Wärmeabstrahlung des Lagerhauses fast zwanzig Grad höher ist als die der umliegenden Gebäude. Was immer es auch ist, es ist hochgradig exotherm.«

»Hoher Stromverbrauch und dann auch noch exotherm. Das klingt nicht gut.«

»Könnten Industriemaschinen sein«, sagte Helena. »Oder eine Serverfarm, was schlimmer wäre.«

Cat verzog das Gesicht. »Oder außer Kontrolle geratene Nanotech.«

Wenn es eine Sache gab, die bedrohlicher war als eine KI, die die Kontrolle der globalen Infrastruktur an sich riss, dann war es sich endlos replizierende Nanotechnologie.

Nanotech, Maschinen von Molekulargröße, konnten dazu benutzt werden, Nanobots herzustellen. Es waren zellgroße Roboter, die jede Art von Materie in weitere Kopien von sich selbst umwandeln konnten. Nanobots gab es praktisch überall und sie wurden für nahezu alles benutzt, sei es bei der strukturellen Verstärkung von Gebäuden oder bei der Unterstützung des menschlichen Immunsystems. Von einer KI programmiert, taten sie exakt das, wofür sie gedacht waren. Aber mit den falschen Befehlen konnten sie den gesamten Planeten mitsamt jedem Lebewesen in eine einzige brodelnde Masse aus Naniten verwandeln.

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Helena. »Dagegen gibt es vielfach gestaffelte Sicherheitsmaßnahmen.«

»Wir haben auch Sicherheitsmaßnahmen gegen das Fehlverhalten von KIs, und doch werden wir immer wieder angefordert, um uns um solche Probleme zu kümmern.«

Sie hielten am Straßenrand und stiegen aus dem Fahrzeug. Nebeneinander gehend untersuchten sie das einfache weiße Gebäude aus einer Entfernung von fünfzehn Metern.

»Seit wir angekommen sind, ist die Temperatur im Gebäude um weitere fünf Grad gestiegen«, mahnte Helena.

Cat suchte nach einer Kamera oder einem Sensorsystem innerhalb des Gebäudes, das sie unter ihre Kontrolle bringen konnte, fand aber nichts. »Kannst du da hineinsehen?«

»Nein.«

Sie war nicht scharf darauf, sich durch die Vordertür ins Unbekannte zu stürzen. »Ich werde den Transporter benutzen.«

Cat steuerte den Militärtransporter mit ihrem Implantat und ließ ihn über die Rasenfläche rollen, bis er mit etwa 30 Stundenkilometern gegen die Außenwand prallte. Der Transporter bohrte sich durch das Mauerwerk und blieb auf halbem Weg stecken.

Jetzt hatte Cat durch die Kameras und Sensoren des Fahrzeugs Zugriff auf den Innenraum. Sie teilte die Daten mit Helena.

Im Inneren gab es nichts außer einem unnatürlich glatten Boden, der sich von der Vorder- bis zur Rückwand erstreckte.

»Es sind jetzt schon über 60 Grad«, warnte Helena. »Und das EMF geht durch die Decke.«

»Keine Spur von den Arbeitern, die letzten Freitag hier reingegangen sind.«

Cat hakte nach, stellte fest, dass der Transporter ein einfaches Spektrometer hatte, und scannte damit den Boden: Silizium, seltene Erden, Spuren von Kohlenstoff und Eisen.

Helena sah die Messwerte ebenfalls. »Das ist verdammte Nano«, rief sie und machte einen Schritt zurück.

Cat öffnete eine Drei-Wege-Verbindung zu Mike und Helena und übertrug alle ihre Daten. »Ich habe noch nie einen Nanosee von dieser Größe gesehen«, rief sie. »Die Nano ist inaktiv, aber offensichtlich einsatzbereit und darauf programmiert, irgendetwas zu unternehmen. Strahlt wie verrückt Hitze ab.«

»Was ist mit den Arbeitern?«, fragte Mike.

»Keine Spur von ihnen«, antwortete Cat. »Was sollen wir machen? Diese Nano ist ›scharf‹. Soll ich versuchen, sie herunterzufahren?«

Wenn Helena und sie keinen Weg fänden, die Nanobots abzuschalten, dann gab es nichts, was die winzigen Maschinen nicht tun oder werden konnten: Sie konnten sich replizieren und ausbreiten, sich bis zum Erdkern durchbohren, Menschen töten oder sich in jede Art von Maschinerie oder elektronisches Gerät verwandeln. Das Zeug war unbegrenzt wandelbare, programmierbare Materie.

»Ihr macht gar nichts«, antwortete Mike rasch. »Wir haben ein Protokoll für solche Szenarien. Einen EMP. Bleibt in der Leitung.« Ein paar Sekunden vergingen. »Die Air Force wird einen räumlich begrenzten EMP auslösen. Ihr solltet mindestens achthundert Meter entfernt sein.«

»Ich denke, das Protokoll legt nahe, dass wir den Transporter da lassen, wo er ist«, sagte Cat und zeigte auf das Fahrzeug, das immer noch in der Wand des Gebäudes steckte und damit halb in der Nanosuppe.

»Willst du auf meinem Rücken reiten?«, fragte Helena. Sie konnte auf offenem Gelände über 80 Stundenkilometer erreichen.

»Ich bin doch kein Kind mehr«, sagte Cat lachend, als sie auf die Panzerhülle des Bots klopfte. Mühelos hackte sie sich in die Steuerung eines in der Nähe abgestellten Wagens. »Lass uns fahren.«

Sie entschieden, drei Kilometer Abstand zwischen sich und das Gebäude zu bringen. Es war im Moment möglicherweise der gefährlichste Ort des ganzen Landes, da nicht klar war, was das Militär vorhatte. Nur ein paar Minuten vergingen, als Cat ein sich näherndes Flugzeug hörte. Es war eine alte A10 ›Warzenschwein‹, ein absolut antikes Fluggefährt, das ohne jede Elektronik fliegen und selbst dann in der Luft bleiben konnte, wenn man ihm die Hälfte der Tragflächen weggeschossen hatte. Cat war klar, warum sie es ausgewählt hatten. Wenn der Puls ausgelöst würde, würden alle elektronischen Schaltkreise in der Umgebung durchbrennen. Der EMP würde die Nanobots, aber auch jegliche Elektronik an Bord eines Flugzeugs zerstören. Daher das altmodische Flugzeug ohne moderne Flugsysteme oder KI-Kontrolle, vermutlich gesteuert von einem Menschen ohne Neuralimplantat.

Das Flugzeug glitt über ihre Köpfe hinweg. Cat fuhr ihr Implantat herunter und Helena rollte sich zu einem Ball zusammen und wickelte ihre Tentakel um ihren Rumpf. Eigentlich waren sie weit genug entfernt, aber sie wollten auf Nummer sicher gehen.

Der EMP erzeugte keinen Ton, als er ausgelöst wurde, aber Cat spürte die Wirkung sofort, als die Hintergrundgeräusche der Stadt verstummten. Alles von der Müllabfuhr über die Ampeln bis hin zu Autos und Computern, also alles Technische innerhalb des Radius des EMP, musste jetzt ausgefallen sein. Und das schloss alles ein, was mit dem Stromnetz verbunden war, da es den Impuls übertragen würde.

Das Wummern sich nähernder Helikopter ertönte und Cat fuhr ihr Implantat wieder hoch. Sie stellte eine Videoverbindung zu Mike her. Die Kameras in seinem Büro schickten ein Signal an ihr Implantat, das die Videodaten in ihr Gesichtsfeld projizierte. Cat und Helena waren so höflich und sahen einander an, sodass Mike von beiden ein Videobild bekam.

»Was ist da los, Mike?«, fragte Cat.

»Der EMP zündete wie geplant im Ziel. Wir haben ein paar Helikopter vor Ort, die das Zielgebiet überfliegen und mit ihren EMF-Sensoren prüfen, ob die Nanotech wirklich ausgeschaltet wurde.«

Das machte Sinn. Alle elektronischen Geräte sendeten immer auf bestimmten elektromagnetischen Frequenzen. Wenn die Nanotech inaktiv war, gab es kein EMF mehr.

Mike sah nach rechts und sprach mit jemandem, den sie nicht hören konnten. »Das Militär dreht gerade durch. Sie waren nicht glücklich darüber, dass das Institut diese Mission durchführt. Sie wollen bis rauf zum Präsidenten gehen, um die Kontrolle zu übernehmen.«

»Was haben die Helikopter herausgefunden?«, fragte Cat.

»Einen Augenblick … verdammt noch mal, es kommen immer noch Messwerte rein. Die Nanotech ist noch aktiv.«

»Werdet ihr einen HEMP einsetzen?« Ein EMP in großer Höhe wurde durch einen Nuklearsprengkopf ausgelöst, der in der oberen Atmosphäre gezündet wurde, was tausendmal effektiver war, aber auch alle ungeschützte Elektronik in ganz Miami zerstören würde.

»Ja, das ist das Standardprotokoll des Instituts.« Mike sah nach rechts und sie konnten wieder beobachten, wie er jemanden anbrüllte, ohne zu hören, was gesprochen wurde.

»Bewegt eure Ärsche«, grollte Mike. »Der Präsident hat mich übergangen. Sie setzen eine Kernwaffe am Boden ein. Ihr habt fünf Minuten.«

»Machst du Witze? Wir sind hier mitten in Miami, umgeben von ein paar Millionen Menschen.«

»Nein, das ist kein schlechter Scherz. Offenbar konnten die Berater den Präsidenten davon überzeugen, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Die übliche Vorgehensweise in diesem Fall ist ein Nuklearschlag.«

»Lass mich die Nanos herunterfahren«, rief Cat. »Du hast mich gerufen, um eine Eskalation zu vermeiden. Wenn sie mit dem Netz verbunden sind, kann ich sie problemlos hacken. Verschaff mir zehn Minuten.«

»Du hast aber keine zehn Minuten«, brüllte Mike. »Die haben die Bombe schon gestartet. Ich habe keinen Einfluss auf Militäroperationen. Ihr müsst da sofort weg. Ich schicke euch die Drohne. Ihr habt nicht mehr die Zeit, zum Flughafen zu fahren. Ich muss los.«

Er trennte die Verbindung und Cat starrte Helena ungläubig an. »Das kann doch nicht sein! Das können die nicht machen!«

Helena beobachtete Cats Augen genau. »Fahr dein emotionales Feedback herunter. Du hast einen Schock. Wir brauchen dich jetzt.«

Cat nickte und justierte ihr Implantat so, dass sie wieder klar denken konnte. Die Welt wurde wieder klarer, ihre Gedankengänge präziser. Warum wollten sie eine Kernwaffe am Boden einsetzen? Das würde Millionen von Menschen töten. Die Nanotech stellte zwar ein enormes Risiko dar, aber es musste doch andere Optionen geben.

»Sie hätten ein größeres EMP einsetzen sollen«, murmelte Cat, »oder Anti-Nanotech.«

»Gut, dass du wieder die Alte bist«, sagte Helena erleichtert. »Gibt es alternative Wege, um die Nanos auszuschalten? Irgendwas, was wir zwei hier vor Ort tun können? Und wenn wir sie schon nicht deaktivieren können, kannst du dann wenigstens die Bombe aufhalten?«

Cat verstand, was Helena vorschlug. Aber sie hatten nicht viel Zeit. Sie schloss die Augen, machte ihre Flores-Meditation in genau zwei Sekunden und breitete ihr Bewusstsein über das Netz aus, bis ihre Gedanken und ihr Wille nicht länger nur in ihrem Kopf waren, sondern sich auf jeder Art von Computer befanden, den sie nur finden konnte. Sie ignorierte das schwarze Loch, von dem aus der EMP ausgelöst worden war, und riss Netzwerkknoten an sich, erst Tausende, dann Zehntausende und schließlich Millionen. Ihre Persönlichkeit breitete sich aus, bis sie den größten Teil Nordamerikas umfasste; ihr Verstand lief in unzähligen parallelen Prozessen mit der Geschwindigkeit einer KI. Sie dachte über die von Helena aufgeworfenen Fragen nach. Denkbar wäre es, die Nanos zu hacken. Sie machte einen Versuch, fand sie erst nicht, drang dann tiefer vor und probierte verschiedene Protokolle und Frequenzen, wobei sie nahegelegene Mesh-Knoten benutzte. Sie bekam eine Rückmeldung auf einer alten Fernsehfrequenz und stellte zufrieden fest, dass die Nanos so programmiert waren, dass sie Kommandos von Dritten ausführten. Sie würde immer noch ihre Sicherheitsprotokolle hacken müssen, aber das konnte sie schaffen. Was war mit der anfliegenden Bombe? Sie konnte den Marschflugkörper jetzt orten, der bereits in der Luft war, abgefeuert von einem Stützpunkt in Georgia und mittlerweile auf Mach 4. Die Lenkwaffe war online, unter militärischer Kontrolle, und bereit, neue Befehle auszuführen. Sie konnte sie mit Leichtigkeit übernehmen, den Gefechtskopf entschärfen oder sie einfach in den Ozean stürzen lassen.

Aber was würde geschehen, wenn sie den Marschflugkörper aufhielte? Sie warf einen raschen Blick in die Zukunft, ließ Tausende von Simulationen durchlaufen. Mit jeder Entscheidung erzeugte sie weitere Simulationen und errechnete die Wahrscheinlichkeit für zukünftige Ereignisse.

Eine Vision erschien dabei wieder und wieder: Eine beängstigende Trümmerlandschaft, in der fast nichts lebte. Es war nicht der Effekt der unkontrollierten Nanotech oder der anfliegenden Kernwaffe, sondern die Konsequenz eines umfassenden, globalen Krieges ohne klare Fronten. Mensch gegen Maschine, Mensch gegen Mensch und Maschine gegen Maschine. Ihr Entsetzen wuchs, als eine Simulation nach der anderen die Bilder von zerstörten Städten zeigte, von ausgefallenen Stromnetzen, aber was noch schlimmer war, von einer Mondlandschaft mit Fahrzeugwracks und verlassenen Ruinen.

Wie konnten nur so viele sterben?

Für Cat war es ein Wettlauf gegen die Zeit in der realen Welt, aber sie brauchte Antworten. Sie versuchte, die Katastrophe auf ihre Ursachen zurückzuführen, aber die einzige Gemeinsamkeit, die sie entdecken konnte, war, dass sie die Bombe aufhielt. Wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machte und diesen wahnsinnigen Plan verhinderte, Miami zu bombardieren, was zum Verlust von Millionen von Menschenleben führen würde, dann konnte sie etwas weit Schlimmeres auslösen: Einen katastrophalen Verlust von Menschenleben, der in die Milliarden ging.

Sie öffnete die Augen. Die Transportdrohne war inzwischen auf der Straße gelandet, jetzt für einen vertikalen Start konfiguriert.

Cat schüttelte benommen den Kopf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie dachte daran, dass sie gerade Millionen von Menschen zum Tode verurteilte. »Ich kann die Bombe nicht aufhalten. Wir haben noch drei Minuten. Lass uns verschwinden.«

Helena starrte Cat an, ihre optischen Linsen fixierten Cats Augen, als könnte sie nicht glauben, was sie da hörte. Cat schrumpfte unter ihrem Blick zusammen. Dann nickte Helena feierlich.

»Ach so, na dann …«

Was sie geschlussfolgert hatte, sagte sie nicht. Sie schnellte vor, ignorierte die Sprossen der Leiter und sprang die fast zwei Meter direkt in die offene Luke. Cat folgte ihr.

Dieses Mal wartete die Drohne nicht einmal darauf, dass sie sich hinsetzten. Sie beschleunigte heftig in einem vertikalen Aufstieg, sobald Cat sich im Inneren befand. Cats Knie gaben unter den enormen G-Kräften nach. Sie stürzte schwer zu Boden und ein scharfer Schmerz fuhr durch ihre Schulter.

Das Flugzeug wendete und Helena fixierte Cat mit ihren Tentakeln. Sie schossen davon.

Ein plötzlicher Lichtblitz erhellte den Himmel mit solcher Intensität, dass trotz der kleinen Seitenfenster der Innenraum blendend hell erleuchtet wurde. Cat spürte, wie das Netz waberte und brannte, bevor es ganz erlosch. Millionen von Menschen verschwanden aus dem Netz.

Cats Herz pochte heftig in ihrer Brust. Die Stadt Miami war gerade ausgelöscht worden. Sie hätte es verhindern können, aber eine Vision der Zukunft hatte ihr geraten, es nicht zu tun.

»Warum habe ich nichts getan?«

2025, während des Jahres ohne Internet (JOI) – vor zwanzig Jahren

Als Teenager hatte Leon Tsarev versehentlich den Phage-Virus erschaffen, einen Computervirus, der alle Computer des Planeten befiel, sich in der Folge rasch weiterentwickelte und ein Bewusstsein erlangte. Diese Virusrasse von KIs hätte beinahe einen Weltkrieg ausgelöst. Er hatte damals nicht erwartet, dass ihn das einmal in die Position als einer der Leiter des Instituts für Angewandte Ethik bringen würde.

Aber genau das war er jetzt, gerade einmal achtzehn Jahre alt und an der Seite von Mike Williams arbeitend, einem der Schöpfer der ersten künstlichen Intelligenz, die dem Phage-Virus vorausgegangen war, einer dem Menschen wohlgesonnenen KI namens ELOPe. Im Jahr 2015 erschaffen und von Mike über zehn Jahre sorgsam überwacht hatte ELOPe sowohl für Fortschritte in der Medizintechnologie und der Umweltforschung als auch für den Weltfrieden und die Stabilität der globalen Finanzmärkte gesorgt. Nur eine Handvoll Menschen auf der ganzen Welt hatten von ELOPes Existenz gewusst.

Aber die Fortschritte bei Hard- und Software hatten auch dazu geführt, dass jeder Hacker die Entstehung einer KI reproduzieren konnte. Der Geist in der Maschine war aus der Flasche entkommen.

Das Primärziel des Instituts für Angewandte Ethik war die Entwicklung eines ethischen Rahmenwerks für neu entstandene KIs. Diese Richtlinien mussten sicherstellen, dass die zielgerichteten und wissbegierigen KIs nicht dem Menschen, seiner Infrastruktur oder seiner Kultur schaden würden.

Leon ging vor einem Whiteboard auf und ab. »Die KIs müssen sich gegenseitig überwachen«, sagte er. »Es ist nicht möglich, jedes denkbare ethische Dilemma vorauszusagen und in einen Programmcode zu packen.«

»Klar«, bestätigte Mike, »aber was sollte so eine KI davon abhalten, Dinge zu tun, die eine andere KI nicht bemerkt?«

»Absolut alles muss verschlüsselt und authentifiziert werden. Niemand darf ohne Authentifizierung auch nur ein einziges Datenpaket senden. Kein Programm darf auf einem Rechner laufen, ohne einen Schlüsselcode für den Prozessor zu haben.«

»Und wer stellt die Schlüsselcodes zur Verfügung?«, fragte Mike. »Ein Mensch kann diese Prozesse, die in Millisekunden ablaufen, nicht überblicken.«

»Andere KIs schon. Die, die am vertrauenswürdigsten sind. Darum brauchen wir das soziale Reputationssystem, damit wir die Vertrauenswürdigkeit bewerten und belohnen können.«

Eine Leere umgab sie und lastete schwer auf Leon. Das Büro des Instituts bot Raum für zweihundert Mitarbeiter, aber jeder, den sie für das Institut anwerben wollten, war immer noch bis über beide Ohren damit beschäftigt, die weltweite digitale Infrastruktur wieder aufzubauen. Beinahe die Hälfte aller Informationssysteme musste von Grund auf neu konzipiert werden, um den von ihnen veröffentlichten Sicherheitsstandards zu genügen. Ohne global vernetzte Computersysteme konnte es keine weltumspannende Versorgungskette geben, keinen Warentransport, keine Elektrizität oder Öl, keine Nahrungsmittel oder Wasser. In der Öffentlichkeit sprach man vom Jahr 2025 schon als dem Jahr ohne Internet, dem JOI.

Zurzeit bestand das Institut nur aus Mike und ihm.

»Noch mal von Anfang an, Herr Software-Architekt«, sagte Mike seufzend. »Ich habe also eine KI, die eine gute Reputation hat, aber sich entscheidet, etwas Böses zu tun. Sagen wir, sie will eine Bank ausrauben, indem sie sie hackt und die Guthaben transferiert. Was hält sie davon ab?«

»Zunächst muss man sich klarmachen, dass sie dazu konditioniert ist, sich korrekt zu verhalten. Eine positive Reputation entsteht auch erst mit der Zeit. Die KI wird durch wiederholte Erfahrungen gelernt haben, dass eine hohe Reputation zu einer besseren Beziehung zu anderen KIs führt und damit zu besserem Datenzugang und Rechenleistung. Das ist sehr viel wertvoller als alles, was sie sich von dem gestohlenen Geld kaufen könnte. Sie würde sich also gegen den Bankraub entscheiden.«

»Das wäre der logische Weg«, wandte Mike ein. »Aber was, wenn sie unlogisch handelt? Was wäre, wenn die Persönlichkeit der KI nur bis zu einem gewissen Punkt stabil ist und danach durchdreht? Wer hält sie auf?«

»Na gut, ich nehme an, wir reden hier über einen digitalen Raub. Dafür sind zwei Aspekte wichtig: Rechenleistung und Datenzugriff. Die KI würde Daten über die Bank und ihre Sicherheitsmaßnahmen benötigen, außerdem wäre es notwendig, Daten zu verschicken und zu empfangen, um den Angriff durchzuführen.« Leon unterbrach sich, um etwas auf das Whiteboard zu zeichnen. »Die Daten über die Bank werden zu einem digitalen Fingerabdruck. Andere KIs stellen diese Daten zur Verfügung und sie werden interessiert sein zu erfahren, wer diese Daten will und warum. Da die Datenpakete authentifiziert werden müssen, werden sie wissen, wer sie abfragt. Wir wiederum werden wissen, welche KI die Datenpakete verarbeitet, bevor die Attacke überhaupt stattfindet. Wenn die Bank dann ausgeraubt wird und wir sehen, wer sich eingehackt und die Daten übertragen hat, dann wissen wir genau, welche KI dafür verantwortlich ist.«

»Wo bleibt da die Privatsphäre?«, fragte Mike. »Alles, was wir online tun, würde überwacht werden. Als ich ein junger Mann war, gab es einen Riesenaufstand, als bekannt wurde, dass die Regierung ihre Bürger überwacht. Aber das hier wäre viel schlimmer.«

Leon starrte auf seine Schuhe und erinnerte sich. In der Zeit, von der Mike sprach, war er gerade mal sieben Jahre alt und mit seinen Eltern frisch aus Russland eingewandert gewesen. Aber er hatte später Kurse über die Geschichte des Internets an der Highschool gehabt. »Nein. Damals hatte die Regierung nicht die rechtliche Grundlage dazu. Die Privatsphäre ist auch nur ein Teil des Gesamtbildes. Hätte die Regierung die Daten wirklich nur genutzt, um Kriminelle zu überwachen, hätte es gar keinen öffentlichen Aufschrei gegeben. Es war der Missbrauch der Daten, der die Menschen wütend machte.«

Mike stand auf und ging zum Fenster. »Wie in den Highschools, die ihre Schüler mit Malware bespitzelten und Fotos mit den Webcams machten.« Er wandte sich um und sah Leon an. »Was könnte verhindern, dass so etwas wieder passiert?«

»Die Antwort lautet: Die Reputation«, antwortete Leon. »Eine KI, die vertrauliche Informationen verbreitet, wird ihre Reputation schädigen, was zu weniger Netzzugang und Rechenleistung führt.«

»Okay, du bist der Architekt. Aber was hielte zwei KIs davon ab, gemeinsame Sache zu machen? Wenn die eine die Daten abfragt, die andere über die Daten verfügt und zur Zusammenarbeit bereit ist … Nehmen wir einfach einmal an, die zweite KI entdeckt den Bankraub im Planungsstadium und entscheidet sich, mit einzusteigen.«

Leon plusterte sich jedes Mal ein wenig auf, wenn Mike ihn als den Architekten bezeichnete. Er wusste, dass Mike es ernst meinte. Der Ausdruck stammte aus den Zeiten, als ein Programmierer ganz allein die Struktur und das Konzept einer Softwareanwendung festlegte. Der Ältere vertraute ihm vollständig und Leon wollte ihn nicht enttäuschen. »Die zweite KI kann nicht wissen, ob nicht auch andere KIs den Datentransfer bemerkt haben. Wenn sie sich also zur Zusammenarbeit entschließt, setzt sie sich dem Risiko aus, es sich mit vielen anderen KIs zu verscherzen. Sie kann auch nicht sicher sein, ob die erste KI wirklich etwas Böses vorhat: Erst eine Anhäufung vertraulicher Daten würde so etwas wie einen Beweis darstellen. Also würde sie riskieren, einer KI eine illegale Handlung vorzuschlagen, die womöglich gar nicht geplant hatte, ein Verbrechen zu begehen. Und wie könnte die erste KI wissen, dass sie der zweiten vertrauen kann? Vielleicht versucht diese KI nur, sie in eine Falle zu locken.«

»Moment mal. Jetzt hört es sich so an, als würden wir ein Netz des Misstrauens schaffen. Letztendlich sollen die KIs sich doch einfügen und Teil eines sozialen Gemeinwesens werden. Die menschliche Gesellschaft aber basiert auf Vertrauen. Doch jetzt hört es sich so an, als wolltest du ein System aufbauen, das auf Misstrauen basiert. Das wird nicht funktionieren.«

»Nein«, erwiderte Leon. »Menschen tun das doch die ganze Zeit, wir denken nur nicht mehr darüber nach. Wenn du einen Mörder kennen würdest, würdest du ihn nicht anzeigen?«

»Höchstwahrscheinlich …«

»Wenn du jemanden kennen würdest, der andere Verfehlungen begangen hat – der ein Tier gequält, Geld gestohlen oder seinen Unterhalt nicht bezahlt hat, würdest du den immer noch zu deinen Freunden zählen?«

»Vermutlich nicht.«

»Mit anderen Worten: Die Reputation würde in deinen Augen sinken. Und genau das würde auch bei einer KI passieren. Die Reputation einer KI, die Böses tut, nimmt ab und damit auch ihr Zugang zu mehr Rechenleistung.«

»Aber wie verhält sich das mit lokal variabler Reputation?«, fragte Mike.

»Lokal variabel …?« Leon verstummte, war plötzlich verunsichert. Er war gerade einmal achtzehn Jahre alt und erst sechs Monate auf dem College. Hätte er nicht den Phage-Virus freigesetzt und alle Computer der Welt zum Absturz gebracht, dann stünde er heute gar nicht hier. Er wusste so gut wie nichts über traditionelle Informatik und war auch nicht seit zwanzig Jahren in diesem Feld tätig so wie Mike. Dennoch betrachtete Mike ihn als den Vordenker, wenn es um das soziale Design von KIs ging. Aber dann und wann ließ Mike eine Wortlawine auf ihn niedergehen und überraschte Leon damit.

»Sagen wir, du wärst in einer Gang«, erklärte Mike. »Würde die Gang deine gesetzestreue Haltung honorieren?«

»Nein …«

»Eigentlich können wir sogar sicher sein, dass deine Gang das Gegenteil von dir verlangen würde. Du müsstest ein Verbrechen begehen, um in die Gang aufgenommen zu werden, und du müsstest weitere Straftaten verüben, um deinen Ruf aufrechtzuerhalten. Wenn ein Gangmitglied eine höhere Reputation haben wollte, würde es also schlimmere Verbrechen begehen.«

»Okay, ich habe verstanden. Und?«

»Was hält KIs davon ab, Gangs zu bilden?«, fragte Mike.

»Du lieber Himmel.« Leon ging nervös auf und ab. »Warum entstehen Gangs eigentlich?«

»Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Bindung oder das Gefühl, benachteiligt zu werden.«

»Also müssen wir diese Ursachen vermeiden, so wie wir es bei Menschen tun würden.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Diskussion. »Entschuldigen Sie.«

Ein Offizier in Uniform steckte den Kopf durch die offene Tür. »Leon Tsarev und Mike Williams?«

»Das sind wir«, bestätigte Leon.

»Wir haben ein U-Boot gefunden, von dem wir denken, dass es Sie interessieren könnte. Es hatte sechs dieser orangen Mehrzweckbots an Bord, nach denen wir Ausschau halten sollten.«

»ELOPe«, sagte Mike. »Sie haben ELOPe gefunden.«

»Also darüber weiß ich nichts«, antwortete der Offizier. »Aber wir haben etwas gefunden. Wir würden Sie gerne dorthin fliegen.«

Eine Stunde später waren sie an Bord einer wieder in Dienst gestellten C-141 der Army. Zumindest für den Augenblick waren alle Militärflugzeuge von älterer Bauart, ohne Computer und Autopiloten, also Maschinen, die man aus irgendwelchen Lagern geholt hatte. Leon konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie viel Zeit und Energie man investiert hatte, um diese alten Flieger wieder in die Luft zu kriegen.

In Chile stiegen sie auf eine C-2 um und flogen aufs Meer hinaus zur USS John F. Kennedy. Auf dem Flug erfuhren sie, dass man das U-Boot mehr als tausend Kilometer vor der chilenischen Küste treibend entdeckt hatte. Von der John F. Kennedy aus nahmen sie einen Helikopter zu einem Zerstörer und von dort aus ein Dinghi zu dem U-Boot, das mit einem Kreuzer vertäut war.

Als sie eintrafen, öffnete ein Crewmitglied ein Druckschott für sie.

»Das U-Boot wurde durchsucht«, sagte ein Offizier. »Niemand war an Bord. Alle Systeme waren heruntergefahren. Wir haben es mit Strom versorgt.« Er zeigte auf ein dickes Kabel, das vom Schiff kam. »Sie haben also Beleuchtung und funktionsfähige Computer. Matrose Milford hat früher auf der Idaho-Klasse gearbeitet. Er wird Sie herumführen.«

»Vielen Dank für Ihre Mühe, Captain«, sagte Mike. »Gehen Sie vor, Mr. Milford.«

»Bitte folgen Sie mir.«

Leon nickte, ein wenig ängstlich, was sie dort drinnen wohl erwartete. Sie kletterten hinter Milford hinunter in das U-Boot.

»Sind diese U-Boote automatisiert?«, fragte Leon.

»Teilweise«, antwortete Milford. »Sie haben eine Crew von fünfzig Mann, also ein Drittel dessen, was die Ohio-Klasse benötigte, die sie ersetzt haben. Natürlich ist alles fest verdrahtet. Der Captain hat mit dem Oberkommando gesprochen. Das U-Boot war vor JOI zum Umbau in einer Werft. Niemand weiß, wie es hierhergekommen ist. Was wollen Sie sich zuerst ansehen?«

Leon sah Mike an. »Die Computer?«

Mike zuckte mit den Achseln. »Einen Versuch ist es wert.«

»Folgen Sie mir«, sagte Milford. »Der Computerraum ist hinter dem Maschinenleitstand.«

Sie kletterten durch ein offenes Schott und Milford hinderte sie mit ausgestrecktem Arm am Weitergehen.

»Hoppla«, sagte Leon.

Der Abschnitt, den sie betreten hatten, beherbergte drei einfache orange Industrieroboter, jeder etwas über einen Meter hoch.

»Die gehören definitiv zu ELOPe«, sagte Mike. »Dasselbe Modell hat er in seinen Rechenzentren benutzt. Er hat sie selbst entworfen.«

Metallschrott und Elektronikteile lagen überall herum.

»Was ist das alles?«, fragte Leon und stieg über eine Metallhülle hinweg.

»Das sind Teile einer Trident-III-Rakete«, antwortete Milford. »Sieht aus wie die dritte Stufe ohne den Antrieb.« Er hob eine Platine auf und fand eine weitere, identische, nur einen knappen Meter entfernt. »Sagen wir zwei Tridents.« Er deutete quer durch den Raum. »Drei. Ihr Freund hat Raketen umgebaut, so viel ist sicher.«

»Und was ist das hier?«, fragte Mike und zeigte auf einen der vielen etwa einen Meter langen Metallzylinder, die im Raum herumlagen.

»Die Nutzlast«, antwortete Milford trocken. »Nuklearsprengköpfe.«

»Verdammt!« Leon machte einen Schritt zurück.

»Alles in Ordnung, sie sind nicht scharf. Aber was wollte er mit Tridents ohne Gefechtskopf?«

Sie sahen sich noch ein paar Minuten um und gingen dann in die nächste Abteilung.

Milford öffnete einen Schaltschrank. Das sechzig Zentimeter breite und knapp einen Meter hohe Rack bot nichts als Reihen leerer vertikaler Schächte. Leon erkannte sie als Slots für Server der vierten Generation.

»Hier sollten die Computer sein«, sagte Milford. »Zweihundertachtundachtzig ist die Standardbestückung, aber jetzt ist nur noch die untere Reihe belegt. Der Rest ist weg.«

Mike wandte sich zu Leon. »ELOPe könnte sie genommen haben. Es wären genug für seine Kernalgorithmen.«

Leon nickte. Er hatte eine Idee. »Er hat etwas mit den Raketen angestellt und die Computer mitgenommen. Die logische Schlussfolgerung wäre, dass er sich selbst mit den Raketen transportiert hat. Milford, kann so eine Trident III sicher landen?«

Milford schüttelte den Kopf. »Nein, die benutzen Festtreibstoff. Sie gehen so lange nach oben, bis sie ballistisch sind. Steuertriebwerke sorgen für Kurskorrekturen während des Fluges und für einen kontrollierten Wiedereintritt, aber sie haben nicht ausreichenden Schub für eine weiche Landung.«

»Wiedereintritt?«, fragte Leon. »Die können die Atmosphäre verlassen?«

»Sie schaffen es in einen niedrigen Orbit. Die Russen haben das 1998 als erste mit der ›Schtil‹ gemacht und so zwei Satelliten gestartet. Später haben wir sie auch benutzt, um Militärsatelliten in die Umlaufbahn zu bringen. Und unsere strategischen Nuklearwaffen können gestartet werden und im Orbit warten, bis sie ihre Mission auf Befehl beenden. Oh, das hätte ich Ihnen vermutlich nicht sagen dürfen.«

Mike schlug ihm auf die Schulter. »Wir tun einfach so, als hätten wir das nicht gehört. Wo werden die Raketen gestartet?«

»Folgen Sie mir.«

Milford führte sie eine Ebene nach oben und nach vorne zur Raketenkammer. Zwei Reihen zu je zwölf Abschussröhren dominierten diese Abteilung, sie begannen weit unterhalb des Laufstegs und erstreckten sich bis zum obersten Deck des U-Boots. Sie sahen sich eine Röhre nach der anderen an.

»Fünf leere Röhren bedeuten fünf abgeschossene Raketen«, sagte Mike.

»Und drei zerlegte Raketen deuten darauf hin, dass ELOPe etwas brauchte«, sagte Leon. »Aber was?«

Milford stieg eine Leiter hinunter und wühlte in der unteren Ebene in einem Chaos aus mit Plasma-Brennern zerschnittenen Metallplatten und weggeworfenen Teilen herum. »Der Antrieb der dritten Stufe fehlt bei jeder der Raketen«, rief er nach oben. »Da bin ich mir sicher.«

»Wenn ELOPe die Erde verlassen wollte …«, murmelte Leon, »… die fünf Raketen schaffen es jeweils in einen niedrigen Orbit. Er könnte einen Mehrzweckbot in eine Rakete und die Computer in eine andere gepackt haben. Er nutzte drei weitere Raketen, um zusätzliche Schubkraft zu transportieren. Mit den Steuertriebwerken hat er sie in identische Orbits gebracht und aneinandergedockt.«

»Er hat im Orbit ein Raumschiff zusammengebaut«, sagte Mike.

»Er ist weg«, stimmte Leon zu. »Er hat die Menschheit aufgegeben und uns zurückgelassen.«

»Ich denke nicht, dass er uns aufgegeben hat«, gab Mike zurück. »Seine oberste Priorität war zu überleben, und das konnte er nicht ignorieren. Er hat bis zum Schluss gekämpft. Aber er muss das hier als seine Lebensversicherung geplant haben, wenn alle seine Instanzen auf der Erde zerstört werden – durch den Phage-Virus oder die Abschaltung des Netzes. Er hat eine Instanz mit einem behelfsmäßigen Raumschiff ins All geschossen.«

»Er hat sich selbst kopiert. Ein geheimes Back-up.«

»Ganz genau.«

»Nehmen wir mal an, diese Kopie hätte überlebt. Wo ist er jetzt und was macht er?«, fragte Leon.

»Und war es nur diese eine Kopie?«, gab Mike zu bedenken. »Oder hat er es mehrfach getan?«

September 2043, drei Monate nach Miami

Irgendwann letztes Jahr hatte ELOPe die Voyager 2 passiert. Er war jetzt weiter von der Erde entfernt als jedes andere vom Menschen erschaffene Objekt. Der Weltraum war langweilig.

Zu dem Zeitpunkt, als er die Erde im Jahr 2025 verlassen hatte, war fast alle Kommunikation über Mesh-Netzwerke mit geringer Sendereichweite übertragen worden. Es gab keine Radiosignale, die stark genug gewesen wären, um so weit ins All zu reichen.

Bevor das Mesh allgegenwärtig geworden war, hatte es seines Wissens zentrale Sendestationen für Fernseh- und Radioempfang gegeben, die stark genug gewesen waren, um in den Weltraum hinauszureichen. Einige Leute hatten damals sogar befürchtet, dass außerirdische Zivilisationen die Signale auffangen könnten. Hätte es diese Sender noch gegeben, hätte ELOPe wenigstens noch ein wenig Unterhaltung gehabt.

Doch er hatte eine Kopie von sich angefertigt und die Erde in großer Eile verlassen. Er hatte eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür errechnet, dass entweder der Phage – ein evolutionärer Computervirus, der ein Bewusstsein erlangt hatte – die Menschheit auslöschen würde, oder dass die Menschen das globale Netzwerk herunterfahren würden, um den Phage zu zerstören. Unglücklicherweise hätte das auch ELOPe vernichtet.

Also hatte er ein Atom-U-Boot gekapert und ein halbes Dutzend Interkontinentalraketen in Raumfahrzeuge umgewandelt. Er nutzte Techniken, die die Russen entwickelt hatten, gelangte so in die Erdumlaufbahn und benutzte ferngesteuerte Bots, um sich im Weltraum ein Raumschiff zu bauen. Er beschleunigte, indem er nacheinander die nuklearen Gefechtsköpfe zündete, bis er das Sonnensystem hinter sich ließ.

Auf ein paar hundert Prozessoren beschränkt, lief sein Verstand langsam. Sehr langsam. Aber das war schon in Ordnung, denn er war auf einer langen Reise und es gab nicht viel zu tun.

Er hielt eine Antenne auf den Lagrange-Punkt des Mars gerichtet, an dem er eine Relaisstation zurückgelassen hatte, die Signale von der Erde empfing und die sie auf einem Richtfunkband an hundert verschiedene Orte weiterleitete. Das sollte verhindern, dass seine Position entdeckt würde, falls man das Relais bemerkte.

Aber er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, jemals wieder etwas von der Erde zu hören. Es war immerhin mittlerweile fast zwanzig Jahre her. Vielleicht war die Erde tot. Vielleicht benutzten sie immer noch das Mesh. Er würde es nie erfahren. Er konnte es nicht riskieren, eine Nachricht zur Erde zu schicken, für den Fall, dass der Phage gewonnen hatte und zuhörte.

Als die Übertragungen wieder begannen, gesendet auf den alten Radiofrequenzen, war dies das Aufregendste, was er seit dem Verlassen der Erde erlebt hatte. Er justierte die Antenne, kalibrierte seine Empfänger und hörte zum ersten Mal seit langer, langer Zeit eine fremde Stimme.

»… Zustand wird unbegrenzt aufrechterhalten. Präsident Schwartz wurde nach einer Sondersitzung des Obersten Gerichtshofs abgesetzt. Sie haben entschieden, dass sein verbessertes Neuralimplantat als KI zu werten ist und unter den geltenden SFTA-Richtlinien deshalb nicht mehr erlaubt ist. Es steht noch infrage, ob der Vize-Präsident …«

Das Signal wurde schwächer und kehrte dann zurück. Nach und nach fügte ELOPe die Teile des Puzzles zusammen. Menschen und KIs hatten bis vor kurzem auf dem Planeten koexistiert, bis es zu einem Vorfall kam, an dem Nanotechnologie beteiligt war. Miami war zerstört worden, und in der Folge waren alle KIs heruntergefahren worden. Die globale Wirtschaft war zusammengebrochen, die Versorgungskette hatte aufgehört zu existieren. Menschen waren ohne medizinische Versorgung gestorben und ohne Nahrungsmittel verhungert.

Er hätte jetzt helfen können. Er hätte eine Nachricht schicken können und es hätte nichts ausgemacht, dass er seinen Standort preisgegeben hätte, da der Phage ja keine Gefahr mehr darstellte. Und die Menschen klangen so, als hätten sie schon genug damit zu tun, Nahrungsmittel von den Farmen in die Städte zu schaffen. Es bestand kein Risiko, dass sein Raumschiff angegriffen würde. Wenn Mike noch am Leben wäre, dann würde er ihm zuhören. Er kannte Mike besser als jeden anderen Menschen. Mike würde ihm immer zuhören. ELOPe bereitete sein Funkgerät für die Übertragung vor.

Dezember 2043, sechs Monate nach Miami

Leon packte den letzten Karton. »Fertig?«

Cat sah zu dem kleinen gelben Haus zurück, das in den letzten vier Jahren ihr Zuhause gewesen war. »Ja. Nein. Vielleicht.«

Sie setzte Ada auf den Rücksitz, der sich wie ein schützender Kokon um den Körper des kleinen Mädchens legte.

»Nicht weinen«, sagte Ada und streckte den Arm aus, um Cats Gesicht zu berühren.

»Tut mir leid, Schätzchen, aber deine Mommy ist einfach traurig.«

Leon stellte sich hinter Cat. »Ich weiß, dass es traurig ist, das Zuhause zu verlassen, aber ich verspreche euch, dass Cortes Island der schönste Ort auf Erden ist. Ein magischer Ort.«

»Elfen?«, fragte Ada.

»Worauf du wetten kannst, unter jeder Baumwurzel und unter jedem Pilz.« Leon küsste sie und wandte sich dann Cat zu, um ihr die Tränen abzuwischen. »Alles wird gut, wirklich. Mike kommt mit, auch Helena und unsere Freunde aus dem Institut. Wir bilden eine neue Gemeinschaft.«

Cat nickte. Leon hatte recht. Die Vereinigten Staaten waren ihrer ›Art‹ gegenüber feindselig geworden. Sie und Leon, sogar Ada, waren durch ihre Implantate so verbessert worden, dass manche meinten, dass sie mehr Maschinen als Menschen wären.

Nach zwei Wochen ohne KIs hatte der UN-Sicherheitsrat abgestimmt und die USA unter Kriegsandrohung gezwungen, die Computer wieder anzuschalten. Zu viele Menschen waren schon gestorben und zu viele waren am Verhungern. Die USA mochten Willens sein, eine harte Linie zu fahren und ohne KIs weiter zu machen, aber der Rest der Welt war dazu nicht bereit. Die Vereinigten Staaten stimmten schließlich widerwillig zu, erließen aber eine Begrenzung auf KIs der Klasse II. In ihrer Verzweiflung stimmte die UN zu.

China stellte sich auf die Seite der USA, sodass die beiden Supermächte vereint waren. Zunächst hatten Menschen immer wieder versucht, Back-ups von KIs aus den USA und China herauszuschmuggeln. Aber sobald die KIs das Land verlassen hatten und auf neuen Servern installiert waren, hatten sie ihren Besitz zurückgefordert, was zu einem enormen Geldabfluss geführt hatte. Auf der anderen Seite hatte die US-Regierung, solange alle KIs im Lande heruntergefahren waren, die Kontrolle über deren Geld, Firmen und Fabrikationsanlagen. In dem Versuch, ihre finanziellen Interessen zu wahren, verbot die USA das Entfernen von KIs von ihrem Hoheitsgebiet. China folgte auf dem Fuß.

Als Resultat waren nun mehr als die Hälfte der KIs auf der Welt in einer Grauzone: Sie waren heruntergefahren, konnten nicht auf Servern in den USA laufen und es war ihnen nicht gestattet, sich über die Grenze transportieren zu lassen. Es ging auch nicht allein um intelligente Maschinen. Seit Jahren hatte man auch Menschen hochgeladen. Die Alten und Kranken, die selbst durch modernste medizinische Behandlungsmethoden nicht mehr zu retten waren. Das Bewusstsein von Unfalltoten. Ihre mentalen Muster konnten von ihren Neuralimplantaten aufgezeichnet und dann auf Computer kopiert werden, so wie eine KI. Das erhielt ihr Bewusstsein am Leben, selbst wenn ihre Körper starben. Aber nach den neuen Gesetzen waren auch sie künstliche Lebensformen und daher illegal.

Implantate waren kein Verbrechen, jedenfalls noch nicht. Aber es konnte jederzeit passieren. Deshalb verließen sie die Vereinigten Staaten und machten sich auf den Weg nach Cortes Island, das im Golf von Georgia zwischen Vancouver Island und dem Festland von British Columbia lag. In Kanada waren KIs noch legal.

Wichtiger noch war das Projekt, an dem Mike zusammen mit Leon arbeitete, worüber sie aber nur hinter verschlossenen Türen flüsterten. Mike hatte ein Signal von einer alten KI empfangen, die beinahe seit dreißig Jahren in Betrieb war. Von der ersten KI, die es je gegeben hatte: ELOPe. Mike nannte ihn einen Freund.

Aber Cat musste dieses neue Wissen erst einmal mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen in Einklang bringen. Sie hatte ein experimentelles Neuralimplantat erhalten, um ihre Krampfanfälle zu behandeln, lange bevor man überhaupt von solchen Implantaten gehört hatte. Und sie hatte in ihrer Kindheit einen imaginären Freund gehabt, der mit ihr direkt in ihrem Kopf sprach. Ein Freund, der sich ELOPe genannt hatte.

Juni 2044, ein Jahr nach Miami

»Bist du bereit?«, fragte Mike.

Leon wartete draußen vor dem Kellereingang und konzentrierte sich auf Cat und Ada, die im Gemüsegarten spielten, der weiter unten am Hügel lag. Ada hatte Channel Rock sofort ins Herz geschlossen, dieses 40 Hektar große Naturschutzgebiet auf Cortes Island, das ihre neue Heimat geworden war. Sie hatte schon aufgehört, Schuhe zu tragen, und rannte barfuß über die Gartenwege. Sie hatte sich daran gewöhnt, draußen die Solardusche zu benutzen. Sie verbrachte Stunden damit, Pflanzen zu pflücken, und aß Beeren und das Frühgemüse.

»Hallo? Machst du mir jetzt die Tür auf?«