Die Vergeltung - Marco Rievel - E-Book

Die Vergeltung E-Book

Marco Rievel

4,5

Beschreibung

Die junge Kommissarin Simone Vollmer ermittelt ihren ersten Fall im Ruhrgebiet. Dabei lassen die neue Umgebung sowie eine Männerfreundschaft, gegen die sie sich behaupten muss, und mehrere Morde sie nicht zur Ruhe kommen. Was zunächst nach dem Rachefeldzug eines entlassenen Kinderschänders aussieht, erweckt nach dem Mord an dessen ehemaligem Verteidiger ihr Misstrauen. Auf sich allein gestellt ermittelt Simone hinter dem Rücken ihrer Kollegen, doch bald ist sie auf Hilfe angewiesen. Aber wem im Präsidium kann sie vertrauen? Während sie noch darüber nachdenkt, ist der Täter bereits auf sie aufmerksam geworden und bereit, alles zu unternehmen, um ihre Ermittlungen endgültig zu beenden. Simone ahnt nicht, in welcher Gefahr sie sich befindet.

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Die Vergeltung

Marco Rievel

Die Vergeltung

Marco Rievel

© 2014 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Buch: 9783864433870

ISBN e-Book-PDF: 9783864433887

ISBN e-Book-epub: 9783864433894

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Epilog

Der Autor

Nur fünf Tage - Ella Dälken

Das Luther Plagiat - Stephan Naumann

Prolog

Sommer 1993

»Da steht ein Mann im Wald!«

Die schrille Stimme ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Entsetzt öffnete er die Augen. Ein kleines blondes Mädchen deutete mit ihrem Zeigefinger in seine Richtung. Sie versicherte sich der Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen und kam auf die Umzäunung zugerannt, die das Areal vom Waldstück trennte. Ihre Spielgefährten schlossen sich sogleich an.

Frank Trember drückte sich tiefer ins Unterholz, obwohl es bereits zu spät war. Auch die anderen hatten ihn entdeckt. Das Geschrei auf dem Spielplatz der Kita schwoll an.

Hastig schob er sein erschlafftes Glied in die Hose und zog den Reißverschluss hoch. Die Entdeckung beendete seine Gier abrupt. Er wandte sich ab, um aus dem Sichtfeld des Kindergartens zu verschwinden.

»Kommt sofort vom Zaun weg!«, hörte er die herrische Stimme derBetreuerin in seinem Rücken. Er hastete hinter einen Baum und lehnte sich gegen den Stamm. Erst als sich die Aufregung unter den Kindern beruhigte, wagte er sich wieder hervor. Aus seinem Versteck heraus beobachtete er das Geschehen.

Die große schwarzhaarige Kindergärtnerin drängte ihre Schützlinge zum Eingang des Gebäudes. Sie drehte sich noch einmal um und ließ ihren Blick über den Wald schweifen. Frank zuckte zurück. Er hielt den Atem an, als könnte sie ihn hören. Die junge Frau faszinierte und beängstigte ihn zugleich. Ihr knabenhafter Körper erregte ihn, ebenso wie die Leiber der Mädchen, die sie betreute.

Doch sie anzusprechen, würde er nie wagen. Ihr selbstbewusstes Auftreten und die Schärfe in ihrer Stimme verunsicherten ihn. Vor einigen Monaten war er ihr auf dem Gehsteig vor der Kindertagesstätte begegnet.

Verächtlich hatte sie seine Kleidung gemustert und ihm dann ins Gesicht geschaut. Herausfordernd, ohne eine Spur von Unsicherheit. Zu spät hatte er den Kopf gesenkt. Diesen flüchtigen Moment konnte er nicht vergessen. Das Gefühl, sie habe in sein Innerstes gesehen, wo er all seine Gelüste und Begierden sorgsam vor dem Rest der Welt verschlossen hielt, verfolgte ihn noch Wochen nach der Begegnung.

Sie hatte sich in seine Träume geschlichen und ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Nie wieder wollte er in diese Augen schauen müssen.

Frank hastete zwischen den Sträuchern entlang, bis er den Waldweg erreichte. Dort verlangsamte er seine Schritte, um etwaigen Spaziergängern nicht aufzufallen. Seine Vorsicht war unbegründet. Der geschwungene Kiesweg lag verlassen vor ihm. Nur allmählich beruhigte sich sein Atem. Er war der Entdeckung durch die Kindergärtnerin nur knapp entkommen.

Erst jetzt spürte er den ziehenden Schmerz auf seiner Wange. Er tastete mit der Hand danach. Warmes Blut klebte an seinen Fingerspitzen. Bei seiner Flucht hatten einige Zweige sein Gesicht zerkratzt. Mit dem Saum seines T-Shirts wischte er über die Schramme. Er drehte sich mehrere Male um, doch niemand folgte ihm.

Die Betreuerin würde ihre Schützlinge beruhigen müssen. Gesehen hatte sie ihn wohl nicht.

Der Anblick der spielenden Mädchen drängte sich zurück in seine Gedanken.

Schon oft hatte er sich an den kleinen Körpern ergötzt. Aber niemals war er dabei entdeckt worden.

In der letzten Woche hatte er mehrmals seinem Trieb nachgegeben und das Versteck im Wald aufgesucht. Die Zufriedenheit, die er anfangs empfunden hatte, verspürte er immer seltener. Es reichte ihm nicht mehr, sie nur aus dem Gebüsch heraus zu beobachten und sich selbst zu befriedigen.Seine Begierde wuchs in gleichem Maße, wie die Zeitabstände zwischen dem Aufsuchen des Waldstücks kürzer wurden.Er verzehrte sich danach, ihre Haut zu berühren, die Angst in den unschuldigen Augen zu sehen. Der Gedanke daran verfolgte ihn seit Langem. Er versuchte nicht, seine Fantasie zu zügeln. Zu sehr lockte ihn die Vorstellung, eines der Kinder zu besitzen. Vielleicht das Mädchen, das ihn entdeckt hatte? Frank spürte, dass sich sein Glied versteifte.Er griff sich in den Schritt und ließ die Finger über seinen Penis gleiten. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. So etwas hatte die Göre mit den blonden Haaren bestimmt noch nie gesehen. Er würde dafür sorgen, dass sich das schon bald änderte.Ihr Erstaunen und Entsetzen würde ihn für die heutige Flucht mehr als entschädigen.Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn er die Kleine entführte, käme niemand auf seine Spur. Wie sollte die Polizei auch von ihm erfahren? Schließlich erpresste er ja von ihren Eltern kein Lösegeld. Er wusste nicht einmal, ob sie arm oder reich waren. Was er von dem Kind wollte, gab es für kein Geld der Welt kaufen. Sie würde ihm gehören. Nur ihm, solange sie ihm gefiel.Im Fernsehen hatte er mal einen Bericht verfolgt. Dort wurde behauptet, dass die meisten Entführungen beendet werden konnten, weil der Täter bei der Lösegeldübergabe geschnappt wurde. Ein Fehler, der ihm nicht passieren würde.

Als er den Wald verließ, hatte er seine überstürzte Flucht verdrängt. Seine Gedanken waren erfüllt von dem Wunsch, eines der Mädchen in seine Gewalt zu bringen. Natürlich müsste er alles genau planen, bevor er zuschlagen konnte. Doch die Belohnung, die ihn erwartete, würde ihn für jegliche Mühe entschädigen.

Am nächsten Tag kreiste sein Denken ohne Unterlass um sein Vorhaben. Viele seiner Einfälle verwarf er sofort, aber nach einiger Zeit nahmen seine Überlegungen konkrete Formen an. Er durchwühlte eine Schublade, bis er den verschlissenen Stadtplan fand, und breitete ihn auf dem niedrigen Wohnzimmertisch aus. Auf der durchgesessenen Couch kauernd beugte er sich darüber.

Sein Blick blieb an der hellgrünen Fläche hängen, die den Köllnischen Wald markierte. Er fuhr mit seinen Fingern über das Papier. Schon als Kind hatte er es geliebt, sich auf der Landkarte Ziele auszusuchen und sich die Orte vorzustellen. Am liebsten war er zum Campen gefahren. Die Natur und besonders die Einsamkeit mochte er noch immer. Nachdenklich rieb er sich das Kinn.

Das Zelt muss im Keller sein, ging ihm durch den Kopf. Er überlegte eine Weile, dann nickte er. Zufrieden wandte er sich wieder der ausgebreiteten Straßenkarte zu.

Er suchte auf der Karte nach einer Stelle, die möglichst weit von allen eingezeichneten Wegen entfernt war. Eine zufällige Entdeckung musste er um jeden Preis verhindern. Je abgeschiedener der Ort war, desto unwahrscheinlicher war es, dass ein Spaziergänger sein Versteck entdeckte.

Frank seufzte. Wie sollte er die Sachen dorthin schaffen? Es würde nicht einfach werden, die Ausrüstung und genügend Lebensmittel in den Wald zu bringen, ohne dass es jemandem auffiel.

Er spielte mit dem Gedanken, eine Grube auszuheben und diese nur mit einer stabilen Baufolie zu bedecken. Dort könnte er das Mädchen gefesselt zurücklassen.

Er strich sich eine Haarsträhne nach hinten. Die Lösung missfiel ihm, aber eine bessere Alternative gab es anscheinend nicht. Frustriert holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich wieder auf der Couch nieder. Seine Euphorie hatte sich gelegt.

Sein Blick wanderte über die Karte und blieb an der grau markierten Fläche in der Nähe der Bundesstraße hängen.

»Bischofssondern«, murmelte er vor sich hin.

Der alte Bunker! Unvermittelt drängten sich die Erinnerungen an das unterirdische Bauwerk in seine Gedanken. Er beugte sich vor. Seine Augen suchten auf dem Stadtplan die Umgebung des Grillplatzes ab. Der Erdbunker war auf dem Plan nicht eingezeichnet. Doch er erinnerte sich daran, dass er mit seinen Freunden ein gutes Stück in den Wald hatte gehen müssen, um ihren Geheimplatz, zu erreichen.Ihren Eltern hatten sie nichts davon erzählt.

Als Kind hatte er dort mit seinen Kameraden gespielt, bis die Stadtverwaltung den Bunker mit einer Stahltür verschloss. Ein unüberwindbares Hindernis für die zehnjährigen Jungen. Ihre anfängliche Enttäuschung währte damals nicht lange. Sie verlegten kurzerhand ihren Treffpunkt an einen kleinen Bachlauf, an dem sie ihre Abenteuerlust ausleben konnten. Er selbst war nie wieder bei dem Geheimversteck gewesen.

Frank griff nach der dünnen Stoffjacke, die zerknittert neben ihm lag, und stand auf. Das musste er sofort überprüfen.Hastig verließ er die Wohnung. Auf dem Weg nach unten nahm er zwei Stufen auf einmal. Die unterirdischen, verwinkelten Kammern mit ihren dicken Wänden, wären ein ideales Versteck. Solide Betonwände, die keinen Laut nach außen dringen ließen, mitten im Wald gelegen. In Gedanken versuchte er, sich an die Aufteilung der Verteidigungsanlage zu erinnern. Ihm fiel die Schutzmauer mit der schmalen Schießscharte ein, von der man den Eingang überwachen konnte. Und der daran anschließende große Hauptraum. Dort würde er das Kind gefangen halten können.

Auf der Hans-Böckler-Straße beschleunigte er, bis er die Kreuzung an der Zeche Prosper-Haniel erreichte. Seine Finger trommelten ungeduldig aufs Lenkrad, während er wartete, dass die Ampel auf Grün sprang. Er bog rechts ab und fuhr kurze Zeit später auf den Parkplatz der ehemaligen Jugendherberge Bischofssondern.

Frank stellte den Wagen ab und warf im Vorbeigehen einen Blick durch die lichte Hecke, die den Grillplatz vom Waldweg trennte. Wie stets bei sonnigem Wetter trafen sich viele Familien und Jugendliche auf dem Areal, um ihre Freizeit zu genießen.

Von der Herberge war nur das niedrige Nebengebäude dem Abriss entgangen. Darin befanden sich die Toiletten, die von den Leuten rege in Anspruch genommen wurden.

Die wenigen Grillroste, die auf dem umzäunten Gelände zur Verfügung standen, reichten an warmen Tagen nicht für alle Besucher aus. Die meisten der Halbwüchsigen brachten deshalb eigene Grills mit.

Frank schüttelte den Kopf. Ihm waren Menschenansammlungen schon immer zuwider gewesen.

Er ging am Abzweig zu dem überfüllten Platz vorbei und folgte dem Wanderweg in den Wald. Vieles hatte sich seit seiner Kindheit verändert. Seine Blicke schweiften suchend über die Bäume und Sträucher am Wegrand, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, an das er sich erinnern konnte.

Mehrmals wich er, einem Gefühl folgend, vom ausgewiesenen Kiesweg ab und schlug sich ins Unterholz. Nur um nach einigen Metern festzustellen, dass er sich geirrt hatte.

Er weitete seine Suche aus. Er wollte sich schon enttäuscht abwenden und auf den Heimweg machen, als er den überwucherten und mit Moosen bewachsenen Erdwall entdeckte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ohne auf die Büsche zu achten, lief er auf die Erhebung zu.

Er hatte sich nicht getäuscht. Seine Erinnerungen kehrten zurück. Mühelos fand er den Eingang. Doch eine massive Stahltür versperrt ihm immer noch den Zutritt. Eine feine Rostschicht überzog die gesamte Oberfläche, davor wucherte kniehoch das Unkraut.

Hier ist seit Jahren keiner mehr gewesen, dachte er zufrieden, bevor er das glänzende Vorhängeschloss bemerkte.

Zweifelsfrei war es erst vor Kurzem angebracht worden. Die Stadtverwaltung kümmerte sich noch immer darum, dass niemand den Bunker betreten konnte.

Frank trat auf die Tür zu und rüttelte an dem Schloss. Ein schmieriger Ölfilm blieb an seinen Fingern haften. Er wischte die Hand an der Hose ab und schaute nach unten. Bis auf das Gras, das er selbst niedergetreten hatte, lag der Waldboden unberührt vor ihm. Seine Gedanken überschlugen sich. Ob regelmäßig jemand vorbei kam und die Anlage inspizierte? Und wann fand die nächste Kontrolle statt? Er verscheuchte seine Bedenken. Er musste sich auf sein Glück verlassen.

Er ging einige Schritte zurück und ließ seinen Blick über die oberirdischen Teile der Bunkeranlage wandern. Erinnerungen an seine Kindheit und die Kameraden von früher drängten sich in sein Gedächtnis.

Sie waren eine verschworene Gemeinschaft gewesen. Keiner von ihnen hatte damals daran gedacht, dass sich das jemals ändern würde. Nach Beendigung der gemeinsamen Schulzeit löste sich der Freundeskreis jedoch auf.

Eine Lehrstelle als KFZ-Mechaniker hatte er nicht gefunden, sodass er sich mit Aushilfsjobs, bei denen er es nie lange aushielt, über Wasser halten musste. An den Aktivitäten seiner Clique konnte er mit seinen geringen Einkünften schon bald nicht mehr teilnehmen. Er hatte sich zurückgezogen, und schließlich war der Kontakt völlig abgebrochen.

Anfangs hatte er nicht aufgegeben und sich weiter beworben. Doch mit jeder Absage schwand seine Zuversicht, und auch der Glaube an sich selbst.

Seine Eltern hatten ihn gedrängt, endlich eine Lehre zu beginnen, egal in welchem Beruf. Die Streitereien mit seinem Vater wurden immer heftiger und von seiner Mutter erhielt er keine Unterstützung. Als er vor einem Jahr eine Halbzeitstelle bekam, war er ausgezogen. Der unbedeutende Lohn, den er mit der Reinigung des Parkplatzes und der Pflege der Außenanlagen eines Baumarktes verdiente, reichte gerade zum Leben. Sein Stolz verbot ihm, seine Familie um Hilfe zu bitten. Er würde ohne sie zurechtkommen, hatte er sich geschworen und den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Frank schüttelte die Erinnerungen ab. Die Vergangenheit konnte man nicht zurückholen. Aufmerksam ging er durchs Unterholz zurück. Er prägte sich die Umgebung genau ein, um sich beim nächsten Mal sofort zurechtzufinden.

Zufrieden erreichte er wieder den Hauptweg und drehte sich um. Der Bunker war hinter den Büschen verschwunden. Er wandte sich ab und stieß mit einer jungen Frau zusammen, die erschrocken zur Seite sprang. Er hatte das Paar, das gemächlich durch den Wald schlenderte, nicht bemerkt.

Ihr Gefährte, der etwa in seinem Alter war, löste den Arm von ihrer Taille. Wut funkelte in seinen Augen.

»Kannst du nicht aufpassen, du Idiot?«

Für einen kurzen Moment überlegte Frank sich zu entschuldigen, dann zuckte er mit den Schultern und drängte sich an ihnen vorbei. Er wollte schnellstmöglich von hier und aus dem Gedächtnis der beiden verschwinden.

Der Mann versuchte ihm den Weg zu versperren, doch die Frau hielt ihren Begleiter am Arm zurück. »Lass den Spinner, Klaus.«

In seiner Wohnung vertiefte er sich besessen in die Ausarbeitung des Plans. Erst weit nach Mitternacht legte er den Kugelschreiber beiseite und löschte das Licht. Sein Urlaub, der ihn noch zehn Tage von allen Pflichten befreite, würde zu dem schönsten der letzten Jahre werden.

Gegen Mittag erwachte er und sofort drängten sich die Gedanken an das blonde Mädchen wieder in sein Bewusstsein. Neben dem Bett lag ein Blatt Papier, auf dem er mit unbeholfener Schrift aufgelistet hatte, was er zum Bunker bringen musste, bevor er sie dort verstecken konnte.

Er rieb sich die Augen und schlug die dünne durchgeschwitzte Bettdecke zur Seite. Die Mittagshitze hatte sich durch das geöffnete Fenster in seinem Schlafzimmer ausgebreitet. Lustlos stand er auf und griff nach den Notizen.

Im Wohnzimmer legte er den Zettel achtlos auf den überfüllten Couchtisch. Die beiden leeren Bierdosen und den Teller mit den Pizzaresten brachte er in die Küche.

Danach stakte er ins Badezimmer, warf sich Wasser ins Gesicht und strich mit den nassen Fingern die Haare nach hinten.Als er zurückging, holte er ein Tetrapack Milch aus dem Kühlschrank und setzte sich auf das Sofa.Er faltete den Stadtplan zusammen und schob ihn beiseite, zog den Schreibblock von der Tischablage zu sich und begann eine Tabelle zu erstellen. Das Vorhängeschloss und den Bolzenschneider konnte er ebenso wie den benötigten Brennspiritus und den Gaskocher im Baumarkt bekommen. Dort wollte er zuerst vorbei fahren und sich anschließend um die Lebensmittel kümmern.

Unternehmungslustig stand er auf, nahm sich frische Wäsche aus dem Schrank und ging unter die Dusche. Als er schließlich aus dem Haus trat, hatten sich dunkle Wolken am Himmel zusammengezogen. Ein Sommergewitter kündigte sich unheilvoll an. Frank schmunzelte. Er würde ungestört von neugierigen Spaziergängern seine Einkäufe zum Bunker bringen können.

Eine Stunde später lief er schwer beladen über den vom Regen aufgeweichten Waldboden zu seinem Versteck.

Das Schloss hatte dem Bolzenschneider nichts entgegenzusetzen. Mit einem vernehmlichen Knacken gab es nach kurzer Zeit den Widerstand auf.

Er wischte sich einige Regentropfen von der Stirn, atmete tief durch und zog die stählerne Tür auf.Kalte abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Er nahm eine Kerze aus der Tasche, entzündete sie und betrat mit gesenktem Kopf die unterirdische Anlage.In dem schwachen flackernden Licht schälten sich grauschwarze Wände aus der Dunkelheit. Mit ihnen kehrten auch die Erinnerungen seiner Kindheit zurück. Die Mauer mit der Schießscharte, die ihm schon damals wie ein unüberwindbares Hindernis vorgekommen war, erschien im Kerzenschein. Dahinter befand sich der große Raum, an den er sich erinnert hatte. Vorsichtig schritt er über den mit herausgebrochenen Ziegelsteinen übersäten Boden. Kleine, dunkle Wasserlachen brachen das Kerzenlicht, als wollten sie ihm den Weg weisen.

In der Mitte des Hauptraums platzierte er die Kerze auf dem rauen Betonboden. Er holte die vor der Tür abgestellten Taschen und begann sie auszupacken. Die Konservendosen stapelte er in einer Ecke neben dem Campingkocher. Die mitgebrachte Decke warf er achtlos zur gegenüberliegenden Wand. Zufrieden inspizierte er sein Werk, bevor er den Rückweg antrat.

Die Tür drückte er hinter sich zu, ölte die Scharniere und legte das neue Schloss an. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es richtig eingerastet war, schlenderte er durch den Regen zurück zu seinem Wagen. Er musste noch einige Einkäufe tätigen.

Als er die Treppen zu seiner Wohnung nach oben stieg, öffnete die Nachbarin ihre Tür. Bestimmt hatte sie seine Ankunft schon erwartet.

»Sie haben Flurwoche«, wies sie ihn ohne Begrüßung zurecht.

»Danke, Frau Wutz. Ich hätte es beinahe vergessen«, antwortete er freundlich und brachte ein sympathisches Lächeln zustande. Selbst sie würde es nicht schaffen, seine Euphorie zu verringern.

Argwöhnisch verzog sie das Gesicht.»Es wäre ja nicht das erste Mal, dass der ganze Dreck hier liegen bleibt«, erwiderte sie barsch. Mit der Hand deutete sie auf einige Fussel, die man auf den Steinfliesen erkennen konnte. Frank nickte und ging an ihr vorbei, um seine Wohnungstür aufzuschließen.

»Ich werde mich darum kümmern. Sobald ich morgen zurück bin. Ich habe ja noch ein paar Tage Zeit.«

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte sie neugierig.

Er zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich vertraulich zu ihr. »Ich muss nach Hannover. Man hat mir einen Job angeboten.«

Skepsis breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie zog ihre Mundwinkel nach oben. »Na hoffentlich wird es was«, murmelte sie.

»Bestimmt. Und Sie erfahren es als Erste.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schloss er die Tür hinter sich und ließ sie stehen. Grinsend schüttelte er den Kopf. Seit seinem Einzug versuchte sie, ihn zu schikanieren. Jetzt hoffte sie wahrscheinlich, er würde die erfundene Stelle annehmen und aus diesem ordentlichen Haus ausziehen.

Frank stellte seine Einkäufe neben dem Couchtisch ab und warf die nasse Jacke achtlos auf das Sofa. Er wischte die verstaubte Tischplatte mit der Handkante ab und zog den Rucksack zu sich heran.

Er hatte alles bekommen, was er für seinen weiteren Plan benötigte. Er nahm die drei dünnwandigen Glasflaschen, die er aus dem Glascontainer am Mausbachweg geholt hatte, und reihte sie sorgfältig nebeneinander auf. Den Trichter und den Brennspiritus aus dem Baumarkt platzierte er daneben.Beißender Gestank breitete sich in der Wohnung aus, als er den Spiritus vorsichtig umfüllte.

Nach der letzten Flasche öffnete er das Fenster. Frische Luft strömte in den Raum. Suchend schaute er sich um. Schließlich ging er in die Küche, wo er ein Geschirrtuch aus dem Schrank holte. Er zerriss es in Streifen, die er als Zündschnur in den Flaschenhals stopfte.Entspannt lehnte er sich zurück und betrachtete sein Werk.

Für einen Moment blieb er sitzen und ließ seine Gedanken schweifen. Dann riss er sich von seinen Träumen los. Er musste noch einmal zum Bunker, um für den kommenden Tag alles vorzubereiten. Er packte Lebensmittel in den Rucksack und machte sich auf den Weg zu seinem Versteck. Das Gewitter war weitergezogen. Die Sonne verwandelte die Feuchtigkeit der Straße in feine Dunstschleier, die über dem Asphalt waberten. Am Abend breitet sich drückend schwüle Luft in der Stadt aus.

Mitten in der Nacht zerrte ihn die schrille, nervende Stimme des Radio-DJs, der den nächsten Song ankündigte, aus dem Schlaf. Verwirrt musterte Frank das Leuchtdisplay des Weckers.Zwei Uhr. Er stöhnte auf. Er schloss einen Moment die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Schließlich schlug er unwillig die Decke zur Seite und stand auf.

Er zog seine Jeans an, streifte ein T-Shirt über und schlüpfte in seine Trainingsschuhe. Gähnend griff er nach der Tasche neben der Tür und schlich behutsam die Treppen hinunter, ohne das Flurlicht zu nutzen. Die Flaschen hatte er mit Zeitungspapier umwickelt, um jedes Geräusch zu vermeiden. Er hoffte, dass der Nachbarin, die alle Mieter kontrollierte und scheinbar keine Nachtruhe benötigte, seine Aktivität verborgen blieb.

Leise zog er die Haustür zu und schlenderte gelassen durch die leeren Straßen.In dem kleinen Waldstück, das an den Kindergarten grenzte, bog er in den Schleichweg ein, den er schon so oft bei Tage gegangen war.Er kletterte über den Zaun und rannte geduckt zum Gebäude hinüber.

Es dauerte nicht lange, bis er den geeigneten Platz für sein Vorhaben gefunden hatte. An dieser Stelle war das Dach des Hauses bis zum Boden verlängert worden.Frank griff nach einem der Balken und ließ seine Finger darüber gleiten. Der stabile Holzbalken war trocken. Die Flammen fänden genug Nahrung.Sorgsam verstaute er zwei der mitgebrachten Flaschen zwischen den Holzsparren. Er zog die Stoffstreifen weiter heraus und suchte einen hellen Stein, den er davor platzierte.Selbst vom Zaun aus würde er diesen am Morgen erkennen.Er wusste, dass er nur einen Versuch hatte, sonst wäre sein Unterfangen gescheitert. Die Idee, längere Lunten zu verwenden hatte er nach kurzem Überlegen verworfen. Es erschien ihm zu unsicher. Wenn die Glasflaschen nicht zerplatzten, würde sich das Feuer zu langsam ausbreiten und die von ihm erhoffte Panik käme nicht zustande. Er schaute am Dachbalken empor und malte sich aus, wie der Brand das Gebäude zerstörte.

Unwillig riss er sich von der Vorstellung los. Er unterdrückte ein Gähnen und ging zurück zur Einzäunung. Die letzte Flasche versteckte er im Unterholz, bevor er den Heimweg antrat.

Schlaf fand er in dieser Nacht keinen mehr. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Hatte er an alles gedacht? Immer wieder wanderte sein Blick zu den roten Leuchtziffern des Radioweckers.

Um kurz vor sechs stand er erleichtert auf. Nachdem er ausgiebig geduscht hatte, rasierte er sich und kämmte die Haare nach hinten. Selbstkritisch betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Er war mit dem Ergebnis zufrieden. Von der Schramme, die er sich im Wald zugezogen hatte, war nichts zu sehen.

Die Tasche mit den restlichen Lebensmitteln hatte er bereits am Abend zuvor in den Kofferraum des Kadetts gelegt, den er vor einem halben Jahr günstig erstanden hatte.Er holte seine beste Kleidung aus dem Schrank. Ein blau-weiß kariertes Flanellhemd und dazu die graue Jeanshose. Um sieben zog er die Wohnungstür leise hinter sich zu. Trotz der frühen Stunde traf er im Treppenhaus auf Frau Wutz.

»Donnerwetter! Sie haben sich aber herausgeputzt.«

Frank ging lächelnd an ihr vorbei. »Ist ja auch ein wichtiger Termin für mich.«

»Ich drücke Ihnen die Daumen«, rief sie ihm nach, bevor die Haustür ins Schloss fiel.

Zehn Minuten später erreichte er den Kindergarten. Er parkte auf dem Randstreifen der Straße. Seine Anspannung stieg. Er faltete die Tageszeitung auseinander, die er am Kiosk gekauft hatte, um nicht aufzufallen. Doch seine Aufmerksamkeit galt den Müttern, die mit ihren Kindern den Bürgersteig entlang kamen.

Je mehr Zeit verging, desto nervöser wurde er. Das kleine blonde Mädchen hatte er noch nicht entdecken können. Waren die ganzen Vorbereitungen umsonst gewesen?

Frank wischte seine Finger an der Hose trocken. Er drehte das Gesicht zur Seitenscheibe und zuckte erschrocken zusammen. Auf dem Gehweg, nur wenige Meter neben seinem Wagen, stand sie einfach da und starrte ihn aus großen blauen Augen an.Sein Kopf ruckte zurück, wobei ihm die Zeitung fast von den Knien rutschte. Erkannte sie ihn? Sein Herz begann zu rasen.

»Komm schon, Katharina!«, rief eine schlanke Frau, die einige Schritte entfernt ungeduldig wartete. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.

Widerwillig folgte das Mädchen der Aufforderung und schaute sich noch einmal zu ihm um, bevor sie die ausgestreckte Hand ergriff. Er beobachtete verunsichert, wie die beiden den Kindergarten betraten.Frank versuchte die aufkeimende Unruhe zu unterdrücken. Hatte das Kind ihn wiedererkannt und würde sie von ihrer Beobachtung im Wald erzählen?

Er konnte seinen Blick nicht mehr vom Eingang lösen. Kurze Zeit später kam die Mutter aus dem Gebäude heraus. Ohne ihn zu beachten, ging sie an seinem Wagen vorbei. Er atmete erleichtert auf.

»Katharina«, murmelte er leise. Es gefiel ihm, dass das Mädchen seiner Begierde nun einen Namen besaß. Er blätterte eine halbe Stunde uninteressiert in der Zeitung, bis er sie achtlos zusammenfaltete, und unter den Beifahrersitz schob.

Aufatmend stieg er aus und schlenderte den Waldweg am Kindergarten entlang. Aus den geöffneten Fenstern drang ein Kinderlied zu ihm hinaus, dessen Text er nicht kannte. Doch die Fröhlichkeit, die in den hellen Kinderstimmen mitschwang, beflügelte ihn. Er blickte sich aufmerksam um, bevor er unbemerkt im Unterholz verschwand.

Er zog die Tasche aus dem Versteck und schlich zum Zaun. Mit leicht zitternden Händen entzündete er den Stofflappen, der aus dem Flaschenhals heraushing. Das vollgesogene Gewebe fing sofort Feuer.

Frank holte aus, zielte und warf die brennende Flasche zu dem Stein, den er in der Nacht platziert hatte. Angespannt verfolgte er den Flug der Glasflasche, bis diese ihr Ziel fand.Mit lautem Krachen zerbarst das Glas. Der Spiritus befeuchtete den Dachbalken. Flammen züngelten über das trockene Holz.Fasziniert beobachtete er, wie der Brand sich ausbreitete.

Er rannte los, hastete durch den Wald und verlangsamte seine Schritte erst, als er sich dem Weg näherte. Aus den Fenstern drang noch immer fröhliches Stimmengewirr zu ihm hinaus.

Als er die Straße erreichte, stieg Qualm in den morgendlichen Himmel auf.

Eine korpulente Frau stellte japsend ihre Einkaufstaschen auf dem Gehweg ab. Umständlich holte sie ein Taschentuch aus ihrer Weste und wischte ihre Stirn ab. Mitten in der Bewegung verharrte sie. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Rauchwolke, die über dem Giebel aufstieg. Sie riss den Arm nach oben.

»Der Kindergarten brennt!«, schrie sie aufgeregt und schaute sich Hilfe suchend um. Einige Passanten blieben verwirrt stehen und stierten in die Richtung, in die sie zeigte.Mit gespieltem Entsetzen kaschierte Frank das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte.Die Menschenmenge auf dem Bürgersteig wurde rasch größer.Die Autofahrer verlangsamten ihre Geschwindigkeit und hielten an. Fassungslos sahen sie zum Gebäude hinüber. Erste Flammen schlugen aus dem Dach.

Zufrieden lehnte er sich gegen seinen Wagen und beobachtete die Umstehenden. Alles verlief bisher so, wie er es geplant hatte.

Ein junger Mann reagierte beherzt und lief auf die Eingangstür zu. Auf Unterstützung hoffend schaute er noch einmal zu den anderen, die keinerlei Anstalten machten ihm zu folgen. Mit vorwurfsvoller Miene zog er die Tür auf und verschwand kopfschüttelnd im Innern. Die Menschen warteten angespannt. Kurze Zeit später kamen die Kinder schreiend aus dem Haus gerannt. Angsterfüllt blickten sie sich um.

Frank drängte weiter nach vorn und hielt Ausschau nach dem Mädchen. Als er sie in der Menge entdeckte, beschleunigte sich sein Atem. Jetzt kam es darauf an, ihre Verwirrung auszunutzen.Sie hastete ziellos umher. Entschlossen schlängelte er sich zwischen den Schaulustigen hindurch auf sie zu. Niemand beachtete ihn. Alle starrten zum Kindergarten, über dem die Rauchwolke bedrohliche Ausmaße annahm.Er trat von hinten an sie heran und tippte ihr auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, fuhr herum und schaute ihn mit ihren blauen Augen verstört an.

»Hallo, Katharina«, begrüßte er sie lächelnd.

Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. Unsicherheit zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Bevor sie ihn einordnen konnte, sprach er weiter. »Ich bin ein Freund deiner Mutter. Ich soll dich zu ihr bringen.« Suchend sah sie sich um.

»Wo ist Mama?«

»Sie wartet auf dich. Komm!« Er reichte ihr die Hand. Würde sie ihm glauben, ihn begleiten? Er hielt den Atem an. Sie warf einen kurzen Blick auf den brennenden Kindergarten, dann ergriff sie seiner Hand.

Geschafft! Erleichtert atmete er aus. Er musste sich zwingen, nicht loszurennen. Auf dem Weg zur Straße achtete er darauf, den anderen Kindern und der Erzieherin aus dem Weg zu gehen. Katharina sollte keine Möglichkeit bekommen, mit ihren Freundinnen zu sprechen.

Die Menschen um ihn herum traten bereitwillig einen Schritt zur Seite, um die beiden vorbei zu lassen.

Er öffnete die Tür des Opels und schnallte sie auf dem Beifahrersitz fest. Schnell umrundete er den Kadett, stieg ein und startete den Motor. Er ließ seinen Blick über das Mädchen gleiten. Meine Katharina, dachte er zufrieden und beschleunigte den Wagen.

***

Jacob Wiechers befand sich auf dem Weg zum Markt, als die Fahrzeuge der Feuerwehr ihn überholten. Einem Impuls folgend, wollte er ihnen nachfahren, doch dann drosselte er das Tempo wieder. Es war sein freier Tag und die Kollegen würden ohne ihn auskommen müssen.

Er änderte seine Meinung, als er in die Fuhlenbrocker Straße einbog. Die rot-weißen Einsatzwagen standen vor dem Kindergarten. Aus dem Gebäude loderten Flammen in den rauchgeschwängerten Himmel.

Der Hauptkommissar fluchte leise vor sich hin. Er fuhr seinen Mercedes an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Für einen Moment blieb er unentschlossen im Wagen sitzen. Schließlich siegte sein Pflichtgefühl. Er verdrängte den Wunsch und die Zusage, die er seiner Tochter gegeben hatte, den Tag mit ihr zu verbringen.

Sie war in diesem Sommer dreizehn geworden und er spürte, dass sie sich langsam von ihm löste. Ihre gemeinsamen Unternehmungen wurden seltener. Immer öfter unternahm sie stattdessen etwas mit ihren Freundinnen, vom dem er erst im Nachhinein erfuhr. Meistens von seiner Frau. Schweren Herzens verwarf er den Gedanken, einfach weiterzufahren.

Obwohl die Feuerwehr bereits vor Ort war, konnte er sein Verantwortungsbewusstsein nicht unterdrücken. Selbst die ohne jeden Zweifel zu erwartenden und gerechtfertigten Vorwürfe seiner Ehefrau änderten daran nichts. Unwillig seufzte er auf und stieg aus.

Jacob überquerte die Straße und ging auf den Einsatzleiter zu, den er schon von früheren Einsätzen her kannte.

»Hallo, Kurt. Sind alle aus dem Gebäude raus?«

Kurt Bender nickte nur kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Aufgabe. Mit ruhiger Stimme gab er seinen Kollegen Anweisungen. Der Brandort wurde gesichert und die Schaulustigen zurückgedrängt, damit sie die Arbeit der Feuerwehr nicht behinderten. Der Hauptkommissar trat beiseite und beobachtete die routinierten Abläufe, ebenso wie die Mütter, die mittlerweile eingetroffen waren.

Eine blonde Frau lief sichtlich beunruhigt zwischen ihnen umher. Gehetzt blickte sie sich suchend um, bevor sie auf den Einsatzleiter zukam.

»Meine Tochter! Wo ist meine Tochter?« Ihr Blick glitt unruhig über die Anwesenden.

Jacob schaute Kurt verwirrt an. War eines der Kinder übersehen worden? Der Feuerwehrmann schüttelte entschieden den Kopf.

»Sie muss sich draußen befinden. Es ist niemand mehr im Gebäude. Wir sind ...«

»Sie ist nicht hier«, unterbrach sie ihn aufgebracht. »Ich habe alles abgesucht. Katharina ist nicht hier!« Ihre Stimme überschlug sich.

Durch ihre lauten Worte alarmiert drehten sich die Umstehenden zu ihnen um.

Der Hauptkommissar, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, trat einen Schritt auf die beiden zu.

»Vielleicht ist sie schon auf dem Weg nach Hause?«, versuchte er sie zu beruhigen. Sofort schüttelte sie den Kopf. Die Panik, die von der jungen Mutter ausging, ergriff auch ihn. Das niedrige Gebäude mit seinen verwinkelten Anbauten war schwer zu überblicken. Konnte es sein, dass das Mädchen doch übersehen worden war?

Mit Tränen gefüllten Augen starrte die Frau verzweifelt in die Flammen.

»Es ist niemand mehr im Kindergarten«, versicherte der Einsatzleiter. Jacob glaubte ihm. Er ließ seinen Blick über die Menschen gleiten. Eine Gruppe von Kindern stand abseits beieinander. Sie beobachteten die Handgriffe der Feuerwehrmänner, die eine Ausbreitung des Feuers verhinderten.

Er griff nach dem Arm der Mutter. »Wir werden uns jetzt gemeinsam nach Katharina umsehen. Ich bin Hauptkommissar Wiechers, von der Polizei«, sagte er einfühlsam und zog sie behutsam mit sich.

»Wen suchen Sie denn?«, fragte ein Mann, der das Gespräch der beiden gehört hatte.

»Meine Tochter, Katharina Schapher«, erwiderte sie aufgeregt.

»Ist sie blond?«

»Ja! Und sie trug ein blaues Kleid.« Hoffnung schimmerte in ihren Augen.

»Die habe ich gesehen.«

Jacob atmete erleichtert auf. Sie war also aus dem Gebäude herausgekommen.

»Aber wo ist sie?«, hakte die Mutter nach.

Der Fremde zuckte mit den Schultern. »Sie ist mit so einem jungen Burschen ins Auto gestiegen.«

Der Hauptkommissar sah, wie das Gesicht der Frau erblasste.

»Das kann nicht sein. Sie kennt in der Gegend doch niemanden.«

Sie schnappte nach Luft. Ihre Pupillen weiteten sich, bevor sie bewusstlos zusammensackte. Die beiden Männer schafften es gerade noch, sie aufzufangen.

Während ein Sanitäter sie versorgte, unterhielt sich der Kommissar mit dem Augenzeugen.

»Wer sind Sie und was machen Sie hier?«

»Ich bin Hermann Schmitz. Ich habe den Rauch bemerkt und wollte nachsehen, ob meine Hilfe benötigt wird. Man weiß ja schließlich, was man zu tun hat.«

Jacob ignorierte den überheblichen Unterton in der Stimme.

»Konnten Sie denn behilflich sein?«

»Nein. Die Feuerwehr war längst da. Da wollte ich nicht stören.«

»Wie sah der Mann aus, der Katharina mitgenommen hat?«

Herr Schmitz zog die Augenbrauen zusammen. »Er war groß, etwa 1,80, schätze ich. Ordentliche Kleidung, nicht besonders auffällig.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Natürlich«, antwortete er, ohne zu zögern.

»Haben Sie ihn hier schon mal gesehen?«, fragte Jacob, den die schnelle, selbstsichere Antwort überraschte.

Zu seiner Enttäuschung schüttelte der Zeuge den Kopf.

»Was war es denn für ein Wagen?«

»Ein Opel. Kadett, glaube ich.« Er lächelte verlegen. »So gut kenne ich mich mit Autos nicht aus. Aber er war blau und es muss ein älteres Modell gewesen sein. So einen sieht man nicht mehr häufig auf den Straßen.«

Der Hauptkommissar notierte die Adresse des Mannes und reichte ihm seine Karte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Er klappte das Notizbuch zu und ging zurück zum Einsatzleiter, dessen Gesichtszüge sich entspannten. Seine Kollegen hatten den Brand unter Kontrolle.

»Habt Ihr was gefunden?«

»Brandstiftung«, erwiderte Kurt knapp. Er deutete mit der Hand auf den hinteren Teil des Gebäudes.

»Wir haben Reste von Glasflaschen entdeckt, direkt an dem Platz, an der das Feuer ausbrach. Die Menschen werden immer verrückter. Warum zündet man einen Kindergarten an?«

»Anscheinend um eines der Mädchen zu entführen«, beantwortete der Hauptkommissar die Frage auf der Stelle. Unglaube zeichnete sich auf dem Gesicht des Feuerwehrmannes ab. Jacobs Magen zog sich zusammen. Er ahnte, dass er Recht behalten würde. Fassungslos schüttelte er den Kopf.

Der Fremde hatte den Brand gelegt und dabei den Tod etlicher Kinder in Kauf genommen, um Katharina in seine Gewalt zu bringen. Kannte er sie? Hatte er sie bewusst ausgesucht? Oder versuchte er Lösegeld für sie zu erpressen? Eine Kontaktaufnahme würde ihnen die Gelegenheit bieten, seiner habhaft zu werden. Eine weitere Möglichkeit drängte unbarmherzig in sein Bewusstsein. Ging es dem Unbekannten nur darum, seine sexuellen Gelüste auszuleben.

Die Vorstellung ließ einen Schauer über seinen Rücken laufen.

Am späten Abend kehrte Jacob, mit einem Blumenstrauß in der Hand, zurück nach Hause. Wortlos nahm seine Frau die Entschuldigung und den Strauß entgegen. Er beobachtete, wie sie die Blumen in eine Vase stellte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Schweigend verschwand er im Bad. Er hatte sie gegen Mittag angerufen und kurz von dem vermissten Mädchen berichtet. Danach musste er sein schlechtes Gewissen unterdrücken, um sich auf seine Aufgaben konzentrieren zu können.

Als er aus dem Badezimmer kam, stand das aufgewärmte Essen bereits auf dem Tisch. Erschöpft ließ er sich auf seinem Stuhl nieder.

»Wie war euer Tag?«, fragte er pflichtbewusst, als er mit der Gabel in die Bratkartoffeln stach.

»Jessica ist enttäuscht«, erwiderte seine Frau knapp. Jacob nickte verstehend, doch seine Gedanken beschäftigten sich mit dem entführten Kind.

Den Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang, ignorierte er, wie er es in all den Jahren ihrer Ehe getan hatte.

Sie kannte seine Einstellung und wusste, dass für ihn die Arbeit immer an erster Stelle stand. Selbst wenn es bedeutete, dass er seine Tochter, die bereits schlief, einen Tag mal nicht sehen würde.

»Haben wir noch ein Bier?«, fragte er zwischen zwei Bissen.

Mit einem Seufzen erhob sie sich und holte ihm eine Flasche aus dem Kühlschrank.

Sie füllte ein Glas und stellte es vor ihm auf den Tisch.

»Danke«, sagte der Hauptkommissar und nahm einen großen Schluck. Dann richtete sich sein Augenmerk wieder auf das Essen.

Seine Frau wartete, bis er den Teller geleert hatte und sich entspannt zurück lehnte.

Sie räumte das Geschirr ab. Er lauschte den vertrauten Geräuschen, an denen er erkannte, was sie hinter ihm tat.

»Habt ihr das Mädchen gefunden?«, fragte sie in die Stille.

Jacob schüttelte den Kopf. »Wir haben lediglich ein paar Anhaltspunkte, aber noch nichts Konkretes.«

»Gab es auch Verletzte?«

»Alle konnten den Kindergarten rechtzeitig verlassen. Es ging ihm nur um Katharina.«

Sie legte das Trockentuch zur Seite und setzte sich zu ihm. »Wie wollt ihr sie finden?«

»Das Übliche. Das Telefon wird überwacht, die Zeugenaussagen ausgewertet. Die Angaben zum Fahrzeug werden uns weiterhelfen, es sei denn, er hat den Wagen extra für die Entführung gestohlen.« Mit dem Daumen wischte er die Kondenstropfen fort, die sich auf dem Bierglas gebildet hatten.

»Glaubst du, er wird bei der Mutter anrufen?«

Jacob schüttelte den Kopf. »Ich habe mit Frau Schapher gesprochen. Sie ist alleinerziehend. Da ist nicht viel zu holen.«

»Vielleicht weiß er das nicht?«

Nur zu gern würde er sich der Hoffnung anschließen, die in ihren Worten mitschwang, doch seine Erfahrungen der letzten Jahre ließen keinen Raum für Optimismus. »Es geht ihm nicht um Lösegeld. Er will das Mädchen.« Damit unterband er jede aufkeimende Zuversicht.

Er trank das Glas leer. »Mit etwas Glück finden wir ihn, bevor er von Katharina genug hat.«

»Und wenn euch das nicht gelingt?«

Er zögerte einen Moment, dann lächelte er schwach. »Bisher habe ich noch jeden Täter gefasst.«

Am darauf folgenden Morgen stapelten sich die Zeugenaussagen auf seinem Schreibtisch. Nachdem er sich telefonisch versichert hatte, dass es nach wie vor keine Spur von dem Kind gab, vertiefte er sich in die Berichte seiner Kollegen. Er las sie aufmerksam und notierte alles, was ihm von Bedeutung erschien, auf einem Block.

Zwei Stunden später lehnte er sich verspannt zurück. Er überflog seine Notizen. Der blaue C-Kadett war von mehreren Leuten gesehen worden. Herr Schmitz hatte sich nicht getäuscht. Ebensowenig wie er konnten sich aber auch die anderen Personen nicht an das Autokennzeichen erinnern. Doch zumindest wussten sie, um welches Modell es sich handelte. Ein Lichtstreif am Horizont.

Jacob atmete tief ein, erhob sich und streckte ächzend seinen Rücken durch. Als Erstes würde er sich um den Wagen des Entführers kümmern. Er griff zum Telefon, zögerte, und legte den Hörer wieder auf. Er hatte lange genug am Schreibtisch gehockt. Er streifte seine Jacke über und fuhr zum Straßenverkehrsamt.

Werner Nappe zog überrascht eine Augenbraue hoch, als der Hauptkommissar in seinem Dienstzimmer auftauchte.

»Hallo! Was treibt dich denn hierher?«

»Ich brauche deine Hilfe. Du musst mir sämtliche Fahrzeughalter, die einen blauen C-Kadett besitzen raussuchen.«

»Ist es wegen des entführten Mädchens?« Der Bekannte deutete mit der Hand auf die vor ihm liegende Tageszeitung.

»Ja. Der Wagen wurde von mehreren Leuten gesehen.«

»Na dann wollen wir mal sehen.«

Jacob wartete ungeduldig, bis sich die Eingabemaske auf dem PC aufgebaut hatte.

»Soll ich alle Halter suchen, oder nur bis zu einer bestimmten Altersstufe?«

»Ohne Einschränkungen. Der Mann kann das Auto seiner Eltern benutzt haben.«

»Und wenn er das Fahrzeug gestohlen hat?«

»Bisher liegt uns keine Diebstahlanzeige vor.«

Der Drucker begann zu arbeiten.

Kurz darauf trat Jacob mit dem Ausdruck aus dem Straßenverkehrsamt. Die Liste war länger, als er erwartet hatte. Er würde zusätzliche Kräfte benötigen, damit sie schnell abgearbeitet werden konnte.

Zurück im Büro teilte er die Adressen auf und delegierte einen großen Teil der Überprüfungen an seine Kollegen. Lediglich fünf Besitzer wollte er selbst aufsuchen. Vom Alter her passten sie zu den Beschreibungen, die er von dem Täter besaß.

Bis zum Abend schaffte er es, drei der Fahrzeughalter aufzusuchen. Doch seine Bemühungen waren erfolglos geblieben. Zwei von ihnen hatten zur fraglichen Zeit gearbeitet und der Dritte das Haus den ganzen Vormittag nicht verlassen, was von den Nachbarn bestätigt worden war.

Gegen achtzehn Uhr fuhr er am Präsidium vorbei. Er nahm die Berichte seiner Mitarbeiter vom Schreibtisch, löschte das Licht und machte sich auf den Heimweg.

Am nächsten Morgen parkte Jacob seinen silbernen Mercedes vor der vorletzten Adresse auf seiner Liste. Ein taubenblauer Kadett stand am Straßenrand. Der Hauptkommissar stieg aus, glättete sein Jackett und ging auf das Sechsfamilienhaus zu. Bei einer Wohnung waren die Rollläden geschlossen.

Eine junge Frau mit einem Kind an der Hand trat aus der Tür, als er das Haus erreichte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich.

»Ich wollte zu Herrn Bretschneider.«

»Da werden Sie kein Glück haben. Die sind noch bis Ende der Woche in Urlaub.«

»Seit wann sind sie denn weg?«

»Vorletzten Sonntag. Nach Griechenland.

In Gedanken hakte er die Adresse ab. »Steht der Wagen die ganze Zeit hier vor der Tür?

Sie nickte argwöhnisch. »Was wollen Sie denn von den Bretschneiders?«

Der Hauptkommissar holte seinen Dienstausweis hervor und zeigte ihn der Frau. »Es geht nur um eine Ermittlung wegen des Fahrzeugs. Sie haben mir aber schon weitergeholfen. Vielen Dank.« Er warf dem Kind noch ein Lächeln zu und verabschiedete sich.

Wenig später hielt er vor dem Wohnblock in der Hans-Böckler-Straße. Er ließ seinen Blick über die am Straßenrand stehenden Autos gleiten. Ein blauer Kadett befand sich nicht darunter. Er ging auf das Gebäude zu und drückte den Klingelknopf. Er wiederholte seinen Versuch mehrfach, ohne eine Reaktion zu erwirken. Jacob seufzte auf. Vielleicht hatte er am Abend mehr Glück. Er überlegte, ob er bei den Nachbarn klingeln sollte, als die Haustür geöffnet wurde.

Er trat einen Schritt vor, um sich ins Haus zu drängen, doch eine dickliche Frau, die einen Einkaufstrolley hinter sich herzog, versperrte ihm den Weg.

»Was wollen Sie hier?«

»Ich wollte zu Herrn Trember.«

»Der ist nicht da. Und den Flur hat er auch nicht gemacht«, fuhr sie ihn aufgebracht an.