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Samt eines kühlen Lufthauchs trat eine Gestalt in einem roten Umhang ein. Sie streifte sich die Kapuze vom Kopf und zum Vorschein kam ein etwa sechzehnjähriges Mädchen. In gewisser Weise wirkte sie wie eine ältere und taffere Version von Rotkäppchen, nur dass sie außer eines Korbes mit Wein und Kuchen auch noch eine große, scharfe Sense bei sich trug.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Inhaltsverzeichnis
Was zuvor geschah
Treue Freundin
Schuldig
Hexenfeuer
Die verbotene Farbe
Auf geheimer Mission
Blick in den Spiegel
Mary, Mary, Mary
Schlussworte der Autorin
Danksagung
Maya Shepherd
Die Grimm Chroniken 9
„Die verbotene Farbe“
Copyright © 2019 Maya Shepherd
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor
E-Mail: [email protected]
Für Kathi
Du bist meine taffe Kick-Ass Powerfrau.
Bewahre dir deine Stärke und gehe mit erhobenem Kopf durchs Leben.
Du brauchst kein Krönchen,
denn du hast eine Sense.
1796–1798
Engelland besitzt weder eine Sonne noch einen Mond, dadurch kommt es in der Nacht vermehrt zu Verbrechen und die Pflanzen der Bauern wachsen nur schlecht. Als der Wal mit dem Turm der Erdenmutter seine Runden um die Insel dreht, beschließt Dorian, die Schöpferin ihrer Welt noch einmal aufzusuchen. Die schwangere Mary bleibt zurück, da die Reise für sie zu anstrengend wäre.
Am Morgen des achten Tages kehrt Dorian in einem Ruderboot nach Engelland zurück und wird bereits von Mary am Strand erwartet. Er hat zwei Babys bei sich, welche in dicke Decken gewickelt sind, sodass ihre Gesichter nicht zu erkennen sind. Als Mary einen Blick auf sie werfen möchte, hält Dorian sie davon ab, da er der Erdenmutter versprechen musste, dass Mary keines der Kinder zu sehen bekommen wird. Er schickt sie zurück ins Schloss, wo sie auf ihn warten soll, und bricht mit den Kindern in den Wald auf.
Als er zurückkehrt, hat er nur noch ein Kind bei sich und der Mond erstrahlt in dieser Nacht zum ersten Mal am Himmel. Das Kind bleibt sieben Tage bei ihnen, bevor es auf wundersame Weise verschwindet und in Engelland die Sonne aufgeht.
Dorian ist seit seiner Reise zur Erdenmutter sehr verschlossen und verhält sich Mary gegenüber abweisend. Sie ahnt, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, aber er weigert sich, darüber zu sprechen, und beginnt stattdessen, im Königreich nach freiwilligen Männern zu suchen, um eine Armee zu bilden, welche Engelland vor Feinden beschützen soll.
Mary möchte auch etwas tun, um ihr Zuhause zu verteidigen. Von Marie Hassenpflug erfährt sie, dass im Wald eine Hexe namens Baba Zima leben soll. Mary sucht diese auf und erfährt, dass Baba Zima die Mutter der Frau ist, welche in Engelland den Tod verkörpert. Sie bittet die Hexe, sie in Magie zu unterrichten, dafür verlangt Baba Zima jedoch, für keine ihrer Taten jemals bestraft zu werden. Mary willigt mit einem unguten Gefühl ein.
Eines Morgens werden im Garten der Königin ein Mann und eine schwangere Frau dabei erwischt, wie sie versuchen, Rapunzeln zu stehlen. Man führt sie vor Mary, dabei erkennt sie in der Frau die Erdenmutter wieder. Diese behauptet jedoch, nicht zu wissen, wen Mary in ihr zu sehen glaubt. Stattdessen stellen ihr Mann und sie sich als Rumolt und Freya Stein vor.
Die beiden entschuldigen sich für ihr Vergehen und rechtfertigen es damit, dass Freya durch die Schwangerschaft einen unstillbaren Appetit auf Rapunzeln hatte. Anstatt sie zu bestrafen, erteilt Mary ihnen die Erlaubnis, so viele Rapunzeln aus ihrem Garten zu nehmen, wie sie brauchen.
Baba Zima sagte ihnen zudem voraus, dass sie ein Kind bekommen würden, das in der Lage wäre, Stroh zu Gold zu spinnen. Sie ist eine erfahrene Frau und so steht sie Mary auch bei ihrer Schwangerschaft beratend zur Seite. Sie stellt fest, dass Mary Zwillinge erwartet, und prophezeit ihr, dass eines ihrer Kinder böse und das andere gut sein wird. Sie werden noch im Mutterleib einen Kampf ausfechten, den nur eines von beiden überleben kann. Das andere Kind wird tot zur Welt kommen.
Dorian scheint von der Nachricht noch mehr schockiert zu sein als Mary. Er bricht noch am selben Tag zu den Grenzen des Königreichs auf, während Mary nach einer Möglichkeit sucht, beide Kinder lebend zur Welt bringen zu können. Sie besucht den See des versunkenen Mondes, der einen Blick in die Zukunft gewähren soll. Über das Wasser schwimmen weiße Schwäne, welche die Seelen der ungeborenen Zwillinge in sich tragen. Unter ihnen befindet sich nur ein schwarzer Schwan, der das böse Kind in Mary symbolisiert. Eines der weißen Tiere erhebt sich gegen ihn und die beiden beginnen, zu kämpfen, so wie es auch die Kinder in Marys Bauch tun werden.
Der schwarze Schwan siegt über den weißen, indem er diesen tötet. Mary fürchtet nun, dass sie ein böses Kind zur Welt bringen könnte. Doch Baba Zima erinnert sie daran, dass nicht alles Schwarze böse ist, ebenso wenig wie ein heller Schein über eine verdorbene Seele hinwegtäuschen kann.
Die Monate vergehen und Dorian kehrt gerade rechtzeitig nach Hause zurück, bevor bei Mary die Wehen einsetzen. Es ist eine sehr anstrengende Geburt, die sie beinahe das Leben kostet. Nachdem sie das erste Kind zur Welt gebracht hat, wird sie bewusstlos. Als sie wieder zu sich kommt, überreicht Marie ihr ihre Tochter, die Margery getauft wird, und gesteht ihr, dass das zweite Kind tot ist. Dorian ist mit ihm zum See des versunkenen Mondes aufgebrochen, um es dort zu beerdigen.
Mary macht ihm daraus einen Vorwurf, dass sie sich gern von dem Kind verabschiedet und es wenigstens einmal im Arm gehalten hätte. Als sie wenige Tage nach der Geburt versucht, mit ihm darüber zu sprechen, lässt er sie erneut allein und geht zurück zu den Grenzen des Reiches, um diese vor Feinden zu verteidigen.
Seitdem Marys Tochter auf der Welt ist, hört es nicht mehr auf, zu schneien. Wie durch ein Wunder erblühen jedoch im Schlossgarten rosafarbene Rosen. Mary deutet es als Zeichen zu Ehren ihres Kindes, welches verstorben ist. Sie stellte es sich immer als Mädchen vor und gibt ihm den Namen Rosalie.
Das überraschende Erblühen der Rosen bringt Mary auf eine Idee, wie sie ihr Reich mithilfe von Magie zu schützen vermag. Gemeinsam mit Baba Zima sucht sie eine der Grenzen des Reiches auf und lässt durch Blutmagie eine magische Dornenhecke wachsen, welche die ganze Insel umschließt. Die Hecke nährt sich von dem Blut ihrer Feinde. Immer wenn sie ein Leben nimmt, erblühen rote Rosen.
Margery ist ein schwieriges Kind, das nie zufrieden zu sein scheint. Als sie ihre ersten Zähne bekommt, beißt sie Mary und trinkt von ihrem Blut, als diese sie stillen möchte. Mary erkennt, dass ihre Tochter ein geborener Vampir ist. Es schockiert sie jedoch nicht, da ihr bewusst war, dass dies passieren könnte. Sie lässt Margery von sich trinken, woraufhin diese deutlich ruhiger und ausgeglichener wird.
Mary setzt der Blutverlust jedoch zu und sie wird davon schwach. Als Marie Hassenpflug erfährt, was Margery ist, wendet sie sich aus Angst von Mary ab. Baba Zima warnt Mary davor, dass sie ihre Tochter nicht immer nur mit ihrem Blut ernähren können wird. Irgendwann wird sie ihr auch Blut von anderen Menschen geben müssen.
Aufgrund des nicht enden wollenden Schneefalls breiten sich eine Hungersnot und Krankenheit aus. Die Bewohner Engellands geben dem Kind der Königin die Schuld und verbreiten Gerüchte über es. Angelockt davon, kommt ein Vampirjäger nach Engelland, um das Unglückskind zu töten. Er sucht Mary in ihrem Schloss auf, die ihn nur empfängt, um ihn von ihren Wölfen zerfleischen zu lassen. Der Fremde stellt sich als Jacob Grimm heraus. Er kam, um ein Vampirkind zu töten, doch nun, wo er weiß, dass Mary die Mutter ist, bittet er sie, bleiben zu dürfen, um sie und ihre Tochter vor Feinden zu beschützen.
1812
Ember führt Margery in den Wald, zu einem Lebkuchenhaus. Dort wohnt die Hexe Baba Zima, welche mit den Süßigkeiten versucht, Kinder zu sich zu locken. Die Jungen verspeist sie und die Mädchen bringt sie der Königin für ihr Blutbad. Nur eines hat sie bisher verschont – Gretel. Nachdem ihr Bruder der Hexe zum Opfer gefallen ist, hält diese sich das Mädchen als Magd. Um nicht so allein zu sein, hat Gretel einen Frosch, mit dem sie heimlich spricht.
An diesem Tag ist Baba Zima auf dem Weg zur Königin. Ihre Abwesenheit will Ember nutzen, um in deren magischem Ofen einen Zauber durchzuführen. Sie gibt verschiedene Zutaten ins Feuer, bis sie eine Masse ergeben. Diese formt Ember in den Flammen mit bloßen Händen zu Schuhen aus Glas. Wer immer die Schuhe trägt, wird unsichtbar. Ember will sie Margery für ihren sechzehnten Geburtstag leihen, um sie vor der Königin verstecken zu können, sodass diese sie nicht töten kann.
Die Hexe kehrt unerwartet früher zurück, sodass Ember und Margery gezwungen sind, vor ihr zu fliehen. Dabei verliert Ember einen gläsernen Schuh und läuft zurück, um ihn zu holen. Baba Zima fesselt sie durch einen Zauber an den Boden. Ember nutzt ihre eigene Feuermagie, um sich zu wehren. Sie kann Flammen heraufbeschwören und sich komplett von ihnen einhüllen lassen. Dadurch gelingt es ihr, zusammen mit Margery zu entkommen.
Ember ist ein Phönix, so wie auch ihre Mutter Maria Harms. Bevor sie nach Engelland kam, lebte sie im Jahr 1600 in Paris. Dort erfror sie eines Nachts. Anstatt zu sterben, ging sie jedoch in Flammen auf und erwachte in einem neuen Leben.
Einige Tage später belauscht Margery im Westflügel ein Gespräch zwischen Wilhelm und Jacob. Dabei erfährt sie, dass die Königin ein Medaillon besitzt, durch das sie Macht über Wilhelm ausüben kann. Jacob will versuchen, dieses zu finden, um seinen Bruder zu befreien. Sie sprechen außerdem beide in Rätseln und scheinen alles, was geschieht, für einen Traum zu halten.
Nachdem Jacob durch einen Geheimgang den Raum verlässt, stellt Margery Wilhelm zur Rede. Dieser verhält sich zurückhaltend und will mit der Wahrheit nicht herausrücken. Er ist jedoch der Überzeugung, dass dies nicht die Wirklichkeit, sondern nur eine Erinnerung sei, die nicht verändert werden könne.
Margery will ihn vom Gegenteil überzeugen und ihm beweisen, dass sie immer eine Wahl haben. Sie küsst ihn. Obwohl es ihr erster Kuss ist, kommt ihr die Situation vertraut vor.
Als sie den Raum verlassen, treffen sie Rumpelstilzchen vor der Tür an, der sie beobachtet zu haben scheint. Er erinnert sie daran, dass die Königin ihren Tod will und sie Wilhelm sogar dazu bringen könnte, Margery zu töten.
2012
Joe findet Maggy bewusstlos in ihrem Zimmer auf. Er hat in den ›Grimm-Chroniken‹ gelesen, dass sie in den goldenen Apfel gebissen hat, um zu Will nach Engelland zu gelangen. Im Gegensatz zu ihr weiß er, dass sie Gretel ist. Er kann ihr jedoch in die Welt aus Traum und Erinnerung nicht folgen, da er dort selbst als Hänsel starb und somit kein Teil der Geschichte mehr ist.
Stattdessen sucht er nach einem Weg, um ihr in der Realität zu helfen, und beschließt, Ember Harms, den Phönix, zu finden. Bei seiner Recherche im Internet stößt er auf ihren Namen im Zusammenhang mit einer Kunsthandwerksausstellung in Königswinter. Deshalb beschließt er kurzerhand, dorthin zurückzukehren. Kurz vor seinem Aufbruch ruft er den Notarzt, um sichergehen zu können, dass man sich um Maggy kümmern wird.
Engelland, Schloss Drachenburg, April 1801
Der Mond stand hoch am Himmelszelt, eingerahmt von unzähligen Sternen. Sein silbriger Schein spiegelte sich in der ruhigen Wasseroberfläche, sodass man hätte meinen können, er läge auf dem Grund des Sees begraben. In der Ferne heulte ein Wolf voller Sehnsucht und Schmerz. Er vermisste, was er nie besitzen würde. Ich fühlte mit ihm, denn auch ich trauerte um das Leben, welches nie ein Teil dieser Welt gewesen war.
Nacht für Nacht zog es mich an den See des versunkenen Mondes. Dorthin, wo mein Kind begraben lag.
Rosalie.
Hier fühlte ich mich ihr näher als irgendwo sonst auf der Insel. Die roten Rosen meines Gartens waren längst verdorrt und unter einer dicken Eisschicht erfroren. Sie erblühten nur noch an der Dornenhecke, immer dann, wenn ein Feind ihren Dornen zum Opfer fiel und sein Blut die Hecke tränkte. Die Rosen trugen eine grausame Schönheit in sich, die Gefahr verkündeten.
Wenn ich an mein Mädchen dachte, das ich verloren hatte, wollte ich nichts von dem Krieg und seinen Schrecken wissen. Die Erinnerung an sie sollte von nichts getrübt werden. Ich hätte sie lieben können, alle beide. Den weißen und den schwarzen Schwan, ganz gleich, ob gut oder böse. Eine Mutter vermag nicht zu unterscheiden, sie liebt bedingungslos.
Meine Liebe für Schneeweißchen schmälerte nicht meine Trauer um den Verlust ihrer Schwester Rosenrot. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte.
Plötzlich nahm ich auf der anderen Seite des Sees eine Bewegung wahr und ein einzelner weißer Schwan glitt über die Oberfläche. Er strahlte etwas Majestätisches aus, wie er mit seinem strahlenden Gefieder der Dunkelheit des Wassers und des Waldes trotzte. Nichts vermochte seine Reinheit zu trüben. Er zog seine Kreise und tanzte über die Wellen zu einer Melodie, die man nur mit dem Herzen zu hören vermochte.
Ich hätte ihm ewig zuschauen können, erfüllt von Wehmut. Doch meine Anwesenheit blieb nicht unbemerkt. Das edle Tier spürte meinen Blick auf sich und wandte mir den Kopf zu. Seine dunklen Augen musterten mich, ehe es begann, in meine Richtung zu schwimmen. Je näher es kam, umso schneller schlug mein Herz. Meine Finger kribbelten vor Sehnsucht. Ich wollte sein weiches Gefieder berühren und ihm einen Kuss auf das Haupt hauchen.
Du schöner Schwan, der du so einsam deine Kreise ziehst.
Als er nicht mehr fern vom Ufer war, hielt er inne und beäugte mich erneut. Wir sahen einander an und ich legte mein Herz vor dem Tier offen. Auf einmal erhob es sich, breitete die großen Flügel aus und schlug heftig mit ihnen das zuvor so ruhige Wasser auf. Ein zarter Windstoß traf mich und trug den Gestank von Fäulnis zu mir. Von Tod.
Der Schwan, der zuvor so sanft über den See geglitten war, schrie bei meinem Anblick. Ein hoher, qualvoller Laut, der mich bis ins Mark erschütterte. Dann stürzte er sich auf mich. Mit seinen Flügeln schlug er nach mir, sodass die Federn flogen. Die Krallen an seinen schwarzen Füßen zerkratzten mir die Haut. Sein spitzer Schnabel zielte auf meine Augen. Das Tier hasste mich abgrundtief. Ich brachte in ihm das Böse hervor.
Mir meiner Schuld bewusst, versuchte ich, mich nicht gegen seinen bodenlosen Zorn zu wehren, sondern hielt nur die Arme über dem Kopf verschränkt. Sollte es wüten und schreien, bis der Schmerz verging.
»Warum hast du mich sterben lassen, Mutter?«, rief das Tier voller Verachtung. Es hatte die Stimme eines Mädchens. »War mein Leben weniger wert als das deiner anderen Tochter?«
Ich wollte dem weißen Schwan erklären, dass ich keine Entscheidung getroffen hatte. Weder für ihn noch gegen ihn. Ich hatte den Lauf des Schicksals nicht aufhalten können und war machtlos gewesen. Wenn es irgendetwas gegeben hätte, das ich hätte tun können, hätte ich nichts unversucht gelassen. Mein eigenes Leben hätte ich gegeben. Das eines jeden.
Doch kein Ton verließ meine Lippen. Sie waren wie zugenäht und alles, was ich sagen wollte, blieb in meinem Herzen verschlossen.
»Ich hasse dich! Du hast mich getötet.«
Nein. Nein. Nein!
Ich schluchzte voller Verzweiflung, ließ meine Deckung sinken und breitete meine Arme aus, um dieses zornige, verlorene Kind in meine Arme zu schließen und seinen Hass mit meiner Liebe zu ersticken. Aber meine grenzenlose Zuneigung erreichte es nicht, stattdessen erlosch meine Sehkraft. Allumfassende Finsternis hüllte mich ein.
Mit tränenfeuchtem Gesicht schreckte ich schreiend aus dem Traum empor. Ich hatte ihn schon in so vielen Nächten geträumt und trotzdem suchte er mich immer wieder heim. Er begleitete mich dann den ganzen Tag und ließ mich nicht mehr los. Am Abend fürchtete ich mich vor der Nacht und wäre am liebsten gar nicht zu Bett gegangen, nur um diese Schrecken nicht noch einmal erleben zu müssen.
Es waren meine Trauer und meine Schuldgefühle, weil ich nicht in der Lage gewesen war, meinen beiden Kindern das Leben zu schenken.
Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn und mein Blick wanderte zum Fenster. Es bot einen grauen und diesigen Anblick. Schneeflocken rieselten zu Boden. Schon wieder. Es war das fünfte Jahr seit Margerys Geburt und es hatte seitdem nicht mehr aufgehört, zu schneien. Engelland war unter einer dicken Schneeschicht begraben und mein Volk litt unter einer bitterlichen Hungersnot, gegen die ich nichts auszurichten vermochte. Die Blutäpfel, die mein Geschenk hatten sein sollen, waren nun golden und ein Biss von ihnen brachte den Schlafenden Tod.
An der Dornenhecke starben jeden Tag Männer, die tapfer hinausgezogen waren, um die Insel, ihre Familien und ihre Königin vor dem Feind zu schützen. Sie kämpften Seite an Seite mit Dorian, den ich nur noch so selten sah, dass es mir immer schwerer fiel, mich daran zu erinnern, warum ich mich einmal so haltlos in ihn verliebt hatte.
In dieser dunklen Zeit war Margery meine Sonne. Wärme durchströmte mich beim bloßen Gedanken an sie. Da war dieses Gefühl, das mich immer erfasste, wenn ich meine Tochter ansah und der Rest der Welt hinter ihr verblasste. In diesen Augenblicken sah ich nur ihr wunderschönes Gesicht und alles andere wurde zur Kulisse.
Es bekümmerte mich, dass ich ihr nicht die Mutter sein konnte, die ein vierjähriges Mädchen voller Bewegungsdrang gebraucht hätte. Oft fühlte ich mich schwach und kraftlos. Meine Hände zitterten bei der kleinsten Anstrengung und meine Beine schmerzten unerträglich, wenn ich mich nicht alle paar Minuten ausruhte. Es war fast, als könnte ich spüren, wie das Leben aus mir wich.
Noch konnte ich aufrecht stehen und mich frei im Schloss bewegen. Aber irgendwann würde eine Zeit kommen, in der ich es nicht einmal schaffen würde, den kleinen Finger zu heben, und an mein Bett gefesselt wäre. Der Tod machte mir keine Angst, aber ich wollte mein geliebtes Mädchen nicht in solch einer gefährlichen Welt zurücklassen. Der Frieden sollte einkehren, bevor ich starb. Ich wollte sie in Sicherheit wissen.
Etwa einmal im Monat kamen Boten von der Dornenhecke und brachten mir eine Liste mit Namen der Männer, die dem Krieg zum Opfer gefallen waren. In Spiegeltal gab es mitten auf dem Marktplatz ein Denkmal für alle gefallenen Helden. Es zeigte einen tapferen Kämpfer, umringt von Dornen und Rosen. Der Sockel der Statue trug die Namen der Verstorbenen. Jedes Mal, wenn neue Namen dazukamen, wurden sie von einem Steinmetz eingehauen, sodass die Hinterbliebenen ebenfalls Gewissheit erlangten. Viele Tränen wurden zu dieser Zeit vergossen.
Jedes Mal, wenn ich eine neue Liste erhielt, ging ich die Namen durch und versuchte, mich an die Menschen zu erinnern, die zu ihnen gehört hatten. In den Anfängen Engellands hatte ich noch jeden Bewohner beim Namen gekannt, aber irgendwann hatte ich den Überblick verloren, sodass mir nun viele Namen völlig fremd waren.
Als ich dieses Mal jedoch die Aufzählung las, stockte ich bei einem Namen und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Georg Hassenpflug
Maries Mann war gestorben. Er hinterließ nicht nur eine Frau, sondern auch zwei hilflose kleine Kinder.
Die Familien der Verstorbenen wurden mit einem Sack voll Gold entschädigt. Aber was nützten ihnen Münzen, wenn es durch den eisigen Winter und die damit verbundene Hungersnot nichts zu essen gab, was sie hätten kaufen können?
Obwohl Marie und ich kaum noch Kontakt hatten, seitdem sie erfahren hatte, was Margery war, fühlte ich mich verpflichtet, ihr die traurige Nachricht selbst zu überbringen. Ich war es ihr schuldig, um der Freundschaft willen, die uns einst miteinander verbunden hatte. Insgeheim hoffte ich vielleicht sogar, dass es uns einander wieder näher bringen würde, denn sie hatte mir in den Jahren gefehlt.
Ich ließ ein Pferd aufzäumen, schlüpfte in meine festen Stiefel und hüllte mich in den dicksten Umhang, den ich besaß. Die Belegschaft des Schlosses reagierte bestürzt, als sie erfuhr, dass ich allein in den Wald reiten wollte. Für gewöhnlich verließ ich nur noch selten die Drachenburg.
Gerade als ich den Ausgang passieren wollte, stellte sich Jacob mir in den Weg. Er trug seine Reitmontur – bereit zum Aufbruch.
»Mary, der Schneefall hat gerade wieder eingesetzt. Du solltest das Schloss in deinem Zustand besser nicht verlassen. Sag mir, was du erledigen willst, und ich werde es für dich übernehmen.«
Jacob war mir seit seiner Ankunft in Engelland ein treuer Freund. Er wollte stets nur das Beste für mich, trotzdem ärgerte es mich, dass er mich wie eine zerbrechliche Porzellanfigur behandelte. Ich hatte noch mehr als zehn Jahre vor mir und solange ich mich noch bewegen konnte, wollte ich mich nicht an das Schloss fesseln lassen, Schnee hin oder her.
»Das, was ich tun muss, ist nichts, was du mir abnehmen könntest«, entgegnete ich ihm abweisend und versuchte, mich an ihm vorbei zu drängen. Ich war fest entschlossen, Marie noch an diesem Tag aufzusuchen. Sie sollte erfahren, was geschehen war.
Er ließ mich jedoch nicht passieren, sondern stemmte seinen Arm vor mir in die Türöffnung. »Tut mir leid, aber ich kann dich nicht gehen lassen. Ich habe nicht nur versprochen, Margery zu beschützen, sondern auch dich.«
»Ich bitte dich nicht um deine Erlaubnis, Jacob«, fuhr ich ihn zornig an. Er übertrieb es mit seiner Fürsorge. »Ich bin die Königin und befehle dir, mich gehen zu lassen.«
Nun lachte er mich aus. »Mary, du magst die Königin sein, aber vor allem bist du meine Freundin. Wenn ich dich nicht dazu bringen kann, im Schloss zu bleiben, erlaube mir wenigstens, dich zu begleiten.«
Es gefiel mir nicht, ihn mitnehmen zu müssen. Sobald ich in Begleitung käme, würde es weniger wie der Besuch einer ehemaligen Freundin wirken, sondern mehr wie der einer Königin. Ich hatte diesen Moment allein mit meiner Freundin teilen wollen.
Bockig schlüpfte ich unter seinem Arm hindurch ins Freie. Sogleich umfing mich ein eisiger Wind, der mir Schneeflocken ins Gesicht trieb. Wie Eiskristalle stachen sie in meine Haut.
»Wenn ich dir verbieten würde, mir zu folgen, würdest du es dennoch tun«, meinte ich zu Jacob. »Also komm!«
Gemeinsam kämpften wir uns durch den Schnee bis zu den Ställen. Bereits diese kurze Strecke hatte mir große Mühe bereitet. Mein Atem ging stoßweise und mein Herz raste. Ich wollte meine Schwäche weder mir noch Jacob eingestehen und so hielt ich mich an den Zügeln des Pferdes fest, welches für mich gesattelt worden war. Ein Stallbursche half mir beim Aufsitzen und sobald ich erst einmal im Sattel saß, fühlte ich mich schon besser.
»Wohin führt uns dein dringendes Anliegen?«, wandte sich Jacob an mich, als wir aus dem Schlosstor ritten.
»Ich muss zu Marie Hassenpflug. Ihr Mann Georg ist an der Dornenhecke gefallen und ich möchte ihr diese traurige Nachricht selbst überbringen. Sie hat zwei kleine Kinder. Wir waren Freundinnen, bis Margery geboren wurde.«
»Warum hat sich daran etwas geändert?