Die unsichtbare Meile - David Coventry - E-Book

Die unsichtbare Meile E-Book

David Coventry

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Beschreibung

Paris, 17. Juni 1928. Das Signal ertönt, die Tour der France startet. Mit dabei: fünf Männer aus Neuseeland. Vor ihnen liegen 5.376 Kilometer. Dass sie es mit ihren alten Schrotträdern schaffen werden, glauben sie selbst nicht. Zu Beginn werden sie von den Franzosen wegen ihres lächerlichen Outfits nur belächelt. Doch nach kurzer Zeit sind sie Teil dieser sonderbaren Gemeinschaft, stoßen sich beim Sprintduell die Ellenbogen in die Rippen, jagen nachts lebensmüde die Alpen runter, betäuben sich nach der Etappe mit allem, was zur Verfügung steht. Aber es braucht mehr als nur Entschlossenheit, um in dieser von Kratern und Gräben zerfurchten Landschaft den Schatten der Vergangenheit zu entfliehen …

Ein Buch über ein einzigartiges Abenteuer, kraftvoll und zugleich hochsensibel erzählt es von Ekstase, Freundschaft und dem Echo des Ersten Weltkriegs.

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Seitenzahl: 456

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Das Signal der Rennleitung, und sie treten in die Pedale, sie rattern über das Kopfsteinpflaster von Paris, rechts und links die Menschen, die herrschaftlichen Fassaden, der Jubel, all das verschwimmt … Nach kurzer Zeit sind sie Teil dieser sonderbaren Gemeinschaft, stoßen sich beim Sprintduell die Ellenbogen in die Rippen, jagen nachts lebensmüde die Alpen runter, betäuben sich nach der Etappe mit allem, was zur Verfügung steht. Doch in dieser von Kratern und Gräben zerfurchten Landschaft braucht es bald mehr als nur Entschlossenheit, um seinen eigenen Dämonen zu entfliehen …

»Brillant.«

Sunday Express

David Coventry, geboren 1969, gilt nach Eleanor Catton als die nächste literarische Entdeckung aus Neuseeland. »Die unsichtbare Meile« ist sein Debütroman, stand monatelang auf der neuseeländischen Bestsellerliste und erscheint in zehn Ländern. Coventry lebt in Wellington.

Volker Oldenburg

David Coventry

DIE UNSICHTBARE MEILE

Roman

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Invisible Mile bei Victoria University Press, Wellington.

The assistance of Creative New Zealand towards the translation of this book is gratefully acknowledged by the publisher.

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017

© David Coventry 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg nach einer Idee von Stuart Wilson

Wir leiden vom ersten bis zum letzten Tag. Wollen Sie mal sehen, womit wir fahren?

Henri Pélissier zu Albert Londres

PROLOG

Ich kam in Canterbury an, in der Tiefebene, über mir der untrügliche Himmel. Es war 1921, die Sonne bohrte mir Löcher in die Augen, und die Seen versiegten zu Salz und Mineralien. In Timaru lieh ich mir in geliehenen Schuhen ein Fahrrad und fuhr durch den Staubsturm, der von den Alpenspitzen über das trockene Flachland bis zur Küste fegte. Die Strecke führte mitten durch den Wind. Die Luft bildete einen Tunnel, manchmal so schmal, dass er uns zur Höchstgeschwindigkeit trieb, um uns dann, in einer schnellen Kurve, schutzlos Schmutz und Hitze auszusetzen. Es war ein unmenschlicher Sommer, ein Sommer, wie er nur in der Phantasie existiert.

Hundert Meilen fuhr ich neben Männern und älteren Männern, alle atmeten schwer, manche wurden von Husten gequält, ihre Rufe raue Stimmfetzen im Wind. Wir fuhren durch Bäche, wenn es keine Brücke gab, drängten uns auf der Suche nach der Straße durch den aufgewühlten Staub, und dort, wo keine Straße war, stemmten wir die Räder über unsere Köpfe und kämpften uns zu Fuß durch den Matsch. Frei war nur, wer aufgab. Und viele gaben auf. Die erste Ausgabe des Klassikers seit der Sache mit dem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne. Ich wusste nichts über die Männer neben mir.

Mein Bruder Thomas und seine Frau fuhren hinterher. Er rief mir aufmunternde Worte zu. Thomas und Katherine lehnten sich aus dem fahrenden Auto. Männer riefen mir zu, redeten auf mich ein, feuerten mich an, aber ich fuhr stumm weiter. Eine Stunde lang prasselte Regen auf uns ein und wusch Blut aus unseren Wunden. Dann wieder Sonne, und ich blickte starr nach vorne. Stille und die roten Knöpfe an Katherines Manschette, als sie die Hand vom Gehäuse ihrer Butcher's Carbine löste und mir zuwinkte. Ihre blassen Arme, der geschwungene Hals.

Ich wurde Vierter im Gerangel auf der Zielgeraden, hinter Phil O'Shea – vor dem Krieg ein Mann, danach ein Held –, und er beglückwünschte mich. Jemand nahm mir das Rad ab, und ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. O'Shea trug einen Blumenstrauß im Arm wie ein fremdes Baby. Er legte den Arm um mich, gratulierte mir und hieß mich willkommen in dieser Religion aus Schmutz und Leiden. Seine Worte, meine Schmerzen. Den Namen erfuhr ich erst hinterher. An sein Gesicht konnte ich mich da schon nicht mehr erinnern, aber ich mache einen gut aussehenden Mann aus ihm.

Das war das erste Rennen, in dem ich ein Trikot mit Nummer getragen hatte, das erste, in dem meine Vereinskameraden mich nicht abwechselnd um den Berg hetzten. Eigentlich hätte ich Letzter werden müssen. Mit meinen lächerlichen neunzehn hatte ich zu wenig Muskeln, ich war ein Rechen mit beweglichen Sehnen zwischen den Zinken. Mir wuchs schon ein Bart, aber die spärlichen Haare sahen aus wie angeklebt. Ich dachte nur ans Leben und an Geschwindigkeit, ich wollte sein wie ein Zug, der auf den Punkt kurz vorm Horizont zurast, wo die Schienen zusammenlaufen und aneinanderstoßen. Leben, Geschwindigkeit und eine Zukunft, von der ich nur ein vages Bild hatte, so war ich gestrickt. Ich ließ namhafte Fahrer hinter mir, Fahrer mit vielen Jahren Rennerfahrung. Männer mit ungewissen Absichten klopften mir auf die Schulter. Ich lächelte wie ein Lippenstiftabdruck auf einem Glas, pfiff bei jedem Glückwunsch durch die Zähne. Und konnte immer noch kaum fassen, dass ich durchgekommen war, und Katherine empfand genauso.

Am Abend waren mein Bruder und ich betrunken. Wir sangen im Rausch, und wahrscheinlich stanken wir. Wir stellten den Ford am rauschenden Waimakariri ab und tranken im Scheinwerferlicht. Ich erzählte ihm, was andere gesagt hatten. Eigene Worte hatte ich nicht zur Verfügung, die waren unter der Brücke geblieben. Ich erzählte ihm vom Wind und vom Schlamm. Zweige hingen mir im Haar, und Gras klebte an meinem Trikot. Ein paar Hammel trabten vorbei, und mein Bruder mit seinem geschlagenen Gesicht nickte. Er lächelte und schimpfte. Brüllte neben dem Wagen, während wir unser Bier tranken. Es betrübt mich, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie ich gerochen habe, meine Kleidung, meine Haut. Der Geruchssinn ist der persönlichste von allen: Er lässt sich am wenigsten ausblenden, lässt am wenigsten nach. Diese Erinnerung fehlt, als hätte ich sie gegen irgendein Schicksal eingetauscht, an dem ich plötzlich teilhatte.

Ich hätte wirklich nicht ins Ziel kommen dürfen. Ich hätte Letzter werden müssen. Ich hätte auf den großartigen Sprint zum Flugplatz verzichten müssen, bei dem ich vier Fahrer überflügelte, als hätte ich ihre Zeit angehalten und meine auf wundersame Weise beschleunigt. Eine Brücke über den Rangitata, und das Feld teilte sich: In diejenigen, die sie überquerten, bevor der Lastwagen hinauffuhr, und diejenigen, die sich auf der anderen Seite drängten, als das Fahrzeug ins Schlingern geriet und der Himmel sich vom Gestank der Bremsen zuzog. Ich befand mich irgendwo zwischen Triumph und Katastrophe, ein zusammengekniffenes Augenpaar zwischen Dung und Staub. Ich wich ihm mit Glück und unbedachtem Handeln aus. Ich hätte in einem Graben landen und meinen kranken Stolz nähren, einen Steinhügel zu Ehren der Vergangenheit errichten sollen: Für meine Schwester Marya und alles, was ich in dem Augenblick sah, als der Lastwagen kam und ich dem Tod davoneilte. Stattdessen lehnte ich am Ford, mit Thomas und der Nacht und Dingen, die in der Nacht gesagt werden.

Schließlich schlug er zu. Der Schlag kostete mich einen Zahn, den ich aus dem Dreck aufsammelte und in die Tasche steckte. Mein Bruder ist klein, mit breiten Schultern und kräftigen Armen, und in seinen Augen flammte die Gewalttätigkeit auf, die früher bisweilen aus ihm herausgebrochen war. Seit der Krieg durch ihn hindurchgegangen war, hatte er in der Tat eine Ruhe verströmt, als wäre er dafür geschaffen, auf einer Farm zu leben, über Weiden zu spazieren, einem Kälbchen das Hinterteil zu streicheln oder ein Gatter zu reparieren, dessen Klappern die Nachtruhe stört. Ganz so, als fürchtete er sich nicht vor den Erinnerungen. Ein Eindruck, der sich in jenen paar Augenblicken vollständig verlor. Die verstümmelte Persönlichkeit, die ständige Todesangst, die Gräuel des Krieges – alles, was man ihm im sandigen Süden von Middelkerke angetan hatte, brach wieder hervor.

Wir standen uns blutend gegenüber. Vom Wasser waren nur einzelne weiße Lichtreflexe zu sehen, wenn es sich an der Oberfläche brach. Er setzte sich auf einen Baumstamm, und sein Gesicht verschwand aus dem Lichtkegel.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich. »Zu Marya?«

»Was ich gesagt habe?«

»Was hast du zu ihr gesagt? Was hast du zu Marya gesagt?«

»Was ich gesagt habe?«

»Was hast du gesagt?«

Er stand auf und kam auf mich zu. Langsam. Fixierte mich im Schutz der Dunkelheit. Dann redete er, ein Murmeln, und fl

1

Ich glaube, niemand von uns hat die Blicke von zig Tausenden vorhergesehen, die Gesichter und die Körper dahinter. Diese fünfzigtausend Augen, hellbraun, dunkelbraun, blau, alle auf uns gerichtet. Ich sitze auf dem Sattel, Harry hält das Rad fest. Er ist groß, und er steht neben meinem Lenker, blickt vorbei an meiner Schulter. Sein Blick ist abwesend, die Augen gerötet von Kaffee, Zucker und hundert verschiedenen Fragen. Das Kopfsteinpflaster macht das Warten schwierig; ich habe Angst, dass ich umkippe, bevor es losgeht, eine Witzfigur vor den Pariser Menschenmassen. Ich frage, wie spät es ist, aber niemand wird mir antworten. Die Stunde des Tour-Starts ist angebrochen, mehr wissen wir nicht. Wir sind um 9:20 Uhr an der Reihe; wann das ist, kann ich nicht sagen. Harry nickt mir zu, aber dann dringt Lärm aus der Menge herüber, und sein Gesicht spannt sich an. Er kneift die Augen zusammen, und das Geräusch lässt kurz nach, die Gesichter, Münder und all die leuchtenden Augen verdunkeln sich und klaren wieder auf. Ich stelle den Bremshebel ein. Ich nehme Rennhaltung ein. Dann richte ich mich wieder auf.

Eigentlich müsste es warm sein, aber im Schatten hängen noch Reste der Nacht, kalte Luft kriecht an unseren Armen hoch, und wir bekommen Gänsehaut. Oben auf dem Balkon lehnt sich ein hübsches Mädchen aus der Menge, um die Aufmerksamkeit eines Fahrers, irgendeines Fahrers zu gewinnen. Sie trägt einen Mantel, aber die entscheidenden Knöpfe sind erfreulicherweise geöffnet. Jemand aus unserem Team sagt: »Puh!«. Es ist Percy, und sein Akzent ist hart, so hart, dass die Franzosen, wenn er den Mund aufmacht, ihre Schuhspitzen betrachten. Er ist nervös und klopft Harry auf die Schulter. Keiner beachtet ihn. Auf jeden Fall nicht Harry, denn ich weiß, was ihm durch den Kopf geht, als er sich zur Menge umdreht, was die meisten Männer denken, während sie sich startbereit machen.

»Was ist –«, sagt er.

»Was ist womit?«, frage ich zurück.

»Wissen wir –« Aber er wird abermals überdröhnt. Lärm überall, der Kathedralenklang der Tour. Das nächste Team ist auf der Strecke. Wir warten, bis wir an der Reihe sind, dem Getöse der Stadt ausgesetzt.

Ich schwenke die Mütze hin zu dem Mädchen. Es scheint, als würde sie etwas rufen. Ich grinse den anderen zu. Harry fragt mich, wie sie heißt, aber schon legt die Menge wieder los. Der Lärmpegel steigt, die Geräusche scheinen sich zu bewegen, zu einer Welle aufzutürmen. Er reckt den Hals und pufft mich in die Seite. Ich folge seinem Blick und nicke. Wir alle spüren die geballte Dichte der acht Touristes-routiers, die sich ganz hinten an ihre Aufwärmübungen machen. Ein paar erkenne ich. François Louvière ist dabei. Ich werde still. Die Menge auch. Er dehnt die Beine.

Harry kneift wieder die Augen zusammen. Ich beobachte ihn, weil ich zu wissen glaube, was in ihm vorgeht, woran er denkt: Er denkt daran, dass es bei ihm zu Hause gerade dunkel wird, überlegt, was in dem Haus am Ende der Straße am Rand der Tiefebene wohl heute auf den Tisch kommt, denn unten im Süden ist gleich Essenszeit. Er denkt an das Zimmer, an seine Frau vor dem leise simmernden Topf. Ich weiß, wie tröstlich solche Gedanken sein können, wenn man sich vor Lärm fürchtet, dem kesselartigen Klang von Gemurmel, das zu Rufen, Geschrei und Heulen anschwillt. Es umzingelt uns, kriecht unter unsere Trikots und über unsere Haut. Plötzlich schlägt die Einsamkeit zu, und du blickst dich um und denkst zurück an Essen und Trinken, an Liebe und Stille. Ich weiß es, weil wir alle uns vor diesem Lärm fürchten.

»He«, ruft Percy dem Mädchen zu. Sie zuckt zusammen, aber sie lächelt. Drei Australier und zwei Neuseeländer, wir können nicht wissen, wie wir uns mitten in Paris anhören. Ich sage mitten in Paris, dabei befinden wir uns eigentlich außerhalb, in Le Vésinet, aber die Stadt ist dennoch hier.

Ernie Bainbridge gähnt. Er beginnt ein Lied zu summen, aber Percy unterbricht ihn, das heißt, er unterbricht ihn nicht, denn er redet pausenlos. Er führt aufgeregte Selbstgespräche, scherzhaft, ernst, unbestimmt. Wörter, die er schon gesagt hat, gesagt hat, bevor wir nach Brüssel aufbrachen, an dem Märztag gesagt hat, als wir bei Tagesanbruch aus Perth ausliefen. Irgendetwas über Morgenstunden und Percy Osborne.

»Wir werden untergehen«, sagt er.

»Du bist ein Angsthase«, sagt Ernie.

»Eine Brücke wird einstürzen, und das war's dann mit euch, Jungs. Ich bin nicht dabei, ich habe dann schon aufgegeben.«

Harry lächelt und will etwas sagen.

»Du bist bloß nervös«, komme ich ihm zuvor.

»Und ob ich nervös bin«, sagt Percy. »Ich bin nervös. Ich bin furchtbar. Ich bin furchtbar nervös.« Das Wiederholen scheint zu helfen, scheint ihm den Mut zurückzugeben, von dem ich bislang nichts bemerkt habe, denn er pfeift dem Mädchen zu, schwenkt die Mütze und hält inne, als sie uns eine Kusshand zuwirft. Sie strahlt, aber diesmal vermag ich nicht zu sagen, ob sie ihr Lächeln heimlich Harry, Percy, Ernie, mir oder sogar Opperman schenkt, der uns still und vergnügt zuhört, oder ob es der großartigen Szene gilt, die sie von dort oben bestimmt zu sehen bekommt; Zehntausende leuchtende Gesichter.

»Wissen wir schon«, sagt Harry, »welches –«

»Welches Zeichen wir bekommen?«, frage ich, und Harry nickt.

»Wer?«, sagt Percy.

»Wir. Welches Startzeichen bekommen wir?«

»Hubert?« Harry dreht sich zu Opperman um, der mit seinem Lenkerband beschäftigt ist.

»Wie erkennen wir, dass das Rennen begonnen hat?«, fragt Percy.

Opperman schiebt die Unterlippe vor und zuckt die Achseln. »Keine Ahnung, Percy. Wenn wir losgefahren sind, sag ich dir Bescheid.«

Percy murmelt vor sich hin, sagt mit leiser Stimme, die nicht ganz seine ist: »Wir wollten einen Kapitän, und gekriegt haben wir diesen grünen Jungkadetten.« Seine Stirn legt sich in Falten und er denkt nach, verwundert, woher wohl diese Stimme kam: Von einem Schlachter auf der Straße, einem kaputten Soldaten, der am Bahnhof Zeitungen und Briefmarken verkauft, oder vielleicht von einem Verwandten, der schon einmal hier gewesen ist. Es scheint, als wäre er tief bestürzt darüber, auf einmal ein anderer sein zu müssen, um er selbst zu sein.

»Wir fahren ja nicht zum Sinai«, sage ich.

»Du meinst die Somme.«

»Scheiß auf die Somme.«

»Fahren wir überhaupt zur Somme?«, fragt Harry.

»Oppy?«

Unser Teamkapitän zeigt mit einer Kopfbewegung auf Ernie Bainbridge, und der nickt. »Eigentlich nicht.«

»Jemand noch ein paar Sternsprünge?«, sagt Percy, und Opperman bückt sich lachend, um seine Pedalhaken einzustellen, die nicht eingestellt werden müssen. Einer von der Tour gibt uns ein Zeichen, dass wir um einen Platz zur Startlinie vorrücken sollen, und die Menge tost wie eine zerreißende Welle: Ein Favorit ist gestartet. Wir sehen uns an und überlegen, welcher Liebling wohl ins Rennen gegangen ist. Von oben ruft uns Monsieur France zu. Er ist unser Manager und redet ohne ein einziges Wort Englisch. Mister France. Wir haben Wetten auf seinen Vornamen abgeschlossen. »Was sagt er?«, fragt Percy – aber wir wissen, dass es keine Rolle spielt, was er sagt, nicht bei diesem Lärm. Sein Blick verrät uns, was wir wissen müssen, und darin steht, dass wir als Nächste dran sind, das nächste Team, das sich in das Geschrei begeben muss, in das diese Stadt ausbricht, wenn Männer in ihr losgelassen werden.

Wir waren Gäste des Radsportclubs Le Vallois in Les Loges-en-Josas. Wir wohnten in einer Mansarde, denn die Chalets waren von der französischen Olympiamannschaft belegt. Auch sie waren zum Trainieren dort, menschliche Maschinen. Es war sagenhaft, wie sie sich auf der Bahn bewegten. Wir schauten ihnen im Morgendunst zu, bevor wir zum Training auf die Straße gingen und vierzig, sechzig, manchmal auch neunzig Kilometer abrissen. Sie glitten so geschmeidig über die Bahn wie ihre Ketten über die Blätter, sie wirkten schwerelos, getragen von einer stillen Wut. Wir ahmten ihre Haltung nach, beugten uns tief über den Lenker. Monsieur France schob uns unsanft auf den Sätteln herum, bis unsere Hintern in der richtigen Position waren.

Stille Wut. Harry sagte diese beiden Wörter, als wir an einem Regenmorgen nicht weit von unserer Unterkunft im Park von Versailles spazieren gingen, und ich musste lächeln.

Die heilsame Wirkung der Seeluft verpuffte in den Wochen aus pausenloser Konzentration und blindem Fleiß. Wir kochten in unserem Zimmer Wasser mit Eukalyptusblättern, die Percy im Gepäck hatte, und inhalierten mit einem Handtuch über dem Kopf die Dämpfe. Unsere Nebenhöhlen waren verstopft von Erkältungen und allem anderen, was wir uns seit unserer Ankunft eingefangen hatten. Ernie hatte es besonders schlimm erwischt. Er litt unter Magenbeschwerden, und wir hielten regelmäßig an, damit er das Frühstück ausspucken konnte, das man uns in aller Frühe hinstellte. Ein oft gesehenes Bild: Ernie Bainbridge, den Finger im Hals, hustend und würgend an einem Durchlass abseits der Straße. Er wollte alleine sein in diesen Momenten. Privatsphäre musste man sich hart erkämpfen.

Die anderen tranken kannenweise Kaffee und starrten auf ihre zitternden Hände. Ich las Briefe aus London, von einer so entfernten Angehörigen, dass ich bei dem Gedanken, ob wir überhaupt verwandt waren, ein Brennen verspüre; ich habe ein paar Dutzend Mal ihre Unterschrift gesehen, die Männer, die wir beim Wettkampf beobachten, ein paar hundert Mal.

Wir sahen uns Rennen an, den Klassiker Bordeaux–Paris, sahen uns die Bahn an. Außergewöhnliche Fahrer, die Geschlossenheit in der Gruppe. Wir versuchten sie nachzuahmen, wie ein Mann zu fahren, jede Beinbewegung synchron mit dem Vordermann, dem Hintermann. Die Oberkörper nach vorne geneigt, alle im selben Rhythmus. Wir fanden ein flüssiges Tempo. In einem Geschäft in unserer Straße kaufte ich mir etwas zum Anziehen. Ich kaufte mir ein Barett. Meine Teamkameraden lachten mich aus, aber als uns die Menschenmengen zu viel wurden, verspürten auch sie rasch den Wunsch, sich anzupassen. Ja, wir äffen die Franzosen nach, aber nur so können wir überleben. Sitzhaltung, Kopfhaltung. Bei einem Sechstagerennen wurden wir dem Publikum vorgestellt. Wir drehten eine Runde auf der Bahn und winkten, und Männer und Frauen jubelten. Opperman sagte, wir seien ein Segen für den französischen Radrennsport, Ausländer aus einer wahrlich anderen Welt.

Um halb zehn machten wir das Licht aus. Nachts hörte ich Ernie im Schlaf reden.

Um sechs standen wir auf, um wieder auf die Räder zu steigen, um uns abermals von den Franzosen demütigen zu lassen, die uns zu Zielscheiben ihrer Spötteleien machten. Sie zeigten auf unsere altmodischen Rennmaschinen und unsere Reifen, und schon bald mussten wir uns neue kaufen. Schmale, straßenschnelle Reifen, wie wir sie vor unserer Ankunft auf dem Kontinent noch nie gesehen hatten. Wir kauften auch neue Lenker, damit wir die Sitzposition variieren konnten, wie es die Franzosen machten. Wir fanden eine neue Trittfrequenz, und wenn wir mit der Olympiamannschaft trainierten, konnten wir uns auf den längeren Strecken in Sachen Geschwindigkeit mit ihnen messen: Sobald die Hundert-Kilometer-Marke überschritten war, bauten Harry und Opperman die Führung aus. Wir hatten ein Ziel. Kraft und Kondition machte uns zu Maschinen, die zu den neuen Fahrrädern passten, die wir später von den Tour-Organisatoren bekamen. Räder, an die wir uns erst nach Wochen gewöhnten, die in minutiöser Feinarbeit an unsere Körper und ihre individuellen Besonderheiten angepasst werden mussten.

Anfangs traute ich meiner neuen Maschine nicht, keiner von uns tat das. Die Schrauben lösten sich, der Lenker kippte, der Sattel verrutschte, wenn ich mehr Druck auf die Pedale brachte. Wir brauchten vierzehn Tage, um die Räder straßentauglich zu machen. Und als es schließlich so weit war, flogen sie dahin. Harry schrieb nach Hause, um sich zu beschweren. Er schrieb an O'Shea, den ehemaligen Champion, der ihn betreute, seit Harry, zwei Jahre nach meiner ersten Teilnahme, zum ersten Mal das Timaru-Christchurch-Rennen gewonnen hatte, und als Mechaniker seine Maschinen schnell machte. Er beschwerte sich in Briefen. Las sie uns auf dem Dachboden vor, bevor er sie abschickte, und wir murmelten zustimmende Worte.

Wir spazierten durch Paris, und ich staunte, dass die Stadt genauso aussah, wie mein Bruder sie geschildert hatte: Prächtige Boulevards und hutzlige Gassen, berittene Helden, unbewegt auf ihren Standbildern, eine Million Fenster mit geöffneten Läden, schimmernd im vollkommenen Licht. All das begegnete uns erneut an dem langen Abend, an dem wir eins wurden mit unseren Rädern.

Unsere erste Schlacht war das Rennen von Paris nach Rennes. Es war noch Mai, Frühling, eine Jahreszeit mit winterlichen Hagelschauern und Schneeregen. Um zwei Uhr nachts ging es los. Wir beugten uns nach vorne und lösten uns vom Peloton. Wir waren nicht dabei, um zu gewinnen, nur um zu üben, uns zu messen, doch auf einmal lagen wir fünf in Führung. Nach fünf Minuten blickten wir uns um. Die Franzosen radelten gemütlich vor sich hin, kaum schneller als bei einem Ausflug über schattige Feldwege an einem Sommertag. Eine Schulung in Trägheit.

Wir verlangsamten und spürten, wie uns die Meute langsam schluckte. Wir nahmen ihr Tempo auf und lauschten ihren Gesprächen. Diese Kraftpakete mit ihren makellosen Körpern und perfekt eingestellten Maschinen unterhielten sich, als wären sie unterwegs zur Dorfkneipe. Sie klönten. Harry hörte aufmerksam zu, blickte zwischen den Fahrern hin und her, während sie lachten und sich Geschichten erzählten. Opperman wäre am liebsten vorausgeprescht, aber er ahnte irgendwie, dass es sich um eine List handelte, ein fingiertes Geduldsspiel. Wir fuhren neben Größen des Radsports, André Leducq, dem Algerier François Louvière, Nicolas Frantz, Luxemburger und amtierender Tour-Champion. Sie waren ganz normale Männer, bis einer, Leducq, der französische Straßenmeister, einen Plattfuß hatte, worauf sich die einunddreißig anderen auf die Lippe bissen und wie die Irren losrasten. Wir zogen mit. Auf einmal war es ein Rennen. Der Schweiß floss, während Muskeln sich entspannten, zusammenzogen und verkrampften. Die Gespräche verstummten, alle Konzentration war auf die Straße gerichtet. Der Fahrer an der Spitze ließ die anderen ein paar Minuten in seinem Windschatten fahren, dann scherte er aus und überließ einem anderen die Führungsarbeit. Wir hielten mit. Vierzig Minuten später hatte Leducq das Peloton eingeholt, das Tempo ließ nach, und man unterhielt sich wieder. Löste die Hände vom Lenker, um zu gestikulieren, Widerspruch oder Zustimmung anzuzeigen. Eine Bruderschaft aus Rennfahrern, unterwegs nach Südwesten in die Bretagne. Ich hörte Louvière etwas auf Arabisch sagen, und es klang vertraut.

Ich wurde Neunzehnter, einen Platz hinter Harry, elf hinter Oppy. Er fuhr wunderschön und stand in der Zeitung. L'Auto, der Ausrichter der Tour, erwähnte unsere Namen.

Beim Rennen nach Brüssel steckte mir eine dicke Erkältung in den Knochen. Harrys Konen lösten sich, und er musste anhalten und sie anziehen lassen. Als er mich wieder eingeholt hatte, war Oppy fort. Er hatte sich an Nicolas Frantz gehängt und war mit ihm davongezogen. Ich hustete Schleim und kam nicht hinterher. Harry war ein Tempomacher. Die sprunghaften Geschwindigkeitswechsel der Europäer waren nicht nach seinem Geschmack und passten nicht zu seiner Technik, und wir verweilten im hinteren Teil des Feldes, bis ich kurz vorm Grenzgebiet aufgab. Ich nahm den Zug zurück nach Versailles. Auf der Fahrt breitete sich Erleichterung in mir aus, der schaukelnde Zug versetzte mich in einen Zustand, den ich nicht mehr erlebt hatte, seit ich mit diesen Männern eine Gemeinschaft bildete, Ruhe. Ruhe, denn ich war noch nicht bereit, so weit nach Norden zu fahren. Als ich spät am Abend in den Club zurückkam, erfuhr ich, dass Opperman den dritten Platz gemacht hatte.

L'Auto fotografierte ihn. Wir wurden auf erstaunlichste Weise beglückwünscht und mit Lob überhäuft.

Als das Team wieder vollständig war, versammelten wir uns und feierten ihn. Wir bestellten das beste Essen, das wir uns leisten konnten. Viele der französischen Fahrer setzten sich zu uns, und wir tranken Wein, was dazu führte, dass mein Herz strammstand und salutierte. Die Franzosen an unserem Tisch unterhielten sich mit uns in gebrochenem Englisch. Das sorgte auf beiden Seiten für Heiterkeit, und im Gegenzug bemühten Harry und Oppy ihr armseliges Französisch. Wir unterhielten uns bis in die frühen Morgenstunden, als der Wein uns auf die Straße trieb. Wir fragten uns, ob wir bereit seien. Keiner wusste eine Antwort darauf.

Das alles war im Mai. Jetzt ist Juni. Der 17. Juni 1928, und ich befehle mir aufzuwachen.

Harry überprüft die Ersatzreifen, die an seinem Körper hängen wie sonderbare Aale. Wir haben vier dabei. Fahren wir mehr als vier Reifen platt, müssen wir den Schlauch aus dem Baumwollmantel heraustrennen, der ihn umschließt, das Loch mit Flicken und Kleber kitten und ihn wieder einnähen. Wir haben von Männern gehört, die örtliche Näherinnen bestechen, damit sie ihnen diese Arbeit abnehmen, und sie anflehen, sie nicht bei den Rennkommissären zu verpfeifen, die am Streckenrand darauf lauern, dass sie einem Fahrer Strafstunden aufbrummen, ihn mit Häme ins Hauptfeld zurückbefördern können. Ich denke zurück an Geschichten, die an dem Abend nach Brüssel erzählt wurden. Über Schlägereien zwischen Fahrern und Kommissären. Ich denke zurück und sehe mich unter den Fahrern nach den Protagonisten um, denn eigentlich müssten alle hier sein, sogar wenn sie nicht mitfahren. Mir wird bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wie sie aussehen, obwohl ich ihnen im Geiste Gesichter gegeben habe. Und so frage ich mich: Aus wessen Erinnerungen bestehen diese berühmten Männer? Denn sie sind ganz bestimmt nicht real. Es scheint, als wären sie alle eine Ewigkeit entfernt, dabei weiß ich, dass das nicht stimmt, sie sind nicht weiter weg als die Flagge dort drüben oder welches Zeichen auch immer wir erhalten, um uns in diese Sache zu stürzen. Denn von diesem Moment an werden wir alle zusammen in diesem Rennen sein, in seiner Vergangenheit und im Jetzt, einander offen preisgegeben. Wir tragen dunkelblaue Trikots mit grünem Streifen. Für wen oder was diese Farben stehen, hat uns niemand gesagt.

Ich sammle mich, blende die Umgebung aus und denke an die Form meines Körpers auf dem Rahmen, jedes Gelenk, jede Gliedmaße exakt ausgerichtet und unermesslich wichtig, wichtiger als die inneren Organe. Tatsächlich brauchen wir nur ein Herz für Blut und eine Lunge für Luft, alles andere ist Ballast. Bald sind wir Motoren. Bald sind wir Flieger, Adler, Fledermäuse. Weiße Mützen und Schutzbrillen, die Münder voll mit Krabbeltieren und Staub.

Wir fahren zehn Minuten vor den Routiers los, vierzig Minuten nach Alcyon-Dunlop. Der Starter nickt, zählt rückwärts und schickt uns fünf ins Rennen. Los geht's. Endlich, so scheint es, haben wir Neuseeland hinter uns gelassen.

Aber meine Beine funktionieren nicht, sie sind wie gelähmt, bewegen sich kreisförmig mit den Rädern mit. Ernie blickt sich um und sieht, dass etwas nicht stimmt. Sein Mund formt Wörter, ich verstehe ihn so deutlich, als flüsterte er mir ins Ohr. Ich zucke die Achseln, und er schreit. Nichts, nur der Schwung des kleinen Schubses, mit dem Monsieur France mich ins Rennen geschickt hat. Ein kribbelndes Gefühl in meinen Schenkeln, die sich langsam mit den Pedalen drehen. Harry dreht sich um, dann die anderen. Ein Ruf aus der Menge. Nichts, und ich spüre, dass es für immer so bleiben wird. Ich bin ein ausgesetzter Einer in schäumendem Kielwasser, umgeben von tosender Brandung und ertrinkenden Männern. Ich bin eine verebbte Welle. Ich bewege mich, aber die Bewegung ist eigenartig kraftlos im amorphen Getöse, im Lärm von Reihen und Reihen aus jubelnden Mündern. Sind bekannte Gesichter darunter? Ich halte Ausschau, suche nach Familie, Freunden. Niemand natürlich, aber dann erblicke ich einen Schal, am Hals einer Frau. Er ist gelb, leuchtend gelb. Harry schert aus, sein Rad folgt der Richtung seines Blicks. Ich sehe unseren Manager, er ruft mir zu, läuft brüllend am Straßenrand. Ich strahle ihn an. Langsam, wundersam setzen sich meine Beine wieder in Bewegung, übertragen Kraft aus ihren Muskeln auf die Straße. Harry sagt etwas, und ich folge ihm, wie ich es so oft gemacht habe.

Jemand. Jemand im Bauch der Menge lacht, und ich stimme kurz mit ein.

Halleluja, wie die Engel sagen.

2

Dann sind wir auf dem Land. Große grüne Weiden, dazwischen die glatte Straße. Paris ist verschwunden, nicht einmal ein Echo seines Lärms hängt in der Luft. Eine Stunde, zwei Stunden. Wir haben zu einem Fahrerfeld aufgeschlossen: »Touristen« ohne Mannschaft, die nur für sich selbst fahren, Firmenteams, Regionalteams. Es riecht nach Kaffee, Haut und Leder. Ich schaue mich um in der Erwartung, die Hauptstadt zu sehen, aber da ist nur Landschaft.

Opperman hängt an Percys Hinterrad. Er dreht sich um und macht mir Zeichen. Ich fahre nach vorne und versuche die Stimmung aufzunehmen. Ich lausche ihrem Atem, beobachte, wie jedes Mal ein Zucken durchs Feld geht, wenn jemand eine Bewegung macht. Im Augenblick herrscht träge Zurückhaltung. Niemand redet, niemand ist bereit, laut nachzudenken, niemand ergreift die Initiative. Ich schwitze, und der Schweiß tropft auf meine Schenkel. Ich sehe mir meine Mitstreiter an und staune, dass manche in dieser Hitze fahren können, ohne Wasser zu verlieren.

Felder und Bäume hängen ihr Grün auf die Straße. Der Straßenbelag wechselt zwischen Schotter und Asphalt. In den Dörfern gibt es wieder Kopfsteinpflaster, und unsere Körper zittern, als würden sie von einer fernen Hand geschüttelt. Die Franzosen winken den Zuschauern am Straßenrand zu, und nach einer Weile winken wir auch.

An einem Fluss springen wir von den Rädern und rennen zu den Tischen mit bereitgestelltem Essen. Bananen und Brot, Äpfel und Kaffee. Koteletts gibt es auch, sie schmecken nach Hammel, aber wir schlingen sie trotzdem hinunter. Zwanzig bis dreißig erwachsene Männer mit fettglänzenden Kinnen. Monsieur France ist auch da, »Ihr müsst euch beeilen«, übersetzt Oppy, »Beeilung, Beeilung.«

Kurz darauf sind wir wieder auf der Straße, und France folgt uns im Wagen, mit Bruce Small, Oppermans Freund aus Melbourne, und unserem Dolmetscher René. Auf der Kühlerhaube prangt ein Union Jack, am Heck baumelt ein Känguru. Spielzeug für Touristen. Sie betreuen uns, während wir die Kilometer des heutigen Tages fressen, zweihundertsieben insgesamt. Jeder wie ein Wort in einem Satz in einer Unterhaltung zwischen zwei Städten. Wir tauschen Positionen, tauschen die Plätze in diesem ewig langen Wortwechsel.

Der Staub setzt sich im Regen.

Das Format ist ein Zeitfahren, ein Mannschaftszeitfahren. Wir fahren gegen die Uhr, ohne dass wir wissen, was sie sagt. Jeder Fahrer an unserer Seite könnte, was seine Zeit angeht, deutlich langsamer oder schneller sein als wir. Ein Klappern geht durch die Gruppe, als wir an eine kopfsteingepflasterte Kreuzung kommen. Wir vergessen, wer wo liegt, und erst als Bruce Small mit einer Hand am Steuer neben uns herfährt, erfahren wir Genaueres. Er spricht in einen Trichter, ein Megafon, das seine Stimme verstärken soll, aber in meinen Ohren klingt sie unhörbar dünn. Percy kann die Sprachschnipsel offenbar zusammensetzen, und er gibt Zeiten und Abstände an uns weiter.

Wir schließen zu ein paar Nachzüglern auf: Fahrer, die den Kontakt zu ihrem Team verloren haben, einer von Alcyon zwei von Alleluia. Wir überholen die Bummler. Langsam wie Campingausflügler. Ernie ruft ihnen zu: »Schlagt euer Zelt auf, ihr dreckigen Froschfresser.« Ich kann ihn kaum verstehen, aber ich freue mich über das Kichern, das durch unsere Gruppe geht. Fahrer und Fahrergruppen rangeln um Positionen, Ellbogen und Hüften werden eingesetzt. Leute fluchen mit süßer Stimme, ein paar Fahrer drohen wegzubrechen. Grunzen, tierische Laute, als einer Zeichen macht und einen Ausreißversuch vortäuscht, um die anderen aus der Reserve zu locken. Ein paar preschen tatsächlich davon. Die meisten bewahren die Ruhe.

Hinter Lisieux rauscht das Louvet-Team an uns vorbei. Percy ruft, Opperman geht mit ihnen mit, und ich versuche zu folgen. Eine Stunde lang mache ich Tempo für ihn, aber dann verlieren meine Beine langsam den Rhythmus, und ich muss abreißen lassen. In Caen bin ich fünf Minuten nach ihm im Ziel, dreihundert Yards vor Percy und Harry, als Neunzehnter. Dennoch, hundertfünfzig andere sind langsamer gewesen. Am Abend setzen wir uns zusammen, um den Tag zu analysieren. Wir sprechen über Taktik, über unsere Körper. Kleine Erfolge verursachen ein Brennen und einen stechenden Geruch.

»Wisst ihr, was ich gerade mache?«, sagt Percy. »An wen ich gerade denke? Ich denke an Louvet.« Er hält inne und schluckt das Essen in seinem vollen Mund herunter. Er ist stämmig gebaut für einen Radfahrer, oft scherzt er, er habe sich auf dem Weg zum Rugbytraining verlaufen und sich in diesen sonderbaren Winkel der Hölle verirrt. »Wie nahe die sich kommen. Ich glaube –«

»Das sind Franzosen, die pfeifen auf den Gestank«, sagt Ernie. »Die fahren auch Gesicht an Arsch.« Matsch klebt ihm unterm Auge, seit Stunden schon.

»Ich meine es ernst. Das nächste Mal, wenn die uns abhängen, frage ich sie, ob sie Fahrgäste mitnehmen. ›Verzeihen Sie, mein Herr, aber dürfte ich Sie vielleicht bitten –‹«

»Setz die Ellbogen ein«, sagt Ernie. »Lass dir nichts gefallen.«

»Genauso wie die uns abgehängt haben«, sagt Percy. Ich sehe ihn an und erkenne, dass er nachdenkt, vielleicht darüber nachdenkt, was uns allen bekannt ist. Über die ungleichen Kräfteverhältnisse. Über unseren Einsatz und darüber, dass die Energie, die wir aufgrund unserer mangelhaften Technik aufbringen müssen, der Energie entspricht, die sie darauf verwenden, noch schneller zu sein. Es ist uns allen klar: Unsere holprige Fahrweise könnte uns genau den Bruchteil einer Pferdestärke kosten, den wir brauchen, um diese Sache durchzustehen. Er wird den Grund für seine Langsamkeit nicht in seiner Statur suchen, dafür hält er es offenbar für ausgemachte Sache, dass die Franzosen mehr von Kraft und Kondition verstehen, als wir uns vorstellen können.

Harry klopft mir auf die Schulter, während ich vom Brot abbeiße. Es ist zäh wie Gummi, und ich höre ihm mit halb geschlossenen Augen zu. »Morgen bleiben wir zusammen. Wenn er geht«, er deutet mit dem Kopf auf Opperman, »gehen wir mit. Abgemacht?«

Ich trinke einen Schluck Wasser und nicke. »Nichts dagegen.«

»So wie die uns abgehängt haben«, wiederholt Percy. »Ich – ich – ich will gar nicht wissen, wohin so eine eiserne Disziplin führt.«

»Die gründen ihr eigenes Kloster«, sagt Ernie. »Die und Alcyon. Du bist ihr Erster –«, und dann nimmt er seinen alten Freund kurz in den Würgegriff, und sie balgen die Liebe aus diesem späten Abend.

»Eins ist die Hauptsache«, sagt Harry. »Wenn er geht, und ich bin nicht da, gehst du mit ihm, in Ordnung?« Ich sehe ihn lange an und begreife, dass er es ernst meint. Sein Ge

3

An diesem ersten Abend blicke ich aus dem dritten Stock hinunter auf die Straße, in einem frisch renovierten Zimmer. Unten wimmelt es von Männern in Autos, die sich mit Hupen und Geschrei bemerkbar machen. Ich sehe zu, suche in meinem Gedächtnis nach den Namen dieser Fahrzeuge. Seit einem Monat trichtert Harry mir Wörter ein, damit sie hoffentlich hängenbleiben, aber die meisten verflüchtigen sich so rasch wie billiger, in der Sonne verschütteter Sherry – sein Geruch verweilt kurz, dann ist er fort, und niemand weiß mehr, wie er geschmeckt oder wie viel er gekostet hat. Die Frau, der dieses Hotelzimmer gehört, beobachtet mich bei den Vorhängen, sieht zu, wie ich mich aus dem Fenster lehne oder vielleicht wie sich mein gesenkter Kopf hin und her bewegt, ich weiß es nicht, aber sie sagt, ich soll damit aufhören.

»Ich halte Ausschau nach Regen«, sage ich.

»Heute gibt es keinen mehr. Morgen früh.«

»Ich weiß. Ich halte nur Ausschau. Ich freue mich nicht darauf, darum halte ich Ausschau.«

»Warten Sie ab bis morgen«, sagt sie. Ihr Englisch ist gut, aber ihr Akzent hinterlässt eine Spur wie eine Schnecke auf Glas. Irgendeine Provinz in diesem Land verwischt ihre Stimme.

»Welche Farbe?«, frage ich. »Der Wagen, welche Farbe hat der Wagen?«

»Blau. Kommen Sie wieder zu mir.«

Ich gehe zum Bett, setze mich neben sie, und sie berührt meinen Hosensaum, als ich die Beine übereinanderschlage. Sie greift in ihre Tasche. Noch hat sie keinen Namen, keinen, den sie nennen möchte, und das ist in Ordnung, solange sie nicht erwartet, dass ich mich erinnere, wenn ich sie morgen beim Start sehe, wenn sie sich aus der Menge lehnt und mir zuruft.

»Mehr?«, fragt sie. Ich betrachte das Fläschchen in ihrer Hand, dann ihr Gesicht. Sie ist mindestens zehn Jahre älter als ich, aber sie hat sich eine jugendliche Frische bewahrt. Ihr Lächeln verbirgt eine kleine Narbe im Mundwinkel.

Ich nenne Sie Miss Mademoiselle. Sie sagt: »Wie kommen Sie darauf?«

»Wie komme ich worauf?«

»Mich so zu nennen. Hier.« Sie beugt sich vor und drückt mir die kleine verzierte Topette in die Hand. »Träufeln Sie etwas auf Ihr Taschentuch und tragen Sie es … Tragen Sie es so.« Sie nimmt ihr eigenes Taschentuch und legt es sich so über die Nase, dass ein weißes Dreieck ihren Mund verbirgt. Sie sieht aus wie ein Bandit, ein Bandit, der an prächtige Kleider und Spitze auf der Haut gewöhnt ist.

»Sie sehen aus, als wollten Sie einen Überfall begehen. Eine Bank ausrauben.«

»Ja, für gewöhnlich stehle ich. Aber jetzt –« Sie sieht mich an, dann steht sie auf und tritt ans Fenster. Sie wartet auf ein Auto. Ich bin ihr vorhin zufällig vor der Abteikirche Saint-Étienne begegnet, als ich die Stadt auf der Suche nach etwas Sehenswertem ablief. Mein Nacken tat weh, und das führte irgendwie dazu, dass ich ein Bein nachzog. Sie sagte meinen Namen und lächelte verlegen, als hätte sie sich geirrt, als wäre ich nicht der Fahrer, dessen Profil sie in L'Auto gesehen hatte. Aber ich war dieser Fahrer, bin es noch, trotz der Wirkung des Ethers, den sie mir gegeben hat, als ich sie in ihr Hotelzimmer begleitete. Ich bin leicht benebelt.

»Haben Sie Familie?«

»Ich?«

»Ja, haben Sie Familie? Kinder?« Sie spricht leise, als würde sie die Stimme dämpfen, um anderen Geräuschen zu lauschen.

»Keine Kinder. Aber daran werde ich wohl arbeiten. Irgendwann werde ich daran arbeiten. Und Sie?«

»Wo, zu Hause?«, fragt sie. »Zu Hause in Neuseeland?« Ich weiß nicht, ob sie nur die Zeit totschlägt oder ob sie wirklich interessiert ist. Ihr Blick geht wieder zum Fenster. Sie wartet auf einen Wagen. In den sie einsteigen muss, sagt sie. Mehr weiß ich nicht.

»Zu Hause«, sage ich. »Zu Hause hab ich einen Bruder.«

»Und Schwestern?«

»Früher, eine. Sie ist –« Ich hebe die Hand, schüttle den Kopf.

»Mhm. Das tut mir leid. Und, und hier? Hier in Europa? Entfernte Verwandte. Wenn ich einem Mann oder einer Frau aus den Kolonien begegne, frage ich mich immer, woher kommen die wohl. Ihre Familien, meine ich. Darf ich fragen, woher Ihre stammt?«

»Ja«, sage ich und lache leise. »Familie in England. Margate. Meine Mutter ist in den Neunzigern ausgewandert, mit Schwester und Bruder. Sie hat noch Familie in England, eine Schwester. Bei meinem Vater weiß ich es nicht. Aber ja. Familie. Familie ist überall.«

»Nicht wahr?«, sagt sie. »Hat man nicht immer irgendwo Verwandte? Onkel und Tanten. Cousins, Cousinen. Ich habe Cousins in Südamerika. Weiß Gott wo.«

»Ja, das stimmt.«

Sie streckt sich auf dem Bett aus und schweigt, als würde sie sich konzentrieren, auf einen reinen Sinneseindruck, den sie kaum mit mir teilen wird, aber dann sagt sie: »Nanu. Meine Füße. Meine Füße fühlen sich so vollkommen an. Kennen Sie dieses Gefühl? Es ist, als hätte ich sie bis jetzt gar nicht wahrgenommen.« Sie sieht mich an.

»Es sind hübsche Füße, nichts Besonderes, aber hübsch.« Ich blicke zu ihr hinauf. »Nehmen Sie mich bloß nicht ernst.«

»Nichts Besonderes. Na, Ihnen erzähle ich gleich was«, sagt sie. Sie lacht leise. »England. Fahren Sie hin, wenn Sie hier fertig sind?«

Ich schüttle den Kopf. »Wohl nicht. Sie kommen zu mir«, sage ich und sehe sie an. Ich fühle meine Geheimnisse schwinden: Meine lockeren Verbindungen zu diesem Ort, Dinge, die ich nur wenigen erzählt habe. Harry sagt, ich ließe mir zu leicht entlocken, was ich denke, und der Duft dieser Frau weckt die Befürchtung, dass er recht hat. »So sieht es jedenfalls aus. Ich habe eine Cousine. Anscheinend ist sie ganz in der Nähe.«

»Eine Cousine?«

»Aus Margate. Ich werde sie voraussichtlich in den nächsten Tagen treffen, wenn alles läuft wie geplant. Wir haben in den letzten Monaten Pläne gemacht.«

»Pläne?«

»Wenn unsere Briefe sich nicht überschnitten haben.«

Sie erwidert nichts, stellt sich nur auf die Zehenspitzen und blickt hinunter auf die Straße. »Mhm«, murmelt sie.

»Sind sie da?«

»Ich gehe jetzt«, sagt sie und gibt mir ein Zeichen, dass ich aufstehen soll.

»Wer sind die?«

»Männer und die Sorte Männer, die keine Verwandtschaft sind. Sie gehören dazu.«

»Zur Tour.«

»Mhm. Die Tour. Im Juni, Juli gehören alle zur Tour. So«, sagt sie und scheucht mich auf. Ich schwenke die Topette, und sie betrachtet sie eine Weile, als wollte sie prüfen, wie viel noch darin ist. »Nein. Behalten Sie sie. Es warten viele Schmerzen auf Sie.«

Draußen verabschiede ich mich und wende mich in die Gegenrichtung, als sie auf einen Wagen auf der anderen Straßenseite zusteuert. Ich werfe ihr im Gehen einen Blick zu. Sie geht einmal um das Fahrzeug herum, nachdenklich, wie in Zeitlupe, dann macht sie die Tür auf und verschwindet im lederbezogenen Wageninneren. Ich möchte den Wagen als Ford bezeichnen, aber für mich sind alle Autos auf den ersten Blick Fords. Das erste Auto meines Vaters war ein Model T. Er kaufte ihn im Februar 1914. Ich, mein Bruder und Marya rissen die Augen auf, als der Wagen die Auffahrt hinaufkam und unser Tennismatch unterbrach. Thomas, der Älteste, auf der einen Seite, wir Jüngeren auf der anderen. Wir liefen hin, als mein Vater aus der Fahrertür stieg. Gingen immer wieder um den Wagen herum, betrachteten unsere Spiegelbilder in dem schwarzen Blech, ohne Matschspritzer von der Fahrt oder Schmutz aus dem Hafen, wo er ihn abgeholt und eine Einführung in die Bedienung und alles Weitere bekommen hatte.

Eine halbe Stunde war im Zimmer der Frau vergangen: Vom Schmerz des ersten Tages war nur leises Summen übrig. Ich nähere mich dem Ende der Straße und denke daran, wie selbstverständlich sie sich in den Wagen gesetzt hat. Ich denke daran, weil es für Marya, Thomas und mich völlig ausgeschlossen gewesen war, in die neue Maschine meines Vaters einzusteigen. Wir blieben stehen, als er ins Haus lief, um sich zu erleichtern. Das Auto, seine singenden Geräusche, wir blieben stehen.

»Mach du«, sagte Marya. »Du bist der Junge.«

»Wovor hast du Angst?«, fragte ich.

»Ich habe keine Angst. Ich bin nur höflich.« Wie alt war sie da? Neun. Zehn. In etwa. Sie hatte keine Ahnung, was Höflichkeit bedeutete, niemand weiß in diesem Alter etwas von guten Manieren. Sie drückte sich an mich und hakte sich in meiner Armbeuge ein. »Das Steuer gehört dir.«

»Thomas?«, sagte ich zu meinem Bruder. »Du fährst das Ding. Wir gucken zu.«

»Nein, nicht Thomas«, sagte Marya. »Er ist mit Abstand der hübschere Bruder. Wenn schon einer von euch verstümmelt werden muss, dann –« Sie besaß die wunderbare Eigenschaft, einen Scherz nicht durch Lachen kenntlich zu machen. Sie fixierte meinen Bruder und kniff mich in den Arm. Das war ihre Art, ihre Geschwister zu dirigieren. Thomas legte den Arm um mich, und wir setzten uns nebeneinander auf den Vordersitz. Wir sahen einander an, begutachteten die Hebel, das Steuer, die Pedale, die Hupe. Alles sah völlig anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte, bei Weitem nicht so simpel wie der eine Hebel, der in meiner Phantasie dafür sorgte, dass man vorwärtskam. Unser Vater trat aus dem Haus und rief, wir sollten aussteigen und den Schlauch holen. Der Wagen müsse abgespritzt, fünfundzwanzig Meilen Fahrt abgewaschen werden. Wir hielten den Schlauch drauf. Es handele sich um den dreitausendsten Model T, der in Neuseeland verkauft worden sei, erzählte er. Wir nickten wie unter Hypnose. Jahrelang, sogar in all den Jahren, in denen mein Vater nicht mehr mit mir sprach, lebte ich in diesem Hypnosezustand, hielt die Geschichte für wahr, eine Tatsache. Das dreitausendste Auto. Doch als ich an den Straßenrand springe und die Frau und das Auto näher kommen sehe, weiß ich, dass es eine Lüge war, ein Schwindel, heiße Luft. Aber so ist das mit Lügen, mit ihrer spielerischen Harmlosigkeit. Es war eine tolle Geschichte für meine Freunde. Ich konnte sie überall erzählen und junge Männer zum Verstummen bringen.

4

Es ist schönes Wetter, und Harry fährt aus der Dämmerung hinaus, gibt in der flachen, leicht welligen Landschaft das Tempo vor. Der undurchdringlich schwarze Himmel färbt sich langsam von Grau zu Weiß. Wir fahren in den Tag hinein – der Regen ist vorbei, die Frau aus dem Hotel in einer anderen Zeit, verblasst wie eine Erinnerung und Dinge, die man vergisst. Es dauert eine Weile, aber dann findet unser kleiner Zug einen gemeinsamen Rhythmus, und wir folgen Harrys Tempo, dann Percys, dann meinem und so weiter, auf unserem Weg nach Nordwesten. Die Halbinsel Contentin. Cherbourg. Ich versuche mir die Himmelsbilder einzuprägen, als Markierungen für die Orte und für die Zeit, die wir in ihrer Nähe verbracht haben. Ich beobachte die Wolken und ermahne mich, sie im Gedächtnis festzuhalten.

Wir haben uns wochenlang vorbereitet. Unsere Körper in Form getrimmt, damit sie den Strapazen standhalten. Harry hat oft geschimpft, die Ausflüge in die ländliche Umgebung von Paris würden nicht ausreichen, um uns fit zu machen für die Berge. Natürlich hatte er recht, aber es blieb uns gar nichts anderes übrig, als stur Kilometer für Kilometer abzureißen. Das Training im Flachland hatte uns auf jeden Fall für diesen Abschnitt der Tour gewappnet, die lange rasante Fahrt in die Berge. Harry stößt weiter Befürchtungen aus.

In der vergangenen Woche kam Monsieur France zu dem Schluss, dass wir, Opperman und ich ausgenommen, zu weit vorne auf dem Sattel sitzen. Unökonomisch, erklärte er uns über einen Dolmetscher. Ich beobachte meine Teamkameraden und stelle fest, dass sie schon wieder nach vorne gerutscht sind. Ich tippe Harry an und deute auf seinen Hintern, und er korrigiert seine Sitzposition, ohne mich anzusehen. Er wird schneller, aber die Temposteigerung ist vermutlich nicht die Folge der Veränderung, sondern eine Trotzreaktion. Niemand will zu dieser frühen Stunde gemaßregelt werden.

Wir fahren. Durchqueren zu fünft das Land. Trotzdem, und ich kann nicht genau sagen, warum, kommt es mir manchmal so vor, als wären Harry und ich allein. Wir sind aneinander gewöhnt, wissen, wann der andere beschleunigt oder Tempo rausnimmt, wie er Steigungen hinaufjagt oder ein bisschen die Kräfte schont, wenn es bergab geht. Wir sind eigentümlich vertraut mit den Signalen, die der Körper des anderen aussendet: Ich weiß, dass sein Rad sich jedes Mal leicht nach rechts neigt, wenn er beschließt, die Trittfrequenz zu erhöhen und das Feld anzutreiben. Ich kenne die Geräusche, die er macht, weiß, dass sein Atem schneller geht, wenn er ahnt, dass ein Fahrer in der Gruppe gleich einen Ausreißversuch unternimmt. Und ich schätze, er weiß ähnliche Dinge über mich. Wir sind noch nie Teamkameraden gewesen, aber wir sind Hunderte von Stunden nebeneinander hergefahren, in denen vieles vertraut und notwendig wurde. Das ist mir erst in Paris klargeworden, am Morgen nach unserer Ankunft, als wir zu unserer ersten Trainingsfahrt aufbrachen. Wir fühlten uns wie ein eingeschlafenes Bein, jämmerlich und unwürdig. Und obwohl unser Rhythmus sich allmählich wieder einstellte, fiel ich in die alte Gewohnheit zurück und klebte an Harrys Hinterrad, richtete den Blick auf seine langen Beine und hielt Ausschau nach Zeichen der Veränderung, als würde er mit mir kommunizieren. Mir wurde bewusst, dass er mir so nahe war, als verbände uns eine bislang verborgen gebliebene Liebe.

Wir haben Caen hinter uns gelassen, vor uns liegt plattes Land. Harry treibt uns voran. Nur wenige Fahrer schließen zu uns auf, und auch wir überholen nur eine Schar. Hundertvierzig Kilometer, kaum mehr als eine Trainingsfahrt, und zwanzig vor dem Ziel zieht Opperman davon, als wir einer nach dem anderen eine Reifenpanne haben. Harrys Pumpe fällt aus der Halterung und gerät zwischen seine Speichen, und das kostet uns weitere Zeit. Opperman fährt, als hätte blanke Wut ihm die Kraft verliehen, sie alle zu schlagen. Wir sehen ihm nach und schwitzen in der Nachmittagssonne. Mein Versprechen uneingelöst.

Jetzt fahren wir nur noch für uns selbst. Wir sehen, wie sein Vorsprung sich vergrößert, spüren, welche Kräfte, wie viel Energie er mobilisieren kann. Hubert Ferdinand Opperman, den zweiten Vornamen kennen wir, seit wir verstohlen auf die Pässe der anderen geschielt haben. Percy brach mal wieder in wieherndes Gelächter aus. Früher hieß er Oppermann mit zwei »n«, seine Eltern heißen heute noch so. Wann er die Schreibweise änderte, wissen wir nicht, aber Percy geht jede Wette ein, dass es im Krieg war, dass er den Buchstaben getilgt hat, als könnte er auf diese Weise den Zweig im Stammbaum absägen, der seine Familie väterlicherseits mit seinen Vorfahren im alten Preußen verbindet. Das sei typisch australisch, behauptete Percy, aber ich bin mir sicher, dass in der verheerenden Zeit damals Leute auf der ganzen Welt dasselbe gemacht haben. Sein Name also ein Geheimnis, sein einzigartiges Talent keins. Aber dann sausen auf den langen Geraden am Stadtrand von Cherbourg zehn Fahrer an uns vorbei, kaum außer Atem. Wir sehen zu, wie Huberts Silhouette in der Ferne langsam in ihren Sog gerät. Er ist schon fast am Horizont, aber sie kriegen ihn trotzdem, verschlucken ihn.

Eine halbe Stunde später fahren Harry und ich ins Stadion ein und fühlen den Klang von Tausenden. Er steigt um uns auf, beginnt in einem Abschnitt und breitet sich aus, als man uns erkennt. Der Hälfte der Menge wird von den Jubelnden vor ihnen die Sicht versperrt, und ich ahne etwas. Ich ahne, dass es nicht darum geht, zu sehen, sondern darum, dabei zu sein, die Bewegung der Menge zu spüren, das Rennen durch die Bewegungen anderer wahrzunehmen, winzige Bewegungen, mit den Händen zu hören, mit der Haut zu sehen. Ein Tausch der Sinne: Darum ist die Tour allen heilig. Ich will auf der Stelle vom Sattel springen und mich in die Menge stürzen, will hören, was sie hören, denn es ist weder Französisch noch Englisch. Diese Stimme spricht eine völlig fremde Sprache, schlängelt sich durch die Massen. Halb aus Jux legen wir einen Sprintzweikampf hin. Mit elf Minuten Rückstand rollen wir über die Ziellinie, aber sie bejubeln uns trotzdem bei unserem Scheinduell. Ein gigantischer Ruf, das Murmeln von Menschenscharen, die um Hoffnung bitten. Fast hätte Opperman sie ihnen gegeben. Er hat gegen die zehn Männer gekämpft, nur mit einem Fahrrad und unverfrorenem Mut. Bis auf sechs Minuten ist er an ihre Schatten herangekommen.

Ich setze mich auf die Bahn. André Leducq, Nicolas Frantz und Jan Mertens spritzen die Menge mit einem Wasserschlauch ab. In der Nähe schlürfen ein paar Männer Likörwein, der schwere Geruch weht zu uns herüber. Ich denke an das Brot beim Abendmahl, daran, wie es auf meiner Zunge schrumpelte. Harry sitzt neben mir, und ich frage ihn, wo Opperman steckt. Er schüttelt den Kopf, aber er zeigt auf die Tribüne. Ich halte Ausschau nach ihm, dem Jungen, der als Postbote anfing, dem Jungen, der mit Briefen und Paketen durch ganz Melbourne radelte. Jeden Tag nach der Schule, bis er sein erstes Geld als Rennfahrer verdiente. Jetzt hält er so viele Rekorde, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Er ist nirgends zu entdecken, aber wahrscheinlich steht er bei den Champions und bezaubert alle mit seinem radebrechenden Französisch.

Leute rufen unsere Namen über den Zaun. Ich muss lachen und winke.

Harry zückt eine Ansichtskarte. Eine Aufnahme der Stadt, durch die wir vor der Ankunft im Stadion gefahren sind. Er liest die Wörter beim Schreiben langsam vor. Ich weiß, was sie sagen, bevor sie ausgesprochen sind. Er schreibt an seine Frau, er schreibt herzlich. Ich schreibe an meinen Bruder und seine Frau. Die Vokale in ihren Namen versehe ich willkürlich mit Akzenten.

Wieder schreien ein paar aus der Menge unsere Namen, dann die unserer Heimatstädte, als wären die für irgendetwas verantwortlich, von dem wir nichts wissen.

»Ein, zwei Fahrer kommen für den Sieg infrage«, sagt Harry. »Ein, zwei, drei, vier oder fünf.«

»Vier oder fünf«, sage ich.

»Und sie wissen, wie wir heißen. Müssen wir uns deswegen Sorgen machen?«

Ich lache.

»Ist natürlich nicht ernst gemeint«, sagt er. »Oder vielleicht doch. Vielleicht meine ich es ernst. Wenn das in jeder Stadt so weitergeht.«

»Dann schließe ich mich deinen Befürchtungen an.«

»Die Leute müssen doch wichtigere Dinge im Kopf haben«, sagt er, »meinst du nicht?«

»Als Harry Watson aus Christchurch?«, sage ich. »Ja, ich glaube, sie haben wichtigere Dinge im Kopf.«

»Sowieso aus Dingo City, New South Wales. Falls wir nach Charleville kommen und sie das dort immer noch rufen.«

»Ich habe mich gestern Abend mit einer Frau unterhalten. Gestern Abend? Neulich. Ob ich glaube, dass wir überhaupt so weit kommen, hat sie gefragt.«

»In den Norden?«

»Bis zu den alten Grenzen im Norden, ja. Ich habe mir etwas aus den Fingern gesogen. Ich habe ihr gesagt, dass wir bis zum Schluss durchhalten.«

»Na sicher. Lass mich schnell die Karte zu Ende schreiben. Warst du denn überzeugend?«

»Ja, schon möglich.«

»Was hättest du auch anderes sagen sollen. Ich meine – was soll's. Triffst du sie? Wann triffst du sie?«

»Die Frau?«

»Nein. Deine Cousine.«