Die Urlauber - Amanda Eyre Ward - E-Book

Die Urlauber E-Book

Amanda Eyre Ward

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer, Sonne und dann noch ein Hauptgewinn: 10 Tage Kreuzfahrt. Nur mit der Familie. Was kann da schon schiefgehen?

Die siebzigjährige Charlotte Perkins nimmt an einem Schreibwettbewerb teil, denn der Hauptgewinn, eine Kreuzfahrt mit ihren Lieben, wäre eine Chance, die Mitglieder ihrer Familie wieder zusammenzubringen. Da ist zum einen Tochter Lee, eine mäßig bekannte Schauspielerin, Sohn Cord, ein attraktiver Unternehmer, und zu guter Letzt Regan, ihres Zeichens gestresste Mutter, der es Charlotte einfach nicht recht machen kann. Als sie den Wettbewerb tatsächlich gewinnt, verbringt die Familie die nächsten zehn Tage auf einem luxuriösen Kreuzfahrtdampfer. Und während sich ihnen auf den Zwischenstopps alte und neue Liebschaften anschließen, brechen Konflikte auf und Geheimnisse kommen ans Licht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die einundsiebzigjährige Charlotte Perkins fasst sich ein Herz und nimmt an einem Schreibwettbewerb teil, denn der Hauptgewinn, eine Kreuzfahrt mit ihren Lieben, wäre eine Chance, die Mitglieder ihrer Familie, die sich allesamt fremd geworden sind, wieder zusammenzubringen. Da ist zum einen Tochter Lee, eine mäßig bekannte Schauspielerin, Sohn Cord, ein attraktiver Unternehmer, der aus irgendeinem Grund keine Frau zu finden scheint, und zu guter Letzt Regan, ihres Zeichens gestresste Mutter, der es Charlotte einfach nicht recht machen kann, ganz egal, was sie auch versucht. Als sie den Wettbewerb tatsächlich gewinnt, packt die Familie ihre Koffer und verbringt die nächsten zehn Tage auf einem luxuriösen Kreuzfahrtdampfer, der sie von Athen über Rom nach Barcelona bringt. Und während sich ihnen auf den Zwischenstopps alte und neue Liebschaften anschließen, brechen Konflikte auf, und Geheimnisse kommen ans Licht …

Autorin

Amanda Eyre Ward wurde in New York City geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihren Kindern in Austin, Texas und Ouray, Colorado. Bereits ihr erster Roman »Die Träumenden« stieß auf ein begeistertes Leser- und Medienecho. Viele ihrer Romane erklommen die US-Bestsellerlisten, wurden für Film und Fernsehen optioniert und in 15 Sprachen übersetzt. Wenn Amanda Eyre Ward nicht gerade schreibt, verbringt sie die Nachmittage mit ihren Kindern. »Die Urlauber« ist ihr erster Roman im Limes Verlag.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

AMANDAEYREWARD

DIEURLAUBER

ROMAN

Deutsch von Christiane Winkler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Jetsetters« bei Ballantine Books, New York.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Copyright der Originalausgabe © 2020 by Amanda Eyre WardCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenISBN978-3-641-27265-4V002www.limes.de

Für meinen ersten Leser, meinen besten FreundClaiborne Smith

Inhalt

Prolog / Hilton Head Island, 1983

Eins

GEPÄCK

Zwei

GRIECHENLAND, ATHEN

Drei

WILLKOMMENANBORD

Vier

SPASSAUFSEE

Fünf

RHODOS, GRIECHENLAND

Sechs

VALLETTA, MALTA

Sieben

SIZILIEN, ITALIEN

Acht

NEAPEL, ITALIEN

Neun

ROM, ITALIEN

Zehn

FLORENZ, ITALIEN

Elf

MARSEILLE, FRANKREICH

Zwölf

BARCELONA, SPANIEN

Epilog

Danksagung

Prolog / Hilton Head Island, 1983

DASGROSSEÖLPORTRÄTvon Charlotte und ihren Kindern beruht auf einem Foto, das am Strand von Hilton Head Island bei Sonnenuntergang aufgenommen wurde. Charlotte hatte den perfekten Abend vorbereitet und eine Kühlbox mit Bier und Cola in Glasflaschen gefüllt. Sie waren alle stark sonnenverbrannt und fühlten sich benommen. Winston hielt sich selbst für einen begnadeten Amateurfotografen.

Auf dem Porträt sieht Charlotte glücklich aus, wenn auch nicht allzu glücklich. Sie ist neununddreißig, schlank, ihre Haut ist braun gebrannt, sie sitzt auf einer Decke im Sand. Ringsum ihre drei Kinder: Lee, krauses blondes Haar, das im salzigen Wind weht; Cord in Seersucker-Shorts und weißem Polohemdchen; Baby Regan barfuß im Sommerkleidchen.

Lee war gerade mal sechs Jahre alt, sie liebte es, anderen zu gefallen. Wortlos verstand sie ihre Eltern, spürte sofort, wenn Gefahr im Verzug war. Winston hatte den ganzen Tag in der Ferienvilla verbracht, Zigaretten geraucht und ferngesehen. Obwohl er sich geduscht hatte, roch er noch immer nach Tabak. Die Wochenenden, an denen Winston zu Hause war, hatte Lee für die schlimmsten gehalten, doch da hatte sie sich geirrt.

Es war die Sonne, die auf Lees Haut brannte, die schmerzte, selbst nachdem Charlotte klebrige Aloe vera aufgetragen hatte. Es waren die Stunden, in denen nicht klar war, wann er aus dem Schlafzimmer kam, ob er wütend war oder sich einfach nur ausgebrannt fühlte. Charlotte war nervöser als sonst. Ihr schien es unglaublich wichtig zu sein, dass ihr einwöchiger Urlaub gelang, und Lee versuchte zu verstehen, was das bedeutete. Wichtig war, sich ruhig zu verhalten. Sich für Leuchttürme, flache Seeigel, diese Sanddollars und das Sammeln von Muscheln zu begeistern war unerlässlich. Wer von einer Qualle gestochen wurde, durfte das Charlotte ruhig sagen, aber ohne zu dramatisieren, egal, wie weh es tat. Kein Sand in der Wohnung. Keine Widerrede. Kein Gib mir, gib mir, gib mir, gib mir! Und wenn man ein Eis bekam, aß man es auf, und zwar ganz, auch wenn es nicht die Sorte war, die man am liebsten mochte, und man achtete darauf, keinen einzigen Happen zu verschwenden. Und wenn beim Salty Dog Hähnchenschenkel bestellt wurden, ließ man nicht wie eine verwöhnte Göre halb gare Pommes auf dem Papierteller liegen.

Lee gab ihr Bestes, um alle Regeln zu befolgen, sobald sie sie begriffen hatte, aber ihre Geschwister hielten sich nicht immer daran. Sie verstand, dass Regan noch zu klein war, doch ausgerechnet an diesem Nachmittag hatte ihre kleine Schwester zu heulen angefangen, als Winston im Raum war. Lee bekam Bauchschmerzen, als ihr Vater sie musterte und die Augen zu Schlitzen verengte. Lee hatte gelernt, unsichtbar zu sein, auch wenn ihr Körper in Winstons Schusslinie blieb. Doch das sah niemand. Sie beförderte ihr Gehirn einfach woandershin, an einen sicheren Platz. Doch wenn sie woanders war, hieß das auch, dass niemand sich schützend vor den vierjährigen Cord und Baby Regan stellte. Also versuchte Lee zu bleiben und biss sich manchmal in die Innenseite ihrer Wange, um keinen Laut von sich zu geben.

Lee glaubte, dass Cord die Lage allmählich begriff. Er stürmte nicht mehr die Treppe hinauf und tat so, als könne er das Krabbenfischen mit seinem Vater genießen. Dabei wusste Lee ganz genau, wie verzweifelt er war, wenn Winston seinem Sohn einen Hühnerhals reichte, den er an den Angelhaken hängen sollte. Es war drückend heiß. Cord war empfindsam. Lee sah, wie er mit den Tränen kämpfte und nach der Krabbenstange griff. Winston würde seinem Sohn auf den Rücken klopfen, Cord machte sich darauf gefasst und schreckte nicht zurück. Wenn Winston auf das Wasser blickte, schien es, als sähe er etwas anderes, etwas Herzzerreißendes in der Ferne.

Lee und ihr Vater waren die Frühaufsteher der Familie, sie hielten sich an den Händen und spazierten über die Strandpromenade zum Strand, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Der Sand war noch kühl. Ihr Vater sagte ihr Freundlichkeiten. Er liebte ihr goldenes Haar, sie war sein Superstar. Aber er sagte auch Seltsames zu ihr. »Ich gebe mir wirklich Mühe« oder »Es ist wie ein Nebel. Ich möchte ihn verschwinden lassen, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«

Lee umarmte ihn fest. Viele Jahre später würde sie verstehen, wovon er sprach, aber an diesem Morgen waren seine Worte ein Rätsel für sie.

Zeit für das Foto. Auf ihre ängstliche Art lachte Charlotte schrill und strich das Haar zurück. »Liebling, wie sehe ich aus?«, fragte sie.

»Gut, ihr seht alle gut aus«, sagte Winston. »Meine Familie.«

Es war, als ob er es selbst nicht glauben konnte, als ob es ein Film wäre, den er mögen wollte, es aber einfach nicht schaffte. Cord legte den Kopf auf Charlottes Knie und blickte gelassen in die Kamera. Vielleicht wusste ja auch er, wie er sein Gehirn woanders hin bringen konnte.

»Cord, du siehst unglücklich aus«, sagte Winston.

Cord blinzelte, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht. Baby Regan lag stumm in den Armen seiner Mutter. Charlotte hob das Kinn.

»So ist es gut«, sagte Winston, während seine teure Nikon klickte.

Regan griff nach Lees Finger, nahm ihn in ihre winzige Hand, Lee schob den Arm an Charlottes Rücken vorbei und berührte ihren Bruder. Wenigstens hat sie Regan und Cord, dachte Lee, so wäre sie niemals allein. Sie wünschte sich so sehr, dass ihre Familie funktionierte, dass sie den Nebel ihres Vaters vertreiben konnte, dass sie ihn von seinen Wutausbrüchen abhalten konnte. Wie gern hätte sie ihrer Mutter gesagt, wie schön sie sei, damit sie sich nicht länger nach Komplimenten sehnte.

»Lee!«, sagte Winston. »Komm schon, schenk mir dieses besondere Lächeln!«

Lee setzte ein strahlendes Lächeln auf und hoffte, ihren Vater stolz zu machen. Dieser Tag und die folgenden zwei quälenden Tage – voller Sand und nach Bier stinkendem Elend – waren das letzte Mal, dass Lee mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern verreiste. Bis sie zweiunddreißig Jahre später zu Urlaubern und Jetsettern wurden.

Eins – GEPÄCK

1 / Charlotte

MANCHMALSTANDCHARLOTTEabends vor dem Familienporträt. Es hing in ihrer Eigentumswohnung in Savannah, Georgia, über dem Gaskamin, den sie nur selten anfeuerte. Auf dem Gemälde wirkte ihr Haar wie ein Meisterwerk aus Bernsteinfarbe und Gold, das in lockeren Wellen ihr Gesicht umrahmte. Ihre Züge zeigten ein unergründliches Mona-Lisa-Lächeln, wie man es nannte, das durch seine Zurückhaltung verlockend wirkte. In Wirklichkeit lächelte niemand so. Es war ein Ausdruck, auf den der Betrachter blicken sollte, kein Lächeln, das spontan war oder auf Freude beruhte. Und dennoch, so schloss Charlotte, sah sie auf dem Bild reizend aus, viel besser, als sie je im wirklichen Leben ausgesehen hatte. Und sicherlich viel besser, als sie jetzt mit einundsiebzig Jahren aussah. Ihr graues Haar ließ sie sich jeden dritten Dienstag von Hannah bei Shear Envy zu Marilyn Monroes Platinblond aufhellen.

Charlotte beschloss, auf der Beerdigung ihrer besten Freundin ein kleines Schwarzes zu tragen. Minnie hatte sich ein bisschen über Charlotte lustig gemacht, als sie im Ralph Lauren Outlet Store eine neonpinke Strickjacke gekauft hatte. Die warf sich Charlotte über die Schultern und griff nach einer weißen Coach-Tasche. Charlotte hätte ihre Tochter Regan anrufen und darum bitten können, sie zu fahren, doch dann hätte sie sich wieder die Geschichte vom Weight-Watchers-Geschenkgutschein anhören müssen. Also beschloss sie, selbst zu fahren.

Charlotte und Minnie hatten sich öfter über Särge unterhalten. Für Charlotte hatte ein offener Sarg etwas Beängstigendes, und sie fand es auch irgendwie geschmacklos. Minnie hingegen war ganz anderer Meinung. Sie fand, dass man sich von einem echten Gesicht besser verabschieden konnte. »Ich lebe in der Realität«, hatte Minnie gesagt. »Und du verdrängst alles. Oder zumindest versuchst du das. Aber das wird dich eines Tages einholen, Char.«

Vielleicht war heute dieser Tag.

Langsam ging Charlotte zum Altar, sie fühlte sich schwach, und ihr war schwindelig. Sie sah, dass Pfarrer Thomas sie beobachtete, und wusste es zu schätzen, dass er sich Sorgen machte. Sie blickte in den offenen Sarg, genau wie Minnie es gewollt hatte. Minnie trug zu viel Bronzer, aber sie hatte schon immer zu viel Bronzer getragen. Charlotte hatte sie gewarnt. »Minnie, sei vorsichtig mit dem Bronzer!« Aber Minnie wollte nicht hören und machte einfach immer, was sie wollte. Das war einer der Gründe, weshalb Charlotte sie vom ersten Moment an ins Herz geschlossen hatte. Sie hatten sich in der St.-James-Kirche beim Pancake-Frühstück kennengelernt, kurz nachdem Minnie nach Savannah gezogen war. Die Pancakes waren furchtbar mehlig und mit billigem Sirup getränkt gewesen, und Minnie hatte sich zu Charlotte umgedreht und einfach nur »Igitt« gesagt. Charlotte hatte verlegen nach unten geblickt, weil sie sich für kultiviert und für keine Frau hielt, die in einer Kirche schlecht über Pancakes sprach.

»Haben Sie gehört?«, hatte Minnie gefragt. »Ich habe ›Igitt‹ gesagt.«

»Das habe ich gehört«, hatte Charlotte gemurmelt.

»Ihre Hose ist toll«, hatte Minnie gesagt.

Charlotte hatte mit der Hand über die Hose im Leopardenmuster gestrichen (die zu ihren Schuhen mit Gepardenmuster passte). Sie war tatsächlich todschick. Beide waren sie einsam gewesen. Und so besuchten sie zusammen Vernissagen, Weinverkostungen und das Driftaway-Café. Sie besuchten den Marshwood Pool und den Franklin Creek Pool, wirbelten über Golfplätze, vorbei an Magnolienbäumen und Kamelien, die im Winter blühten. Sie spielten Golf und sahen den Menschen beim Tennisspielen zu. Minnie hatte einen Golfwagen Modell Blue Demon mit einem Achtundvierzig-Volt-Motor und Ledersitzen. Irgendwie – ja wie? – waren zwanzig Jahre vergangen, und Charlotte war nun offiziell alt und Minnie tot.

»Zu viel Bronzer, Schätzchen«, flüsterte Charlotte, und ihr Hals fühlte sich heiß an. Sie berührte Minnies Wange. »Hübsches Rouge. Warum nicht hübsches Rouge, Min?«, fragte sie leise. Einmal, nachdem sie sich eine Flasche Barefoot Chardonnay geteilt hatten, hatte Minnie Charlotte erlaubt, ihr ein Make-up zu verpassen. Dafür hatte Minnie in Charlottes Badezimmer ihr Gesicht zur Verfügung gestellt. Charlotte trug Grundierung, Mascara, Lippenkonturenstift und Lippenstift auf. Sie tuschte Minnies spärliche Wimpern und bestäubte sie mit Puder. Dann endlich durfte Minnie die Augen öffnen. Charlotte fuhr mit einer Bürste durch das Haar ihrer besten Freundin, während Minnie ihr verbessertes neues Gesicht betrachtete.

»Und?«, meinte Charlotte und verschränkte die Arme. »Bist du nicht wunderschön?«

»Ich sehe aus wie eine Nutte am Samstagabend«, erwiderte Minnie und drehte den Kopf zur Seite, um Charlottes fachmännisch ausgeführte Konturierung zu begutachten.

»Es ist Mittwoch«, kommentierte Charlotte gelassen.

Dann waren beide in Gelächter ausgebrochen. Wie gut es sich doch anfühlt, sich das Lachen zu gestatten, dachte Charlotte, und für einen Moment die Deckung fallen zu lassen. Am nächsten Tag, als sie sich bei Sonnenaufgang zu ihrem Spaziergang um die Lagune trafen, war Minnies Gesicht wieder so nackt wie das eines Säuglings. Einige Jahre später, nachdem ihre Tochter ihr Bronzer zum Geburtstag geschickt hatte, kreuzte Minnie dann jeden Morgen mit ihrer üblichen Kappe und in Jogginghose, aber mit karottenfarbenen Wangen auf. Bei Abendveranstaltungen erstrahlte Minnie dann vom Haaransatz bis zum Dekolleté orangefarben. Je mehr Charlotte sie beriet und Minnie sogar zart getönte Sonnencremes und flüssiges Rouge bei TK Maxx kaufte, desto aufsässiger trug Minnie Bronzer auf.

Charlotte musste an Minnies warme Wangen unter ihren Fingern denken, an Minnies kleinen Seufzer, als sie das Vergnügen einer Berührung genoss. Nun war Minnies Haut eiskalt.

»Madam?«, sagte die Frau, die hinter Charlotte in der Schlange stand. Sie drehte sich um, doch die Frau war eine Fremde.

Vor der St.-James-Kirche schüttete es. Ein junger Mann bot seinen Regenschirm an, doch Charlotte schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht leiden, von irgendjemandem abhängig zu sein.

Sie hatte Mühe, ihren Schlüssel ins Schloss ihres VW zu stecken. Es regnete unerbittlich. Wenn sie zu Hause in ihrer gemütlichen Eigentumswohnung saß, genoss sie die Gewitter in Savannah. Aber hier, auf einem Parkplatz, empfand sie Angst. Alles wirkte viel zu laut. Charlotte wollte nur noch nach Hause, sich ein Glas kühlen Barefoot Chardonnay einschenken und das Glas leeren. Warum konnte sie Minnie nicht anrufen, um über die Beerdigung zu tratschen? Wer hatte Minnie in ihre verhassteste Bluse mit Tulpenmuster und den unvorteilhaften, hoch taillierten Rock gesteckt?

Minnie hatte zwei Kinder, einen nichtsnutzigen Sohn und eine geschiedene Tochter. Beide lebten in New Jersey, dem Bundesstaat, aus dem Minnie nach dem Tod ihres Mannes geflohen war. Charlotte hatte per Mail eine Einladung zu einem Brunch erhalten, der in Minnies Stadthaus nach der Beerdigung unserer geliebten Mama stattfinden sollte, aber sie hatte sie gelöscht. Charlotte ertrug es nicht, zusehen zu müssen, wie Minnie in die Erde versenkt wurde. In ihrem Namen war sie bestürzt, dass ihre Kinder sich nicht die Mühe gemacht hatten, eine Einladung in Papierform zu verschicken. Minnie wäre das vermutlich gleichgültig gewesen. Aber Charlotte war es nicht gleichgültig. Es war einfach lieblos, eine elektronische Einladung zu einem Brunch nach dem Begräbnis zu verschicken. Minnie hätte etwas Besseres verdient – eine eierschalenweiße oder blassrosa Einladung, handgeschrieben, auf dickem Papier. Wussten Charlottes eigene Kinder, wie man Einladungen auf Papier verschickte? Wussten sie, dass sie nach ihrer Beerdigung ein Mittagessen in Marshwood haben wollte? Sie machte sich im Kopf eine Notiz, mit Regan darüber zu sprechen, die würde sich daran erinnern. Für einen Moment überkam Charlotte im Regen eine Welle der Dankbarkeit für ihre übergewichtige, aufmerksame Tochter. Sie beschloss, sich mehr Mühe mit ihr zu geben und freundlicher zu ihr zu sein.

Die Batterie in Charlottes Schlüssel war seit Monaten leer. Sie wusste, dass sie ihren Schlüssel an die richtige Stelle drückte, aber die Tür blieb verschlossen. »Mrs. Perkins!«, rief der junge Mann, von dem Charlotte sich kurz zuvor entfernt hatte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Was hätte Charlotte dafür gegeben, in ihr Auto zu steigen und abrauschen zu können!

»Ich kann Ihnen helfen!«, fuhr er fort und rannte unter seinem riesigen Golfschirm über den Parkplatz auf sie zu. »Mrs. Perkins«, sagte er, und seine Stimme klang eine Spur zu besorgt. Charlotte wusste, dass sie für ihn einfach nur eine ältere Dame war, die im Regen stand. Sie hätte ihm gern vermittelt, dass sie früher eine atemberaubende Schönheit gewesen war … und dass sie in ihrem Innern noch immer diese anmutige junge Schönheit war. Denn dass Fremde sie als einen Menschen wahrnahmen, der sie nicht sein wollte, war einfach eine der Demütigungen des Alters. Man konnte es akzeptieren, darauf schimpfen oder einfach so tun, als würde es nicht passieren. Charlotte bewegte sich zwischen Akzeptanz und vorsätzlichem Ignorieren, sie war sich zu gut (oder vielleicht war sie auch zu erschöpft), um sich mit Schönheitsoperationen und Videos über straffe Strandhintern zu beschäftigen, auf die ihre Freundin Greer schwor.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Mrs. Perkins!«, sagte der Mann. Er nahm ihr die Schlüssel aus der Hand, und sie ließ es zu. »Ich habe Ihnen meinen Regenschirm angeboten«, erinnerte er sie.

Als sie im Auto saß, zögerte der junge Mann noch einen Moment lang. »Ich weiß, dass Sie und Mrs. Robbins unzertrennlich waren«, sagte er dann. »Nach der Messe habe ich Sie immer zusammen kichern gesehen. Mein aufrichtiges Beileid.«

Charlotte spürte, wie ihre Abneigung gegen diesen Mann wuchs, gegen seinen Geruch nach Kölnisch Wasser, seine gründliche Rasur, seine Verwendung des Wortes kichern, als wären sie und Minnie nichts weiter als runzelige alte Tanten gewesen. Seine überflüssigen Beileidsbekundungen. Doch das Schlimmste war, dass er lebte und Minnie, munter, sarkastisch und voller Flausen im Kopf, gestorben war.

»Ich sagte, es tut mir wirklich leid«, wiederholte der Mann.

»Danke«, murmelte Charlotte. Am Ende schloss er die Tür und eilte zur Kirchentreppe zurück. Charlotte kniff die Augen zu. Regen prasselte nieder.

Auf der Rückfahrt zu ihrer Wohnanlage konzentrierte sie sich auf die Straße. Sie fuhr um den Tidewater Square herum, wo Minnie Charlotte einmal zum Anhalten des Golfwagens überredet hatte, damit sie endlos lange einen Scherenschnabelschnäpper beobachten konnte. Sie bog rechts in die Brandenberry ein, wo das Gras immer noch struppig war und sich noch nicht davon erholt hatte, dass Minnie vor Jahren den Bordstein verpasst hatte. Danach ging es noch einmal rechts ab in die Boar’s Nest Lane. Das Louisianamoos, das an den Eichen hing, tanzte betörend im Wind. Und doch war es schwer, eine quälende Frage in Schach zu halten.

Was nun?

Der Herzinfarkt, den Minnie am Abend erlitten hatte, machte Charlotte klar, dass sie die Nächste sein konnte. Minnie war aus heiterem Himmel gestorben, ohne vorherige Herzbeschwerden, von denen Charlotte gewusst hätte. Und Charlotte hätte davon gewusst, denn Minnie erzählte ihr oft von ihren kleinen Beschwerden, manchmal vielleicht sogar zu oft. Wer wusste schon, wie viel Zeit Charlotte noch blieb? Und wollte sie überhaupt noch hier sein, jetzt, da Minnie nicht mehr lebte? Und wenn sie ihre verbleibende Zeit nicht hier verbringen wollte, in einer bewachten Wohnanlage am Rand von Savannah, Georgia, wohin sollte sie sich wenden? Keins ihrer Kinder lud sie zu einem Besuch ein.

Ach. Charlottes Kinder.

Zu ihrem großen Bedauern waren Charlottes drei erwachsene Kinder ihr und vielleicht auch sich selbst abhandengekommen, was sie nicht ganz begreifen konnte. Zu lernen, wie man sich ohne Ehemann in der Welt zurechtfand, war ein schmerzhafter Prozess gewesen. Einen Job zu finden, ihre dunkle Mietwohnung mit Laura-Ashley-Tapeten zu verschönern, Fragen nach Winston abzuwehren … manchmal vermisste Charlotte jene Tage tatsächlich. Als sie alle zusammengepfercht in einem winzigen Haus im Kolonialstil saßen, in dem sie sich ein Badezimmer mit einer undichten Dusche teilen mussten. Damals war ihr das nicht bewusst gewesen, doch nun wusste Charlotte, wie wichtig Nähe war.

Die Reise von jenem Ort damals bis zu diesem Tag schien ihr fast unmöglich. Sie hatten jeden Abend zusammengesessen und alle das Lieblingsessen des anderen gekannt. Charlotte hatte keine Ahnung, was ihre Kinder jetzt zum Frühstück aßen und ob sie überhaupt frühstückten. Cord hatte immer eine Schwäche für Haferflocken mit Apfel-Zimt-Geschmack und Zucker obendrauf gehabt. Regan liebte Donuts so sehr, dass Charlotte sich den Wecker auf 5 : 45 Uhr stellte, damit sie Zeit hatte, zu Publix zu laufen und ihrer süßen kleinen Regan einen frisch glasierten Donut zu holen, bevor sie zur Arbeit bei Lowcountry Realtors ging. Regan, die in ihrem L. L. Bean-Flanellnachthemd schläfrig murmelte: »Oh, Mama, der ist ja noch ganz warm!« Allein dafür hatte sich das frühe Aufstehen gelohnt. Lee trank SlimFast-Milchshakes, die sie vor der Schule selbst zubereitete und die eklige Spuren von bräunlichem Pulver in den Tassen hinterließen. Charlotte selbst aß am liebsten einen englischen Muffin mit viel Butter und trank dazu drei bis vier Tassen schwarzen Kaffee.

Als Charlotte wieder zu Hause war, zog sie ihr Trauerkleid aus und schlüpfte in eine kuschelige weiße Hose, dazu zog sie ein neonpink und weiß gestreiftes Oberteil und rosafarbene Sandalen an. Vor etwa fünf Jahren war Pfarrer Thomas einmal abends vorbeigekommen, deshalb wollte Charlotte vorbereitet sein, für den Fall, dass er seinen Besuch wiederholte. Sie bereitete sich ein Abendessen zu, Triscuits, ein Stückchen Cheddar, dazu ein Glas Chardonnay, und schaute dabei auf ABC das Nachrichtenmagazin 20 / 20. Dabei ging es um Jugendliche, die halluzinogene Drogen nehmen, um sich zu entspannen. Das kam ihr ein bisschen übertrieben vor, nachdem Chardonnay oder auch Pinot Grigio doch so leicht erhältlich war, wenn man den lieber mochte. Sie aß eine Nachspeise, einen Mint-Milano-Keks und trank Chardonnay. Dann spülte sie das Geschirr ab und setzte sich ins Wohnzimmer, um zu sehen, welcher alte Film ihr gefallen könnte. Ihre Siamkatze kletterte ihr auf den Schoß.

Godiva schnurrte, und der Wein verlieh dem Abend eine butterweiche Üppigkeit. Nachdem ihre Kinder ausgezogen waren, hatte ihr jeder ruhige Abend wehgetan, doch Charlotte war stolz darauf, dass sie sich mit dem Alleinsein abgefunden hatte. Aber ganz ohne Minnie, die auf einen Drink vorbeischaute oder sich mit ihr zu einem Spaziergang um die Lagune bei Sonnenaufgang verabredete oder sie mitten in der Sendung 20 / 20 anrief, weil sie ihr unbedingt etwas erzählen musste, fand Charlotte sich wieder an einem traurigen Ort, an dem die Stunden sich langsam auf die Schlafenszeit zubewegten. Niemand interessierte sich dafür, wann sie zu Bett ging. Niemand außer Pfarrer Thomas, denn der erwartete, sie am folgenden Morgen zu sehen. Ihr Abendessen mit Triscuits war erbärmlich.

Charlotte zappte zum Turner-Classic-Film-Kanal, als das Gesicht eines gut aussehenden Mannes auf dem Bildschirm erschien. »Ich bin heute Abend hier«, sagte er, »um Ihnen von dem erstaunlichsten Wettbewerb in der Geschichte der Wettbewerbe zu berichten. Aber zuerst habe ich eine Frage. Hier ist sie. Wollen Sie Urlaubs-Jetsetter werden?«

Mit dem Weinglas auf halbem Weg zu den Lippen hielt Charlotte inne.

»Ist Ihre Geschichte eine Liebesgeschichte?«, fragte der Mann. »Oder eine Abenteuergeschichte? Jetzt haben Sie die Möglichkeit, Ihre Geschichte zu erzählen … und ein Urlaubs-Jetsetter zu werden.«

Charlotte hatte eine gute Geschichte, eine Geschichte, die einen Preis verdiente. Sie saß auf ihrem zitronengelben Sofa, nippte genüsslich an ihrem Glas und sah Bilder von europäischen Sehenswürdigkeiten vorbeiziehen, das Kolosseum, die Akropolis, einen sonnenüberfluteten, von blauen Sonnenschirmen gesäumten Strand.

Der Gewinner des Wettbewerbs Werde ein Urlaubs-Jetsetter erhielt ein Ticket erster Klasse nach Athen und eine neuntägige Kreuzfahrt nach Barcelona. Hmm, ein Ticket erster Klasse galt wohl kaum für einen Privatjet. Andererseits war Charlotte bisher immer nur Economy geflogen. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie nicht mehr im Ausland gewesen, und keins ihrer Kinder hatte das Land je verlassen. Charlotte war es zugegebenermaßen etwas peinlich – auch vor sich selbst – , dass für sie Museumsbesuche und Sightseeing nicht unbedingt attraktiv waren. Doch plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder durch eine europäische Stadt zu streifen und den Nervenkitzel eines glamourösen fremden Ortes zu spüren, an dem sie selbst fremd und glamourös war.

Charlotte schwelgte in Erinnerungen an den Sommer, als sie sechzehn war. Die Hitze, die Aufregung, auserwählt worden zu sein, leidenschaftlich geküsst zu werden. Warum also nicht am Wettbewerb teilnehmen? Sie hörte förmlich, was Minnie ihr aus dem Jenseits zuflüsterte. »Nur zu! Tipp die Geschichte deiner ersten Liebe ab!«

Charlotte redete sich ein, dass sie die Seiten ja niemandem zeigen müsse, zog sich Nachthemd und Morgenmantel an, füllte ihr Glas noch einmal nach und setzte sich an den Laptop. Neben dem Monitor lag ihr verblasstes Hochzeitsfoto. Winston war groß gewesen. Aber er hatte ihr nie das Gefühl gegeben, sie zu lieben. Ihr Liebesspiel war bestenfalls oberflächlich und zuweilen verzweifelt traurig gewesen. Hin und wieder, wenn Charlotte an einem Mann vorbeikam, der nach dem Whiskey der vergangenen Nacht roch, zuckte sie zusammen und erinnerte sich an ihre nächtlichen Begegnungen mit Winston.

Aus Verzweiflung zu heiraten war wohl Charlottes größter Fehler gewesen. Die Nachwirkungen ihres erotischen Sommers hatten sie einsam und hilflos zurückgelassen. Ihre Mutter hatte sie als abgelaufene Ware bezeichnet. Als Winston später wieder in ihr Leben trat und sie für ihn noch immer das strahlende Mädchen war, hatte sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Vielleicht wollte sie es wiedergutmachen. Vielleicht hatte ein Teil von ihr ihn einmal wirklich geliebt. Doch sie hatte sich keinen anderen Weg nach vorn vorstellen können, und das entsprach der Wahrheit. Wäre Winston jetzt aus dem Grab auferstanden und hätte ihr Anweisungen erteilt, sie hätte sie vermutlich befolgt.

Auf der Website des Wettbewerbs meldete sich Charlotte an. Meine Güte, war das schön! Bewegte Bilder, die sich drehten, doch Charlotte platzierte den Cursor ihrer Maus unter dem Befehl Gewinnen Sie First-Class-Flüge nach Europa und eine voll bezahlte Mittelmeerkreuzfahrt! Erzählen Sie Ihre Geschichte HIER.

Charlotte klickte und schrieb ihre Antwort.

Heute mag es kaum glaublich sein, aber früher war ich wie eine ungeschälte Banane, eine unreife Frucht.

Entsetzt starrte sie auf die Worte. Eine Banane! Woher kam bloß dieses Bild? Sie löschte den abscheulichen Satz und begann von vorn.

Mein erster Liebhaber war stark wie ein Stier. Er spießte mich mit seinem …

Ihr Gesicht glühte, ihr Mund war halb geöffnet, bebend löschte sie den Satz. Was um alles in der Welt? Was wäre, wenn ein nächtlicher Hundeausführer vorbeikäme? Charlotte zog den Morgenmantel enger um den Körper. Sie versuchte, wie eine Frau auszusehen, die Rechnungen online bezahlt oder auf weather.com nach herannahenden Gewittern Ausschau hält.

Sie atmete tief durch und tippte dann, ohne anzuhalten, ließ die Erinnerungen kommen und berichtete ohne Zensur oder Scham über jenen Sommer, als sie sechzehn war. Sie schrieb alles auf, jedes aufregende Detail.

Von Zeit zu Zeit füllte sie ihr Glas nach.

Als Charlotte innehielt, war die Flasche leer und ihr Mund trocken. Was würden ihre Kinder denken, wenn sie davon erführen? Was würden ihre Freunde in der Kirchengemeinde denken? Man würde sie aus dem Bibelkreis werfen, so viel war sicher. Diese Geschichte gehörte nicht zu jenen Geschichten, die Charlotte über sich selbst erfunden hatte und die sie von Paris nach Savannah geführt hatten, von der Asche der Witwenschaft in ein robustes, zielstrebiges Leben. Diese Geschichte entlarvte sie als die mutwillige Frau, für die sie sich insgeheim selbst hielt und vor der sie sich fürchtete. Schwach! Sie wollte nicht schwach erscheinen, das wäre schrecklich gewesen. Nur Minnie kannte die Geschichte, und sie hatte Charlottes Geheimnis (soweit Charlotte wusste) bis zu ihrem Todestag bewahrt.

Wie gelähmt verharrte Charlotte über ihrer Tastatur, noch immer beherrscht, noch immer bedacht … wenn schon nicht perfekt, so doch zumindest frei von Sünde. Ehrbar. Eine Frau, die ihre Mutter bewundern würde. Oh, Charlotte war es so leid, sich darum kümmern zu müssen, was Louisa denken würde! Und doch sehnte sie sich immer noch nach der Anerkennung ihrer Mutter, hörte immer noch ihre verächtliche, spröde Stimme, obwohl Louisa seit zwanzig Jahren bei Bonaventure begraben lag.

Charlotte sehnte sich danach, ihre Kinder um sich zu haben, sie wollte glauben, dass sie immer noch mit ihnen verbunden war und gebraucht wurde. Falls sie den Wettbewerb gewann, könnten sie alle nach Europa fliegen. Sie könnten neun ganze Tage lang auf einem Kreuzfahrtschiff zusammen sein. Es wäre wie in alten Zeiten, nur luxuriöser.

Und dann war da noch der Sex. Irgendetwas war mit Charlotte geschehen. Früher konnte sie erotische Gedanken ausschalten, jetzt verbrachte sie Stunden damit, in ihrer Fantasie Begegnungen heraufzubeschwören. Sie erinnerte sich an Männer, die sie im Klub oder in der Kirche sah, starke Schultern, Grübchen im Kinn, die Art und Weise, wie ein Kunde bei Publix am Mülleimer seine Finger über ihre Hand gleiten ließ. Wenn sie dann allein war, fügte sie diese Teile zusammen und stellte sich vor, in Landhäusern, Schränken und verstohlenen Umarmungen im Regen gefangen zu sein. Sie las die schmutzigen Teile ihres Liebesromans noch einmal durch und löschte pikante Szenen heraus, um diese für später aufzubewahren.

Gäbe es auf einem Schiff voller Kerle nicht vielleicht auch einen Mann für Charlotte?

Von dem Moment an, als sie zu spät an Minnies Bett geeilt war, hatte sich diese Frage in ihrem Kopf festgesetzt: Was nun?

Sie biss sich auf die Lippen und klickte auf die Taste, die da verkündete: Senden.

2 / Cord

CORDSTARRTEAUFdie Champagnerflasche im Kühlschrank. Wer würde schon erfahren, wenn er ein Glas trank, nur eins, um sich für seinen Heiratsantrag zu stärken? Seine Firma hatte den Entzug bezahlt, der am Ende gewirkt hatte, aber er hatte sich den Tag freigenommen. Ihm blieb mindestens noch eine Stunde Zeit, mehr als genug, um das eine oder andere Gläschen zu trinken, zu duschen und die Zähne zu putzen. Er spürte förmlich die wohltuende Ruhe, die ihm der Alkohol schenken würde.

Cord nahm die Flasche aus dem Kühlschrank, die irgendwer vor Monaten einmal vorbeigebracht hatte. Sie war schön kühl. Ach, hätte er doch zu den glücklichen Tagen zurückkehren können, als er noch nicht wusste, dass er Alkoholiker war … bevor er begriff, dass der Knall des Korkens und das Prickeln der Champagnerperlen Vorboten eines Schmerzes wären, den er kaum überleben würde.

Cords Herz pochte heftig.

Es ist zu schwer, sagte die einsame Stimme in seinem Innern. Trink einfach! Trink ihn doch einfach!

Er drehte den Draht um den Korken auf, riss die Folie ab und zog den Korken heraus. Dann hielt er seinen Daumen über die Flaschenöffnung, um keinen Tropfen zu vergeuden.

Er hatte Zeit. Er konnte die Flasche austrinken, trotzdem duschen und bereit sein. Er konnte sie in der Dusche austrinken, was seinem Eidechsenhirn kurzzeitig wie ein sauberer und einfacher Plan vorkam.

Cord fühlte sich fiebrig, aber vielleicht lag das an der engen Küche, die eher zur Zubereitung von Vorspeisen als zum Backen geeignet war. Eine ganze Mahlzeit hatte er hier noch nie zubereitet, ausgenommen ein einziges Mal, als er nach einem Saufgelage mitten in der Nacht aufwachte, die Sendung Top Chef anschaute und sich in der Morgendämmerung nackt in seiner Küche vor verschiedenen erstarrten Eierkreationen wiederfand. Da hatte er zum ersten Mal versucht, von seinen Schlaftabletten loszukommen.

Cord wollte, dass der Abend bestens verlief. Er hatte zehn Käsesorten ausgewählt, ein letztes Laster, das ihm geblieben war. Er hatte nicht nur eine Nudelmaschine und ein Nudelholz bei Amazon Prime Now bestellt, sondern es auch benutzt, genüsslich die Hände im Mehl versenkt und mit dem Nudelholz Fettuccine ausgerollt, die er im Wohnzimmer über Drahtbügel zum Trocknen aufhängte. Es gab eine Tüte Salat. Warme Baguettes von Levain. Und das pièce de résistance, eine mehlfreie Schokoladentorte, für die Cord drei Versuche gebraucht hatte, bis er sie richtig hinbekam. Drei! Er hatte tatsächlich zwei misslungene Torten gemacht, die eine fiel in sich zusammen, die andere verbrannte. Erst dann triumphierte er mit numéro trois.

Cord sah sich bereits als Verlobter auf dem Herman-Miller-Sofa (einer Kopie) kuscheln, wenn die Torte serviert würde, die derzeit noch elegant auf einem Teller zum Abkühlen ruhte. Nach Jahren mit geizigen und unattraktiven Liebhabern gäbe es nun eine Hochzeit in Savannah bei seiner Mutter. Vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst, das immer noch volle sandbraune Haar, die gebräunte Haut, die beachtliche Größe, den Hauch von sexy Bartstoppeln, ganz nach dem Motto Ich war am Strand und habe vergessen, mich zu rasieren. Und er sah seine blassblauen Augen, die er von Charlotte hatte. Tatsächlich sah er ihr sehr ähnlich, nur dass er jünger, größer und männlich war. Also Charlotte mit dem Haarschnitt eines Mannes. Und mit Bartstoppeln.

Cord blickte aus dem Küchenfenster seiner Wohnung an der West Eighty-Sixth und Riverside. Wahrscheinlich hatte er noch nie am Nachmittag hier gestanden. Das Licht, das auf die Bäume fiel, wirkte irgendwie blass und traurig.

Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle stark und ein richtiger Mann sein. Cord hätte seinen Vater am liebsten nach dieser einsamen Stimme gefragt. Hatte Winston sie auch gehört? Nicht zuletzt hatte Cords Vater am eigenen Beispiel gezeigt, was passieren konnte, wenn man sich von seinen Dämonen unterkriegen ließ.

Cord richtete sich auf und drückte die Schultern zurück. Er trat ans Waschbecken und schüttete den Champagner bis auf den letzten Tropfen in den Abfluss, atmete den Geruch ein, der ihn krank machte und verzweifelt nach seinem Untergang rief.

Tag 534.

Auf dem Weg zur Dusche blieb Cord in seinem Esszimmer stehen. Er hatte den Tisch sorgfältig gedeckt, mit silbernen Salz- und Pfefferstreuern, nagelneuem Geschirr von Williams-Sonoma, einer Tischdecke und gebügelten Servietten. Dazu eine elegante Rose.

Er duschte viel zu heiß und zu intensiv, aber wenn man eine vorsintflutliche Badeinrichtung haben wollte, musste man die Dinge eben nehmen, wie sie kamen. Während Cord sich einschäumte, kam ihm der von Azaleenbüschen gesäumte Hinterhof des Stadthauses seiner Mutter in den Sinn. Sie konnten für die Hochzeit eine Pergola aufbauen und einen Caterer aus Savannah beauftragen. Cord wollte einen Leinenanzug von Cucinelli tragen und einen Mini Crab Cake in der Hand halten. Doch sosehr er sich auch bemühte, irgendwie gelang es ihm nicht, Charlotte in die Szene einzufügen. Er sah sie nur immer wieder schluchzend in ihrem Golfcart oder an ihrem Schminktisch sitzen, während sie sich ein Glas billigen Chardonnay einschenkte und sich wie Blanche DuBois in Tennessee Williams Endstation Sehnsucht aufführte. Cord verdrängte die Bilder der Mutter aus seinen Gedanken. Das war sein Leben und vielleicht seine letzte Chance. Mit seiner Mutter würde er zu gegebener Zeit schon noch fertigwerden. Sie würde ihn trotzdem noch lieben, auch wenn sie wüsste, wer er war, nicht wahr?

»Es kommt darauf an, dass du dich selbst liebst. Hast du mich verstanden?«, hatte sein Partner bei den Anonymen Alkoholikern gesagt. Cord hatte genickt und innerlich über diese Plattitüde der AA gelächelt. Liebe dich selbst? Was bedeutete das überhaupt?

Cord rasierte sich und benutzte dabei die Seifenbürste aus Rosshaar, die ihm seine ältere Schwester Lee zum sechsunddreißigsten Geburtstag aus Los Angeles geschickt hatte. (Arme Lee! Sie versuchte, so zu tun, als wäre sie erfolgreich, obwohl alle wussten, dass sie trotz der Tamponwerbung und des Werbeflyers für Sommerschuhe von Walmart Schwierigkeiten hatte. Ihre Zehen waren allerdings schon immer wunderschön gewesen.)

Als er nur mit einem Handtuch um die Hüften vor seinem Schrank stand und den Inhalt begutachtete, drängte sich Cords schokoladenbrauner Labrador Franklin ins Schlafzimmer. »Na, du«, sagte Cord und kraulte den Hund hinter den Ohren. Doch als er gerade nach einem eisblauen Hemd greifen wollte (das perfekt zu seinen Augen passte), hörte er ein schreckliches, würgendes Geräusch. Alarmiert drehte er sich um und sah, wie sich der liebe Franklin auf Cords Sneaker von Louis Vuitton erbrach. »Was machst du denn da?«, fragte er panisch. »Was soll das, Franklin? Was machst du da?«

Cord rannte in die Küche, um ein Geschirrtuch zu holen, und sah sofort, dass sein Hund jede einzelne handgefertigte Nudel gefressen hatte. Und von der Torte mit der Aufschrift Heirate mich waren nur noch ein paar feuchte Krümel übrig. Dann läutete es an der Tür, und über die Gegensprechanlage hörte er Giovannis wohltönende Stimme. »Weißt du noch? Du hast mir einen Schlüssel gegeben!«, trällerte er. »Ich lasse mich jetzt selbst rein.«

Als er vor den Trümmern seiner Pläne stand und sie begutachtete, rieb sich Cord die Augen und atmete tief durch. Aus dem Schlafzimmer hörte er, dass sein geliebter Hund noch immer würgte.

Giovanni stürmte mit einer Flasche italienischer Limonade in der einen und einer brennenden Zigarette in der anderen Hand in die Wohnung. »Endlich Freitag!«, rief er, hielt dann aber inne. Fassungslosigkeit lag auf seinem hübschen jungen Gesicht. »Schatz?«, fragte er.

Cord wischte sich die Tränen aus den Augen. Giovanni kam näher, nahm Cord in die Arme und legte ihm den Kopf an die Brust. Franklin schlich in die Küche und brach zu ihren Füßen zusammen. »Was ist?«, fragte Giovanni. »Liebling, was ist denn?«

»Es ist nur …« murmelte Cord. Wie sollte er die Gefühle in Worte fassen, die in ihm hochkamen? Sein Wissen darüber, dass man ihn irgendwann im Stich lassen würde, gepaart mit dem heftigen Wunsch, um jeden Preis an der Liebe festzuhalten … sein Gefühl, dass etwas nicht stimmte und er es in Ordnung bringen musste, auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es sich überhaupt handelte. Seine Sehnsucht, sich zu betrinken, und wie sehr er seine Mutter vermisste, die Art und Weise, wie Giovannis Lächeln alles in einem anderen Licht erstrahlen ließ und seine Tage erhellte, als hätte sich endlich ein schwerer Vorhang gelüftet …

»Was?«, fragte Giovanni.

»Ach, es ist nur, dass ich dich liebe«, flüsterte Cord.

3 / Regan

REGANSCHOBDENEinkaufswagen langsamer und berührte einen Beutel mit Rattengift. Mit welchem Getränk konnte man den Geschmack von RatX-Pellets überdecken? Mit einem kräftigen Zimtlatte von Starbucks? Sie stellte sich den ersten Schluck und die krampfauslösende Wirkung des Strychnins vor … Aber nein: Sie hatte diese Szene x-mal durchgespielt. So verlockend es auch war, Rattengift würde sie nicht einsetzen. Sie setzte lieber auf das lange Spiel.

Nach ihrem Einkauf bei Walmart ging Regan zu Monet’s Playhouse in der Oglethorpe Mall, ihrem Lieblingsort. Als sie mit dem Bemalen von Keramik angefangen hatte, war sie angeblich nur gekommen, weil sie auf eine Freundin wartete oder ein Geschenk zum Geburtstag eines Kindes suchte. Sie hatte sogar ein paarmal ihre Töchter mitgenommen und deren Unmut und Zappelei ertragen. Aber das war jetzt Vergangenheit. Kendall, die Geschäftsführerin des Monet’s Playhouse, kannte Regan und hatte nichts dagegen, dass sie oft kam, vermutlich hielt sie sogar das Geschäft am Laufen.

»Oh, hallo, Mrs. Willingham!«, begrüßte Kendall Regan, als sie die Keramikfiguren betrachtete.

»Guten Morgen, Kendall«, sagte Regan.

»Alles ist in Ordnung?«, fragte Kendall.

Regan lächelte und nickte, korrigierte sie aber nicht. Sie hob ein Tablett mit weißen Dinosauriern hoch und überlegte, dass sie diese türkisfarben oder grün bemalen sollte.

»Ich habe auch ein paar Affen«, schlug Kendall vor. »Und da hinten noch ein Stück mit kuschelnden Katzen.«

Regan nickte. Sie wusste von den Affen: Sie hatte selbst drei davon in ihrem geheimen Töpferschrank zu Hause stehen. Sie hatte auch vier Dinosaurier, Salz- und Pfefferstreuer, Teller, Platten und Weinkelche aus Keramik. Alles, was sie bei Monet’s Playhouse kaufte, brauchte sie eigentlich nicht und benutzte es darum auch nicht. Doch in diesem fröhlichen Atelier zu sitzen beruhigte sie. Hier konnte Regan die Verzweiflung beiseiteschieben, die in ihr aufstieg, wenn sie ihr Leben mit einem Auto verglich, das gegen eine Wand gefahren war, ohne dass die Airbags aufgegangen waren, und nun völlig zerbeult dastand. Auch metaphorisch gesehen, war nicht einmal ein Krankenwagen zu ihrer Rettung unterwegs. Nein, ihr Leben war über die Leitplanken hinaus in die Luft gesegelt, dann in einem Meer aus Furcht und Langeweile gelandet und sank nun langsam in die Tiefe, während die Insassin (Regan) keine Zeit mehr hatte, nach Luft zu ringen oder den Sicherheitsgurt zu lösen (Symbol für ihre Ehe, falls es die je gegeben hatte), der sie an den Sitz fesselte und ihren sicheren Untergang besiegelte.

Regan lauschte Kendalls Playlist mit Boybands, während sie Farbe auf eine saubere Palette drückte. Dann wählte sie Pinsel verschiedener Größen aus.

Einmal hatte Regan geglaubt, dass sie Künstlerin werden würde. Manchmal, wenn sie ihren geheimen Töpferschrank öffnete, im Schneidersitz auf dem Boden saß und ihre Hochglanzkreationen bewunderte, fühlte sie sich fast wie eine Künstlerin. Klar, sie hatte ihre Schulausbildung über Bord geworfen, um an Matt festzuhalten und ein großzügiges, buntes Leben zu führen, das ganz im Gegensatz zu ihrer eher auf Sparsamkeit ausgerichteten Kindheit stand. Doch Regan ging alle paar Tage ins Einkaufszentrum, malte, als stünde sie unter einem glücklichen Zauber, und versuchte, etwas aus Seriengussformen zu machen, das es vorher noch nie gegeben hatte und das es ohne ihre Hingabe nicht geben würde. War das nicht der Sinn der Kunst und genaugenommen der Ursprung, das Leben selbst?

Als Regan die Dinosaurier fertig bemalt hatte, übergab sie Kendall ihre Arbeit zum Brennen und legte ihre Kreditkarte hin.

Nach Monet’s Playhouse schlenderte Regan durch das Einkaufszentrum und suchte nach Dingen, die sie erwerben konnte, damit sie sich weniger wie ein Goldfisch in einer Plastiktüte fühlte. In einem Schaufenster erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie war nicht mehr hübsch, sondern versteckte ihren einst schlanken Körper unter Kleidergröße zweiundvierzig. Wenn sie ging, scheuerten ihre Oberschenkel aneinander. Sie hatte Kinder geboren, gestillt und gab sich Mühe, stolz auf die Verwüstung zu sein, die die Geburten an ihrem Körper angerichtet hatten. Regan kochte gern und genoss das Essen. Ihre Mutter hatte ihr Leben mit Diäten verbracht, doch Regan wollte ihren Mädchen ein besseres Vorbild sein. Dennoch war es irgendwie ätzend, unsichtbar statt süß zu sein.

Regan blieb vor einem Reisebüro stehen und starrte auf ein Poster mit einer Chaiselongue und einem Sonnenschirm. Der Werbeslogan darauf lautete: Get away … irgendwohin!

Regan legte eine Hand an den Hals. Sie hatte das Gefühl, vor Sehnsucht zu ersticken. »Ich will weg«, sagte sie, blickte auf den rosafarbenen Sonnenstuhl und das fruchtige Getränk daneben. Rattengift, ihn mit einem Kissen ersticken, Bremsen am Toyota Tundra manipulieren. Keiner dieser Pläne hätte jedoch das bewirkt, was sie sich am meisten wünschte … nämlich frei zu sein.

Regan ging an dem Reisebüro vorbei, ohne einzutreten. In einer halben Stunde wurde sie als freiwillige Helferin beim Savannah Country Day in der Sporthalle erwartet. Das war eine teure Schule, aber jedes Mal, wenn Regan zum Campus fuhr und ihre Kinder in ihren schicken Uniformen sah, ergriff sie eine Welle der Genugtuung. Ihr Vater war Anwalt gewesen, doch nach seinem Tod war das Geld knapp geworden. Charlotte hatte die Familie als Immobilienmaklerin über Wasser gehalten.

Charlotte war eine mittelmäßige Maklerin gewesen. Ab und zu verkaufte sie ein großes Haus an einen Rentner, der aus irgendeiner teuren Gegend kam, oder für einen Freund aus der Kirchengemeinde. Diese Verkäufe unterstützten sie, als Regan die Highschool besuchte. Doch Regan konnte sich auch an magere Zeiten erinnern, wenn Charlotte mit ihrer Lesebrille auf der Nase über einem Stapel Rechnungen saß und in einen Taschenrechner tippte. Es gab Wochenenden, an denen Charlotte Regan samt Hausaufgaben zu öffentlichen Besichtigungsterminen mitnahm und ein Lächeln aufsetzte, wenn Interessenten hereinkamen. Damals rührten Regan die Mühen, die ihre Mutter auf sich nahm, zugleich war es aber auch schwer, Charlotte später an diesen Abenden zu sehen, wenn sie erschöpft und besorgt zum Abendessen einen armseligen Cheeseburger von McDonald’s verdrückte.

Irgendwie hatte Charlotte genug Geld für Cord und Lee aufgetrieben, damit beide die Savannah-Country-Schule beenden konnten, um dann die Stadt zu verlassen und aufs College zu gehen. Regan hingegen war in die alten Pullover ihrer Schwester gesteckt und auf eine öffentliche Schule geschickt worden. Ihr Kunstlehrer hatte sie für begabt gehalten, doch für Extrawürste wie Kunstunterricht an der Telfair oder der SCAD fehlte das Geld.

Regan seufzte tief auf. Sie hatte so hart für ihr großes neues Zuhause, ihren fabelhaften Ehemann und ihre beiden entzückenden Töchter gearbeitet. Ihren beiden Mädchen war sie die hingebungsvolle Mutter, die sie sich selbst immer gewünscht hatte, zugewandt, aufmerksam, enthusiastisch. Sie wusste aber auch, dass ihr Leben im Nu explodieren würde, sobald man nur ein brennendes Streichholz in die Nähe hielte. Und darüber war sie gleichzeitig entsetzt und auch bereit, es zu wagen.

Regan parkte ihren Minivan auf dem Besucherplatz vor der Savannah-Country-Schule. Sie griff nach ihrer Sporttasche, entnahm ihren Freiwilligenausweis, um die Schule zu betreten. In der Lehrertoilette schlüpfte sie in eine Trainingshose und ein rosafarbenes T-Shirt. Es war Volleyball-Schnupperwoche. In der Turnhalle herrschte eine feierliche Atmosphäre. Sie stand neben Trainer Randy. Wie er ging sie in Habachtstellung und täuschte für ihre Töchter Begeisterung vor. Regans Töchter Isabella, neun Jahre, und Flora, sieben, lächelten sie strahlend an. Regan wusste, dass der Tag kommen würde, an dem die Mädchen ihre Mutter nicht mehr in den heiligen Hallen ihrer Schule sehen wollten. Sie las Blogs mit Überschriften wie Als ich vergaß, jeden einzelnen Augenblick zu schätzen und Das war das letzte Mal, dass mein Sohn meine Umarmung wollte. Hätte ich das nur gewusst! Also tat Regan ihr Bestes, um diesen verdammten Moment in Ehren zu halten.