Die Ungezähmten - Gabrielle Filteau-Chiba - E-Book

Die Ungezähmten E-Book

Gabrielle Filteau-Chiba

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Beschreibung

»Wunderschön, kraftvoll und rebellisch.« Libération Tief in den Wäldern Kamouraskas lebt Raphaëlle mit ihrer Hündin Coyote. Als Wildhüterin trifft sie täglich auf Bären, Kojoten oder Luchse, kontrolliert Jagdgebiete, und versucht, die Tiere vor Wilderern zu schützen. Als sie vor der Tür ihres Wohnwagens Spuren entdeckt und kurz darauf ihre Hündin verschwindet, ist Raphaëlle beunruhigt. Sie findet Coyote schwer verletzt in einer Falle mitten im Wald. Getrieben von Wut hinterlässt sie dem Wilderer eine Warnung, fordert ihn heraus. In der atemberaubenden Natur Kamouraskas verschmelzen Beute und Raubtier miteinander. Mal poetisch, mal rau erzählt Gabrielle Filteau-Chiba von einer Frau, die ans Äußerste geht, um die Wildnis und ihre Bewohner zu schützen und davon, wer die eigentliche Gefahr für die Natur ist. »Gabrielle Filteau-Chibas Romane lesen sich wie Gebrauchsanweisungen zum Widerstand.« ARTE »Mit ansteckender Energie verteidigt Gabrielle Filteau-Chiba ihr Revier: Das der Natur und Tierwelt, die durch die Gier der Männer bedroht sind, und das der Frauen, wo die Raubtiere immer auf der Lauer liegen.« L'Obs

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

»Wunderschön, kraftvoll und rebellisch.«Libération

Tief in den Wäldern Kamouraskas lebt Raphaëlle mit ihrer Hündin Coyote. Als Wildhüterin schützt sie den Wald und seine Bewohner. Eines Tages entdeckt sie vor der Tür ihres Wohnwagens Spuren, kurz darauf verschwindet ihre Hündin. In einer Falle mitten im Wald findet sie Coyote wieder, schwer verletzt. Getrieben von Wut hinterlässt Raphaëlle dem Wilderer eine Warnung, fordert ihn heraus. Wie weit kann sie gehen, um die Wildnis und am Ende sich selbst zu schützen?

Rau und poetisch erzählt Gabrielle Filteau-Chiba vom Überlebenskampf in der Natur und vom gefährlichsten Raubtier in der Nahrungskette: dem Menschen.

 

»Gabrielle Filteau-Chibas Romane lesen sich wie Gebrauchsanweisungen zum Widerstand.« arte

»Atemberaubend!« Livres Hebdo

Gabrielle Filteau-Chiba

Die Ungezähmten

Roman

Aus dem Französischen von Katrin Segerer

Mit Illustrationen der Autorin

 

 

Für die Kojoten

Und für diese Welt waren sie verantwortlich. Zumindest empfanden sie das als ihre Pflicht. Die ebenso raue wie großzügige Natur zwang sie, ganz und gar mustergültig zu leben, nach den Gesetzen guter Jäger.[1]

 

SERGE BOUCHARD UND MARIE-CHRISTINE LÉVESQUE

Le peuple rieur. Hommage à mes amis innus

Erster TeilDer liebe Friede

Kapitel 1Die braunen Augen des Kojoten

25. Juni

Die Ketten peitschen auf die Hundehütten ein, zügeln jeden Angriff. Das misstönende Heulen der rund hundert Tiere kündigt dem Herrchen meine Ankunft an, die sie gegen den Wind gewittert haben. Sie kläffen aufgeregt, während ich mich nähere und bis zu den Knöcheln im Matsch einsinke auf dem Weg zu ihrem Gefängnis. Ich schaue mich nach dem Käfig des letzten Wurfs um, für den ich die ganze Strecke gefahren bin.

Ich wollte nicht unbedingt einen Husky mit Augen im klaren Blau des Lac Louise. Eher einen Mischling mit braunen Augen, wie den meinen. In meiner Familie wie in der Hundezucht haben blauäugige Nachkommen eine Sonderstellung. Unter meinen Geschwistern war ich das Kind der Sünde, weil mein Vater den Verdacht hegte, dass meine Mutter sich nach einem Streit ins Bett des Postboten oder eines anderen Bessergebauten verirrt hatte. Schon mein gesamtes Leben lang erinnern meine Augen ihn daran, dass ich vielleicht die Frucht des Verrats seiner von Eva abstammenden Frau bin. Bei uns siegen Eifersucht und Bösgläubigkeit über die Vernunft. Dabei überspringen die Gene manchmal ein paar Generationen.

Auf jeder Schlittenhundefarm sind die teuersten Welpen die mit verschiedenfarbigen Augen. Meine Aufmerksamkeit allerdings erregt ein Weibchen mit braunen Augen und mausgrauem Fell. Es frisst nicht, kauert nur zitternd auf seinem Strohlager, während die anderen Welpen sich suhlen. Der Mann im Zwinger erzählt, dass es einen leichten Herzfehler hat, dass es wohl nicht die erhoffte große Karriere als Schlittenathletin hinlegen wird, dass magere Hunde, die nicht ihr Leben lang Touris aus Frankreich auf der Jagd nach einer typisch nordischen Erfahrung ziehen, ihr Futter nicht wert sind, dass es bald dran wird glauben müssen wie die Tiere, die zu alt sind für den Dienst. Verschiedenfarbige Augen hätten es vielleicht retten können, aber da seine Mutter obendrein eines Nachts bei einer Expedition ihr Herz an einen Kojoten verloren hat, wird es wahrscheinlich ein hartes Stück Arbeit, ihre Sprösslinge abzurichten. Kurz-um, diese Promenadenmischung ist ein hoffnungsloser Fall, nutzlos und zu gewöhnlich, als dass irgendwer sie adoptieren würde.

»Die will ich haben.«

Ohne Federlesen. Ich streichle die untreue Mutter, die mich ihr Junges mitnehmen lässt, ohne zu knurren. Brav folgt sie uns mit dem Blick bis zum Ende des Wegs. Vielleicht kann sie Mitgefühl riechen? Mit dem Fellknäuel im Arm kehre ich zum Dienstwagen zurück, in Gedanken bei dem Tag, an dem ich meinem familiären Martyrium entflohen bin. Ich lächle, während das Hundegefängnis im Rückspiegel schrumpft. Die Kleine ist eingedöst, die Schnauze auf meinem Handgelenk. Meine Finger auf dem Schaltknüppel werden taub, so what? Ich habe meine rechte Hand gefunden, einen neuen Pfeil in meinem Wildhüterinnenköcher.

Einmal über dem Sankt-Lorenz fressen wir Kilometer von Rivière-du-Loup hinein in den Wald bis zu unserer Zuflucht unter den Zuckerahornbäumen, von denen zu Beginn der Jagdsaison einer röter leuchtet als der andere: einer verlassenen Plantage im Wilden Norden, hinter der ich meinen Wohnwagen versteckt habe. Die Straße ist holprig, man kommt sich vor, als würde man vom Wald verschlungen. Auf dem Weg hinauf zum Jagd- und Freizeitcamp Pourvoirie des Trois Lacs nehme ich meine geheime Abzweigung. Hier findet man mehr Spuren von Elchen als von Reifen, und die tiefhängenden Äste der Fichten scheinen sich hinter uns zu schließen. Bloß noch ein paar Kurven bis zu unserem im Schatten verborgenen Wellblechbau.

Dich erwartet eine ordentlich gefaltete Wolldecke vor meiner Matratze. Eins verspreche ich dir: Du wirst keine Ketten kennen. Und ich werde dich überall mit hin nehmen, dir alles zeigen, was ich über den Wald weiß. Vielleicht kommst du dann eines Tages sogar ohne mich zurecht.

Die Dunkelheit bricht herein, die Eulen besingen die Stunde der Raubtiere. Der Ofen macht sich daran, die Feuchtigkeit aus dem Wohnwagen zu vertreiben, und ich kümmere mich um die Mücken.

Meine kleine Hündin, die zu zart ist, um Schlitten zu ziehen, schleicht zu meinen Knien.

Ich suche einen Namen für dieses Wieselgesicht, das unter dem pelzigen Schwanz versteckt im Schlaf fiept; vielleicht träumt sie schon von der Beute, die ihr bald entwischt.

Kaum auszudenken, dass die Schlittenhundeführer dich erschießen wollten … Dass du deine Mutter nie wiedersehen wirst. Wie soll ich dir erklären, meine kleine Waise, dass wir beide füreinander Rettungsanker sind, dass wir zusammengeschweißt besser den Riesen die Stirn bieten können, die nur jagen, weil sie beherrschen, zerstören wollen? Erst mal streichle ich dich, so zärtlich ich kann, und vergrabe meine Nase in deinem Fell, das nach dem feuchten Stroh deiner Geburt riecht. Vielleicht wird es schwer, die ungestüme Wildheit zu bändigen, die durch deine Adern fließt. Aber selbst rauborstig wirst du mich hoffentlich beschützen vor den wildernden Spinnern, die schon zu viele meiner Kolleginnen und Kollegen unter die Erde befördert haben. Das Glück wird mir aus vollem Maul vom Beifahrersitz lachen und all diejenigen zum Schweigen bringen, die mich einzuschüchtern versuchen. Trotz all unserer Gadgets, meiner Dienstpistole und meiner Berufserfahrung sind doch immer die Fallensteller am besten bewaffnet.

Die Wilderer sind allerdings nicht die Einzigen, die mich mürbe machen. Die Entscheidung, meine Einsamkeit aufzugeben, habe ich vor ein paar Tagen getroffen, nachdem ich am Stamm des Apfelbaums ein paar Meter von der Zuckerhütte entfernt frische Krallenspuren entdeckt hatte, die bis zum Wipfel des Baums hinaufreichten, dorthin, wo im Wind ein mit Fett gefülltes Vogelhäuschen für Spechte tanzte. Das unhöfliche Tier hat sich erst mit den zu Boden gefallenen Körnern den Bauch vollgeschlagen und anschließend mit meinen kleinen Erdbeeren. Schwamm drüber – ich habe mich wieder an die goldene Gärtnerregel erinnert, dreimal mehr auszusäen, als man ernten will: ein Drittel für sich, ein Drittel Verlust und den Rest für Besucher …

Ob menschlich oder tierisch, lang ersehnt oder unangekündigt, wohlgesinnt oder ausgehungert.

Den Abständen zwischen den Furchen im Holz nach zu urteilen, handelt es sich um einen ausgewachsenen Bären. Nachdem er nun die Lage sondiert hat, kehrt er vielleicht bald zurück, um aus meinen Vorräten sein Frühstück zu machen. Und die dünnen Bleche, die mir als Wände dienen, werden ihn nicht davon abhalten.

Ich koche Lammreis auf dem Ofen und stelle diese Mastmischung neben die Kleine. Ihre rastlosen Augen sondieren die Lage, ehe sie über den Topf herfällt.

Du bleibst nicht lange so mager, bald bekommst du tierisch Fleisch auf die Rippen.

Da schon zu viele ihren Hund Tiloup, Louve oder Louna genannt haben, fehlt es mir an Ideen für einen zweisilbigen Namen, der schön weit schallt. Den man aus voller Kehle rufen kann, ohne sich heiser zu schreien. Mit einem Vokal am Ende, der noch genauso fern zu hören ist wie das Echo. Yoko oder Kahlo? Die Ks sind gerade wirklich in.

Bis mir was Besseres einfällt, nenne ich sie Coyote. Meine Hündin ist jetzt schon nicht von schlechten Eltern, pflanzt sich mir in den Weg zum Feuerholz, als wollte sie mir sagen, dass sie das Gespann mit unseren Heizvorräten bis zum Wohnwagen anführen sollte, dann stolpert sie über meine Gummistiefel und plumpst auf die Seite. Schaut mich schelmisch an und streckt mir den Bauch entgegen, weich wie Eibischblätter. Schon verrückt, wie viel Lebensfreude ein Tier jemandem bringen kann, die so wenige echte Freunde besitzt, noch dazu mit ihrer Familie gebrochen hat und das Gefühl nicht loswird, dass ihre Alten nach ihrer Geburt das falsche Baby aus dem Krankenhaus mitgenommen haben. Ich habe Stammbäume und staubige Fotoalben durchforstet, womöglich gibt es ja eine Erklärung für alles. Den Beweis trage ich in meiner Tasche, an meinem Herzen.

Auf dem vergilbten Foto steht eine winzige Frau steif neben ihrem stattlichen Ehemann. Schmale Augen, geflochtenes Haar, Mokassins an den Füßen. Er in seiner Trapperkluft, dicker Schnäuzer, hohe Stirn, Pfeife in der Hand. Auf einem Knie neben ihr, deren Blick das Bild durchbohrt, als wollte sie rufen: Bitte rette mich irgendwer! In dieser Position ist mein Urgroßvater genauso groß wie sie, seine behaarte Pranke umklammert die Taille seiner jungen Braut, als könnte diese Jagdtrophäe ihm sonst entwischen. Von ihr habe ich vielleicht die braunen Augen. Von ihr den unlöschbaren Durst, alles über die First Nations zu erfahren, als könnte ich, indem ich in meinem Kopf die übersetzten Wörter, die Romane des Urwalds und die Gedichte der Taiga ansammle, zu meinen Wurzeln zurückkehren und mich ihr wieder annähern, meiner Mi’kmaq-Ahnin mit dem christlichen Namen, der für ihre Hochzeit erfunden wurde.

Verwandtschaft und Gesellschaft zu verlassen, um in einem Wohnwagen tief im Staatswald zu hausen, klingt vielleicht verrückt, ist aber der Schlüssel zu meinem geistigen Gleichgewicht: so nah wie möglich bei den Tieren leben, für deren Schutz ich mich abplacke, so weit weg wie möglich von meiner Familie, die sich nie dafür interessiert hat zu erfahren, wer unsere Urgroßmutter mit den bohrenden braunen Kojotenaugen war.

Zurück im Pick-up für eine letzte Versorgungstour vor Einbruch der Nacht klemme ich das Foto wieder hinter die Sonnenblende, wo es mich fast immer begleitet. Fahre mit dem Zeigefinger über die ordentliche Handschrift auf der Rückseite:

Hervé Robichaud und seine junge Ehefrau

Marie-Ange – 1903

Du siehst weder aus wie eine Marie-Ange noch als wärst du im siebten Himmel, vielmehr als würdest du die Engel singen hören, deine Wirbelsäule so gerade wie sein Gewehr, das dich beinahe überragt. Ich denke an deine Hochzeitsnacht, deinen zusammengekugelten Körper. Ich male mir deinen richtigen Vornamen aus, einen Namen, der zu dir passt, der die Schönheit des Landes heraufbeschwört, nicht die Unterwürfigkeit weißer Laken und Hochzeitskleider. Gern hätte ich deine Geschichte erzählt bekommen, vielleicht hätte ich mich unter deinen Nachkommen ein wenig mehr zu Hause gefühlt, wenn ich deine Wiegenlieder, Rezepte und verlorenen Illusionen gekannt hätte. Das Vorstadthäuschen, das nach Fleischwurst und Mottenkugeln roch, nahm mir die Luft zum Atmen. Die Tisch- und Abendgebete, die Angst vor Ausländern, vor der Dunkelheit, vor den Tieren da draußen und die endlosen rassistischen Litaneien weckten in mir die schlimmsten Wutanfälle. Ich musste mich von diesen Leuten entfernen, bevor ich wurde wie sie. Ich brauchte einen Vollzeitwald, am Hang von Bergen, die sich nicht um Grenzen scheren, wo alle gleich sind vor den Elementen, vor der Kälte, dem Regen, dem Wind. Die Natur lehrt einen Demut, davon kann ich ein Lied singen. Ein Refugium der Schönheit, die man im kuscheligen Käfig ganz vergessen hat. Ein Tempel mit offenen Armen und heruntergenommener Deckung.

Dort, wo die Appalachen entspringen, im Haut-Pays von Kamouraska, verteidigt man den Luxus der grünen Weite mit heidnischen Ritualen. Den Raubtieren die Stirn bieten, von morgens bis abends Runden drehen und hier und da mit strategischen Pinklern das Revier markieren. Die essbare Flora erfassen, die unsichtbare Fauna verfolgen, meinen Lebensraum abstecken und schließlich zurückkehren zur verlassenen Ahornplantage, dem Wohnwagen, meiner Matratze.

Ich habe mich in diesem gemeindefreien Gebiet fest niedergelassen, aber erklär das mal einem Rudel, das mangels Schutzräumen zu wenig Wild findet. Oder einem Bären, dessen dichte Himbeersträucher den Hochspannungsleitungen von Hydro-Québec zum Opfer gefallen sind, kurz vor seinem Sommerschmaus.

Dank Coyote bin ich jetzt mit einem Riecher gewappnet, der alle wittert, die sich zu nah an den Wohnwagen herantrauen. Und wenn sie später mal eine breitere Brust hat, kann sie mit mir aus dem Pick-up steigen, wenn ich auf Angler mit prallvollen Kühlboxen zumarschiere, auf Jäger, unter deren Plane eine verdächtige Menge Huftierbeine hervorragt, oder auf Sonntagsspaziergänger, die versucht sein könnten, die Begegnung mit einer Frau allein am Ende der Welt auszunutzen, um ihren Appetit zu stillen.

Denn hier hört mich niemand schreien.

Mein langer schwarzer Zopf schlängelt sich über meinen Rücken, aber manchmal frage ich mich, ob ich mir die Haare nicht kurz schneiden sollte, all meine Reize aufgeben, um mir mehr Sicherheit im Land der von Alkohol und Mordlust aufgeheizten Männer zu verschaffen. Und um besser meine Pflicht zu erfüllen, das Gemetzel zu betreuen. Damit auch alles nach den Goldregeln abläuft, denn hier regiert das Cash. Zahl für deine Genehmigung, und bitte schön, du kannst deine sieben Luchse pro Jahr aus dem Wald holen. Bald gibt es wahrscheinlich nicht mal mehr irgendwelche Quoten, sagen meine Quellen im Ministerium.

Bitte zwick mich irgendwer.

Nein, hier hört mich niemand schreien vor Wut. Nur meine Hündin, deren Fell sich sträubt und deren erschrockene braune Kojotenaugen mich fragen: Was ist los mit dir, Frauchen?

Kapitel 2Die Kuhhaut

26. September

Schüsse: Ich schrecke stinksauer aus dem Schlaf.

Coyote zu meinen Füßen lauert auf meine nächste Bewegung. Ich frage mich, ob auf der Hundefarm, wo sie geboren wurde, die Tiere den Zusammenhang zwischen dem Knall und dem nicht zurückkehrenden Artgenossen herstellen, den der Chef auf eine Abendrunde mitgenommen hat. Ob dort, genau wie in meinen Ohren, das Echo der Kugeln wie das Metronom des Schnitters klingt.

Eine Kugel, die in der Morgendämmerung abgefeuert wird, eine Woche vor der Eröffnung der Armbrustjagdsaison, das Werk eines Betrügers, der seiner Beute den Gnadenschuss gibt. Ich glaube nicht an Jäger, die um vier Uhr früh Schießübungen machen. Irgendwann kriege ich euch, Wilderer!

Der Wohnwagen ist übersät mit dreckverkrusteten Jeans, feuchten Socken und Tannennadeln. Die Fensterscheiben sind beschlagen, trotzdem dringt die Morgensonne herein und lässt den Staub in der Luft sanft glitzern. Die Espressokanne auf meinem Gaskocher blubbert, und die großen Schneegänse hoch oben schnattern. Ich setze mich nach draußen auf die zwei Riffelblechstufen vor meiner Tür, eingemummelt in meine Wolldecke in den Farben der Hudson-Bucht. Ehrfürchtig warte ich, bis die gewaltigen Vs der kühnen Wanderinnen über meinen Kopf hinweggezogen sind, ehe ich den ersten Schluck nehme.

»Gute Reise, meine Damen.«

Coyote ist da weniger fromm, sie verschwindet direkt, aber ich weiß genau, wo sie hingeflitzt ist beim Klang der protestierenden Streifenhörnchen – tschip, tschip, tschip – auf den Ästen. Ich steuere auf die alten Ahornbäume zu und sehe sie springen, als hätte sie tatsächlich eine Chance, die Nager sieben Meter über ihr zu erwischen. Ihr Optimismus gefällt mir. Den braucht man, um in diesem Wald der Wichtigtuer nicht den Mut zu verlieren.

Ich sammle, was die Natur mir schenkt, zerteile mit dem Knie oder der Ferse die vom Wind abgebrochenen Äste. Meine Bleibe ist so klein, dass ich sie allein mit Totholz heizen kann. Die aus dem Gebüsch zusammengetragenen Stapel überragen mich. Ein so großer Holzvorrat gibt mir mehr Sicherheit als ein gut gefülltes Bankkonto.

Die fallenden Blätter kennen die Choreografie des Loslassens. Am Horizont hinter der ausgedienten Ahornplantage nichts als gleichaltrige Fichten, so weit das Auge reicht. Klone. Zukünftige Bretter, die man zu einer hübschen Veranda zimmert, um zu ersetzen, was von den Holzameisen zerfressen wurde, mangels Baumstümpfen ringsum.

Bis heute prägt mich L’Erreur boréale, der erste und einzige Dokumentarfilm bei uns in der Oberstufe. Meine damalige Französischlehrerin hat ihn uns gezeigt. Ich war sofort bezaubert von Richard Desjardins Worten und gebrandmarkt von den Bildern der massiven Abholzung. Der Sänger und Filmemacher inspirierte mich zu meinem allerersten Vorsatz, von da an nur Kulis mit grüner Tinte zu kaufen, damit ich nie vergesse, dass irgendwer sich für die noch stehenden Bäume einsetzen muss. Ich hatte nämlich die fixe Idee, die Feder – mächtiger als das Schwert – könnte allen Wachsamkeit für unseren borealen Nadelwald einschreiben. Seit ein paar Jahren kaufe ich rote Kugelschreiber, rot wie das Blut der gewilderten Tiere. Aber die Farbe der Tinte auf deinen Berichten ändert rein gar nichts, wenn du fast die einzige Wildhüterin in deiner Verwaltungseinheit bist, die noch glaubt, dass die Taiga kein All-you-can-eat-Büfett ist.

Wo sollen sich die Hirschkühe verstecken, um im Frühjahr Rinde zu knabbern? Welcher herzzerreißende Anblick erwartet die Schneegänse, wenn sie bei ihrer Rückkehr aus dem Süden über unsere massakrierten Wälder fliegen? Ich kann nicht anders, wenn ich an einem Kahlschlag vorbeifahre, verlassen meine Augen die Straße, und ich werde sofort hineingesaugt. Ein Elch oder ein Dreißigtonner könnten direkt auf mich zurasen, ich würde sie nicht bemerken. Ich kann, kann, kann einfach nicht geradeaus schauen, wenn neben mir tote Bäume stumm bluten, ihre Leichen gestapelt am Straßenrand, orangefarben beschmiert.

Ich räume meinen Wohnwagen auf, schlüpfe in die sauberste Jeans, packe den Rest weg, schnüre meine Stahlkappenschuhe, pflücke mein Cap vom Armaturenbrett, ziehe meinen Zopf durch die Aussparung und schnäuze mich, dann stürze ich den Kaffee hinunter, der kalt geworden ist, während ich an all das gedacht habe, was mir entgeht, an all die, die mir noch entkommen.

»Come on, Coyote, machen wir Jagd auf Wilderer.«

Die schwirren hier rum wie die Fliegen, aber von einer dicken Kuhhaut bin ich weit entfernt.

Ich strecke mich, um das Laub aus den zusammengeflickten Regenrinnen rund um die Zuckerhütte zu klauben, die als Windschutz für mein Zuhause auf Rädern dient. Mein Wasser schmeckt nach Rost, aber es kostet nichts und ist bestimmt sehr eisenhaltig. Coyote stillt ihren Durst lieber aus den Pfützen auf dem Weg zum Pick-up. Sie springt von einem Schlammloch zum nächsten, trinkt sich an jedem satt und wirft mir schwanzwedelnd sanfte Blicke zu. Hier hat sie es immerhin besser als angekettet inmitten eines Rudels von Schlittenhunden, die alle aus voller Kehle heulen, dass sie jetzt dran sind, ausländische Touris über Schneemobilpisten zu ziehen. Oder dem Gerammel von blauäugigen Männchen ausgeliefert, um einen Wurf wertvoller Welpen nach dem anderen in die Welt zu setzen.

Wenn du blaue Augen hast, startest du mit einer Länge Vorsprung ins Leben. Selbst wenn es ein Hundeleben ist, das kapieren die hässlichen kleinen Entlein schnell.

»Rein mit dir, meine Schöne.«

Coyote springt in den Wagen. Ein langer Vormittag on the road und die Frage, warum wir mit so wenigen ein so großes Gebiet abdecken müssen. Vielleicht behält man uns nur symbolisch im Amt. Vielleicht sollen die Fallensteller die Raubtiere fangen, die Jäger viel Wild erlegen, die Fischer ihre Gebühren bezahlen, und wenn alles tot ist, können die Waldarbeiter kommen. Das Ganze nennen sie dann »halbintensive Abforstung mit ökologischer Wiederansiedlung produktiver heimischer Arten« oder sogar »Entwaldung zum gezielten Schutz gefährdeter Bestände«. Und der Luchs im Biodôme Montreal kriegt mehr Besuch denn je, weil er zu den Letzten seiner Art in Québec gehört.

Wenn ich im Büro solche Reden schwinge, nennen sie mich immer eine Schwarzmalerin. Aber mir macht keiner was vor, ich weiß, was da draußen wirklich im Gang ist. Und ich werde nicht zulassen, dass meine Berufserfahrung mich abstumpft.

In meiner Mittagspause parke ich in der Nähe des Flusses Manie und lasse Coyote spielen, während ich mit dem Fernglas die Ufer scanne. Die neonorange Hundeweste ist ihr ein bisschen zu groß. Da klettert sie auf einen umgestürzten Baum, beugt sich zum Wasser, trinkt gierig. Ich pfeife. Sie hebt ihre Augen und schaut mich an.

So ist es gut, bleib in meinem Sichtfeld. Tob dich aus.

Coyote jagt los, kauert sich mit der Schnauze auf die Pfoten, um eine Feldmaus unter dem Laub aufzustöbern. Ich esse lustlos meinen Salat. Sie bellt ihre Freude einer Hummel entgegen, die auf den letzten Herbstblumen vor Kälte erstarrt ist. Nimmt Reißaus vor einem weiteren Streifenhörnchen, das nicht mehr lange durchhalten wird. Mein Müsliriegel ist staubtrocken. Coyote entdeckt ein Rebhuhnnest und verschlingt die Eier, sieht mich an mit diesem blitzenden wilden Instinkt im Blick, dann kaut sie Gras als Abführmittel. Schon witzig, dass ihre Natur ein Mittagessen aufgetrieben hat, das nahrhafter ist als meins.

Ich werde diese bernsteinfarbene Flamme nähren, wie man ein Kind dazu ermuntert, flügge zu werden. Sollte mir etwas passieren, weiß ich, dass sie ohne mich überleben kann in diesem Niemandsland. Noch ein Bissen Cheddar, und weiter geht’s. Coyote hüpft auf ihren Sitz und döst sofort ein. Nur bei den schlimmsten Schlaglöchern und den schärfsten Kurven öffnet sie die Augen – ein Blick genügt, jetzt wo das Vertrauen zwischen uns hergestellt ist, und sie schlummert wieder ein. Vielleicht darf ich mit ihr irgendwann dank einer Ausnahmeregelung den Intensivkurs zur Hundeführerin machen. Allerdings sollte ich der Hundestaffel nicht verraten, dass sie zur Hälfte von einem Kojoten abstammt. Denn bisher habe ich nur Deutsche Schäferhunde, Labradore und Retriever im Einsatz gesehen. Aber ist der Deutsche Schäferhund nicht ein Elsässer Wolfshund?

Vielleicht hast du ja doch eine Chance, meine Charlevoixer Huskykojotin.

Im Osten wird eine neue Forststraße gebaut. Umweg über den Lac aux Loutres. Ich fahre langsam, kurble das Fenster runter und stütze mich auf, um besser durch die Bäume spähen zu können. Weggeworfene Lastwagenreifen im Straßengraben. Ich steige aus, um sie einzusammeln, und behalte dabei die Einfahrt mit dem neuen Schild im Auge: ACHTUNG JAGD. Keine Fahrzeuge in Sicht. Auf Wegen, an deren Ende man Futteräpfel, verbarrikadierte Häuschen und vom Rekordschnee des letzten Winters geschwächte Unterstände für Quads zurückgelassen hat. Die Sonne geht unter, entzündet die Wipfel der hohen Fichten, ein gemischtfarbiger Abendgruß. Zeit für den Heimweg. Ein paar hingekritzelte Einträge in mein Notizbuch. Wieder ein Tag Fahrerei ohne große Errungenschaften. Außer meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Die geografische Abgeschiedenheit beruhigt mich. Im Haut-Pays von Kamouraska koste ich die unermessliche Stille aus. Den lieben Frieden quasi. Die Umgebung ist prachtvoll, und meine Einsamkeit wird von fernen Tierlauten gelindert. Und wenn ich mal down bin, besuche ich meinen alten Freund Lionel in seinem Jagdhaus am Ufer der Rivière aux Perles und lasse mir erzählen, wie es vor dreißig Jahren als Wildhüter war. Die fetteste Beute, die grausamsten Jäger, die Vermissten.

Zurück beim Wohnwagen macht Coyotes Aufregung deutlich, dass wir Gesellschaft hatten. Und tatsächlich prangen frische Bärenspuren rings um meinen Kompostbehälter. Noch mehr neue Abdrücke führen quer durch die schlammige Ahornplantage. Das Tier hat sogar in der Nähe der erhöht angebrachten Regentonne rumgeschnüffelt, die mir als kalte Dusche dient. Vielleicht angelockt vom Zitronengrasduft meiner Seife.

Links hinter mir höre ich Äste knacken, Geräusche, die sich entfernen.

Anscheinend haben wir dich bei deiner Inspektion überrascht, Meister Petz. Du beobachtest mich wohl von Weitem, willst herausfinden, aus welchem Holz ich geschnitzt bin.

»Komm, Coyote.«

Ich öffne die Tür des Wohnwagens einen Spaltbreit, sie läuft zu ihrem Bett, und ich mache Feuer. Zum Glück haben wir noch zwei dicke Scheite hier. Mangels Anbrennholzes zerschneide ich meine älteste Jeans und nutze die Gelegenheit, um meine löchrigen Socken und ein paar alte Briefumschläge loszuwerden. Funktioniert. Der heiße Ofen knackt. Sehr gut, jetzt kann ich mich mit meiner Hündin den ganzen Abend verbarrikadieren, mein Gewehr in Reichweite zwischen meiner Matratze auf dem Boden und der Wand, für den Fall, dass ich es mitten in der Nacht blind packen muss. Meine Dienstpistole, eine 9-Millimeter-Glock, steckt als Back-up in ihrem Halfter. Vorsicht ist die Waffe einer Frau.

Ich denke an meine Urgroßmutter zurück, daran, was sie damals getan haben, um die Lager und Wigwams vor Bären zu schützen. Zumindest sind meine Wände aus Blech und nicht aus Birkenrinde, Tannenzweigen, Tierhäuten und zusammengenähtem Stoff, aber ich habe auch schon gesehen, wie ein ausgehungerter Bär den Wohnwagen eines Jägers in dessen Abwesenheit aufgeschlitzt hat. Und wie eine Einsiedlerin jenseits des nördlichen Polarkreises in einer Dokumentarserie rund um ihr Haus Chlor versprüht hat, um die Nasen der Grizzlys zu reizen. Ich verriegle erst mal einfach die Tür und versichere mich, dass meine Waffen geladen sind.

Ich bin auf mich allein gestellt. Ich wüsste sowieso nicht recht, wen ich zu Hilfe rufen sollte.

Meine Familie habe ich zuletzt an Weihnachten gesehen, und ich wollte nicht vor dem Essen beten, ich war es so leid, mich zu verstellen. Meine Großmutter aus der Gaspésie, mit der ich über die Litaneien kichern konnte, war nicht da. Als Kind spielte ich immer heimlich mit der Krippe unter dem Weihnachtsbaum, den kleinen, makellosen Porzellanfigürchen. Einmal versteckte ich die Jungfrau Maria unter dem falschen Schnee aus Watte und Silberglitzer, weil mein Vater beim Abendessen ständig wiederholte, dass alle Frauen gleich seien. Besudelt durch die Erbsünde, halb jungfräulich – dabei hatte er Maman zugezwinkert – oder völlig verdorben. Ich hatte keine Ahnung, zu welcher Kategorie ich gehöre, geschweige denn die Jungfrau Maria, die in meinen Augen eine perfekte Mutter sein musste, schön und liebevoll geblieben trotz Mutterschaft, anders als meine, die uns vorwarf, ihren Körper verunstaltet und all ihre Energie ausgesaugt zu haben. Als Grand-maman bemerkte, wie ich mich davonschlich, flüsterte sie mir zu, mir keine Sorgen um meine Porzellanfigur und ihr Wunderkind zu machen. Keine Frau sollte sich dafür schämen, neues Leben in sich zu tragen. Ach, wie sehr sie mir fehlt! Am letzten Heiligabend, dem ersten ohne sie, bekreuzigten sich alle nach dem Tischgebet. Sie dankten dem Herrn, nicht der Köchin der Mahlzeit. Sie lobten den Heiligen Vater, aber würdigten mit keinem Wort Grand-mamans Andenken. Ich brodelte innerlich.

»Wenn es wirklich einen Gott gibt, ist es garantiert eine emanzipierte, freie und fruchtbare Frau.«

Meine Geschwister starrten mich an, als wäre ich eine Hexe, die fleischgewordene Blasphemie. Und während ich stumm auf meinem Teller herumstocherte, malte ich mir aus, wie wohl Mutter Natur aussähe. Wahrscheinlich wie Artemis, die griechische Göttin der Jagd, oder wie die sumerische Göttin Inanna. Mit ihren Flügeln und Fängen bändigen sie Raubtiere und beschützen Rotwild, Witwen und Waisenkinder.

Manchmal, wie an diesem Abend, bete ich zum Großen Bären und allen Manitus, die uns zuhören, flehe sie an, die Raubtiere von meinem Wohnwagen fernzuhalten. Dafür hebe ich ihnen im nächsten Herbst ein paar Äpfel auf, bringe auf ihren Wegen gutnachbarschaftliche Opfergaben dar, kämpfe weiter erbittert gegen diejenigen, die ihnen ans Leder wollen.

»Wir sind auf derselben Seite, Leute.«

Zeit für einen Klopper, um die schlaflosen Stunden totzuschlagen. Ich ziehe einen verknickten Roman aus der Sofaritze. Bevor ich mich allerdings in dessen Paralleluniversum verliere, stelle ich mit einem Blick aus dem Fenster sicher, dass draußen nichts herumstreunt.

Als die von John Irving in Letzte Nacht in Twisted River ersonnene Figur erzählt, warum sie seit dem tragischen Vorfall in der Holzfällersiedlung immer auf der Hut ist und eine gusseiserne Bratpfanne über dem Bett hängen hat, wandern meine Augen zu meinem Exemplar. Dort steht sie, auf einem Stapel Naturführer. Eigentlich ist in meinem winzigen Wohnwagen alles in Reichweite. Und ob Schnauze eines Bären oder Schläfe eines Verrückten, das Gewicht des Dings macht jede mangelnde Treffsicherheit wett.

Du weißt, dass du einsam bist, wenn du einem längst schlafenden Hund Gute Nacht wünschst und einer Bratpfanne zulächelst.

Kapitel 3God save the Queen

27. September

Ich träume, dass die Tür meines Wohnwagens von einem Bären aufgeschlitzt wurde, dass seine Krallen durch das Blech geglitten sind wie eine Gabel durch Butter. Der Gestank, der mich verschlingt, kann nur von einem Tier stammen, das seit der Geburt in sein einziges Gewand schwitzt, Gärsäfte aus Mülltonnen schleckt und Stinktierdreck frisst.

Und ich mit meinen heute schon sage und schreibe vierzig Lenzen habe immer noch Albträume von Monstern unterm Bett.

Der Geruch stammt nur von Coyote, die den ganzen Raum verpestet hat, weil sie fast vergeht vor Drang, sich zu erleichtern. Ihr Kratzen an der Tür ist ein Wecker, der mich weit vor Sonnenaufgang aus dem Bett holt. Ich öffne ihr die Tür, schlüpfe in meine Schlappen, werfe einen Blick nach draußen – alles gut – und schüre den Ofen wieder an, ehe ich mich noch mal für ein halbes Stündchen hinlege und zusehe, wie die Sonne mit den Farben des Himmels spielt. Die herbstlichen Orangetöne weichen frostigem Rosa. Der Winter kommt. Die Gänse ziehen nach Süden. Die Bären suchen nach Futter. Und ich habe frei.

Ich schwinge meinen Hintern unter den Decken hervor, stehe auf, um den Wohnwagen zu lüften. Dehne mir die Arme und laufe ein Stück durch den kühlen Nieselregen. Pinkle auf ein Moosbett, wische mir die Mumu mit Rentierflechten ab. Fühle mich in meinem Element. Zeit für meine Eisdusche unter der Regenrinne, in Flipflops. Die Art von Dusche, bei der man nicht trödelt, sondern sich kräftig abschrubbt, um die Kälte mit dem Seifenstück zu vertreiben. Die Art von Dusche, bei der sich die Frage nach der revitalisierenden Intensivkur gar nicht stellt. Als ich schließlich sauber und bereit für meine Klamotten bin, schlappe ich zur Wäscheleine. Der Großteil meiner Garderobe hängt zwischen zwei Bäumen, wo die Alltagspullis und -hosen dauerhaft auslüften. Wenn nur noch einzelne Klammern im alten Ahornwassereimer liegen, wird es Zeit zu waschen. Wie matt und weich meine Wäsche ist. Die Farben sind verblasst. Eine Pastellpalette aus Beige, Rosa und Braun, die an Sandkörner unter dem Mikroskop erinnert. Schönheit, die nicht schrill ist. Zeitlose Muscheltöne. Aber heute habe ich keine Lust, mich in schlichtem Strick zu verstecken. Mit einem Handtuchturban auf dem Kopf laufe ich zum Wohnwagen, in den Fußstapfen des Bären. Zum Glück sind keine neuen mehr dazugekommen. Drinnen entscheide ich mich für die sauberen, gefalteten Kleider ganz unten im Koffer, wo ich auch meine Uniformen verstaue. Heute ist mein Geburtstag, und ich möchte mich hübsch machen, selbst wenn ich wahrscheinlich überhaupt niemandem begegne. Die Chose beschränkt sich darauf, kein Cap zu tragen, meine Haare offen zu lassen, die am wenigsten zerschlissene T-Shirt-und-Jeans-Kombi anzuziehen und, ja, meine gestreiften Merinostrümpfe. Ich putze mir die Zähne und spucke in Richtung Wald aus, dann begutachte ich mich im Rückspiegel.

»Du wirst alt«, sagt das lange schlohweiße Haar, das auf meinem Kopf prangt.

Ich reiße es aus.

»Neues Haar, neues Glück.«

Ich wärme mir die Finger an meiner Tasse Kaffee, während ich meiner Hündin dabei zusehe, wie sie Gott weiß was ausbuddelt. Später habe ich eine schöne Überraschung für sie. Die jährliche Pilgerfahrt in Richtung amerikanische Grenze, um einen alten Freund zu besuchen, an diesem vorgetäuschten Krankheitstag, mit dem ich mein Wochenende verlängere. Zwei volle Tage für einen gemächlichen Hin- und Rückweg. Sollte hinhauen.

Das lässt mich an die ausgedehnten Touren durch den Wald mit einem ehemaligen Klassenkameraden denken, immer wenn wir uns davonstehlen konnten. Ein passionierter Angler, der seine Fliegen mit Waschbärenfell herstellte. Für ihn war der Überlebenskampf, die Woche über im Unterricht zu sitzen. Am Ende hat er die Schule nicht fertig gemacht, sondern sein Zeug bei einem Garagenverkauf verscherbelt, um sich mit seinem Sibirischen Husky für den Appalachian Trail auszurüsten. Drei Monate zu Fuß mit seinem Zuhause auf dem Rücken. An Ruhetagen in der Nähe von seichten Wasserläufen fing seine Hündin gern mit einem Pfotenschlag Fische. Anschließend trug sie sie ganz stolz im Maul zu ihrem Herrchen, der sie anfangs mit Trockenfleisch belohnte. Immer ein Leckerli, das interessanter war als der Fisch, um sie zu überzeugen, ihm ihre Beute zu überlassen. Irgendwann genügte eine kräftige Streicheleinheit, um das etablierte Tauschgeschäft aufrechtzuerhalten. Zusätzlich zu den gefriergetrockneten Rationen eines Weitwanderers konnte er so gelegentlich eine auf der Glut gegrillte Forelle genießen. Ihn könnte ich auch mal nach seiner Meinung zu meinem Streuner fragen. Wenn ich mich richtig erinnere, ist er bei seiner Wanderung nicht nur einem Bären begegnet. Das erste Mal hat seine Hündin das Tier verjagt. Nach ein paar Stunden kehrte sie zurück, ohne ihre Tasche mit mehreren Tagesrationen Trockenfutter und der letzten vollen Feldflasche. Offenbar hatte der Bär sie ihr entrissen. Ich würde Hubert gern am Telefon lachen, ihn sagen hören, dass ich mir keinen Kopf machen soll. Aber er hat keine Nummer mehr. Er ist einer von denen, die so viel synthetisches Gras von irgendwelchen Motorradgangs geraucht haben, dass sie nicht mehr ganz in der Realität leben. Er ist besessen von der Wahnvorstellung, dass die Regierung ihn ausspioniert, um ihn besser versklaven und besteuern zu können. Außerdem verbrennt er alle Briefe, bei denen er die Handschrift auf dem Umschlag nicht erkennt, oder schlimmer noch, bei denen die Adresse aufgedruckt ist, weil er behauptet, dass kein geistig gesunder Mensch mit einer Maschine korrespondieren sollte. Kann gut sein, dass er irgendwann hinter Gittern landet wie Thoreau, weil er partout seine Steuern nicht zahlt. Oder in seinem Fall eher seine Knöllchen, deren Verzugszinsen allmählich ins Unermessliche steigen. Was für ein Typ, dieser Hub … Kauerst du gerade in deinem Zelt und kochst dir eine Grütze mit einem Klacks Honig und viel zu viel heißem Wasser?

Inspiriert von diesem Gedanken schiebe ich einen Schokoriegel in mein Gepäck.

Dann krame ich in meinem Bücherregal nach einem Survival Guide, der mich bei meiner Expedition begleitet. Vielleicht du, treuer Freund, der mir am Lagerfeuer ausführlich beschreibt, wie ich beim nächsten großen Fressen als Hauptgericht ende? Aber nicht heute Abend, ich lasse mir meinen Geburtstag nicht von einem Bären versauen.

Tief im Bas-Saint-Laurent rollen sie das R, der Bärrr.

Ich nehme die 287 Richtung Lac de l’Est und werde langsamer, als der Asphalt einer Wolke gelber Erde weicht. Vor mir muss ein Holztransport sein, der den Boden aufwirbelt. Ich halte an und schalte das Radio ein. Drei Männer um die sechzig werden seit gestern in der Gegend vermisst. Angelausflug. Keine Neuigkeiten. Die Familien machen sich Sorgen. Die Polizei bittet alle Jagdhausbesitzer, eine Runde zu drehen und nachzusehen, ob die Männer vielleicht irgendwo im Wald Zuflucht gefunden haben. Ich denke an meinen Bären. Und an die Vermissten. Auch wenn heute mein Geburtstag ist und mich meine Kolleginnen und Kollegen außer Gefecht wähnen, verwerfe ich meine geplante Route und fahre die Waldwege ab, die ich wie meine Westentasche kenne.

Dumm gelaufen, grüner Riese, mein Guter, ich besuche dich ein andermal.

Als ich am späten Nachmittag nach erfolgloser Suche auf den Schießplatz einbiege, ist weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Nur die Queen auf ihrem sonnengebleichten Jubiläumsplakat, das an einen Heuballen gepinnt ist. Ich zücke meine Dienstwaffe, entferne die Kugeln und ziele auf Ihre Königliche Hoheit, während ich an mein Land denke, das gar keins ist und sich in der Konföderation abrackert, an die verirrten Angler, die sicher kein Gewehr auf ihren Ausflug mitgenommen haben. Werden sie, einmal ausgehungert, notgedrungen ihren Wurmvorrat verspeisen, finden sie vielleicht Pilze oder vertrauen sie auf wilde Beeren?

Meine Knarre macht klick, klick, klick, die Kugeln klimpern in meiner Hosentasche, das Ziel verhöhnt mich.

 

Peng!

    Peng!

        Peng!

 

Drei imaginäre Löcher in deiner Krone, die aus uns Wasserträger gemacht hat, Fabrikarbeiter, die für kleine Brötchen geboren sind, französischsprechende Grummler, derart niedergedrückt von der Angst zu verschwinden, dass wir uns in lästernde Kolonisten verwandelt haben. Als wäre unser Überleben durch die Andersheit bedroht. Als würden wir es nicht einmal verdienen, uns selbst zu regieren. Eure Hoheit, ich bin wirklich zufrieden damit, auf Euren »öffentlichen« Ländereien zu kampieren, aber ich möchte Euch untertänigst darüber in Kenntnis setzen, dass ich die wahre Königin des Unterholzes bin. Und heute ist mein Geburtstag, also gönne ich mir.

 

    Peng!

        Peng!

            Peng!

 

Ich laufe auf mein unversehrtes Ziel zu. Coyote folgt mir nicht, sondern bleibt aufrecht hinter mir stehen. Komisch. Ich starre Elisabeth II. kurz nachdenklich an. Coyote bellt, die Augen fest auf einen Punkt am Waldrand gerichtet, ein paar Meter über dem Boden. Sie blinzelt nicht. Ihre Pupillen weiten sich. Ihr Atem setzt ein, zwei, drei Sekunden lang aus. Sie wirft mir einen raschen Blick zu, ehe sie wieder diesen Punkt fixiert, beharrlich und präzise, als wollte sie mit dem Finger darauf zeigen. Sie hat etwas entdeckt.

Vor meinem Stiefel bemerke ich plötzlich einen Fladen, in dem Fliegen nisten. Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes. Bärendreck. Ich weiche zurück. Werde ganz still. Schaue auf. Nichts rührt sich. Der Wind hat mich bestimmt schon verraten. Ich beruhige mich selbst: Ich habe meine Waffe in der Hand, meine Kugeln sind in der hinteren Hosentasche.

Keine Zeit zu verlieren …

Ich gehe rückwärts, während ich leise nachlade, aber noch bevor ich alle Kugeln aus der verflucht engen Tasche gepfriemelt habe, nehme ich eine Bewegung in einer Baumkrone wahr. Ich traue meinen Augen nicht.

Drei Schwarzbärenjunge krallen sich hoch oben in der Lärche fest und starren uns an, dann fangen sie an zu jammern. Mir schnürt sich die Kehle zu. Coyote bellt aus vollem Hals. Der Alarm ist losgegangen. Ich muss mich so schnell wie möglich verdünnisieren. Ich spüre, wie die Kugeln in meiner feuchten Hand glitschig werden. Memo an mich selbst: Wirkt echt superkompetent, dass die Wildhüterin keine Kugeln in ihrer Knarre hat, wenn Bären in ihrer Schusslinie sind.

»Woooh bear … woooh bear …«

Das sind die ersten Worte, die mir in den Sinn kommen. Flashback von einer Unterhaltung am Lagerfeuer, wo ein Baumpflanzer der Runde erzählte, die kanadischen Bären würden seit vier Jahrhunderten von Englischsprechenden gejagt und deshalb gebe es eine winzige Chance, dass sie Englisch verstünden. Er hatte mehr Walderfahrung als ich, die ich damals noch nicht einmal mit der Ausbildung begonnen hatte, trotzdem konnte ich mir eine Erwiderung nicht verkneifen:

»Du spinnst, Mann. Bären sprechen doch kein Englisch.«

Aber jetzt ist das der einzige Strohhalm, an den ich mich klammern kann. Also sage ich: »Woooh bear«, ohne den Kleinen in die Augen zu sehen, und trete den friedlichen Rückzug an.

Was für eine bescheuerte Aktion. Eins ist schließlich offensichtlich: Wenn die kanadischen Bären irgendeine menschliche Sprache schon so lange im Ohr haben, dass sie was davon verstehen könnten, dann den Zungenschlag einer indigenen Sprache, keiner kolonialen. Leider merke ich jetzt, dass ich das Wort »Bär« in keiner einzigen Sprache der First Nations kenne.

Die Mutter ist bestimmt nicht mehr weit.

Ich weiß nicht einmal den richtigen Namen meiner Urgroßmutter, um sie um Beistand anzuflehen. Marie-Ange Robichaud, wenn du mich hörst, bitte beschütze mich. Meine Mutter hört mich ganz sicher nicht, genauso wenig wie an all den Morgen, als ich mit ihr reden wollte und sie den Blick nicht von der Zeitung löste. Auch ich würde mich gerade gern in einen Roman oder die Schlagzeilen flüchten.

Die Bärenjungen klagen, klettern höher. Ich ziehe mich weiter zurück, meine Nerven liegen blank. Coyote will einfach nicht die Schnauze halten, und das hilft nicht sonderlich. Oder vielleicht doch?

»Wo steckst du, Mama Bär?«

Die Kleinen rufen sie ununterbrochen an, und ich verfluche die Tatsache, dass es, selbst wenn ich es ihnen gleichtun wollte, hier keinen Handyempfang gibt. Da geht es mir nicht anders als den drei verschollenen Männern, deren Batterien und Vorräte allmählich erschöpft sein dürften.

Endlich bin ich da. Mein Herz rast, mein Kopf dreht durch, und meine Hand findet den Griff der Wagentür nicht. Die schlimmsten Flüche sprudeln aus meinem Mund, bis ich hineingesprungen bin und die Tür hinter uns verriegelt habe. Coyote hat die Ohren angelegt und scheint mehr Angst vor meiner Wut zu haben als vor der Raserei der Bärin, die jetzt quer über den Schießplatz jagt, uns hinterher. Ich starte den Motor und haue auf die Hupe. Die Mutter hält erschrocken inne, schaut uns an und stellt sich auf die Hinterbeine. Wie stabil ist eigentlich eine Windschutzscheibe? Sie mustert uns durch den Schleier ihrer Kurzsichtigkeit, dann sprintet sie auf ihre Jungen zu.

Ich verbringe die Abenddämmerung damit, ziellos Waldwege abzufahren auf der Suche nach den drei Männern und dem silbernen Transporter, der im Radio beschrieben wurde. Sie sind wahrscheinlich irgendwo im Dickicht stecken geblieben. Alle Kräfte sind mobilisiert. Zivilisten, Polizeihubschrauber, Hundestaffel, Streife, ja, selbst die Pflanzer der Forstbetriebsgemeinschaft durchkämmen den Wald. Zweiter Tag ohne Lebenszeichen. Wenn sie nicht so vielen Bären begegnet sind wie ich heute, gibt es noch Hoffnung.

Der Wind frischt auf. Die Nacht wird kalt.

Ich steuere auf das Jagdhaus meines Freunds Lionel zu, am Ufer der Rivière aux Perles. Ein bisschen Komfort tut mir bestimmt gut. Und vier feste Wände. Schließlich habe ich heute Geburtstag.

Die Tür ist nicht abgeschlossen, wie üblich. Im Inneren wartet Vertrautes – der Korb mit dem Campinggeschirr auf der Holzkiste, das Bettzeug, das außer Reichweite der Mäuse hängt, ein paar Dosensuppen auf dem Regal und alles Notwendige, um Licht zu machen, gut sichtbar in der Mitte des Tischs. Lionel hat geahnt, dass ich herkomme, ehe er selbst wieder zum Jagen hier ist.

Ich teile meine Suppe mit Coyote. Räume ein bisschen auf – die Nager lassen sich gehen. Im Schein der Kerzenstummel, der beiden Öllampen und einer Stirnlampe mit müden Batterien lese ich meinen Survival Guide. Volles Rampenlicht für unzählige Seiten mit Berichten vom Tod der einen und vom Glück der anderen im Angesicht der großen, krallenbewehrten Bärinnen, die Wanderer verschlingen oder verschonen. Kurzfassung: Es ist eine gute Idee, dich flach auf den Boden zu werfen und tot zu stellen, um deine Eingeweide zu schützen, aber wenn der Bär dich trotzdem zerfleischen will, solltest du aufspringen und um dein Leben rennen. Allerdings verrät das Büchlein nicht, was du mit den Fetzen anstellen sollst, wie du die Organe aufhalten kannst, die zu Boden pladdern.

Morgen nähe ich ein Glöckchen an Coyotes Halsband.