Die Unausstehlichen & ich (Band 3) - Die Welt ist voller Wunder - Vanessa Walder - E-Book

Die Unausstehlichen & ich (Band 3) - Die Welt ist voller Wunder E-Book

Vanessa Walder

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Beschreibung

Enni schreibt ihrem Vater ins Gefängnis und bittet ihn um Rat, denn Dante und sie versuchen herauszufinden, welche Verbindung zwischen Dantes Vater und dem Internat besteht. Um mehr zu erfahren, müssen sie unbedingt nach München, wo sich die Stiftung befindet, die Ennis und Dantes Schulgeld bezahlt. Ein Plan muss her: Sie bringen ihren Deutschlehrer dazu, mit ihnen bei dem anstehenden Theaterfestival in München teilzunehmen. Doch dann wird daraus so viel mehr: immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht, und es scheint, als spiele die ganze Welt Theater … Life Saaks – kommt drauf an, was du draus machst! Der dritte Band der neuen Kinderbuch-Reihe von Bestseller-Autorin Vanessa Walder. Große Literatur für Kinder, einfühlsam und authentisch erzählt. Mit vielen Bildern und Scribbles von Barbara Korthues – für Fans von John Green, Raquel Palacio und Andreas Steinhöfel und Leser ab 10 Jahren. Der Titel ist auf Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 215

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INHALT

An die JVA Karbeck

Gefahr im Verzug

Safe System

Alte Geheimnisse

Helikopter-Eltern

Elektroschock

Durchbruch

Sein oder Nichtsein

Alles Theater

Panther Mimi

Feuer oder Tod

Alarmstufe Rot

Entführung

Offen

999990

Plan B

Gespräche mit Geistern

Am offenen Herzen

Entscheidung

FÜR DORIS UND ARTUR MATT

AN DIE JVA KARBECK

Wenn mich jemand nach meinem Vater fragt, fällt mir als Erstes unser Abschied ein. Nicht der letzte, sondern der erste. Das war im Gericht, nach der Verhandlung, als klar war, dass du in den Knast musst. Ich mein, das war irgendwie schon klar, als die Polizei bei uns in den Keller is und die ganzen Pflanzen gesehen hat. Aber bis dahin hab ich dir immer geglaubt, wenn du gesagt hast: „Alles wird gut, Elenie! Versprochen.“

Warum hätt ich dir nich glauben sollen? Ich war noch so klein und hab immer gedacht, mein Papa ist Superman und der Weihnachtsmann zugleich. Nee, ich hab nicht gedacht, dass du fliegen kannst oder heimlich sechs Rentiere in der Garage hast … bin ja nicht voll psycho. Aber du warst unbesiegbar, für mich. Platter Reifen – Papa wechselt ihn – wir müssen nicht mal aussteigen. Feuer in der Küche – Papa löscht, reißt alle Fenster auf und bestellt Pizza. Die Schnittwunde in meinem Daumen – Mama hat gekotzt, aber mein Papa macht Witze über Vampire und einen Verband drüber. Eine Fledermaus hat sich in meinem Kleiderschrank eingenistet – Papa fängt sie ein und lässt sie wieder frei. Mama bricht sich ein Bein – Papa trägt sie wochenlang die Treppen rauf und runter.

Du hast immer alles im Griff gehabt. Bis du plötzlich nichts mehr im Griff hattest. Da war ich acht und hab kapiert, dass du nicht der Weihnachtsmann bist und Superman schon gar nich. Weil im Gericht damals, da warst du besiegt. Das is okay für mich. Heute. Weil jetzt bin ich nicht mehr klein. Ich weiß, dass der Weihnachtsmann erfunden und Superman gezeichnet is. Ich brauch auch keinen Superman mehr. Aber ich glaub, ich brauch meinen Vater. Darum schreib ich dir diesen Brief. Ich hab dich seit drei Jahren nicht mehr um irgendwas gebeten, Papa. Nicht, weil ich drei Jahre nichts gebraucht hab, sondern weil ich gewusst hab, du kannst mir eh nicht helfen. Nur bei der Sache hier, da kann mir niemand helfen außer dir … Ich erzähl dir alles und dann ist es deine Entscheidung. Weil ich will nicht entscheiden müssen, nicht diesmal. Diesmal ist alles, was ich mache, falsch. Alles, was ich mache, tut irgendwem weh. Irgendwem, den ich lieb hab. Mama, Noah, den Haagens, Dante, Karan, Mattis, Lucky, Lilith … Ich will keinem mehr wehtun. Und ich will auch nicht mehr rotsehen.

Worum es geht? Um Geheimnisse. Um verlorene Väter. Um Wunden und um Wunder. Aber ich fang besser am Anfang an. Angefangen hat alles, als ich nach Saaks gekommen bin.

GEFAHR IM VERZUG

Wir hatten einen Deal: dass ich dir jede Woche ’ne Mail schicke und dir erzähl, wie’s mir geht. Meistens hab ich mich dran gehalten. Seit ich hier in Saaks bin, manchmal sogar öfter. Hier ist es normal! Ja, ich weiß, ich soll nich fluchen. So habt ihr mich nicht erzogen. Aber mal ehrlich – die letzten drei Jahre habt ihr mich gar nicht erzogen. Da war ich in Heimen und WGs und bei Pflegeeltern. Wenn ich mich da immer an eure Regeln gehalten hätte, wär ich voll am gewesen. Und du hast dich auch nicht immer an die Regeln gehalten. Ich mein – du sitzt im Knast, ver  ! Ich hab echt genug Gründe zu fluchen. Trotzdem: Ich kann’s durchstreichen, wenn’s dich stört.

Es ist so … Seit wir ausgezogen sind, Mama und ich, seit der Scheidung … war nie wieder irgendwas so richtig normal, okay? Wir haben da nie drüber geredet. Wie denn auch? Und wo? In dem blöden Besucherraum in der Justizvollzugsanstalt? Mit ’ner Tante vom Jugendamt neben uns, weil Mama mich nich bringen möchte? Ich weiß, du hast versucht, es mir zu erklären. Mama wollt’s mir erklären. Ihr habt’s beide nich gerafft: dass ich eure Geschichten nicht hören will!

Alle erzählen Geschichten, andauernd. Und jeder macht sich in seiner zum Helden. Versteh ich nicht. Kapiert das denn niemand: Wenn du aus dir was machst, was du nicht bist, dann glaubt dir keiner mehr den Rest. Ihr habt echt gebaut. Beide. Mega  . Die  , die ihr gebaut habt, is so groß, dass man sie vom Weltall aus sehen kann wie die Chinesische Mauer. Das is ’ne Tatsache. Und dass ich euch lieb hab, das is auch ’ne Tatsache. Das is genau das Problem, Papa. Weil: Die zwei Tatsachen zusammen sind voll die Hölle. Es wär so einfach, wenn ich euch hassen würde. Noch einfacher wär’s, wenn ihr keine gebaut hättet. Wenn ihr euch einfach getrennt hättet und euch ’n Plan gemacht, wann ich bei dir bin und wann bei Mama. Is nich so schwer. Andere kriegen’s hin. Ihr hättet nur ’n Kalender gebraucht. Und euch mal kurz nicht hassen dürfen, zwanzig Minuten lang …

Aber nee – mein Vater ruft die Polizei und erzählt denen, meine Mama würd mir nix zu essen geben. Wie alt bist du? Acht? Nee, ich hätt dir auch mit acht sagen können, dass man für alles ’nen Plan braucht. Dass du dir vorher überlegen musst, was bei ’ner Gleichung rauskommen soll. Was hast du gedacht, was passiert? Klar schicken die das Jugendamt. Kann ja sein, dass da echt ’n Kind verhungert, weil die Mutter Drogen nimmt oder so. Das gibt’s wirklich. Und das seh’n die halt nich auf den ersten Blick. Ich war ja immer klein und dünn. Also haben die mich mitgenommen. Macht man so. Is Vorschrift. „Gefahr im Verzug“ nennen die das. Ab da war normal vorbei. Ich hab nie kapiert, warum du das gemacht hast. Bis ich angefangen hab, rotzusehen. Seitdem weiß ich, dass manchmal das Denken aufhört, dass man etwas tut, ohne zu überlegen, weil einem das Meer in den Ohren rauscht und vor deinen Augen alles rot wird.

Passiert mir immer, wenn ich mich echt krass aufrege. Wenn sich wer benimmt wie das allerletzte  . So was triggert was bei mir. Dann hab ich so ’n Rauschen in den Ohren. Is wohl mein Blut, weil mein Herz anfängt, so schnell zu pumpen, dass es durch mich durchschießt wie Wasser durch ’n Feuerwehrschlauch. Dann fang ich an rotzusehen. So richtig. Als würd mir Farbe in die Auge tropfen und verlaufen. Atmen ist schwer und Denken unmöglich. Meistens weiß ich gar nicht, was passiert, bis das Rauschen wieder aufhört und das Rot weggeht. War’s so bei dir damals? Warst du so wütend, dass das Denken aufgehört hat? Weil dann weiß ich, wie sich’s angefühlt hat. Aber okay ist es trotzdem nicht. Weil wenn wer Kinder hat, dann darf er nicht mit dem Denken aufhören, finde ich. Nie. Auch nicht für eine Sekunde.

Eine Sozial-Frau hat mir mal gesagt, dass es auch eine Chance sein kann, wenn man bei ’ner anderen Familie aufwächst. Genauso, wie’s ’ne Chance sein kann, wenn du in ein anderes Land ziehst, wo du die Sprache nicht kannst und keinen kennst und dort alle mit Stäbchen essen, auf der falschen Seite Auto fahren oder sich verbeugen, statt die Hand zu geben.

Vielleicht hat sie recht. Aber sie war nicht aus ’nem anderen Land. Und sie hat nicht bei ’ner anderen Familie gewohnt, auch als Kind nicht. Darum hab ich ihr nicht zugehört. Weil, dass sie das gesagt hat, das war so ’n bisschen, als würd sie in ’nem Boot neben mir herfahren und mir erzählen, wie geil es is, dass ich ans Ufer schwimmen darf und davon Muskeln krieg.

Weißt du, Papa … das Schlimmste war gar nich, dass ich in ’nem Heim wohnen musste. Oder in ’ner WG. Oder bei Pflegeeltern. Das war manchmal schlimm, ja, weil ich mir das nicht ausgesucht hab. Weil mich keiner gefragt hat. Aber am schlimmsten waren die Besuche von Mama und die Besuche bei dir. Dass ihr jedes Mal fast geheult habt bei der Begrüßung. Und jedes Mal beim Abschied. Und das Dazwischen! Wo ihr so getan habt, als wär alles voll normal und okay. Und ich so getan hab, als wär alles normal und voll okay.

Als alles noch gut war, da wollte Mama nicht, dass ich zu meinem sechsten Geburtstag ’n Skateboard bekomme. Du hast gesagt: „Is mir lieber, sie kriegt eins, solang sie noch Milchzähne hat.“

Ich hab mir nie ’n Zahn ausgeschlagen. Ich hab mir auch keine Knochen gebrochen. Aber ich hab dauernd aufgeschürfte Knie gehabt, weil die Knieschützer voll steif und waren und ich die nie angezogen hab. Das hat dann immer gebrannt wie Hölle, wenn ich hingefallen bin. Und dann is so ’ne Kruste gewachsen. Die hat auch gebrannt. Aber ganz schlimm war’s, kurz bevor die Kruste aufgeplatzt is. Als sie gespannt hat bei jeder Bewegung. Wenn sie zu früh platzt, dann blutet’s drunter wieder. Zehn Tage. So lang dauert’s vom Aufschürfen, bis die Kruste abblättert und du die Knie wieder normal abbiegen kannst.

Besuchstage mit euch waren einmal die Woche. Alle sieben Tage. Und jedes Mal ist die Kruste wieder aufgeplatzt. Jedes Mal wenn ich euch gesehen hab, hat’s danach wieder genauso wehgetan wie kurz nach’m Hinfallen. Deshalb bin ich dauernd abgehauen und zurück nach Hause. Hat lang gedauert, bis ich gemerkt hab, dass das nix bringt. Weil die halt immer schon wussten, wo ich hinwill. Trotzdem: Aufgeben is nich mein Ding. Da fühl ich mich wie der letzte Loser. Irgendwann hab ich’s aber kapiert. Ich bin nich mehr abgehauen. Nur konnt ich auch nicht mehr dauernd die Kruste zu früh abreißen. Darum wollt ich euch nicht mehr sehen. Ich hab diesem Sozial-Onkel gesagt, ich will sechs Monate ohne euch. Und er hat’s verstanden. Er hat versprochen, dass er’s euch erklärt. Hans war das. Die Namen von den Guten hab ich mir immer gemerkt. Der war schon älter, mit grauen Haaren. Aber seine Augen waren jung und er hat richtig hingeguckt. So Leute gibt’s nich oft. Die nicht schon ein fertiges Bild im Kopf haben, bevor sie hinsehen. Sondern abwarten, sich alle deine Farben und Linien genau ansehen. Denen nicht viel entgeht.

„Ich kümmer mich drum“, hat Hans gesagt. Und ihm hab ich’s geglaubt. Der hat auch nich bei einer anderen Familie gewohnt oder ist aus ’nem anderen Land gekommen. Er hat mich genauso wenig in sein Boot ziehen können. Aber er hat kapiert, dass ich am Schwimmen bin, und hat versucht, dass ich ’ne Pause krieg.

Jetzt hab ich euch seit vier Monaten nicht gesehen, Mama und dich. Ich hab versucht, nicht an euch zu denken, weil das is auch nicht gut für die Kruste. Hat nich geklappt, klar. Ihr fehlt mir. Sehr.

Trotzdem – es is besser geworden, seit ich hier in Saaks bin. Ich hab dir ja alles geschrieben. Dass das Internat auf ’nem Berg hockt wie ein fetter Adler. Dass nur vierundzwanzig Kinder hier wohnen. Die anderen Schüler kommen mit der Gondel aus’m Tal hoch. Du weißt, dass ich als Einzige im zweiten Stock wohne und dass ich einen Siebenschläfer als Mitbewohner hab. Du weißt von meinen neuen Freunden. Von Dante und Karan, Mattis und Lucky. Und von Lilith und Alba. Was du nicht weißt ist, dass es uns offiziell gar nicht gibt.

Das Saakser Internat existiert nicht. Es gibt keine Homepage, keine Telefonnummer, keinen Zeitungsartikel, gar nix! Ja, ich weiß! Jetzt willst du wissen, warum ich dir vorher nix davon geschrieben hab. Ich weiß nicht. Ich glaub, ich hab Angst gehabt, dass du’s irgendwie auffliegen lässt, bevor ich rausgefunden hab, was hier wirklich abgeht.

Es is nämlich so: Das is’n Mega-Luxus-Teil, dieses Internat. Für Kinder von Leuten mit richtig echt Kohle. Kostet fast viertausend Euro im Monat. Für alle – bis auf zwei. Zwei Schüler hier oben haben ’n Stipendium und müssen gar nix zahlen: Dante Dahlem. Und ich, Elenie Alser.

Jetzt fragst du dich:  , warum das denn? Keine Ahnung! Dante kann’s nich erklären und ich auch nich. Allerdings haben wir ’ne Vermutung. Ich glaub, damit fang ich am besten an. Weil vor sechs Wochen hatte Dante ’ne Idee. Dante is gut mit Ideen. Aber auch, wenn du die krass geilste Idee der Welt hast, brauchst du immer noch einen Plan, damit was draus wird. Und ich … ich bin richtig gut mit Plänen, weißt du ja.

SAFE SYSTEM

Also, vor sechs Wochen, da klopft’s nachts an meinem Fenster … im zweiten Stock. Es ist schon spät. So spät, dass die Lichter im Tal tief unter dem Internat fast alle aus sind. Ich lieg in meinem riesigen Himmelbett mit den geschnitzten Bettpfosten und lese Shakespeare. Okay, nein, mach ich nicht. Das hätt ich lesen sollen, aber ich hab in meinem Mathebuch gelesen. Ich find Mathe immer noch geiler als jedes andere Fach. Geist hat sich auf meinem Bauch eingerollt und lässt sich von mir kraulen. Geist sieht aus wie ein kleines, hellgraues Eichhörnchen mit Mäusekopf und runden Ohren. Ihre Augen sind auch rund, riesig und schwarz. Natürlich darf keiner wissen, dass sie hinter der kaputten Steckdose in meinem Zimmer wohnt. Wenn sie’s wüssten, würden sie wieder die Kammerjäger holen. Was ich mega-unfair finde, weil: Geist war eindeutig zuerst da.

Alle im Internat denken, dass es im zweiten Stock spukt. Vor allem in der Nacht hört man hier oben Pfeif- und Quietsch- und Kratzgeräusche. Keiner weiß, dass hier kein echter Geist spukt, sondern ein Siebenschläfer-Weibchen. Über das Pfeifen hab ich schon mit Geist geredet. Interessiert sie ’n feuchten  , dass sie mich damit aufweckt. Inzwischen hab ich mich dran gewöhnt und wach nicht mehr auf davon. Und hey – vielleicht schnarch ich ja? Wär nur fair.

Aber auch wenn ich mich beim Schlafen anhören sollte wie ein Schwein beim Fressen – deshalb hab ich nicht das Zimmer im zweiten Stock gekriegt, wo sonst keiner wohnt, weil der zweite Stock noch nicht fertig renoviert is. Das war, damit ich Lilith nicht kille. In meiner ersten Nacht im Internat haben die mich nämlich in Liliths Zimmer untergebracht. Und ich war so dämlich, dem kleinen Teufel ein Geheimnis zu verraten. Nur weil sie aussieht wie ein lieber, süßer Engel. Welches Geheimnis? Na, dass ich abhauen wollte. Ja, schon wieder. Aber diesmal wollt ich nicht zurück nach Hause zu Mama. Nee, ich wollte zu Noah. Du erinnerst dich an die Haagens, meine letzte Pflegefamilie? Klar erinnerst du dich. Die haben mich ja immer zu den Besuchen bei dir gebracht. Aber Noah kennst du nicht. Der durfte nicht mit. Noah is wie ’n Bruder für mich. Ich hab dir ja von ihm erzählt.

Eigentlich wollt ich nie Geschwister. In meiner Klasse in der Grundschule haben fast alle Geschwister gehabt und alle haben ihre Geschwister gehasst. Vor allem große Schwestern und kleine Brüder müssen das Allerletzte sein. Noah is nicht das Allerletzte. Noah is der einzige Mensch, dem ich nix erklären musste über mich. Der einfach so mein Freund sein wollte. Er wollte nix ändern an mir. Ich hab nich weniger fluchen müssen – nee: Noah hat sogar genauso viel geflucht! Er hat’s nich schlimm gefunden, dass ich manchmal rotsehe. Und meine Pläne – die hat er geliebt! Und bei allen mitgemacht. Wir sind wie echte Geschwister, bloß ohne die Raufereien und die Streiterei. Nur wohnt Noah jetzt mit seinen Eltern in der Schweiz. Und ich konnte nicht mit, weil die haben mich ja nicht adoptiert. Sie waren nur meine Pflegefamilie. Schon okay. Ich versteh das. Ich glaube, anders hätt ich’s gar nicht gewollt, weil du und Mama, ihr bleibt immer meine Eltern. Außerdem haben die Typen vom Jugendgericht das Sagen.

Ich weiß auch nich, ob ich unbedingt in die Schweiz will. Schokolade mag ich nich so und vor Kühen hab ich irgendwie Schiss. Gut, die haben stumpfe Zähne und keine Krallen – aber sie sind einfach gigantisch groß. Wie grasende Wale. Gegen Wale hab ich auch nix, trotzdem will ich ihnen nich auf ’ner Wiese begegnen. Ich muss also nicht unbedingt in die Schweiz. Fair is es trotzdem nicht. Ich wollte doch bei Noah bleiben. Und Noah bei mir. Er is sogar von zu Hause abgehauen und hat sich bis nach Saaks durchgeschlagen. Hier hat ihn dann Polizist Dirk Marwick erwischt. Derselbe Polizist, der mich damals in Berlin verhaftet hat, weil ich angeblich einen Schokoriegel geklaut hab. Danach haben sie mich ins Saakser Internat geschickt und Noah in die Schweiz. Und da sind wir immer noch.

Trotzdem: Ich bin nicht mehr traurig darüber, weil ich Saaks ziemlich cool finde. Ich will hier nicht weg, im Moment jedenfalls nicht. Und ein Grund dafür klopft gerade an mein Fenster: Dante.

Das is nicht so ungewöhnlich. Dante spielt manchmal Spiderman. Auf der Innenseite vom Internat steht seit Jahren ein Gerüst. Das haben die mal aufgebaut, um die Holzbalkone und Fensterläden neu zu streichen. Dabei is ihnen wohl irgendwie das Geld, die Lust oder die Farbe ausgegangen. Jedenfalls steht das Gerüst immer noch da, nur arbeitet keiner mehr an irgendwas. Das Gerüst is aber voll nützlich. Weil es keinen Aufzug in den zweiten Stock gibt und Dante mit dem Rollstuhl nicht über die Treppe hochfahren kann, klettert er eben außen hoch.

Ich mach das Fenster auf.

„Irgendwann knallst du noch runter“, prophezeie ich ihm und trete zur Seite.

Dante schwingt sich rein und landet sportlich auf dem alten Polstersessel. Beim Aufprall staubt es durchs ganze Zimmer – Dreck aus mehreren Jahrzehnten: die Hautschuppen von Leuten, die längst gestorben sind. Dante hustet los und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht.

„Mann, Enni, du solltest echt mal die Putzleute hier reinlassen“, keucht er.

Ich zucke mit den Schultern. „Ich halt die nich ab. Ich glaub, die haben Angst vor Geist.“ Dabei kraule ich Geist zwischen den Ohren und setze mich wieder zu ihr aufs Bett.

Dante grinst. „Ein Wunder, dass sie noch nicht umgezogen ist. Siebenschläfer sind eigentlich reinliche Tiere.“

„Witzig. Du solltest Comedian werden.“

Dante grinst. „Kein Stand-up …“

Ich sehe ihn überrascht an. Normalerweise reden wir nicht darüber, dass Dante nicht laufen kann. Oder stehen. Weil es einfach keine Rolle spielt. Er ist mit dem Rollstuhl schneller als wir anderen zu Fuß. Und wo er nicht hinfahren kann, da klettert er. Heute is irgendwas anders, das seh ich ihm an. Dante sieht, auch wenn er auf einem Staub-Sessel sitzt, aus wie ’n Prinz auf seinem Thron. Seine Haare sind goldblond und sogar seine Haut wirkt, als hätte jemand ein bisschen Goldpulver draufgepustet. Na ja, wenn ich jemandem Gold ins Gesicht machen würde, dann würd ich mir auch Dante dafür aussuchen.

Ich hab das Gefühl, Dante geht’s oft genug auf die Nerven, dass er so schön is. Vor allem dann, wenn ihn irgendwelche Leute dämlich anglotzen. Übel nehmen kannst du’s ihnen trotzdem nicht. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre. peinlich!

Da prustet Dante plötzlich los. Ich zucke zusammen. Ich hab wohl zu lang geglotzt, ohne was zu sagen.

„Was?“, fahre ich ihn an. Geist springt auf und quiekt empört. Sie mag keine lauten Geräusche, die sie nicht selber macht.

„Nichts“, sagt Dante. „Aber wir haben heute in Physik gehört, dass Röntgenstrahlen nich so super gesund sind. Also hör auf, mein Gehirn mit Röntgenblicken zu beschießen.“

Ich halte die Klappe. Noah hat mal was Ähnliches zu mir gesagt. Kann sein, dass ich wirklich so ’n Blick hab.

„Hat’s funktioniert?“, fragt Dante neugierig und macht es sich bequemer. „Weißt du, was ich denke?“

Ich schüttle den Kopf, weil ich leider keine Ahnung hab. Ärgert mich. Normalerweise fällt’s mir nicht schwer, zu erraten, was jemand denkt. Bei Dante ist es schwierig. Eigentlich mag ich Poker, weil’s da ganz viel um Mathe geht. Aber gegen Dante würd ich nich spielen. Sein Gesicht zeigt selten mehr, als er freiwillig zulässt. Angeblich ist das bei mir auch so.

„Ich hab nachgedacht“, fängt Dante an und das Lachen ist ganz raus aus seiner Stimme. „Über das, was du rausgefunden hast … dass jemand für dich und mich das Schulgeld bezahlt. Und dass es das Saakser Internat offiziell nicht gibt …“

Ich nicke. War klar, dass das irgendwann kommt. Nur, als Dante die letzten Wochen nix gesagt hat, hab ich gedacht, vielleicht will er nicht mehr drüber reden. Und ganz ehrlich: Wär auch okay für mich. Es geht mir gut in Saaks. Besser, als ich je gedacht hätte, dass es mir in dem Knast in den Bergen gehen könnte. Warum? Erstens is es doch keine Klapsmühle und zweitens is es auch kein Knast. Kühe gibt’s auch nicht, obwohl wir auf’m Berg sind, und das Essen is herrlich! Seit ’ner ganzen Weile hab ich auch keinen Ärger mehr gekriegt. Also wär’s doch total bescheuert, wenn ich mich jetzt auf die Suche nach neuem Ärger mache, oder?

„Und dann sind da die Sachen, die du in meiner Schülerakte gefunden hast“, fährt Dante fort.

„Über Ahmet Armut?“, frage ich und er nickt.

Ahmet Armut war unser Hausmeister. So ein ganz typischer Schulhausmeister: voller Narben und Tätowierungen, mit dem Blick eines Scharfschützen und dem Gang eines Soldaten. Hat nur gefehlt, dass er ’ne Jacke anhat, auf der hinten draufsteht: „Undercover“. Jetzt is Ahmet Armut weg. Abgeholt, mitten in der Nacht, von einem schwarzen Helikopter. Wie das Schulhausmeister halt immer so machen.

„Ich will wissen, was dahintersteckt“, sagt Dante und sieht mich dabei sehr direkt an. So, wie’s den meisten Leuten unangenehm is, angeguckt zu werden. Interessiert Dante ’n  , ob’s mir unangenehm is.

Ich weiß, warum er so guckt. Dante und ich haben echt viel gemeinsam. Ich hab die letzten Jahre in Heimen, betreuten WGs oder in Pflegefamilien gewohnt. Dante ist seit vier Jahren im Internat. Wir sind dauernd mit anderen Leuten zusammen. Und wir sind fast immer allein. Es is nicht so, dass keiner um uns rum ist. Wir sind nur irgendwie immer mehr in uns drin als bei denen da draußen. Das lernst du, wenn du kein eigenes Zimmer hast, das du absperren kannst. Dann musst du’s hinkriegen, dass du um dich rum absperrst. So was wie ’n Safe zum Anziehen. Ich kann das. Und Dante kann das auch.

Wir sind aber auch bei vielen Sachen total verschieden. Weil, meistens gehen mir die anderen aus dem Weg. Ich hab erst lernen müssen, wie ich sie dazu krieg. Irgendwann ist es dann von selbst passiert. Die meisten sind vorsichtig bei mir. Wahrscheinlich auch, weil sie gehört haben, dass ich rotsehe. Spricht sich rum, so was. Dass ich dann Dinge mache, an die ich mich nachher nicht erinnern kann. Um mich schlagen und treten zum Beispiel. Psycho halt. Würd ich auch krass finden, wenn ich’s von jemand anderem hören würd. Kapier ich total, die Vorsicht.

Bei Dante ist es andersrum. Menschen wollen möglichst nah an ihm dran sein. Auch Erwachsene. Das is nich nur, weil er so aussieht, wie er aussieht. Es is was in ihm oder an ihm. So, dass du auf keinen Fall was verpassen willst, was er sagt oder tut. Dass du sehen willst, wie er reagiert auf das, was du sagst oder tust. Da, wo er is, is die Bühne, da spielt die Musik.

Dante is ein Anführer. Einer, der sagt, wo’s langgeht, und alle laufen los. Er hasst das. Es macht ihm Angst. Weil er weiß, dass die meisten nicht gucken, wo sie hinlaufen. Gibt so Leute. Mehr als von den anderen. So Typen, die einfach machen, was man ihnen sagt, ohne nach links und rechts zu gucken. Die sind sogar noch froh drüber, dass ihnen einer sagt, was sie machen sollen. Deshalb is Dante vorsichtig. Er glaubt zwar nicht, dass ich eine von denen bin. Aber ganz sicher weiß er’s nicht. Weil ganz sicher weiß ich’s auch nich …

„Was, wenn wir was rausfinden, das du lieber nicht wissen willst?“, frage ich ihn.

Dante nickt sofort. Daran hat er auch schon gedacht. „Die ganze Sache, das Internat, Ahmet Armut … Das hat was mit mir zu tun.“ Er runzelt die Stirn und sieht auf einen Schlag älter aus. Wie einer, der zu weit gelaufen is und nur deshalb weitergeht, weil der Weg zurück genauso lang dauert. „Enni, ich glaub, es hat was mit meinem Vater zu tun.“

Die Worte brennen zwischen uns in der Luft wie eine Lunte. Jetzt, wo sie einmal raus sind, kannst du nur noch in Deckung gehen. Die Rakete geht hoch, auch wenn du’s dir wieder anders überlegst.

„Das glaub ich auch“, sage ich leise und dann noch leiser: „Hast du deine Mutter noch mal gefragt?“

Dante schnaubt. „Wozu? Sie hat mich die letzten Jahre angelogen, da kann sie jetzt nicht plötzlich sagen: Ey, übrigens, ich weiß doch, wer dein Vater is, und hier is seine Adresse.“ Er sieht mich an, als wäre ich ein Reh, dem er gerade zufällig im Wald begegnet ist. Als könnte ich jeden Moment weglaufen. Er hat keinen Schimmer, dass seine Augen wie Scheinwerfer sind. Kein Reh würde auch nur mit dem Muskel zucken. „Würdest du mit ihr reden, Enni?“

Ich? Ich?

„  “, sag ich und vergrabe den Kopf in den Händen. „  .  .“

Dante nickt. „Heißt das Ja?“

Ich lache. Dante sieht mich immer noch abwartend an. Das ist reine Höflichkeit. Wir wissen beide, dass ich Ja sagen werde.