Die Unverfrorene - Sophie Maibaum - E-Book

Die Unverfrorene E-Book

Sophie Maibaum

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Beschreibung

Eine junge Frau aus den Slums, die für Gerechtigkeit in ihrem Königreich sorgen will. Eine wütende Kriegerin, die sich nach Vergeltung sehnt. Ein gelangweilter Kronprinz, der sein eigenes Königreich nicht kennt. Ein mittelloser Waisenjunge, der alles für seine neue Familie aufgeben würde. Ein verzweifelter Lord, der mit seiner inneren Dämonin kämpft. Das Schicksal und ein Hauch von Magie führen Mary und ihre Verbündeten zusammen. Doch Rang und Herkunft reißen eine Kluft zwischen ihnen auf. Um einen gemeinsamen Feind zu Fall zu bringen, müssen sie sich jedoch von ihren Vorurteilen befreien. Mary weiß schon lange, dass sie nicht für immer in dem kleinen Dorf im Sumpf bleiben kann. Gerechtigkeit sucht sie dort vergeblich und Macht ist alles, was zählt. Die junge Frau findet sich in einer aussichtslosen Lage wieder: Auf der einen Seite der Untergrundboss und auf der anderen Seite die Wachen des Königs. Wenn sie wirklich etwas verändern will, muss sie an der Spitze der Macht ansetzen – im Schloss des Königs. Gemeinsam mit ihrem besten Freund Logan macht Mary sich auf den Weg in die Hauptstadt des Seenreiches, wo sie sich weit schlimmeren Problemen stellen muss. Gleichzeitig lernt sie Alex, den charmanten Berater des Königs, und George, den arroganten Kronprinzen, kennen. Doch wem kann Mary in einem Königreich vertrauen, in dem nur Geld und Macht zählen? Vielleicht den beiden Reisenden aus dem Feuerreich? Doch auch Emma und Zedrik scheinen Geheimnisse zu verbergen, die Mary in Schwierigkeiten bringen könnten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wüstenfuchsverlag

Sophie Maibaum & Sofie Krüger

DIE UNVERFRORENE

Mit Illustrationen von

Sofie Krüger

© 2024 Sophie Maibaum, Sofie Krüger

Coverdesign von: Sofie Krüger (@mary_bones_arts)Illustriert von: Sofie Krüger (@mary_bones_arts)

Verlagslabel: Wüstenfuchsverlag

ISBN Softcover: 978-3-384-34952-1ISBN Hardcover: 978-3-384-34953-8ISBN E-Book: 978-3-384-34954-5

Druck und Distribution im Auftrag der Autorinnen:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Steig 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autorinnen verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorinnen, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice Heinz-Beusen-Steig 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für alle, die wissen, wie süß Rache schmeckt.

Und für Marco, Thomas und Astrid.

Danke für eure hilfreichen Anmerkungen.

Bei diesem Roman handelt es sich um einen Einzelband, dessen Handlung im selben Universum wie »Die Entflammte« spielt. Diese Geschichte startet ein Jahr und drei Monate nach den tragischen Ereignissen der Vorgeschichte. Es ist nicht notwendig, diese vorab zu lesen, da die Geschehnisse nur bedingt aufeinander aufbauen und in unterschiedlichen Reichen spielen. Wer das vorherige Buch kennt, darf sich hier auf ein Wiedersehen mit einigen vertrauten Gesichtern freuen.

Ich wurde heftig hin und her geschleudert, als das Mädchen, um dessen Hals ich hing, durch das nachtdunkle Dickicht hastete. Doch egal, wie schnell sie rannte, die Schatten kamen immer näher. Ich spürte, wie die Dunkelheit ihre tödlichen Tentakel nach ihr ausstreckte.

Das Mädchen hatte viel zu spät bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Dabei war sie doch schon seit Wochen von der Dunkelheit verfolgt worden! Sie hatte es für einen Zufall gehalten. Aber dies war mit Sicherheit kein Zufall.

Dummes Kind!

Sie wimmerte mit zusammengebissenen Zähnen, als die dünnen Zweige des Unterholzes ihr wie Peitschen um die nackten Beine schlugen. Das musste höllisch wehtun. Doch zu meiner Überraschung wurde sie nicht langsamer. Ob sie wohl einen Plan hatte? Oder rannte sie blindlings immer tiefer in den Wald hinein? Ich versuchte, ihr den Weg zu weisen. Sie in die Richtung eines nahegelegenen Dorfs zu ziehen, hin zum rettenden Licht. Doch das Mädchen beachtete mein wärmendes Pulsieren gar nicht.

Ein Fetzen gräulicher Finsternis griff nach ihr. Sie schlängelte sich um ihren Fuß und brachte sie zum Stolpern. Sie landete unsanft mit dem Gesicht im Gras, doch sie rappelte sich schnell wieder auf und rutschte rückwärts weg von den dunklen Bäumen auf die mondbeschienene Lichtung. Hinter ihr war das seichte Plätschern eines Sees zu hören, über den der Wind strich.

»Was wollt ihr von mir?«, schrie das Mädchen aus voller Kehle. So laut, dass ich einen erschrockenen Hüpfer machte. »Lasst mich in Frieden!«

Ich beobachtete, wie sich die Schatten zwischen den Bäumen sammelten, bis dort nichts als Schwärze war.

»Bitte!«, flehte sie und heiße Tränen tropften auf mich herab. »Bitte, lasst mich gehen!«

Aus dem Wald kam keine Antwort.

Das Mädchen packte mich und zog mich hastig von ihrem Hals.

»Ist es das, was ihr wollt?« Ihre Stimme bebte und ihre Finger krampften sich fest um mich.

Ich wusste, dass das Mädchen mich nicht hergeben wollte – dafür genoss sie meine Macht viel zu sehr – doch trotzdem rief sie den Schatten entgegen: »Ihr könnt es wiederhaben! Ich will es nicht mehr!«

Und mit diesen Worten schleuderte das Mädchen mich mit aller Kraft von sich fort.

»Holt es euch!«, hörte ich sie kreischen, als ich über ihre Schulter auf den See zuflog, in dem sich die Sterne spiegelten. Ich erhaschte einen letzten Blick auf das Mädchen, bevor die Schatten nach ihr griffen und sie zappelnd und schreiend zwischen die Bäume gezerrt wurde.

Dann wurde ich von dem kalten Wasser des Sees verschluckt.

Ich sank zu Boden und blieb zwischen zwei schimmernden Muscheln liegen. Das Mondlicht fand seinen Weg durch das klare Wasser und ließ mich funkeln. Wäre jemand in dieser Nacht an dem See vorbeigekommen, wäre ich sicherlich entdeckt worden. Doch niemand tauchte am Ufer auf.

Nicht in dieser Nacht und auch nicht in den folgenden.

Am Tag trieben kleine Boote an der Oberfläche. Menschen mit Angeln und Netzen. Doch sie sahen nie genau genug hin. Niemand entdeckte mich am Grund.

Der See fror zu und taute wieder auf. Die Seebewohner – überwiegend dümmliche, große Fische – beachteten mich gar nicht weiter, und als der zehnte Winter vorüber war, verlor ich den Mut. Ich hörte auf zu funkeln und ergab mich meinem Schicksal, für immer am Grund dieses Sees zu liegen.

Doch ich war ein eitles Ding, und auch wenn ich nie wieder an die Oberfläche gelangen würde, gab ich mir doch Mühe, nicht zu rosten.

Mit den Jahrzehnten, die verstrichen, wurde der See trüb und schmutzig. Die großen Fische und die meisten Muscheln starben einer nach dem anderen, und die Menschen mieden diesen Ort.

Nach hundert Jahren hörte ich auf, die Winter zu zählen. Ich überlegte, ob ich nicht doch einfach verrosten und schließlich verschwinden sollte. Da rührte sich etwas an der Oberfläche.

Ein Mädchen sprang mitten in der Nacht mit jugendlichem Leichtsinn in das dreckige Wasser und tauchte zum Grund, als würde sie etwas suchen. Ich sah, wie sie drei kleine Muscheln schnappte und wieder aus dem Wasser stieg.

Dann war sie verschwunden.

In der nächsten Nacht tauchte das Mädchen wieder auf. Es pflückte die Muscheln vom Grund und verschwand erneut.

Wie sonderbar!

Es war schon so lange her, dass ich mein Funkeln gezeigt hatte, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ich das anstellen sollte. Aber eines wusste ich: Wenn ich diesen verkommenen See jemals wieder verlassen wollte, musste ich die Aufmerksamkeit dieses mutigen Mädchens auf mich ziehen.

Mary Brooks nahm einen letzten Atemzug, dann tauchte sie in die schaurigen Wasser des dunklen Sees hinab. Mit kräftigen Zügen bahnte sie sich einen Weg zum tiefsten Punkt. Es war stockfinster, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen und das Wasser zu trüb, um das Mondlicht hindurchzulassen. So war es fast unmöglich, etwas zu sehen, doch Mary war an die Dunkelheit gewöhnt und erkannte dennoch die Umrisse von Wasserpflanzen, von kantigen Steinen und kleinen, versunkenen Fischerbooten. Kleine Fische tanzten um sie herum und verschwanden in der Ferne. Sie sah ihnen nach und konnte nicht verhindern, diese kleinen Wesen zu beneiden. Hier unten gab es keine Sorgen. Hier unten herrschte nur eine Ruhe, die Mary an Land nirgendwo finden konnte.

Am Grund des Sees angekommen, tastete sie vorsichtig den schlammigen Boden ab. Sie hoffte auf größere Muscheln, die vielleicht sogar die eine oder andere Perle beherbergten. Sie hoffte auf etwas, das ihr und ihrer Familie wieder etwas Zeit verschaffen würde. Und tatsächlich, sie hatte Glück, denn schon nach wenigen Momenten hatte sie zwei größere Muscheln gefunden. Zufrieden verstaute Mary sie in ihrer Brusttasche und war gerade dabei, sich vom dunklen Grund wieder zurück an die Oberfläche zu stoßen, da sah sie etwas im Seegras aufblitzen.

Neugierig schwamm sie zu der Stelle, an der sie das Glitzern wahrgenommen hatte. Ihre Finger schlossen sich um das schimmernde Objekt. Es fühlte sich hart und glatt in ihrer Hand an. Etwas, das definitiv nicht hierher gehörte. Während sie schnell an die Oberfläche schwamm, hielt sie das Objekt fest in ihrer Hand, um es auf gar keinen Fall zu verlieren. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie hier etwas ganz Besonderes gefunden hatte.

Die Luft wurde langsam knapp, und sie musste sich beeilen. Die Oberfläche kam ihr plötzlich viel weiter weg vor, als noch vor einem Moment. Und das Wasser wirkte schwärzer – unnatürlich schwarz und beinahe, als hätte die Dunkelheit ein Eigenleben entwickelt. Als würde die Dunkelheit sie beobachten. Mary spürte nun ganz deutlich die Eiseskälte auf ihrer Haut und strampelte umso heftiger mit ihren Beinen.

Kaum aus dem Wasser, legte sie sich – noch nass und zitternd vor Kälte und Aufregung – ins kühle Gras. Der Duft der frischen Morgenluft mischte sich mit dem fauligen Gestank des Sees, während die ersten Sonnenstrahlen ihre Haut wärmten. Es war ein wunderbares Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Der schimmernde Gegenstand in ihrer Hand entpuppte sich als ein fein gearbeitetes Amulett an einer langen Kette, möglicherweise aus Silber oder sogar Weißgold. Es hatte die Größe einer reifen Pflaume und war besetzt mit kleinen Edelsteinen, die im Sonnenlicht in allen Farben funkelten. Außerdem war es mit einer Inschrift versehen, die Mary jedoch nicht entziffern konnte. Vielleicht war es ein Schmuckstück, das jemand verloren hatte. Vielleicht war es aber auch ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie wusste schon genau, wen sie fragen konnte, um mehr über dieses sonderbare Ding herauszufinden. Müde verstaute sie den Anhänger in ihrer Tasche.

Die Anstrengung des Tauchens und die wärmenden Sonnenstrahlen hatten Mary schläfrig gemacht. Seit Stunden war sie ein ums andere Mal in die eisigen Tiefen des Sees hinabgetaucht und nun kam ihr das taunasse Gras ganz besonders weich vor. Die Sorgen, die sie immerzu quälten und Nacht für Nacht wachhielten, schienen jetzt so weit weg zu sein. Obwohl sie wusste, dass sie nicht einschlafen durfte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augenlider immer schwerer wurden und sie schließlich in einen traumreichen Schlaf fiel.

Der Regen setzte ein, als Mary noch immer neben dem modrigen See schlummerte. Es fielen nur einige warnende Tropfen, doch schon im nächsten Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Erschrocken schlug Mary die Augen auf und war sofort auf den Beinen – bereit, sich zu verteidigen. Nur, dass es keinen Feind gab, den sie bekämpfen konnte. Es war nur Regen. Dabei hätte sie schwören können …

Ein Geräusch ließ Mary aufhorchen. Behutsam drehte sie sich in die Richtung, aus der das leise Rascheln kam. Dann entdeckte sie die Ursache. Ein kleiner Fuchs huschte an ihr vorbei, kaum mehr als ein Schatten im dichten Nebel. Sein schlanker Körper war dunkelbraun, seine Pfoten und sein Bauch moosgrün. Perfekt, um sich in der Moorlandschaft zu tarnen. Genau wie Mary streifte er durch das Moor – auf der Suche nach Nahrung. Ein flüchtiger Blick seiner bernsteinfarbenen Augen, dann glitt er geschmeidig in den Nebel, der ihn sofort verschluckte.

»Viel Glück, kleiner Moorfuchs«, flüsterte sie ihm hinterher.

Die Ausbeute an Muscheln war in dieser Nacht nicht besonders groß, aber auf dem Schwarzmarkt würde sie die Perlen eintauschen können. Sie würde Essen für sich und ihre kleine Familie bekommen. Wenn sie Glück hatte, reichte es sogar noch für einen neuen, wärmeren Mantel, denn der zerschlissene Umhang, den sie sich nun um die zitternden Schultern schlang, würde sie nicht durch den nahenden Winter bringen.

Bevor sie sich auf den Weg zurück ins Dorf machte, vergewisserte Mary sich, dass nicht nur die Muscheln, sondern auch das Amulett sicher in den Tiefen ihrer Tasche aufgehoben waren. Ihre Fingerspitzen streiften das Metall, das sich angenehm warm unter ihren eiskalten Fingern anfühlte.

Es war kein gutes Zeichen, dass das Metall wärmer war als ihre Haut. Sie musste sich beeilen und schleunigst ins Warme kommen.

Das Dorf Numahi, das Mary ihre Heimat schimpfte, war nicht mehr als eine Ansammlung von Holzhütten, die durch ein Labyrinth aus Stegen und Brücken miteinander verbunden waren. Vor langer Zeit war Numahi ein wohlhabendes Fischerdorf inmitten der weitreichenden Seenplatte des Seenreiches gewesen, doch die Zeiten hatten sich geändert. Ein Krieg mit dem angrenzenden Teereich hatte das Königreich geschwächt. Auch wenn dies mehr als ein Jahrhundert zurücklag, war das Verhältnis zu ihren Nachbarn recht angespannt. Aus Gründen, die Mary nicht verstand, galt dies auch für das Donnerreich. Aus kristallklaren Seen war eine wüste Sumpflandschaft geworden. Viele Fische gab es hier schon lange nicht mehr, und somit war auch der einstige Wohlstand vergangen.

Der König des Seenreiches hätte Numahi am liebsten dem Erdboden gleichgemacht, denn ein Fischerdorf ohne Ertrag war unwirtschaftlich, doch die Bewohner klammerten sich verzweifelt an ihre Heimat und wichen keinen Schritt zurück. Etwas, das Mary nicht nachvollziehen konnte. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde sie aus diesem von den Göttern verlassenen Dorf verschwinden und nie mehr zurückblicken.

Als Mary sich ihren Weg zum Schwarzmarkt bahnte, herrschte in Numahi bereits reges Treiben, doch nur wenige gingen zu dieser frühen Stunde einer ehrlichen Arbeit nach. Mary wich einer Gruppe Betrunkener aus und zwängte sich in einen Spalt zwischen zwei windschiefen Hütten, wo sie wartete, bis die Männer vorbeigetorkelt waren. Von dort hatte sie einen guten Blick auf den Hintereingang eines Wirtshauses, wo dessen Inhaberin gerade eine stinkende Ladung Abfälle in den Sumpf kippte.

Mary ging einfach weiter.

Sie hielt den Kopf gesenkt und lief nicht zu schnell, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, doch sie behielt ihre Umgebung genauestens im Blick. Die Wachen in ihren grauen Uniformen, ihren mit Fell gefütterten Feldmützen und ihren glänzenden Gewehren gehörten so eindeutig nicht hierher, dass Mary sich auf die Zunge beißen musste, um ihnen nichts entgegenzubrüllen, was sie am Ende bereut hätte.

Mary hasste Numahi, aber noch mehr hasste sie die Wachen des Königs. Stumm und reglos standen sie an jeder Ecke und bewegten sich nur, wenn etwas in ihren Augen Unrechtmäßiges geschah. Doch die wahre Ungerechtigkeit schienen sie nicht zu sehen.

Der Weg führte Mary an einigen kleinen Läden vorbei, die Kleidung und Lebensmittel zu unerschwinglichen Preisen anboten. Die meisten von ihnen waren noch geschlossen. Nur ein Händler war schon auf den Beinen und stapelte gerade Obst und Gemüse in die Auslage vor seiner Hütte. Bei dem Anblick der rotgoldenen Äpfel lief Mary das Wasser im Mund zusammen.

Wann hatte sie das letzte Mal in einen süßen Apfel gebissen?

Sie spielte mit dem Gedanken, sich anstelle des Mantels, auf den sie sparte, einen ganzen Sack Äpfel zu kaufen. Da preschten mehrere wilde Hunde an ihr vorbei und brachten sie aus dem Gleichgewicht.

Sei nicht so dumm, fuhr sie sich selbst an, als sie unsanft auf ihrem Hintern landete. Bleib bei der Sache und keine Ablenkungen!

Auch die Streuner hatten es auf das Obst abgesehen, denn auf frisches Fleisch brauchten sie gar nicht erst zu hoffen.

Kluge Hunde.

Doch der Händler war ein großer, zorniger Mann und trat den ersten Hund kurzerhand aus dem Weg, sodass dieser jaulend über den Steg schlitterte und dann mit eingezogenem Schwanz davon humpelte. Die anderen Hunde ergriffen ebenfalls die Flucht und rissen in ihrer Panik eine der Apfelkisten zu Boden.

»Ihr verdammten Köter!«, brüllte der Händler ihnen nach, als die Äpfel davonrollten.

Einige landeten im Morast und waren für immer verloren. Da hätte der Mann dem Hund auch einfach einen oder zwei Äpfel überlassen können. Die beiden Wachmänner, die das Schauspiel schadenfroh beobachtet hatten, rührten weiterhin keinen Finger. Erst als ein Apfel einem kleinen Mädchen mit schmutzigen Wangen und struppigen Haaren vor die Füße rollte, setzten sie sich in Bewegung. Denn obwohl der Apfel nun völlig eingedellt war und kaum noch genießbar aussah, gehörte er immer noch dem Händler. Er würde ihn zum Verkauf anbieten und irgendein armer Mensch würde Geld dafür ausgeben.

Das Mädchen jedoch sah in dem Apfel nur ein Geschenk der Götter und wenn Mary ihre dünnen Ärmchen so ansah, konnte sie verstehen, dass das hungrige Kind sich auf das Obst stürzte, als wäre dies die erste Mahlzeit seit Tagen. Das war nicht einmal unwahrscheinlich.

Doch das war gegen die Regeln. Die Wachmänner fackelten nicht lange und zerrten das Mädchen fort.

»Hey!«, rief Mary, die sich endlich aufgerappelt hatte. »Was soll das?«

Die Wachen blieben stehen und drehten sich langsam zu ihr um. Sie waren jung – kaum älter als Mary – aber in ihren kalten Augen lag kein Mitgefühl.

»Sie ist eine Diebin«, erklärte einer der Männer, dessen Gesicht Mary auf groteske Weise an eine Ratte erinnerte. »Wir sperren sie ein.«

»Sie ist ein Kind!« Mary wusste, dass es dumm war, sich einzumischen. Doch sie war selbst einmal dieses kleine, halb verhungerte Mädchen gewesen. Sie konnte verstehen, warum sie den Apfel genommen hatte.

»Na und?«, fragte der Mann, der das Kind am Arm gepackt hatte. »Sie hat gestohlen. Du tätest besser daran, dich nicht mit Dieben zu verbünden.« Ein Grinsen stahl sich auf sein rundes Gesicht. »Aber vielleicht bist du ja auch eine Diebin. Sollen wir deine Taschen durchsuchen, Mädchen?«

Panik schnürte Mary die Brust zusammen, doch sie reckte ihr Kinn und wiederholte mit ruhiger Stimme: »Sie ist ein Kind. Nur ein Kind. Und sie hat Hunger. Der Apfel war schon matschig und außerdem …«

»Halt den Mund!« Der Mann mit dem Rattengesicht war mit drei großen Schritten bei ihr und packte nun auch Mary am Handgelenk. »Jetzt wirst du auch eingesperrt.«

»Warum das?«, fauchte Mary und zerrte mit Leibeskräften an ihrem Arm.

»Ganz einfach«, flüsterte der Mann süffisant. »Weil du Widerworte gegeben hast.«

Das Gefängnis von Numahi war in einem ehemaligen Lagerhaus auf einer befestigten Insel errichtet worden und immer gut gefüllt. Kein Wunder, wenn auch auf das Stehlen eines matschigen Apfels die Gefängnisstrafe stand.

Lächerlich!

Mary fror am ganzen Körper. Es war so kalt an diesem schrecklichen Ort, obwohl das Gefängnis doch zu einem der wenigen Gebäude gehörte, die nicht nur aus morschen Latten zusammengezimmert worden waren. Doch die Mauern hatten Löcher und Risse. Im Inneren reihten sich die Zellen wie am Boden verankerte Käfige aneinander, sodass der Wind erbarmungslos hindurchfegen konnte.

Wenn sie hier nicht bald herauskam … Wenn sie sich nicht bald irgendwo aufwärmen konnte, würde sie krank werden. Und wer würde dann ihre Familie ernähren? Ihre Tante, die Körbe flocht und Netze knüpfte, die kaum noch gebraucht wurden? Oder Logan, der zu gut war, um etwas Verbotenes zu tun?

Doch wer sich in Numahi an die Regeln hielt, kam nicht weit. Man durfte sich eben nur nicht erwischen lassen.

Schweigend saß Logan Brooks an dem runden Tisch im Wohnbereich der kleinen Holzhütte und stocherte in seinen Kartoffeln herum. Ihm gegenüber saß seine Tante Anna. Eigentlich war sie nicht wirklich seine Tante, sie war Marys Tante. Doch Anna hatte die beiden Kinder aufgezogen, als sonst niemand mehr dagewesen war, deswegen war es ihm egal, dass sie nicht blutsverwandt waren. Für Logan war Anna seine Tante. Als Zeichen der Zugehörigkeit hatten Mary und er Annas Nachnamen angenommen. Brooks.

Als die Sonne unterging und Anna bei Kerzenschein an einem neuen Netz knüpfte, war Mary noch immer nicht zu Hause. Logan starrte die Haustür an, als könnte er sie mit seinem Blick heraufbeschwören.

»Wenn du dir solche Sorgen machst, dann geh und sieh nach ihr«, murmelte Anna, ohne den Blick von ihrer Handarbeit zu lösen.

»Ich mache mir keine Sorgen«, knurrte Logan. »Sie hilft heute bei den Fischern aus.«

»Um diese Uhrzeit?« Seine Tante sah ihn vielsagend an.

Mit knirschenden Zähnen warf Logan sich seinen Umhang um die Schultern und stapfte zur Tür.

»Pass auf dich auf«, ermahnte Anna ihn, was Logan zum Lächeln brachte. Er nickte knapp und verließ die Hütte.

Wenn Numahi bei Tag schon schrecklich war, dann war es nachts noch um einiges schlimmer. Die anständigen Leute hatten ihre Läden geschlossen, stattdessen spielte sich das Leben nun in den Kneipen, dunklen Ecken und zwielichtigen Hinterzimmern ab. Was dort für schmutzige Geschäfte abgewickelt wurden, konnte Logan sich nur allzu gut vorstellen, doch so genau wollte er das gar nicht wissen.

»Hallo, Hübscher!« Eine Frau, die vor einem Haus posierte, aus dem laute Musik und schwerer, süßlich riechender Dampf waberten, zwinkerte ihm lasziv zu und riss Logan aus seinen Gedanken. Sie war viel zu stark geschminkt und trug viel zu wenig Kleidung am Leib.

Vielleicht hätte er einen anderen Weg wählen sollen, aber dieser hier war der kürzeste. Er ging weiter, ohne der Frau weiter Beachtung zu schenken. Dann wich er drei Männern aus, die sich lautstark stritten und kurz davor waren, sich zu prügeln. Und schließlich erreichte er das Gefängnis. Hier war es wenigstens ruhiger, dafür war der Gestank nach verrottendem Mist und fauliger Erde kaum mehr zu ertragen.

Das Gebäude hatte nur eine einzige breite Tür und nur ein einsamer Wachmann lümmelte in einem Korbstuhl vor dem Eingang. Es war gut möglich, dass Anna diesen Stuhl geflochten hatte. Logan hoffte, dass seine Tante gut dafür bezahlt worden war. Er schritt auf den Wachmann zu, der sich nicht die Mühe machte, aufzustehen.

»Aaron.«

»Logan«, begrüßte der sommersprossige, junge Mann ihn und grinste breit. »Bist du hier, um dein Mädchen abzuholen?«

»Nenn sie nicht meinMädchen!« Mary war sicher vieles, aber kein Mädchen. Und ganz bestimmt war sie nicht sein Mädchen.

Aaron lachte schallend auf. »Okay, wenn du das sagst.«

Schweigen.

»Ist sie hier?«, fragte Logan, nachdem Aaron ihn unerträglich lange nur mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen hatte.

»Natürlich ist sie hier.« Der Wachmann erhob sich und schlenderte auf das breite Metalltor zu. Gemächlich suchte er den richtigen Schlüssel an einem schweren Schlüsselring heraus und öffnete das Tor. Logan folgte ihm in das ehemalige Lagerhaus. Beklemmung machte sich breit, als sie zwischen den Käfigen hindurchgingen. So viele Gefangene … Die meisten von ihnen schliefen bereits zusammengerollt in einer Ecke oder starrten müde zu dem Dach hinauf, das so viele Löcher hatte, dass man die Sterne sehen konnte.

»Was ist es dieses Mal?«, fragte Logan leise.

»Irgendein Streit mit einem Händler und einer Diebin.«

»Ein Streit?«

»Sie hat sich eingemischt.« Aaron zuckte mit den Schultern, als wäre das keine große Sache. »Dafür muss sie nicht über Nacht bleiben.«

»Aha …« Logans Augenbrauen zogen sich zusammen. »Weiter nichts?«

»Keine Ahnung, Logan. Aber du weißt doch, dass du dich nicht in die Angelegenheiten der Wachen des Königs einmischen sollst. Und sie sollte das auch nicht.«

»Du sprichst, als würdest du nicht einer von ihnen sein.« Dabei trug Aaron wie alle anderen Wachen diese verhasste, graue Uniform. Er war frisch nach seiner Ausbildung in die verarmten Sumpfdörfer geschickt worden – so wie es mit den meisten Neulingen geschah – und nun schon seit zwei Jahren in Numahi. Doch anders als der Großteil seiner Truppe war er nicht verbittert. Aaron fand keinen Gefallen daran, Menschen für jedes kleine Vergehen übermäßig zu bestrafen.

»Du weißt doch, wie das läuft. Mitgefangen, mitgehangen!« Aaron sprach leise und warf Logan einen verschwörerischen Blick zu. »Aber ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Nächsten Monat bin ich hier raus!«

Logan blieb abrupt stehen. »Ehrlich?«

»Ja! Mein Versetzungsgesuch wurde endlich berücksichtigt. Bald kann ich dieses verfluchte Kaff hinter mir lassen.« Er lachte leise. »Nichts für ungut.«

Logan zwang sich zu einem Lächeln. Wenn Aaron ging, musste Logan sich etwas einfallen lassen, um Mary vor Schwierigkeiten zu bewahren.

»Ich verstehe es. Freut mich für dich!« Logan freute sich wirklich für ihn, doch das ungute Gefühl in seiner Magengegend wog schwer. Er klopfte dem Wachmann auf die Schulter, der ihn vor Freude bis über beide Ohren angrinste.

Schließlich erreichten sie einen Käfig im hinteren Bereich und Aaron schloss das Gitter auf. »Da wären wir: Gefangene Nummer 57. Ich lasse euch jetzt allein.«

Mary schlief in einem Knäuel aus ihrem Umhang und den Decken, die man ihr gegeben hatte. Ihre sonst so üppigen, schwarzen Locken, die ihr bis zu den Schultern reichten, fielen ihr schlaff ins Gesicht und schienen nass zu sein. Ihre Lippen waren bläulich verfärbt und ihre Haut fahl.

Eine altbekannte Wut, die Logan immer erfasste, wenn Mary sich leichtsinnig in Gefahr brachte, überkam ihn. Ohne zu zögern packte er die junge Frau mitsamt dem Bündel Decken und warf sie sich über die Schulter wie einen Sack Kartoffeln.

Es dauerte viel zu lange, bis Mary wieder zu sich kam! Er hatte mit ihr schon das halbe Gefängnis durchquert, da regte sie sich endlich. Wäre er ein Angreifer gewesen, wäre sie jetzt tot.

»Was soll das?«, kreischte sie und wand sich in seinem Arm. »Lass mich runter!«

»Sei leise, du weckst die anderen mit deinem Geschrei«, knurrte Logan mit zusammengebissenen Zähnen und dachte gar nicht daran, sie abzusetzen.

»Ich kann selbst laufen!«

»Ach ja? Du siehst aus wie eine halb erfrorene Leiche. Wo bist du überhaupt gewesen?«

»Na hier?« Marys Stimme war nur noch ein wütendes Zischen.

»Den ganzen Tag?«

»Den ganzen Tag.«

»Dann erklär mir, warum du so nass bist!«, polterte Logan und weckte nun seinerseits mehrere Gefangene.

Mary schwieg.

»Du bist im See gewesen, nicht wahr?«

Keine Antwort.

»Ri!« Er zog sie von seiner Schulter und hielt sie so, dass er ihr in die Augen sehen konnte. Eines war golden, das andere grün wie die Blätter der Bäume im Frühling. Doch in beiden Augen loderte eine Wut, die seine eigene widerspiegelte. »Ich bringe dich nach Hause.«

»Nein.«

»Wie bitte? Du wirst dir noch den Tod holen!«

»So schnell bin ich nicht klein zu kriegen.«

In diesem Moment verließen sie das Gefängnis. Aaron lümmelte schon wieder in seinem Korbstuhl und warf Logan einen amüsierten Blick zu, als er sah, wie Logan Mary heraustrug.

»Aaron! Was ist mit dem Mädchen geschehen?«, rief Mary aufgeregt und strampelte sich aus Logans Griff frei.

»Ich habe sie schon vor Stunden gehen lassen«, grinste Aaron.

»Aber mich hast du dort drinnen fast erfrieren lassen!«, rief sie empört.

»Als ich dich herauslassen wollte, hast du schon geschlafen und als ich dich das letzte Mal geweckt habe, hast du mich fast gebissen.«

Er lachte, und sie stimmte mit ein.

»Auf bald, Mary. Versuch morgen nichts anzustellen, da habe ich meinen freien Tag.«

»Das kann ich nicht versprechen.«

Sie zwinkerte ihm zum Abschied zu und kehrte dem Gefängnis den Rücken zu. Marys Stimme hatte einen neuen Unterton, der nichts Gutes verhieß. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Du kannst mich begleiten oder eben nicht. Das ist mir egal.«

Logan schloss die Augen und holte tief Luft. »Du willst auf den Markt am unteren Ende des Dorfs, nicht wahr?«

Mary lachte. »Weißt du, es wird dich niemand einsperren, nur weil du das Wort Schwarzmarkt in den Mund nimmst.«

Doch Logan war sich da nicht so sicher.

»Wir sollten vorsichtig sein, Em. Wir wissen nicht, was uns hier unten erwartet«, warnte Zedrik leise, während er Emma eine schmale Treppe immer tiefer unter die Erde hinabfolgte.

»Ich weiß. Aber ich habe dieses Mal ein gutes Gefühl. Wir sind nahe an ihm dran. Das spüre ich«, murmelte Emma.

Das hast du letztes Mal auch behauptet, zischte es aus ihrem Inneren.

Sei still.

Es stimmte, ihre letzte Spur hatte sie in eine Sackgasse geführt. Aber nun deuteten mehrere Anzeichen darauf hin, dass er hier gewesen war oder vielleicht sogar noch in der Nähe war. Als Emma und Zedrik von diesem Ort erfahren hatten, hatten sie sich sofort auf den Weg gemacht. Niemals hätten sie es für möglich gehalten, dass sich dieses verarmte Fischerdorf als Hochburg krimineller Machenschaften erweisen könnte. Tief im Sumpf unter Numahi verbarg sich ein unterirdisches Schmuggelsystem. Anscheinend konnte man hier unten nicht nur illegale Gegenstände erwerben, sondern auch Informationen. Ob man am Ende bekam, was man wollte, war nur eine Frage des Geldbeutels. Und da Geld für Emma keine Rolle spielte, würde sie auch bekommen, wonach sie suchte. Natürlich wusste sie nicht, ob ihr die Antwort dann auch gefallen würde.

Je tiefer sie hinunterstiegen, desto fauliger roch es.

Ekelhaft, dieser Gestank.

Die modrige Luft heftete sich an ihre Haut und ein ständiges Tropfen von Wasser war zu hören, welches von der modernden Decke herunterplätscherte.

Plötzlich endete der schmale Treppengang. Sie standen nun vor einer grünen Holztür, die von einem großen Mann mit Narbengesicht bewacht wurde.

»Passwort?«, knirschte er mit den Zähnen.

»Palus«, grinste Emma.

Wie einfallslos.

Der Mann nickte und öffnete die Tür.

Sie gelangten in einen weitläufigen Tunnel. Die Dunkelheit, die hier unten herrschte, wurde von unzähligen Windlichtern durchbrochen, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden und an den Ständen hingen. Das Licht wurde von kleinen Leuchtkäfern erzeugt. Sie flatterten hilflos in den bunten Gläsern herum und versuchten verzweifelt, einen Ausweg aus ihrem Gefängnis zu finden. So traurig dies auch anzusehen war, so waren die bunten Lichter das Einzige, was diesem trostlosen Ort etwas Schönes und Magisches gab. Durch die vielen abgehenden Gänge schlängelten sich schmierige Gestalten, die ihre Gesichter immer im Verborgenen hielten. Flüsterndes Gemurmel erfüllte die Luft. Überall versuchten Händler, ihre illegalen Waren anzupreisen – von seltenen und verbotenen Artefakten bis hin zu gefährlichen Substanzen. Aber Emma interessierte nur eines. Sie wollte ihn endlich finden. Sie wollte ihn zur Rechenschaft ziehen. Vorher würde sie niemals Ruhe finden.

Doch sie mussten vorsichtig sein. Die Menschen hier kamen gerade nur so über die Runden und hatten wahrscheinlich nichts zu verlieren.

Wir haben auch nichts zu verlieren.

Das stimmt so auch nicht.

Trotzdem durften sie jetzt nicht in eine Falle gelockt werden. Auch wenn sie ihrem Informanten eigentlich traute, erforderte jeder Schritt im Untergrund Vorsicht, denn in der Dunkelheit lauerten viele Gefahren.

»Wer hat hier das Sagen?«, polterte Emma geradeheraus und durchstreifte mit ihren lodernden Augen den Raum.

So viel zum Thema vorsichtig sein …

Prompt verstummten die Gespräche und Emma und Zedrik wurden von argwöhnischen Blicken durchbohrt.

»Sehr diskret, wie immer«, lachte Zedrik leise.

Emma mochte sein Lachen. Ihr Herz fing dann immer an zu brennen, aber auf eine gute Art und Weise. Sie wusste, mit ihm an ihrer Seite würde sie alles erreichen.

Würg.

Sei still.

»Wer will das wissen?«, zischte es aus einer düsteren Ecke.

»Na, ich. Wer sonst?«, gab Emma zurück.

Ein stämmiger Mann trat ins Licht. »Und wer seid Ihr?«

»Wir würden gerne um eine Audienz bei Walrus bitten. Wäre das möglich?«, fragte Zedrik in einem verflucht höflichen Ton.

Schleimer.

Emma lachte leise, setzte dann aber auch ein gekünstelt höfliches Lächeln auf.

»Was wollt Ihr von ihm?«, fragte der Mann misstrauisch.

»Das geht Euch nichts an!«, fauchte Emma.

Doch bevor Emma dem Mann an die Kehle springen konnte, trat Zedrik dazwischen und steckte ihm drei Goldmünzen zu.

Pah! Wir hätten das auch anders regeln können!

»Folgt mir. Ich bringe Euch zu ihm«, sagte der Mann mit einem gierigen Grinsen im Gesicht.

Er führte sie durch unzählige Gänge, die endlos schienen. Emma prägte sich den Weg genau ein. Falls es brenzlig wurde, würden sie diesen Ort schnell verlassen müssen. Sie hielten vor einer großen und mit Schnitzereien verzierten Doppelflügeltür an. Sie wirkte prächtiger als die Türen, die sie bisher gesehen hatten. Generell wirkte es hier im Gang nicht ganz so schäbig. Es war sogar ein schwerer, roter Teppich ausgelegt worden.

»Wir sind da«, zischte der Mann leise und klopfte in einem umständlichen Rhythmus an.

Die Türen schwangen auf und gaben den Blick auf einen großen Raum frei. Dieser wurde – genau wie die Gänge im Untergrund – von Leuchtkäferlaternen erhellt. An den Seiten des Raumes standen mehrere Tische, an denen lauter Menschen saßen und feierten. In der Mitte führte ein Gang tiefer in den Raum hinein. Ganz hinten befand sich eine große Tafel, an der ein Mann auf einer Art Thron saß. Das musste dieser sogenannte Walrus sein. Um ihn herum saßen junge Frauen auf dem Boden, die ihm Wein einschenkten, kicherten und sich zu seinem Vergnügen auf dem Teppich räkelten.

Was für ein fürchterliches Bild!

Der massige Körper des alten Mannes breitete sich über dem Thron aus, dessen Beine unter seinem Gewicht zu ächzen schienen. Seine Haut war faltig und von einem ungesunden Grau, wodurch er seinem Namen Walrus alle Ehre machte. Wenn er grinste – was er anscheinend immer tat – vor allem, wenn er eines der leicht bekleideten Mädchen begrapschte, zeigte er eine Reihe verfärbter Zähne. Es war ein Grinsen, das in Emma überwältigende Übelkeit auslöste. Seine Augen, klein und tief in ihren Höhlen liegend, beobachteten gierig die Mädchen, die um ihn herumschwirrten. Ab und zu schnappte er sich eines und ließ seine schmierigen Hände über die noch viel zu jungen Körper gleiten.

Erst als Emma und Zedrik direkt vor ihm standen, ließ er von ihnen ab.

»Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«, fragte Walrus neugierig und richtete sich ein wenig auf.

»Mein Name ist Emma Mclean und das ist mein Freund Zedrik Blackmoon. Wir kommen von weit her«, antwortete Emma.

»Ein Blackmoon, so, so. Ihr kommt also den weiten Weg aus dem Feuerreich hierher«, erwiderte er und zog die Augenbrauen hoch. »Was wollt Ihr hier? Was gedenkt Ihr hier zu finden?« Er lachte süffisant. Emma kam es so vor, als ob er ganz genau wusste, was sie hier wollten und wen sie suchten.

Dieser Widerling.

»Wir suchen jemanden«, sagte Emma und schluckte ihre aufsteigende Wut hinunter.

»So?«

»Alex Buttercup lautet sein Name«, sagte Zedrik und kramte aus seiner Tasche eine kleine Abbildung hervor. Er reichte sie Walrus, der sie mit seiner fetten Hand ergriff. Für eine Sekunde sah Emma, wie ein hinterlistiges Lächeln über sein Gesicht huschte.

»Ihr kennt ihn«, platzte es aus ihr heraus.

Er sah Emma eine Zeit lang schweigend an. Dann zeigte er wieder seine gelben Zähne.

»Noch nie gesehen«, gluckste er.

»Ihr lügt!«, fuhr Emma ihn wütend an.

»Wie könnt Ihr es wagen, den edlen Walrus der Lüge zu bezichtigen?«, zischte der Mann, der sie hergeführt hatte.

Walrus lachte laut und leerte sein Weinglas in einem Zug. Mit einer Handbewegung befahl er einem Mädchen, ihm nachzuschenken.