Die undankbare Fremde - Irena Brezna - E-Book

Die undankbare Fremde E-Book

Irena Brezna

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tanz auf der Rasierklinge.»Meine Mutter ist stark wie eine Kakerlake«, sagte der Junge. »Eine Kakerlake zu Hause und eine in der Fremde ist nicht dasselbe«, meinte die Psychologin. »Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde.« Im Jahr 1968 beginnt Irena Brežnás Roman, der auf engstem Raum Verletzung und Aufbegehren, Spott und Hohn, schwarzen Humor, Poesie, Menschlichkeit und Versöhnung vereint. Die Erzählerin verschlägt es in die Schweiz, einen sicheren Hafen von bizarrer Saturiertheit, ein von Zäunen verstelltes Paradies voller Ordnungshüter und Kehrmaschinen – zu viel Widerspruch für ein Mädchen wie sie. Schon bei der Einreise wird ihr Name vom Grenzer verstümmelt. Ab dann muss sie gezwungenermaßen unter falscher Flagge segeln und vermisst im kalten, gleißenden Licht der Fremde die unfreie, schmuddelige Geborgenheit der Heimat. Als Heranwachsende rebelliert sie gegen das Gastland, das sie unter seine Regeln zwingt und sie nicht sie selbst sein lässt. Nach vielen Zusammenstößen findet sie einen Ausweg … Wie Mini-Romane, Kondensate paradoxen Lebens, sind Szenen durch das gesamte Buch gestreut, in denen die Erzählerin als Dolmetscherin zwischen Emigranten und Behörden fungiert. Sie trifft auf eine Phalanx von Gestrandeten, die hoffen, etwas aus ihrem Leben machen zu können: Kleine Diebe, Depressive, Schlawiner, Kriegsflüchtlinge, Ausgebeutete, Überangepasste und Naive. So ungeschützt und schonungslos gegen sich und andere hat noch keiner über die Emigration geschrieben – ein kleiner Roman mit großer Sprengkraft, ein Lebensbuch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 158

Veröffentlichungsjahr: 2012

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Irena Brežná

Die undankbare Fremde

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Irena Brežná

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Irena Brežná

Irena Brežná, geboren 1950 in der Tschechoslowakei. 1968 Emigration in die Schweiz. Journalistin, Schriftstellerin, Slawistin, Psychologin, Menschenrechtlerin. Zuletzt erschien ihr autobiografisch gefärbter Roman »Die beste aller Welten«. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den »Emma«-JournalistInnen-Preis und den Theodor-Wolff-Preis für ihre Kriegsreportagen aus Tschetschenien. Für den Roman »Die undankbare Fremde« erhielt sie den Eidgenössischen Literaturpreis.

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Auf der Suche nach einer besseren Welt verschlägt es 1968 eine Jugendliche in die Schweiz, das Land des harten Käses, wo sie, so lernt sie im Sprachkurs, dennoch keinen Käse reden soll.

Zuhause ist da, wo man motzen darf, hier aber soll sie dankbar sein. Die neue Umgebung scheint ihr sperrig, distanziert, sie rebelliert gegen das Gastland, das sie unter seine Regeln zwingt und sie nicht sie selbst sein lässt. Aber sie trifft auch auf viele andere Gestrandete, die hoffen, etwas aus ihrem Leben machen zu können: kleine Diebe, Depressive, Schlawiner, Kriegsflüchtlinge, Ausgebeutete, Überangepasste und Naive. Und sie lernt, Exil und Fremdheit als Reichtum zu erfahren, sie wird Brückenbauerin zwischen den Kulturen.

Inhaltsverzeichnis

Dank

Die undankbare Fremde

Die Autorin bedankt sich für erhaltene Werkbeiträge bei:

Fachausschuss Literatur der Kantone BS/BL

UBS Kulturstiftung

Kulturfonds Bundesamt für Kultur

Fondation Jan Michalski

Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde. »Wie viel Licht!«, rief Mutter, als wäre das der Beweis, dass wir einer lichten Zukunft entgegenfuhren. Die Straßenlaternen flackerten nicht träge orange wie bei uns, sondern blendeten wie Scheinwerfer. Mutter war voller Emigrationslust und sah nicht die Schwärme von Mücken, Käferchen und Nachtfaltern, die um die Laternenköpfe herumschwirrten, daran klebten, mit Flügeln und Beinchen ums Leben zappelten, bis sie, angezogen vom gnadenlosen Schein, verbrannten und auf die saubere Straße herunterfielen. Und das grelle Licht der Fremde fraß auch die Sterne auf.

In der Kaserne verhörte uns ein Hauptmann, der mehrere Sprachfehler hatte. Er konnte kein r rollen, weder ž, l’, t’, dž, n noch ô aussprechen und betonte unseren Namen falsch, sodass ich mich nicht wiedererkannte. Er schrieb ihn auf ein Formular und nahm ihm alle Flügel und Dächlein weg:

»Diesen Firlefanz brauchen Sie hier nicht.«

Er strich auch meine runde, weibliche Endung, gab mir den Familiennamen des Vaters und des Bruders. Diese saßen stumm da und ließen meine Verstümmelung geschehen. Was sollte ich mit dem kahlen, männlichen Namen anfangen? Ich fror.

Der Hauptmann lehnte sich zufrieden zurück:

»Sind Sie zu uns geflüchtet, weil es hier die Meinungsäußerungsfreiheit gibt?«

Wir kannten dieses lange Wort nicht. Mussten wir dem Mann jetzt unsere Meinung sagen, damit er jedem ein Bett und eine Wolldecke gibt? Zu sagen, was man denkt, sät Zwietracht, man wird einsam davon, kommt in Einzelhaft.

Der Hauptmann wartete vergeblich auf unsere Meinung, dann senkte er die Stimme verdächtig tief:

»Was für einen Glauben haben Sie?«

Ich fürchtete, Mutter und Vater würden den Pakt mit dem Teufel schließen und Gott ins Spiel bringen, aber sie blieben sich gottlos treu und schwiegen.

Da wandte sich der Mann an mich:

»Woran glaubst du, Mädchen?«

»An eine bessere Welt.«

»Dann bist du richtig bei uns. Herzlich willkommen!«

Er zwinkerte mir zu und besiegelte mein Schicksal mit einem Stempel.

Eine hagere Frau führte uns durch lange Gänge. Ihr mitleidvoller Blick streifte mich. Ich suchte die Unglückliche, der ihr Blick galt, aber die Welt war leer. Diese Frau, die weder geschminkt noch toupiert war, hatte Mitleid mit mir! Ich tastete meinen Körper ab, er war noch ganz. Da spürte ich, wie meine Seele auf dem Weg zum Flüchtlingsbett hinkte. Sie war lahm. Und schon wurden uns raue, karierte Decken ausgehändigt. In der Turnhalle saßen unsere Landsleute auf Feldbetten. Ich suchte in ihren Augen nach der eigenen Meinung, die sie loswerden wollten, doch ich fand darin bloß geblendete Nachtfalter. Als jemand Okkupationswitze erzählte, tauchte mein verlorenes Lachen auf, das gleich darauf in Tränen unterging. Ich weinte über den letzten Witz aus unserer Diktatur. Nun sollten wir demokratisch und witzlos leben. Die Landsleute redeten über unbekannte Länder, mutmaßten, wo es besser sei. Gefaltet wie sie waren, ließen wir die karierten Decken zurück und brachen erneut auf.

Das Verrückte an unserer Geschichte war, dass uns unsere besten Freunde überfallen hatten, und auf der Flucht vor den Truppen der Verbündeten waren wir in einem Feindesland gestrandet. Vor Mitternacht erreichten wir eine Stadt. In einem Hotel voller Flüchtlinge bekamen wir ein eigenes Zimmer. Wir durften nur das billigste Essen bestellen, doch das war nicht schlimm, sicher schmeckten auch die teuersten Speisen fad. Die Nationalgerichte der Großmutter galten hier als ungesund. Es gab harten Käse, aber reden sollte man nicht darüber.

»Rede keinen Käse«, sagte der Lehrer im Sprachkurs.

Dort freundete ich mich mit meinem Landsmädchen Mara an. Ich beneidete sie um ihren mit Watte ausgestopften Büstenhalter. Sie war eine gute Freundin und stahl auch für mich einen. Nach dem Sprachkurs gingen wir Kleider begutachten, die draußen auf der Straße schaukelten, alleine gelassen wie fremde Mädchen, dem Raub preisgegeben. Ernste, magere Frauen in zerknitterten Leinenhosen, schmucklos wie mein neuer männlicher Name, gingen vorbei, ohne die Miniröcke aus glänzendem Taft und die golden schimmernden Samtjäckchen eines Blickes zu würdigen.

Mara sagte:

»Das sind keine Frauen. Sonst würden sie sich auf die Klamotten stürzen. Wie traurig, dass sie niemand will.«

Nachdem Mara unserem Volk Schande gemacht hatte, schrieb ich ihr ins Jugendheim: »Liebe Mara, es ist ungerecht, dass du den Ausverkauf nicht sehen kannst. Die Miniröcke haben rote Preisschilder wie blutig verweinte Augen.«

Mara kehrte nicht nach drei Jahren zurück, sondern nach drei Wochen. Die Gerichte hatten Strafausverkauf.

Die Leiterin des Dolmetscherdienstes ermahnt das internationale Heer sprachlicher Stundenlöhner:

»Nur vermitteln, nicht eingreifen.«

Sie hängt nicht in der Kontinentalspalte, kennt nicht das Krachen, wenn Kulturen aufeinanderstoßen. Vor jedem Einsatz bläue ich mir ein: Pass auf dich auf, lass die Ufer Ufer sein, biete dich nicht als Brücke an, die stets zu Diensten steht, sonst trampelt man auf dir herum und bringt dich zum Einsturz. Sei eine Sprachfähre. Führe die Passagiere hinüber, lege ab und lösche ihre Gesichter aus dem Gedächtnis.

Etwas von beiden Ufern bleibt trotzdem an der Fährfrau kleben. Ich dolmetsche aus drei Sprachen. Bekomme ich einen Auftrag, setze ich mich aufs Fahrrad und rätsle zum Surren der Räder, aus welchem Land wohl meine heutigen Passagiere sein werden. Ich mag den Augenblick, wenn der Mensch vor mir steht und die Sprache sich offenbart. Oft errate ich die Sprache ein paar Sekunden davor. Ich sehe an der Beschaffenheit des Mundes, von welchen Lautkombinationen er geformt worden ist. Dann grüße ich den Menschen, und im Gruß ist die Sprache mitgemeint. Sprachen sind Wesen. Sie leben unter uns, lungern herum oder tänzeln, rattern, stocken, säuseln. Wir nähren und kleiden die Sprachen ein, sodass sie satt oder schäbig werden, unterernährt oder schick gekleidet. Wenn ich Kopfweh habe, bin ich hellhörig auf Laute. Eine gereizte, schrille Stimme schneidet mein Gehirn entzwei, ich kneife vor Schmerz die Augen zusammen. Ist die Sprache geschmeidig, bade ich darin und genese.

 

Die Schwangere und ihr Mann sitzen im Wartezimmer der Frauenklinik, und ich erkenne das Paar an seiner Verlorenheit. Mit einem breiten Lächeln gehe ich auf die beiden zu, doch ihre Gesichter zeigen sofort Anspannung. Dort, woher sie kommen, ist das Lächeln im öffentlichen Raum verdächtig. Wer lächelt, der will etwas. Als die Frau auf dem gynäkologischen Stuhl liegt, und die Krankenschwester mit einem Gerät schwarze Bänder um ihren Bauch herum befestigt, ist sie gefesselt an ihren Zustand. Tagelang kann ich die Schwangere nicht vergessen, sehe sie vor mir, bei allem, was ich tue, sorge mich, ob sie mitten in den Wehen das Wort »Pressen« verstehen wird. Ich versuche mich zu beruhigen: Aber ja, wenn die Hebamme barsch: »Pressen Sie!«, rufen wird, wird es die Gebärende an der Heftigkeit des Rufes erkennen. Da höre ich einen Schrei, und der spitze Bauch sackt in sich zusammen. In dem Moment klingelt das Telefon. Ich soll sofort in den Gebärsaal kommen.

Die Hebamme ruft:

»Der Muttermund ist schon acht Zentimeter weit offen«, und schickt mich hinaus.

Vor der dicken Tür im Gang fragt die Ärztin hastig den Ehemann aus:

»Missbildungen, Zwillinge, Drillinge in der Familie?«

»Nein.«

»Diabetes? Herzprobleme?«

»Nein, nein.«

Nimmt sie Drogen? Wie steht es mit Alkohol? Raucht sie? Ist sie depressiv?

»Sie ist gesund«, ruft er laut.

Ich habe ein Blackout und verstumme. Der sich öffnende Muttermund hat mir die Sprache verschlagen. In kurzen Abständen dringen Schreie zu uns, wie die einer Eule. Auf einmal wird es still, dann hört man leises Wimmern.

Ich falle dem Mann um den Hals:

»Sie hat es geschafft!«

Er hebt die Arme zum Himmel:

»Möge Gott Ihnen alle Wünsche erfüllen!«

Er kramt eine Wassermelone aus seinem Rucksack und gibt sie mir. Sein Gesicht ist ein leuchtender Lampion, die Backen treten hervor, als füllte sie jemand mit Lachgas, sie dehnen sich nun anstelle des Bauches in den Sommernachmittag hinaus. Auf einem Gestell im Gebärsaal verdickt sich die Plazenta zu schwarz-roten Hügeln, die junge Mutter liegt nackt und still da, ihr Bauch ist weit, der Kopf zur Seite geneigt. Das Neugeborene öffnet die Augen.

Ich entlasse alle Sprachen und zu Hause esse ich die Wassermelone auf.

Wir waren in eine vorrevolutionäre Vergangenheit geraten. Die Slogans an den Mauern riefen nicht dazu auf, die Gesellschaftsschichten abzuschaffen, sondern sie luden ein, sich auf eine Matratze mit mehreren Schaumschichten zu legen. Der seriös wirkende Mann, der auf einem Plakat versprach: »Wir sorgen für Sie«, verriet nicht, dass seine Fürsorge gekauft werden musste. Eine lächelnde Hausfrau zwang uns mit: »Das Beste für Sie« in die Knie auf den Küchenboden, um ihn zu polieren.

Mara empörte sich:

»Haben wir unser Land verlassen, um die Freiheit zu bekommen, zwischen giftigen Putzmitteln zu wählen?«

Es gab keine Menschenmasse, in der wir hätten aufgehen können wie einst in unseren Demonstrationen zum Ruhm des Fabrikproletariats. Hier trugen bloß zwei Langhaarige das Transparent »Recht auf Faulheit« und waren ernst dabei wie bei der Arbeit. Ich ging mit Mara dorthin, wo sich Menschen fröhlich zusammendrängten. Doch im Kinosaal waren nur ein paar Männer. Da die Frauen in diesem Land kein Wahlrecht hatten, gingen sie wohl auch nicht ins Kino. Der Film war allerdings gar nicht politisch: Zwei Freundinnen tranken im Wohnzimmer zusammen mit einem Mann Kaffee zum Kuchen, und als sie ihre Büs­tenhalter auszogen, rückten die Zuschauer näher an uns heran. Bei der Science-Fiction-Szene, bei der der Filmheld seine Hose aufknöpfte, rannten wir hinaus.

Mara sagte:

»Wir lassen uns von niemandem zum Kuchenessen einladen.«

Aber die Privatsphäre, die überall an Mauern und Säulen hing, sahen wir nur dort. Die Einheimischen boten den Fremden nicht an, sich auf ihren Polstergruppen das Recht auf Faulheit zu nehmen. Dafür gab es freien Eintritt in ein ehrwürdiges Gebäude, das aussah wie Höchstes Gericht, Naturhistorisches Museum und Hauptbahnhof in einem. Hier waren auf mehreren Stockwerken unter einer Glaskuppel Dinge mit diskreten Preisschildern ausgestellt. Meist unnütz, dafür farbig und aus allen erdenklichen Materialien, thronten sie majestätisch im Licht. Zeugnisse einer Hochkultur. Durch Selektion hatten sie sich aus einem Urding entwickelt. Welche Artenvielfalt, Zwischenarten, durch Mutation entstanden. Bei uns gab es – wie bei der Erschaffung der Welt – ein Brot, einen Lippenstift, eine Mutter, eine Partei, eine Fischkonserve und sehr selten eine Nylonstrumpfhose.

Es wäre grausam den Dingen gegenüber, sich für etwas zu entscheiden und alles andere zu verschmähen. Ich taumelte hinaus, setzte mich auf eine Parkbank und rupfte in Gedanken mein Durcheinander aus Wünschen kahl, bis ein einziger übrig blieb. Dann zwang ich mich zur Blindheit, ging wieder hinein, aber auch, wenn ich die Dinge nicht beachtete, riefen sie mich zu sich. Um hier einzukaufen, musste man blind und taub sein. Kurz vor Ladenschluss schnallte ich mir einen breiten Gürtel um. Den Rest des Geldes schenkte ich einem Mann, der ausgestoßen von den Dingen auf dem Gehsteig saß. Sein Bart war verklumpt, sein Hund lag eingerollt und tot neben einem leeren Napf, wie ein Ding, allerdings ohne Preisschild. Wären die Obdachlosen aus buntem glattem Plastik, würde man sie abstauben, anpreisen und hätscheln bis zum Ausverkauf. Ihr Missgeschick war, dass sie noch lebten und nicht glänzten.

Mara sagte, es gebe irgendwo einen Einblick ins Innere der Häuser, es gebe Vitrinen, in denen Frauen in Unterwäsche mit Rüschen und in Stiefeln wie Dinge säßen. Und Männer würden sie aus dieser Lage nicht befreien, sondern nur kurz mieten und wieder zurückstellen. Und die Frauen würden nicht weglaufen, sie seien geworden wie Dinge, dingfest eben. Da die Dinge in der Demokratie in der Mehrheit waren, hatten sie Macht, und die Menschen dienten ihnen und priesen sie mit der Zahl 9,99 und deren Variationen an. Vor Nullen hatten sie Angst wie vor Obdachlosen. War jemand eine Null, wurde er obdachlos.

Sie sitzt in der Fremde alleine im Zimmer mit der schreienden Tochter, geht mit ihr kaum hinaus. Sie schämt sich für ihr Schreien.

»Haben Sie sich über Ihre Tochter gefreut, als Sie sie zum ersten Mal sahen?«, fragt die Neurologin.

»Erleichtert war ich.«

»Waren Sie nervös in der Schwangerschaft?«

Die Frau fängt an zu weinen. Die Ärztin entschuldigt sich für das Hinabsteigen in die Vergangenheit. Meine Stimme rollt in beiden Sprachen gleichmäßig, ich achte darauf, dass ich den Blickkontakt halte, den Kopf nach rechts, den Kopf nach links. Blickkontakt gehört zum Beruf. Mehr als das, der Blick ist an diesem Nachmittag ein Teil der Anamnese. Die Zweijährige hat nämlich ihre Mutter nie lange und zufrieden angeschaut.

Waren es im Krieg die Besatzer, sind es in der Nachkriegszeit die eigenen Landsleute, Kollaborateure, die im Morgengrauen in die Häuser eindringen, entführen und verstümmelte Leichen an die Familien verkaufen. Gesehen hat sie ihren Mann selten, jede Nacht verbrachte er anderswo, mal im Wald, mal bei Verwandten. Doch einmal, als sie im dritten Monat schwanger war, erwischten sie ihn, und nach fünf Tagen ließen sie ihn für den Gegenwert von zehn Schafen frei. Was sie mit ihm in ihren Folterkammern anstellten, das weiß sie nicht. Danach war er ein anderer. Er wollte nur noch weg.

Nachts überquerten sie mit Schleppern Grenzen, an Infrarotkameras vorbei. Die Angst drehte sich in ihrem Bauch, und der Fötus drückte sich gegen die Bauchwand. Im Flüchtlingsheim brach die Schwangere zusammen. Nachts im leeren Spitalzimmer mitten in der großen Fremde zu liegen war, als wäre sie alleine im Weltall. Der Blutdruck schnellte hoch bis zu den Sternen. Die Zeit der Niederkunft war noch nicht gekommen, aber die Ärzte sagten, das Kind müsse von dem Druck befreit werden.

Der Mann trifft sich mit Landsleuten, politisiert, besucht den Sprachkurs. Sie bleibt mit dem Kind im Zimmer. Es ist heiß und feucht darin, auch tagsüber lässt sie die Jalousien halb herunter. Sie hat nie geschrien, auch nicht unter den Bomben. Es gehört sich nicht, die Fassung zu verlieren. Ihre Tochter trägt die unterdrückten mütterlichen Schreie in die Welt, stößt Laute heraus, aber keine Worte. Die Mutter ist verstummt, sie denkt an das zurückgelassene Land, ihre Gedanken fließen dorthin wie aus einem Leck. Die Tochter vermag die Welt nicht als die Weite zu sehen, sie wurde in der Enge der Angst ausgetragen. Sie hat einen engen Blick auf die Welt.

»Eine autistische Störung«, teilt die Neurologin Wochen später die Diagnose mit.

Die Augen des Vaters werden mattgelb und starr, der Hals verschwindet im Rumpf, die Arme erschlaffen. Schweiß rinnt von seiner Stirn, von den behaarten Unterarmen. Der Kopf weiß nicht, was »Autismus« bedeutet, doch der Körper begreift es und stellt sich tot. Dann rinnen Worte aus ihm heraus. Das neue Unglück erinnert ihn an das alte, daran, wie man ihn holte, mit einem Sack, gefüllt mit Sand, auf seinen Kopf einschlug, bis er unterschrieb, dass er jede Anweisung ausführen, auch töten würde. Er ergab sich, ging in dieselbe Starre wie jetzt. Auf einem Auge ist er erblindet, und im Kopf dröhnt es ständig. Auch die Angst ist noch da. Er fühlt sich vom Leben bestraft, ist nicht mehr zu bremsen, schimpft über die Zweizimmerwohnung an einer stark befahrenen Stra­ße, auf das Fürsorgeamt, das ihn drängt, sich eine Arbeit zu suchen.

»Ich habe nichts gelernt, es war Krieg. Und die hiesige Sprache geht mir nicht in den Kopf.«

Die Tochter schlägt mit einem Holzklotz auf den Boden, gerät in Rage, schneidet Grimassen, knirscht mit den Zähnen. Mich sieht sie nicht, ich bin ein großer Klotz, den kann ihr Gehirn nicht aufnehmen. Sie ist selektiv und ausdauernd, besessen erforscht sie Details und wird sich nie an der Blütenpracht des Frühlings erfreuen.

»Sie gehorcht nicht. Haben wir sie etwa verwöhnt?«, seufzt die Mutter und fügt hinzu, aus Angst, sie könnten als schlechte Eltern gelten, die ihre Pflicht versäumen:

»Wir sind streng, wir schlagen sie. Das beruhigt sie.«

»Weil es Körpersprache ist«, erklärt die Ärztin.

»Der Kinderarzt ist schuld. Ich fragte ihn doch, ob ich zu wenig Milch habe. Er winkte ab. Dabei schrie meine Tochter vor Hunger.«

Die Ärztin sagt ruhig:

»Der Autismus kommt nicht vom Hunger.«

Der Vater widerspricht:

»Ich weiß, was Hunger ist. Vom Hunger wird man nicht klug.«

Im Nachkriegsland kommen viele Kinder mit Missbildungen zur Welt. Sie werden schnell in Kübeln entsorgt, und jene mit Downsyndrom versteckt man in den Häusern. So viele Anomalien auf einmal. Kollateralschäden. Ein behindertes Kind verletzt die Familienehre. Es verletzt aber mitnichten die Ehre der Täter.

Die Mutter hebt ihre Tochter hoch:

»In den Konferenzsälen sollst du schreien, das ist der Ort dafür.«

 

Wir bezogen eine Neubauwohnung am Stadtrand. Die Eltern bekamen Arbeit im zwölften Stock einer Firma, die chemische Farbstoffe herstellte. Mutter war stolz, dass die Welt dank ihr farbiger wurde. Vom ersten Gehalt ging sie mit mir Möbel kaufen. Im Keller eines Einfamilienhauses zeigte uns der Hausherr gediegene Trödelware und nannte Preise, worauf Mutter den Kopf schüttelte und mit der Zunge schnalzte. Je aufmerksamer er uns anschaute, umso trauriger wurde er. Als könnte er davon fröhlicher werden, senkte er die Preise. Er senkte sie so sehr, dass Mutter nur noch nickte. Dieser Mann schämte sich vor uns seines Häuschens und des Friedens, in dem er lebte, schämte sich dafür, dass er nichts gegen das Unrecht, das unserem Land widerfahren war, tun konnte, und war bodenlos beschämt, dass sich Mama über seine Möbel freute. Obwohl er aufgewühlt war, wahrte er das Maß und erniedrigte uns nicht mit Spottpreisen. Ich hatte nicht gewusst, dass es eine so anständige Scham geben kann, und sie war es, die uns inmitten dieses bürgerlichen Gerümpels in der Fremde willkommen hieß. Wie es sich bei Begrüßungszeremonien gehört, kam ein Geschenk dazu. Als ich nach dem Preis eines roten Kelims fragte, hob der Mann diesen sanft wie ein Neugeborenes vom Boden auf und sagte:

»Der gehört dir.«