Die Vergessenen - Maya Shepherd - E-Book

Die Vergessenen E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Cleo ist nicht mehr dieselbe, als sie auf der Krankenstation der Legion erwacht. Sie ist entschlossen den Rebellen im Kampf um ihre Freiheit zu helfen. Doch erneut muss sie erfahren, dass nichts so ist wie es scheint und man sie belogen hat… Zerrissen zwischen ihrer Herkunft und ihrem Versprechen, trifft sie eine Entscheidung, die alles verändern könnte. Auf sich allein gestellt, schafft es Cleo nicht länger sich in der Legion zurechtzufinden. Nur die Legionsführerin A350 scheint Interesse an ihr gefunden zu haben und verschafft ihr Gehör. Doch als Finn plötzlich als Gefangener in der Legion auftaucht, scheinen alle Pläne hinfällig zu sein. Cleo wird gezwungen, über Finns Schicksal zu entscheiden: Lässt sie sein Gedächtnis löschen oder verurteilt sie ihn zum Tode...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Maya Shepherd

Die Vergessenen

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

01. ZURÜCK ZUR NORMALITÄT

02. VERSTÄRKUNG VON UNERWARTETER SEITE

03. FALSCHE FREUNDE

04. TREUE WIRD BELOHNT

Impressum tolino

01. ZURÜCK ZUR NORMALITÄT

Das Licht ist so grell, dass es in meinen Augen brennt. Ich kann nichts erkennen und kneife sie zusammen. Am liebsten würde ich mit der Hand die Augen vor dem Licht abschirmen, doch ich kann meine Arme nicht bewegen. Genauso wenig wie den Rest von meinem Körper. Alles fühlt sich taub und leblos an. Ich habe das Gefühl, in mir selbst gefangen zu sein. Obwohl ich mich nicht rühren kann, spüre ich, dass ich nackt bin. Es ist kalt.

Ein Kopf erscheint in meinem Gesichtsfeld. Er durchbricht das grelle Leuchten. Es ist eine Frau. Ihre Augen erstrahlen in dem Farbton RAL 5012 – Lichtblau. Ihr Kopf ist kahl, während ihr weißer Anzug das brennende Licht der Lampen reflektiert. Ich bin zurück in der Legion.

Bevor ich in irgendeiner Weise reagieren kann, stülpt sie mir eine Art schwarzen Trichter aus Gummi über Mund und Nase. Ich will mich wehren. Ich will schreien. Ich will nicht vergessen.

Obwohl ich weiß, dass Finn und die Rebellen das Letzte sein sollten, woran ich in diesem Moment denke, bin ich machtlos dagegen. Der Glaube daran, Finn irgendwann wiederzusehen, ist das Einzige, was mir Hoffnung gibt, während ich zurück in das bodenlose Nichts gleite, aus dem ich gerade erst erwacht bin.

Es ist still. Keine Stimmen. Kein Vogelgezwitscher. Kein Wind, der durch die Blätter der Bäume weht. Nichts.

Ich öffne meine Augen und starre an die weiße Decke. Es wäre tröstlich gewesen, den unebenen roten Sandstein der Höhlen zu sehen, in denen ich mit den Rebellen gelebt habe. Aber auch ohne meine Augen zu öffnen, hätte ich gewusst, dass ich zurück in der Sicherheitszone der Legion bin. Ich kann es riechen. Die Höhlen duften nach Erde, Tannennadeln, Moos, Sand und oft auch nach Maries frisch gebackenem Brot. Sie verströmen das Aroma von Leben und Freiheit. Die Sicherheitszone hingegen riecht einfach nur steril. Ständig liegt der scharfe Geruch von Reinigungsmitteln in der Luft. Früher ist es mir nie aufgefallen, doch jetzt ist er so stark, dass ich das Gefühl habe, kaum atmen zu können.

Ich richte mich auf und lasse meinen Blick durch die Zelle gleiten. Es gibt weder Tisch und Stuhl noch eine Dampfdusche oder den kleinen Kasten für die Essensausgabe, wie ich es von meinem ehemaligen Zimmer in dem Trakt der Heranwachsenden gewohnt war Es gibt keine Fenster, aber das habe ich auch nicht erwartet. Die Sicherheitszone liegt tief unter der Erde, dort, wo nie ein Licht hinfällt, weshalb die Menschen niemals wissen, ob es Tag oder Nacht ist. Nicht die Sonne und der Mond entscheiden darüber, sondern die Legionsführer.

Das Bett, auf dem ich liege, ist neben der Toilette der einzige Einrichtungsgegenstand in dem kleinen Raum. Es ist anders als die Betten, die ich von früher gewohnt war. In Höhe von Händen und Füßen sind Schnappverschlüsse angebracht, die jedoch nicht verschlossen sind. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass sie mich nicht gefesselt haben, doch ich fühle mich innerlich leer. Unfähig, irgendetwas zu fühlen. Es fällt mir schwer, nachzudenken und einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Wände sind aus kaltem Stahl, dessen Oberfläche matt ist, sodass ich mich lediglich als kleinen rosa Fleck darin erkennen kann. Ich streiche mit meinen Händen vorsichtig über den rauen Stoff des braunen Nachthemds. Langsam lasse ich meine Finger höher wandern und berühre meinen Kopf. Er ist so kahl und kalt wie die Decke und die Wände der Zelle. Sie haben mir das kurze braune Haar, das mir bei den Rebellen gewachsen ist, abrasiert. Ich bin jetzt wieder eine von ihnen. Ein Mensch ohne eigene Meinung, Träume oder Gefühle. Mehr ein Roboter als ein Lebewesen.

Ich sehe, dass mein Körper zittert, bevor ich es spüre. Meine Hände beben und ich presse meine Lippen so fest aufeinander, dass sie reißen und ich den metallischen Geschmack des Blutes auf meiner Zunge schmecken kann. Ich spüre einen feuchten Tropfen auf meiner kalten Haut und fahre ungläubig mit der Hand über meine Wange – es ist eine Träne.

Ungläubig betrachte ich ihre glänzende Nässe auf meiner Fingerspitze und entdecke dabei etwas ganz anderes. In meiner Handfläche ist die schmale weiße Linie einer Narbe zu erkennen. Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem es passiert ist. Es war einer meiner ersten Tage bei den Rebellen, nachdem sie mich aus der Gefangenschaft entlassen hatten. Ich sollte zum ersten Mal bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Dabei habe ich mich so dumm und ungeschickt angestellt, dass ich mich mit dem Messer in die Hand geschnitten habe. Finn hat wie üblich keine Gelegenheit ausgelassen, um mich wissen zu lassen, dass ich in seinen Augen unnütz und wertlos war. Ich wurde in der Hitze ohnmächtig und habe erst von den Zwillingen erfahren, dass Finn mich in die Höhlen getragen hat.

Die Zwillinge! Eigentlich gibt es sie so nicht einmal mehr, denn Jep ist tot. Nur Pep ist noch übrig.

Eigentlich zählt die Erinnerung an den Schnitt nicht zu den schönsten aus meiner Zeit bei den Rebellen, trotzdem drücke ich meine Hand wie einen Schatz an meine Brust. Die Legion konnte mir weder meine Narben noch meine Erinnerungen nehmen. Sie sind ein Teil von mir. Auch wenn ich in den Augen der Legion wieder D518 bin, werde ich Cleo in meinem Herzen bewahren, bis zu dem Tag, an dem ich sie freilassen kann. Dem Tag, an dem ich wieder mit Finn vereint sein werde.

Ich lasse mich zurück auf das Kissen gleiten und schließe meine Augen.

Bereits jetzt fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, wie mein Gesicht an dem letzten Abend bei den Rebellen aussah. Doch umso leichter fällt es mir, mich an Finn zu erinnern. Sein Gesicht ist wie in meine Netzhaut gebrannt. Ich kann die Grübchen in seinen Wangen sehen, wenn ich mir sein sparsam benutztes Lächeln vorstelle, und das spitzbübische Leuchten in seinen Augen, die so blau sind wie der Himmel an einem sonnigen Tag. Die Wellen seiner blonden Haare erscheinen mir so nah, als müsste ich nur meine Finger ausstrecken, um sie berühren zu können. Ich weiß noch ganz genau, wie sie sich anfühlen.

Ich denke an unseren letzten gemeinsamen Moment. Es war unser Abschied für eine ungewisse Zeit. Vielleicht für immer. Aber es war der Moment, der mein Leben für immer verändert hat. Denn es war der, in dem ich liebte. Ich fahre mir mit den Fingerspitzen über meine brüchigen Lippen und fühle Finns Mund hart auf meinem. Unser Kuss war voller Verzweiflung und Angst, aber da war auch so viel mehr. Es war ein unausgesprochenes Versprechen. Wir werden uns wiedersehen. Irgendwann.

Es ist schwer zu sagen, wie viel Zeit vergeht, wenn es keine Sonne gibt, an der man sich orientieren kann. Früher hatte ich in der Sicherheitszone einen durchgeplanten Tagesablauf. Ich stand auf, wenn die Legion mich weckte, arbeitete und ging zu Bett, wenn die Legion mir sagte, dass es nun Zeit dafür sei. Ich war in der Lage, Minuten und Sekunden in meinem Kopf zu zählen. All das habe ich bei den Rebellen verlernt. Dort stand ich auf, wenn die Sonne mich durch das kleine Fenster in dem Zimmer von Iris und mir weckte. Kein Tag war wie der andere. Jeder war neu und schön zugleich.

Am schlimmsten ist jedoch die Ungewissheit. Ich weiß nicht, was die Legionsführer mit mir vorhaben. Sehen sie mich als Feind? Oder erwarten sie meine Mithilfe bei der Vernichtung der Verstoßenen?

Ich gehe davon aus, dass ich mich zurzeit auf der Krankenstation befinde, aber wie wird es weitergehen? Oder geht es vielleicht gar nicht weiter? Werden sie mich jetzt hier für den Rest meines Lebens festhalten? In einer leeren Zelle, gefangen in meinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen?

Ich halte inne und lausche. Ein leises Klappern ist zu hören, dann ertönt ein mechanisches Summen und die Stahltür der Zelle gleitet auf. In ihrer Öffnung steht eine Legionsführerin. Sie trägt ein schmales Tablett in den Händen. Hinter ihr kann ich den sterilen Gang des Krankenflügels erkennen, versehen mit grünen Streifen, passend zu den grünen Anzügen der Ärzte und Labormitarbeiter. Als ich noch den Bildungsunterricht besuchte, habe ich selbst gehofft, einmal zu ihnen zu gehören. Ich wollte etwas in der Sicherheitszone erreichen. Etwas Besonderes sein. Doch es kam ganz anders. Anstatt zu B518 wurde ich zu D518, einer Angestellten der Nahrungszuteilung.

Die Tür schließt sich hinter der Legionsführerin und sie tritt mit ruhigem Schritt auf mich zu. Dadurch erweckt sie sofort mein Misstrauen. Niemand in der Legion geht ruhig. Jeder hat Aufgaben, die in vorgegebener Zeit erledigt werden müssen. Es gibt keinen Grund, Zeit zu vergeuden.

Doch die fremde Frau tut noch etwas Eigenartiges, indem sie sich neben mich auf das Bett setzt. Ihre Haltung drückt so etwas wie Mitgefühl aus. Sicher interpretiere ich mehr in ihre Bewegungen, als dort ist. In der Sicherheitszone gibt es keine Gefühle. Sie sind zwar nicht verboten, aber das liegt daran, dass sie einfach nicht existieren. Sie sind genauso wenig Bestandteil des Lebens wie die Sonne.

Neugierig mustere ich die Augen der Frau und erstarre. Ich kenne sie. Zwar sind sie genauso lichtblau wie alle anderen, aber es ist der Funke von Gefühl, den ich in ihnen wiedererkenne. Sie ist die Legionsführerin, die ich bereits getroffen habe, als ich noch ein Kleinkind war. Damals hatte ich mein Nachthemd zerstört, doch anstatt mich zu bestrafen, sagte sie mir eine große Zukunft voraus. Sie lächelte mich an und dabei bildeten sich Grübchen in ihren Wangen. Sie behauptete, ich müsse sehr intelligent sein. Offensichtlich hat sie sich getäuscht, doch wahrscheinlich erinnert sie sich nicht einmal an mich. Für sie bin ich nur eine von vielen. Nun lächelt sie auch nicht – da sind keine Grübchen in ihren Wangen.

»Meine Bezeichnung lautet A350. Ich bringe dir deine Nahrungsration.«

Sie hält mir das Tablett entgegen, auf dem sich neben einem Glas Wasser einige bunte Pillen, Tabletten und Kapseln befinden. Was gäbe ich in diesem Moment nur für ein Stück Brot.

Ich greife als Erstes nach den Cerealienwürfeln. Es sind vier. Einer weniger, als für eine ausgewachsene Frau normal ist. Ich muss es wissen, immerhin war ich in der Nahrungsvergabe tätig.

»Du hast zugenommen«, kommentiert A350 mein Zögern. Ich passe nicht mehr in ihre Perfektion, dabei fing ich gerade an, gesund auszusehen. Bei den Rebellen habe ich mich im Spiegel gesehen. Ich sah, wie sich meine Rippen durch meinen dünnen Anzug pressten. Die Wangenknochen stachen unschön aus meinem Gesicht hervor. Ich sah aus wie jemand, der dem Tod näher als dem Leben ist. Mein Anblick hatte mich so entsetzt, dass ich mich erst nach Monaten getraut habe, erneut in den Spiegel zu blicken. Doch mir ist klar, dass ich für die Legion nicht brauchbar bin, solange ich nicht ihrem Idealmaß entspreche. Ohne zu antworten, schlucke ich die vier Pillen auf einmal hinunter.

Danach folgt die Eiweißkapsel. Offensichtlich ist meinem Körper die schwere Arbeit anzusehen. Ich bin sicher, dass ich in der kurzen Zeit bei den Rebellen mehr Muskeln aufgebaut habe als je in meinem ganzen Leben in der Sicherheitszone.

Für den Schluss habe ich mir die pinken Vitamintabletten aufgehoben. Es sind mehr als normal. Die Legionsführer werden mich gründlich auf Krankheiten untersucht haben, doch die Vitamine sollen zusätzlich mein Immunsystem stärken.

Als Iris noch F701 war, hat sie sich jedes Mal gefreut, wenn sie bei der Essensausgabe besonders viele der pinken Tabletten erhielt. Ich habe ihr deshalb kurz vor meiner Entführung durch die Rebellen mit Absicht mehr als eine zugeteilt. Damals war das meine Art der Rebellion. Wenn ich heute daran denke, erscheint es mir lächerlich. Jemandem zu viele Vitamintabletten zuzuteilen, ist keine Rebellion, nicht einmal ein Aufstand. Es ist nichts. Vollkommen unbedeutend. Lediglich ein Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, wenigstens einen Teil des eigenen Lebens kontrollieren zu können.

Während ich die Cerealienwürfel auf einmal geschluckt habe, lege ich mir die vier Vitamintabletten einzeln auf die Zunge.

Eine für Iris.

Eine für Finn.

Eine für die Rebellen.

Eine für Cleo.

Die Legionsführerin beobachtet mich dabei, ohne etwas zu sagen. Sie sitzt nur steif da und mustert mich, während ihr Mund einen schmalen Strich in ihrem Gesicht bildet. Ihr Mitgefühl ist wie weggewischt – vielleicht war es nie da.

»Wie geht es dir?«

Da ist es wieder, dieses eigenartige Funkeln in ihren Augen und der sanfte Klang in ihrer sonst so mechanischen Stimme. Nie hat mich jemand zuvor in der Sicherheitszone gefragt, wie es mir geht.

»Hast du Schmerzen? Ist dein Körper funktionsfähig? Oder spürst du irgendwelche Beeinträchtigungen?«

Das meint sie also. Sie interessiert nicht mein Innenleben, sondern sie erkundigt sich lediglich nach meinem physischen Zustand.

»Mein Körper ist funktionstüchtig.«

A350 zögert noch einen Moment, doch dann steht sie auf und steuert auf die Tür zu. Das war es jetzt also? Will sie mir nicht einmal sagen, was aus mir wird?

»Was passiert jetzt mit mir?«

Die Legionsführerin dreht sich erneut zu mir um. »Du bleibst noch eine Weile auf der Krankenstation, bis du an Gewicht verloren hast und deine Narben nicht mehr zu erkennen sind, danach kannst du zu deiner Arbeitseinheit zurückkehren.«

Ich komme zurück in die Nahrungsvergabe? Einfach so? Was ist mit meiner Zeit bei den Rebellen? Ist das alles unbedeutend?

»In die Nahrungsvergabe?«, frage ich fast dümmlich.

»Natürlich. Du bist D518. Das ist dein dir vorherbestimmtes Leben.«

Die Tür öffnet sich und A350 tritt hinaus. Sie lässt mich zurück mit all den offenen Fragen, die sich in Luft aufzulösen scheinen. Ich hätte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Ich hatte Angst, dass sie mich töten oder foltern würden. Ich dachte, sie rauben mir meine Erinnerung. Ich fürchtete mich davor, dass sie mich gegen die Verstoßenen einsetzen würden. Aber niemals hätte ich gedacht, dass sie so tun würden, als wäre nie etwas geschehen. Sie gehen zur Normalität über, so als hätte es meine Zeit bei den Rebellen niemals gegeben. Niemand spricht mich darauf an. Niemand stellt Fragen. Niemand interessiert sich dafür.

Wie konnten die Rebellen nur glauben, dass man mich zu einer Legionsführerin ernennen würde? Sie haben ihre ganze Hoffnung in mich gesetzt, dabei bin ich vollkommen nutzlos. Als eine kleine Arbeiterin in der Nahrungszuteilung bin ich für niemanden hilfreich. Dort kann ich weder das Leben der Rebellen noch das der Menschen in der Sicherheitszone verändern. Ich schaffe es ja nicht einmal, mein eigenes Leben zu verändern. Ich hatte die Chance, neu anzufangen. Ich hatte ein Leben bei den Rebellen. Ich hatte ein Leben mit Finn. Aber ich habe es aufgegeben für einen dummen Traum. Völlig umsonst.

02. VERSTÄRKUNG VON UNERWARTETER SEITE

Ich trage den braunen Anzug, der mich als Angehörige der Klassifizierung »D« auszeichnet. Der Stoff schmiegt sich eng an meinen Körper und wirkt fast wie eine zweite Haut, doch ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben in dem Anzug entblößt. Ich sehne mich nach der lockeren Kleidung der Rebellen. Sie war individuell, ein Abbild des Charakters der Menschen. Hier sind alle gleich, wenn auch nur äußerlich. In mir wütet ein Sturm, den von außen niemand sehen kann. Auch wenn meine Situation aussichtslos erscheint, werde ich nicht aufgeben. Ich werde kämpfen. Für die Rebellen. Und für mich.

Die Tür der Krankenzelle gleitet schwungvoll auf und ein junger Mann in blauem Anzug erwartet mich. Ich muss genauer hinschauen, um zu erkennen, dass es nicht C515 ist. Es wäre schön gewesen, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Zwar waren wir nie Freunde in dem Sinn, wie ich die Rebellen kennengelernt habe, aber zwischen uns bestand eine Verbindung. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich ihn von allen anderen unterscheiden konnte und er mich offensichtlich auch. Wir haben einander stets wiedererkannt und uns ohne Worte verständigt. Es waren die Blicke, die oft mehr sagten, als Worte es hätten können.

»C590. Folge mir, ich bringe dich zu deiner Einheit.«

Während er spricht, sind seine Augen völlig bewegungslos, wie erstarrt. Sein Gesicht verrät keinerlei Emotion. Selbst seine Bewegungen wirken mechanisch, als ich ihm aus der Krankenstation folge.

Der Flur unterscheidet sich, abgesehen von dem grünen Streifen an der Wand, nicht von jedem anderen Gang der Sicherheitszone. Er ist leer und kalt. Es reiht sich eine Stahltür an die andere. Das Licht der Deckenbeleuchtung ist so unnatürlich hell, dass mir beinahe schlecht davon wird. Der einzige Grund, warum ich mich auf meine Arbeit in der Nahrungsvergabe freue, ist Zoe. Ich kann kaum erwarten, ihr von Finn und den anderen zu erzählen. Wir werden Verbündete sein. Keine von uns muss länger ihr Geheimnis allein tragen. Wir können uns die Last teilen und gemeinsam Pläne schmieden. Ich bin bereit dafür.

Doch als wir den Kontrollraum der Nahrungsvergabe betreten, verliere ich auch diesen letzten Funken Hoffnung. Es gibt über zwanzig Tische mit PCs und Arbeitern dahinter, trotzdem erkenne ich auf den ersten Blick, dass Zoe nicht unter ihnen ist. Auf ihrem Platz sitzt jetzt eine andere Arbeiterin.

C590 bohrt mir unangenehm seinen Zeigefinger in den Rücken. »Melde dich zum Dienst.« Er wirkt verärgert darüber, dass er mich dazu auffordern muss. Er spürt, dass ich nicht so funktioniere, wie ich sollte, und dafür hat er kein Verständnis. Weiß er überhaupt, was mit mir geschehen ist, oder hält er mich einfach nur für defekt?

»D518 meldet sich zum Dienst.«

Der Abteilungsleiter nickt mir unbeteiligt zu. »D375 empfängt D518.«

Das ist das Stichwort für C590, das Weite zu suchen. Er hat mich in meiner Einheit abgeliefert und damit ist seine Aufgabe erledigt. Auch der Abteilungsleiter interessiert sich nicht weiter für mich. Eine Einweisung hatte ich an meinem ersten Tag, jetzt wird von mir erwartet, dass ich meine Aufgaben kenne.

Verwirrt tapse ich zu meinem ehemaligen Platz und lasse mich auf den Stuhl niedersinken. Vor mir flackert der Bildschirm und zeigt die Bewohner, für deren Nahrung ich heute zuständig bin. Meine Gedanken sind jedoch bei Zoe. Was ist mit ihr passiert? Ist sie durchgedreht, nachdem ihre Rettung scheiterte? Hätte sie mich überhaupt wiedersehen wollen? Ich habe an ihrer Stelle die Legion verlassen. Ich habe für eine kurze Zeit ihr Leben gelebt. Was, wenn Zoe gar nicht mehr am Leben ist? Finn würde daran zerbrechen und unsere Liebe vielleicht direkt mit. Denn ich müsste mit der Schuld leben, dass sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn ich nicht ihren Platz eingenommen hätte. Es war nie meine Absicht, ich wusste ja gar nicht, was geschah. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nicht freiwillig gegangen. Ich habe mir in den ersten Tagen bei den Rebellen nichts sehnlicher gewünscht, als in die Legion zurückkehren zu können.

Ich blicke mich in dem Raum um. Jeder Einzelne sitzt wie angekettet auf seinem Stuhl und starrt apathisch den Bildschirm vor sich an. Hat überhaupt irgendjemand mitbekommen, dass ich verschwunden war? Niemand interessiert sich dafür, wo ich war – nicht einmal ein neugieriger Blick wird mir zugeworfen. Wie können sie alle nur so ignorant sein? Ihnen kann doch unmöglich alles gleichgültig sein. Sie sind Menschen, genau wie ich. Menschen fühlen. Das kann doch auch hier nicht anders sein. Ich würde am liebsten alle laut anschreien, sie wachrütteln, doch ich beherrsche mich.

Mit geballten Fäusten stehe ich auf. »Ich habe eine Frage.«

Irritiert hebt D375 den Blick. Er ist es nicht gewohnt, Fragen gestellt zu bekommen. »Eine Frage?« Es hört sich an, als wüsste er nicht einmal, was das ist.

»Wo ist D523?«

Verwirrt legt er die Stirn in Falten. Ich kann ihm ansehen, wie sein Gehirn versucht, meine Frage zu analysieren. Er wirkt völlig aus dem Konzept gebracht. »Warum interessiert dich das?«

Ich registriere, wie sich nun auch weitere Köpfe von den Bildschirmen losreißen und mich scheu mustern. Die Arbeiter haben mir ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Vielleicht halten sie mich allesamt für wahnsinnig, aber eine bessere Chance als diese werde ich nicht so bald bekommen. Das ist meine Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.

»D523 ist ein Mitglied unserer Einheit. Sie gehört zu uns. Ich sorge mich um sie, weil sie nicht mehr da ist.«

Der Abteilungsleiter schüttelt nur verständnislos den Kopf. »Wir sind alle gleich. Jeder ist ersetzbar. D523 bildet da keine Ausnahme.«

Gleich zu sein ist doch nicht automatisch gleichbedeutend mit ersetzbar zu sein. Es fällt mir schwer, mich unter Kontrolle zu halten.

»Hat sich niemand von euch gefragt, was mit ihr geschehen ist?«, rufe ich laut in den Raum und ernte nur teilnahmslose Blicke. Wollen sie mich nicht verstehen? »Hat überhaupt jemand von euch gemerkt, dass sie weg ist?«

Verzweiflung liegt nun in meiner Stimme und ich spüre, dass ich erneut den Tränen nahe bin. Meine Hände zittern bei dem Versuch, sie krampfhaft zurückzudrängen.

»D518, es ist nicht deine Aufgabe, Entscheidungen der Legionsführer zu hinterfragen. Setz dich auf deinen Platz und nimm deine Arbeit wieder auf oder ich werde die Wachen verständigen.«

Die Drohung sitzt. Ich lasse mich frustriert auf meinen Stuhl zurücksinken. Was soll ich nur ohne Zoe tun? Wie soll ich in der Sicherheitszone überleben, wenn es nicht einmal einen Menschen gibt, mit dem ich ein normales Wort wechseln kann?

Der Bildschirm vor mir beginnt zu blinken. Auf acht kleinen Fenstern sehe ich Menschen, die auf ihre Nahrungsration warten. Der Computer verlangt von mir eine Bestätigung für die vorgegebene Anzahl an Tabletten. Doch ich schaue mir die Bewohner der Sicherheitszone genauer an. Einer von ihnen stammt aus der zweiten Generation und ist somit einer der ältesten in der Sicherheitszone. Alle Menschen dieser Generation sind zum jetzigen Zeitpunkt neunundfünfzig Jahre alt. Im Alter von genau sechzig Jahren wird ihr Leben enden. In einem Jahr, im Alter von genau sechzig Jahren, wird sein Leben enden. Dadurch wird die Bevölkerungsdichte der Sicherheitszone kontrolliert. Früher war es für mich normal, doch heute weiß ich, dass Menschen viel älter werden können. Gustav und Marie sind beide über sechzig und sehr glücklich. Es gibt keinen Grund, warum sie sterben sollten.

Der Mann steht wie versteinert vor der Essensausgabe. Er wundert sich nicht einmal darüber, warum die Zuteilung seiner Nahrung so lange dauert. Genauso auch alle anderen sieben. Keiner von ihnen macht Anstalten, den Sensor zur Nahrungsanforderung noch einmal zu betätigen, oder schaut ungeduldig in die Öffnung. Keiner von ihnen tippt mit dem Fuß oder trommelt mit den Fingern gegen die Wand. Sie wirken allesamt leblos.

Ihre Blicke sind starr und ihre Körper bewegungslos. Niemand von ihnen ist wie Iris, die sich so sehr über die pinken Vitamintabletten gefreut hat. Keiner von ihnen scheint dazu in der Lage zu sein, Freude oder Leid zu empfinden. Auch wenn ihre Körper funktionieren, muss ihr Innerstes vor langer Zeit gestorben sein. Sie sind nur noch leblose Hüllen ohne Seelen. Waren sie schon immer so? Früher habe ich die Menschen nie so gesehen. Ich sah das Besondere in jedem Einzelnen. Ich achtete auf die Kleinigkeiten, die kaum einer sonst wahrnahm. Wollte ich vielleicht einfach mehr in ihnen sehen, als dort war? Oder habe ich bei den Rebellen verlernt, hinter die Fassade der Menschen zu blicken? Bin ich blind geworden für die Details? Kann ich nur noch das Offensichtliche sehen?

Ohne es weiter zu prüfen, bestätige ich alles, was der Computer mir vorgibt. Das System macht keine Fehler und es ist zwecklos, sich dagegen zu wehren.

Nach meiner Schicht in der Nahrungsvergabe schreite ich durch das Atrium mit seinen bunten Bildern. Heute zeigen sie einen Wald mit Vögeln in den Ästen der Bäume und Rehe, die hier und da hinter einem Baum hervorschauen. Früher hätten mich diese Bilder beeindruckt und ich wäre stehen geblieben, um sie zu bewundern. Doch wer nur einmal in seinem Leben einen echten Wald mit eigenen Augen gesehen hat, wird in den Bildern des Atriums nicht mehr sehen als das, was sie sind: Bilder. Keines von ihnen kann die Emotionen hervorrufen, die einen in der Wirklichkeit überfluten. Es ist weder der Geruch des von Moos überwucherten Bodens zu riechen, noch ist der Wind, der durch die Blätter weht, zu hören. Es fehlt das Knirschen unter den Füßen bei jedem Schritt. Deshalb bleibe ich heute nicht stehen, weil ich beeindruckt bin, sondern weil es mir davor graut, allein in meiner Zelle zu sitzen. Die ganze Sicherheitszone ist nichts anderes als ein Gefängnis. Es gibt weder Fenster noch Türen, die sich ohne Anweisung der Legionsführer öffnen ließen.

Während die anderen Menschen eilig an mir vorbeihasten, halte ich Ausschau nach einem bekannten Gesicht. Wenn ich schon Zoe nicht finden kann, dann vielleicht wenigstens C515. Es wäre tröstlich, so etwas wie ein Wiedererkennen in seinen Augen zu sehen. Doch auch ihn kann ich unter den wenigen anwesenden Kämpfern nicht ausmachen. Wann wird sich der Kontaktmann der Rebellen wohl bei mir melden? Wird es Ruby sein oder jemand mir völlig Unbekanntes? Ich hatte immer angenommen, dass er der C-Klassifizierung angehören müsse. Aber selbst wenn er sich meldet, was soll ich ihm sagen? Wie werden die Rebellen reagieren, wenn sie hören, dass ich es nicht unter die Legionsführer geschafft habe und sogar Zoe verschwunden ist? Wie wird Finn reagieren? Wird er aus Verzweiflung etwas Dummes tun?

Oder ist das vielleicht der Grund, warum sich bisher niemand bei mir gemeldet hat? Weiß der Kontaktmann bereits, dass meine Mission erfolglos war, und meldet sich deshalb erst gar nicht bei mir? Bin ich den Rebellen jetzt, wo ich nutzlos für sie geworden bin, egal?

Zurück in meinem Zimmer, lege ich mich in meinem Anzug flach auf das Bett. Ich weiß, dass ich ihn eigentlich in die Wäschekammer legen und mein Nachthemd anziehen müsste, doch dazu fehlt mir die Kraft. Ich habe nicht hart gearbeitet, so wie ich es täglich bei den Rebellen musste. Im Grunde habe ich sogar das Gefühl, den ganzen Tag nichts getan zu haben, trotzdem fühle ich mich vollkommen erledigt. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich anzupassen, denn es gab ein Ziel, für das es sich zu kämpfen gelohnt hatte. Die Legionsführer sollten glauben, dass mir die Rebellen nichts bedeuten. Sie sollten glauben, dass ich eine von ihnen bin. Doch ich bin genauso nutzlos für sie wie für die Rebellen. Niemand braucht mich. Warum sollte ich dann noch länger stark sein? Was macht es noch für einen Sinn, die Fassade weiter aufrechtzuerhalten?

Ich spüre, wie mir die Tränen heiß die Wangen hinunterrinnen. Mein Blick gleitet zu der Kamera in der rechten Ecke meiner Zelle. Tränen sind verboten. Doch was soll mir noch passieren? Wie sollten sie mich mehr bestrafen als jetzt? Selbst wenn sie mich foltern würden, wäre es besser als das, was ich im Moment empfinde. Unter Folter hätte ich wenigstens das Gefühl, für etwas zu leiden, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich könnte mir einreden, etwas Ehrenhaftes zu tun. Aber mich zurück in mein altes Leben zu stecken und so zu tun, als wäre nie etwas passiert, ist das Schlimmste, was sie mir antun konnten. Deshalb ist es mir in diesem Moment egal, wer meine Tränen sieht.

Die Tage ziehen an mir vorbei, ohne dass sich irgendetwas an meiner Situation ändert. Ob ich es nun will oder nicht, beginne ich, mich anzupassen. Ich tue genau das, was die Legion von mir erwartet, mehr als je zuvor. Ich erfülle meine Aufgaben, ohne dabei über ihren Sinn nachzudenken. Jedes Aufkommen von Gefühlen dränge ich zurück. Sie machen mich nur schwach. Emotionen haben in dieser Welt keinen Platz. Sie sind etwas für Menschen, die es sich leisten können, Hoffnungen und Träume zu haben, eine Aussicht auf Veränderung – aber nicht für mich.

Cleo ist an dem Tag, an dem sie Finn verließ, so gut wie gestorben. Ihr Lebenslicht flackert nur noch schwach in meinem Inneren, wie die Flamme einer erlöschenden Kerze. Sie lebt von den Erinnerungen, die von Tag zu Tag schwächer werden. Dank der Sensoren in meinem Bett sind selbst meine Nächte traumlos. Der einzige Moment, in dem ich mir etwas Schwäche eingestehe, ist vor dem Schlafen. In der Dunkelheit der Nacht überkommt mich die Sehnsucht oft so stark, dass ich mich nicht gegen die Tränen wehre. Sie gleiten lautlos über mein Gesicht. Oft weiß ich nicht einmal, warum ich weine. Weine ich um mich? Um Iris? Um Finn? Um die Rebellen? Oder vielleicht sogar um die ganze Welt? Ich verabscheue meine Tränen, denn sie sind so nutzlos wie ich. Selbst wenn ich ein ganzes Meer von ihnen weinen würde, würde es nichts ändern.

An diesem Tag bin ich für die Nachtschicht eingeteilt, sodass das Atrium wie verlassen wirkt, als ich es betrete. Ohne innezuhalten und einen Blick auf die falschen Bilder zu verschwenden, eile ich zu der Nahrungsvergabe. Doch kaum dass ich den Gang betrete, legt sich von hinten eine Hand über meinen Mund. Ich erstarre und halte den Atem an. Erst jetzt denke ich wieder an den Kontaktmann der Rebellen. Hat er mich doch nicht aufgegeben?

Der Fremde zieht mich in eine dunkle Ecke des Flurs. Dorthin, wo es den Kameras schwerfällt, uns zu erreichen. Die Hand löst sich von meinem Mund und ich drehe mich erwartungsvoll um. Doch der Anblick des Mannes irritiert mich. Ich hätte nicht mit ihm gerechnet – es ist C515. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln.

Seit wann kann er lächeln? Egal! Ich kann mich nicht länger zurückhalten und falle ihm um den Hals. Laute Schluchzer dringen aus meinem Mund. Ein Lächeln in der Sicherheitszone zu sehen, überfordert mich. Ich hatte jegliche Hoffnung, ihn oder Zoe jemals wiederzusehen, bereits aufgegeben und jetzt steht er vor mir und lächelt. Er, der es nie gelernt haben dürfte, zu fühlen. Müsste er von meiner Reaktion nicht völlig überfordert sein? Ich wusste immer, dass er anders ist, doch ich hatte nicht geahnt, wie sehr.

Er drückt mich bestimmt von sich und sucht meinen Blick. »Triff mich um drei Uhr vor der Krankenstation.«

Ich verstehe seine Worte nicht. Warum? Doch ehe ich eine Frage stellen könnte, lässt C515 mich bereits allein in dem Gang zurück. Was ist mit ihm passiert? Warum lächelt er? Ist er etwa der Kontaktmann der Rebellen? War er schon immer einer von ihnen? War er ein Rebell, schon lange bevor ich überhaupt von ihrer Existenz wusste? Wie hat er von ihnen erfahren? Ich bin mit C515 aufgewachsen. Wie kann es dann sein, dass er so viel mehr weiß als ich?

03. FALSCHE FREUNDE

Während meiner Arbeit in der Nahrungszuteilung vergeht keine Minute, ohne dass ich einen Blick auf die Uhr werfe. Ich kann nicht erwarten, C515 wiederzusehen. Warum will er mich vor der Krankenstation treffen? Will er mir etwas zeigen?

Allein bei dem Gedanken an ihn fängt mein Herz wild zu klopfen an. Warum hat er mich nur so lange warten lassen? Aber vielleicht hätte er sich auch keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um in mein Leben zu treten. Er erscheint mir wie ein Silberstreifen am Horizont.

Um fünf Minuten vor drei Uhr schiebe ich meinen Stuhl zurück und marschiere auf D375 zu. Ungeduldig hebt er den Blick und scheint bereits Schlimmes zu ahnen.

»Was willst du?«, fragt er mich barsch.

»Ich muss auf die Toilette.«

»Es ist nicht die richtige Zeit dafür.«

Er legt seine Stirn in Falten. Die Skepsis steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und trotzdem sagt er nichts dazu. Es muss ihm doch auffallen, dass vor ein paar Monaten schon einmal eine der Arbeiterinnen mit so einer ungewöhnlichen Bitte an ihn herangetreten ist. Es ist ein Verhalten außerhalb jeder Norm – so etwas vergisst man doch nicht!

»Ich muss trotzdem. Das spüre ich.«

»Ich werde dich den Legionsführern melden müssen. Dein Verhalten ist auffällig und bedenklich.«

»Dann melde mich eben. Das ändert nichts daran, dass ich jetzt auf die Toilette muss«, entgegne ich ungeduldig.

Er wirkt unsicher, was er nun tun soll. Ich überfordere ihn mit meinem unvorhergesehenen Verhalten. Auch die anderen Arbeiter im Raum heben bereits die Blicke. Sie haben Angst vor mir.

»Ich kann dich nicht ohne eine Wache gehen lassen …« Er will bereits den Alarmknopf an seinem Tisch betätigen, doch ich hebe meine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten.

»Warte!«

Alarmiert hebt er den Blick.

»Ich weiß, wo die Toiletten sind! Es ist wirklich nicht nötig, einen Kämpfer damit zu behelligen. Die haben Wichtigeres zu tun.«

D375 schluckt. Es ist genau die Reaktion, auf die ich gehofft habe. Als er beim letzten Mal erst Zoe auf die Toilette gehen ließ und ich dann zusammen mit anderen entführt wurde, müssen die Legionsführer ihm daran zum Teil die Schuld gegeben haben. Wir standen immerhin unter seiner Obhut. Wenn auch nur ein bisschen Mensch in ihm steckt, dann erinnert er sich daran, dass ich auch damals schon an den Komplikationen beteiligt war.

»Dann geh auf die Toilette«, knurrt er widerwillig und fügt drohend hinzu: »Wenn du in fünf Minuten nicht zurück bist, rufe ich die Wachen.«

Seine Hoffnung ist, dass ich wieder auftauchen werde, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Dann ist in dieser Nacht kein auffälliges Verhalten unter seinem Kommando zu verzeichnen.

Ohne ihn weiter zu beachten, betätige ich den Scanner an der Tür. »Außerplanmäßiges Verlassen des Arbeitsplatzes. Bestätigung erforderlich.«

Ich beiße mir auf die Lippe und sehe mich verärgert nach D375 um. Er tritt mit erhobenem Kopf neben mich. »Ich bin der Abteilungsleiter. Du stehst unter meiner Aufsicht«, kommentiert er und legt seinen Finger auf den Scanner.

In dem Moment erkenne ich, dass ich mich geirrt habe. Auch hier sind die Menschen nicht gefühllos. Denn der Abteilungsleiter empfindet eindeutig so etwas wie Triumph. Er ist stolz auf seine Position.

»Bestätigung erfolgt«, verkündet die Computerstimme und die Stahltüren gleiten zur Seite. Ich trete eilig in den Flur und höre noch, wie mich D375 an die fünf Minuten erinnert.

Schnell laufe ich zur Krankenstation. Hoffentlich bin ich nicht zu spät. Doch als ich an der grünen Tür ankomme, ist von C515 nichts zu sehen. Ist etwas schiefgegangen? Panisch blicke ich mich um. Was, wenn er nicht kommt? Wenn ich länger als fünf Minuten wegbleibe, ruft der Abteilungsleiter die Wachen und sie sperren mich weg. Dann habe ich keine Möglichkeit, mit C515 zu sprechen. Ich muss wissen, was er mir sagen wollte.

Plötzlich höre ich hinter mir ein Geräusch. Es kommt aus der Krankenstation. Verschreckt stehe ich vor der Tür und überlege, was ich jetzt tun soll. Wenn jemand anderes als C515 aus der Tür tritt und mich in meinem braunen Anzug davorstehen sieht, wird derjenige wissen wollen, was ich hier tue. Was soll ich dann sagen? Die Ausrede mit der Toilette wird nur Aufsehen erregen. Wir halten uns an Zeiten. Alles in unserem Leben ist geplant, selbst der Gang zur Toilette.

Schnell renne ich zurück zu dem braunen Gang der Hilfskräfte und verstecke mich. Von dort höre ich, wie die Tür zur Krankenstation aufgleitet. Angespannt lausche ich in die Stille, doch es bleibt ruhig. Weder Schritte noch Stimmen sind zu hören.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, da höre ich eine leise Stimme. »D518?«

Ich verlasse mein Versteck und stürze auf C515 zu, der vor der Krankenstation steht.

»Ich hatte Angst, du kommst nicht mehr.«

»Wir haben nicht viel Zeit«, drängt er und öffnet die Tür zur Krankenstation mittels seines Fingerabdrucks auf dem Scanner. Er hat es eilig.

»Wofür?«

»Zoe will dich sprechen.« Er spricht ihren Namen aus, als wäre es das Normalste der Welt, dass Menschen Namen tragen und keine Bezeichnungen. Sollte er wirklich ein Spion sein? Wie kann das sein? Ich bin doch mit ihm aufgewachsen! Meine Fragen müssen jedoch noch etwas warten.

»Sie ist hier?«, rufe ich erfreut aus. Immerhin ist sie am Leben! Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet.

Sofort fährt C515 panisch zu mir herum. »Nicht so laut«, zischt er und schaut sich dabei ängstlich um.

Ich bin so glücklich, dass ich nicht aufhören kann zu lächeln. Natürlich sind wir nach wie vor Gefangene der Legion. Aber zusammen mit Zoe und C515 gibt es zumindest Hoffnung. Die Tage der Ungewissheit liegen mir jedoch noch schwer auf dem Herzen.

»Warum hast du so lange gewartet, mich zu kontaktieren? Ich dachte schon, ihr hättet mich aufgegeben«, gestehe ich, während ich ihm durch die schmalen und verwinkelten Gänge der Krankenstation folge. Abrupt bleibt er stehen und dreht sich zu mir herum.

»Ich bin kein Rebell.« Seine Worte sind deutlich, aber es liegt auch etwas Entschuldigendes in ihnen. »Ich bin Zoes Wache.«

Das erklärt gar nichts, sondern wirft nur noch mehr Fragen auf. Er gehört nicht zu den Rebellen, kennt aber trotzdem Zoes Namen und nennt sie auch so anstatt D523, wie es in der Legion angebracht wäre. Warum hätte sie sich ihm anvertrauen sollen? Sie hätte doch davon ausgehen müssen, dass er sie verraten würde. Wann hat er sich dazu entschlossen, ihr zu helfen? Wahrscheinlich dürfte er nicht einmal mit ihr reden. Doch ich kann mir gut vorstellen, dass er sich an diese Regel nicht lange halten konnte. Ich konnte es auch nicht.

Für Menschen wie uns, die nie ein freundliches Wort oder ein schlichtes Lächeln erfahren haben, ist ein Mensch wie Zoe, die vor Leben sprüht, faszinierend. Ich nehme an, er konnte sich ihrem Zauber genauso wenig entziehen wie ich damals.

Wir bleiben vor einer der vielen Stahltüren stehen und C515 klopft dagegen. Fünf kurze Schläge, ein langer und noch einmal fünf kurze.

5. 1. 5. Das muss ihr vereinbartes Zeichen sein.

»Clyde?«, ertönt Zoes fragende Stimme aus dem Inneren. Irritiert blicke ich C515 an.

»Den Namen hat sie mir gegeben«, erklärt er schulterzuckend. »Ich habe es mir anders überlegt«, zischt er danach in Richtung der verschlossenen Tür. Er hat es sich anders überlegt? Wollte er mich zuerst nicht zu ihr bringen? Wem traut er nicht? Mir oder ihr?

»Ist sie da?«, will Zoe aus dem Inneren wissen und ich weiß, dass sie mich damit meint. Ihre Stimme wirkt scheu. In den Wochen und Monaten bei den Rebellen fühlte ich mich ihr so nah. Durch die Erzählungen der anderen und vor allem von Finn war sie immer ein Teil der Gruppe, auch wenn sie nicht da war. Ich sah sie als meine Freundin an, obwohl wir in der Sicherheitszone kaum Zeit miteinander hatten.

Ich räuspere mich verlegen. »Finn geht es gut.«

Es bleibt still hinter der Tür und ich verspüre den Drang, sie in die Arme zu schließen. Sie zu wiegen, so wie Florance mich immer getröstet hat. Wie sehr muss ihr die menschliche Nähe an diesem kalten Ort fehlen. Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen und sollte es nicht anders gewöhnt sein, und trotzdem schmerzt mein Herz vor Sehnsucht. Wie muss es da erst Zoe gehen, die behütet in den liebevollen Armen ihrer Eltern groß wurde?

»Er vermisst dich«, füge ich hinzu und glaube, ein Schluchzen aus der Zelle zu hören.

»Kannst du die Tür öffnen?«, dränge ich C515, der jetzt Clyde heißt.

Er schüttelt entschuldigend den Kopf. »Das wäre zu riskant. Es könnte jemand vorbeikommen.«

»Bist du eine Spionin?«, kommt es leise aus dem Inneren der Zelle.

Ich erstarre. Wie kann sie von den Plänen der Rebellen wissen? Ertappt schiele ich zu Clyde, der mich mit großen, entsetzten Augen mustert.

»Ja, aber es ist alles schiefgelaufen«, setze ich an, werde jedoch von Clyde mit einem Stoß in die Rippen unterbrochen, denn in diesem Moment tritt eine Legionsführerin in den Flur. Sie steuert geradewegs auf Clyde und mich zu, dabei sind ihre Schritte so leise, dass sie kaum wahrnehmbar sind. Deshalb haben wir sie auch nicht kommen gehört. Panisch blicke ich zu Clyde, doch er scheint genauso ratlos wie ich.

Als die Legionsführerin vor uns anhält, erkenne ich sie wieder. Es ist A350. Anstatt uns festzunehmen oder anzufahren, was wir hier tun, schenkt sie Clyde einen zwar erhabenen, aber gleichzeitig wohlwollenden Blick.

»Gute Arbeit, C515. Sie haben D518 erfolgreich festgehalten, ab hier übernehme ich.«

Sowohl Clyde als auch ich starren sie ungläubig an. Ist das ihr Ernst?

»Folge mir«, befiehlt sie und marschiert eilig den Flur entlang. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr hinterherzugehen. Glaubt sie wirklich, dass Clyde mich gefangen hat? Wie soll ich denn allein in die Krankenstation gekommen sein? Und woher sollte ich von Zoe wissen? Oder tut sie nur so, als würde sie es glauben? Aber warum sollte sie? Sie erschien mir bereits bei unserer letzten Begegnung ungewöhnlich emotional für eine Legionsführerin. Verheimlicht sie etwas? Ist sie vielleicht mehr, als sie zu sein vorgibt?

Die Fragen türmen sich in meinem Kopf, als sie vor einer Tür stehen bleibt und sie aufstößt. Es ist eine der wenigen, die sich nicht über einen Scanner öffnen lassen, sondern altmodisch durch einen Schlüssel.

Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, blicke ich mich in dem kleinen Raum um. Es ist eine Art Behandlungszimmer mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einer Liege. Von der Decke baumelt eine Glühbirne, wahrscheinlich die letzte in der gesamten Sicherheitszone. Doch noch etwas fällt mir auf: Es gibt keine Kameras.

Fragend schaue ich zu A350. Ihr Mund ist zu einem ärgerlichen Strich verkniffen.

»Glaube nicht, dass ich nicht wüsste, was hier vor sich geht.«

Mein Hals wird plötzlich ganz trocken. Doch der wütende Blick in A350s Augen wird etwas milder.

»Aber vielleicht solltest du etwas über die Menschen wissen, für die du bereit bist, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«

Mir ist nicht ganz klar, von wem genau sie spricht. Von Zoe? Oder den Rebellen? Wie viel weiß sie wirklich?

A350 geht um den Schreibtisch herum und holt aus der Schublade einen Monitor hervor. Als sie den Bildschirm berührt, erstrahlt ein bläuliches Licht und erhellt den kleinen Raum. Vor ihrem Gesicht erscheinen viele kleine Würfel in 3D. Sie wirken so real, als könne man nach ihnen greifen.

»Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr an sie, aber du warst nicht die Einzige, die von den Verstoßenen entführt wurde.«

Doch, ich erinnere mich sehr gut. Nicht nur an Iris, sondern auch an die anderen: D276, D456 und D389. Ich habe keinen von ihnen vergessen, auch wenn ich nie erfahren habe, was aus ihnen wurde, nachdem Ruby sie mit sich genommen hatte. Allerdings habe ich auch nie danach gefragt. Ständig habe ich den Gedanken an sie von mir weggeschoben. Vielleicht wollte ich es einfach nicht wissen.

Die Legionsführerin betrachtet mich für einen Moment zögernd, dann tippt sie gegen einen der blauen Würfel vor sich. Die Kästen lösen sich langsam auf und lassen ein neues Bild vor unseren Augen entstehen.

Keuchend entfährt mir der Atem. Das Bild, das sich mir bietet, ist entsetzlich. Ich erkenne sie sofort und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Panisch schüttele ich den Kopf. Nein, das ist nicht wahr!

Vor mir sind die drei Leichen der anderen Gefangenen zu sehen. Ihre braunen Anzüge sind schmutzig, zerrissen und tragen noch den roten Sand der Höhlen an sich. Sie sind alle mit einem einzigen Schuss in den Kopf getötet worden. Ihre offenen Augen starren leblos in den Himmel. Ich möchte die Angst in ihrem Blick nicht sehen, doch ich schaffe es nicht, wegzuschauen. Zu lange habe ich die Augen verschlossen. Zu lange habe ich den Gedanken an sie verdrängt.

»Das ist, was die Verstoßenen mit Menschen machen, die nicht bereit sind, so zu leben, wie sie es für richtig halten«, erklärt mir A350 mit weicher und fast rücksichtsvoller Stimme. Sie blickt mich ernst an, doch ich kann und will ihren Worten keinen Glauben schenken. Automatisch schüttele ich erneut meinen Kopf. Nein, so etwas würden die Rebellen nicht tun.

»Du glaubst mir nicht? Was hast du denn gedacht, was mit ihnen passiert wäre? Hast du sie auch nur einmal während deiner Gefangenschaft wiedergesehen?«

Ich schweige.

»Wenn die Verstoßenen sie freigelassen hätten, wären sie jetzt hier. So wie du auch.«

Ich erinnere mich daran, wie Paul mir erzählte, dass die Legion ihre Feinde rücksichtslos erschießen würde. Damals habe ich ihm nicht geglaubt, doch jetzt liegt der Beweis für seine Worte in einem digitalen Bild direkt vor mir. Es ist genau das passiert, was er mir vorhergesagt hat, und ich hätte eine von diesen leblosen Körpern sein können. An dem Tag, als Ruby die Gefangenen mitgenommen hat, wollte ein Teil von mir mit ihnen gehen.

»Willst du wirklich für solche Menschen kämpfen? Für Menschen, die Unschuldige entführen, gegen ihren Willen festhalten und töten? Menschen, die einen Krieg provozieren, ohne dabei an die Verluste zu denken? Menschen, denen es egal ist, wie viele Unschuldige sterben müssen, solange sie selbst leben?«

Wenn sie so genau weiß, dass ich für die Rebellen arbeite, warum hat sie mich dann nicht getötet? Warum lässt sie zu, dass ich durch die Sicherheitszone spaziere, wo ich jedem mein Geheimnis anvertrauen könnte? Es stimmt nicht, was sie über die Rebellen sagt – nicht alle von ihnen sind so. Doch trotzdem steckt ein Funke Wahrheit in den Worten der Legionsführerin.

Ich beginne, über ihre Worte nachzudenken. Den Rebellen waren die Menschen in der Sicherheitszone immer egal.

Es bestand immer die Gefahr, dass die Legion mich töten würde, sobald sie mich vor ihren Toren sehen. Doch nichts dergleichen ist passiert. Sie haben mich bei sich aufgenommen, als wäre nie etwas geschehen. Selbst meine Erinnerungen haben sie mir gelassen. Warum? Ich bin nichts Besonderes für sie – nur eine von vielen.

Für die Rebellen war ich etwas Besonderes. Für sie waren Iris und ich anders. Wir waren als Einzige in der Lage, zu fühlen, wie die Rebellen es ausdrückten. Doch wäre das Grund genug für sie, die anderen Entführten einfach ihrem Schicksal zu überlassen? Ich ziehe nicht für einen Moment in Erwägung, dass einer der Rebellen selbst die Waffe auf diese wehrlosen Menschen gerichtet und abgedrückt haben könnte. Aber haben sie ihren Tod billigend in Kauf genommen, indem sie sie zurückgeschickt haben?

Ohne dass ich es möchte, muss ich an Finn und den Hass in seinen Augen denken, mit dem er mir am Anfang begegnete. Er hasste mich aus tiefstem Herzen, so wie er mich jetzt aus tiefstem Herzen liebt. Er konnte in mir nur die Legion sehen, die seine Eltern getötet und seine Schwester entführt hat. Als wir damals zusammen in die Grube stürzten, wusste ich genau, dass er mich dort zurückgelassen hätte, wenn ich allein hineingefallen wäre. Er wäre nicht zurückgekommen, um mich zu retten, so wie ich es für ihn getan habe. Es gibt nichts in Finns Leben, das er mehr hasst als die Legion. Die traurige Wahrheit ist, dass er für die Freiheit seiner Familie jeden einzelnen Bewohner der Sicherheitszone opfern würde. Für ihn sind die Menschen hier nur seelenlose Roboter.

Plötzlich legt sich die Hand der Legionsführerin auf meinen Arm. In ihren Augen lese ich Mitgefühl. »Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem Dienst, aber denk über meine Worte nach. Ein weiterer Fehler deinerseits ist inakzeptabel.«

Als ich in den frühen Morgenstunden in mein Bett falle, ist das Gefühl der Leere in mein Herz zurückgekehrt. Zoe und C515 wiederzusehen, erfüllte mich mit Hoffnung, doch die Worte der Legionsführerin haben mich nachdenklich gestimmt. Was will sie von mir?

Ich werde das Bild der ermordeten Menschen nicht mehr los. Wer trägt Schuld an ihrem sinnlosen Tod? Die Legion oder die Rebellen? Vielleicht beide gleichermaßen. Wie viel wusste Finn? Wusste er, dass sie ihrem sicheren Tod entgegengehen, als sie das Lager der Rebellen verließen?

Plötzlich öffnet sich die Tür meines Zimmers und eine Frau im blauen Anzug der Kämpfer tritt ein.

»Hast du eine Nachricht für mich?«, fragt sie mit tonloser Stimme. Ich richte mich auf und mustere sie genauer: ihren kahlen Kopf, die lichtblauen Augen, das ausdruckslose Gesicht … Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, aber es ist Ruby. In der Legion scheint sie ein völlig anderer Mensch zu sein. Bei den Rebellen wirkte sie tough und humorvoll auf mich. Sie war eine der wenigen, die Finn ein Lachen entringen konnten. Die Rebellen haben sie mit Respekt behandelt. Hier ist sie genauso kalt und leblos wie jeder andere Bewohner – sie passt perfekt ins Bild.

Warum taucht sie ausgerechnet jetzt auf? Jetzt, wo die Zweifel an meinem Herzen nagen und ich nicht mehr weiß, ob ich wirklich das Richtige tue.

»Meine Mission ist gescheitert.«

»Für eine Einschätzung dieses Ausmaßes ist es noch etwas zu früh.«

Ich blicke sie durchdringend an. Sie war es, die die Gefangenen zurück zur Legion gebracht hat. Sie kann mir all meine Fragen beantworten.

»Wusstet ihr, dass sie die Gefangenen umbringen würden?«

Sie runzelt die Stirn. »Welche Gefangenen?«

Sie kann doch unmöglich vergessen haben, von wem ich rede.

Als sie meine Bestürzung über ihre Reaktion sieht, scheint es ihr zu dämmern. »Ach so!«

»Wusstet ihr es?«, wiederhole ich meine Frage noch drängender.

»Die Rebellen haben ihnen die Chance auf ein Leben gegeben. Sie wollten diese jedoch nicht annehmen. Das, was danach kam, lag in den Händen der Legion. Sie haben die Entscheidung getroffen, nicht die Rebellen.«

»Die Rebellen haben sie entführt!«, werfe ich ihr vor, völlig außer mir. »Sie hatten ein Leben und das hat man ihnen entrissen!«

Ruby zieht argwöhnisch ihre linke Augenbraue hoch. So sieht sie mehr wie die Person aus, die ich kennengelernt habe. »Kaum bist du ein paar Tage zurück, schon weißt du nicht mehr, auf welcher Seite du stehst«, zischt sie mir anklagend entgegen.

»Vielleicht liegt es daran, dass beide Seiten falsch sind!« Keiner von ihnen schert sich um das Leben der einfachen Bewohner der Sicherheitszone.

»Ist das deine Nachricht, die ich übermitteln soll?«, fragt sie mich herausfordernd.

Für Finn wird es ein Schlag ins Gesicht sein. Ich möchte ihn nicht verletzen, aber ich kann auch nicht für Menschen arbeiten, hinter deren Zielen ich nicht stehe. Ich weiß, sie würden in ihrem Kampf gegen die Legion keine Rücksicht auf die Menschen der Sicherheitszone nehmen, und das kann ich nicht zulassen. Vielleicht sind diese Menschen nicht so voller Gefühl wie sie selbst, aber das ändert nichts daran, dass es Menschen sind, die genauso atmen wie sie. Niemand hat das Recht, ihnen das zu nehmen.

Ich habe das Gefühl, endlich wieder zu mir selbst zu finden und klar zu sehen: Ich bin keine Rebellin, aber ich bin auch keine Anhängerin der Legion. Ich sehe mich in jedem einzelnen Bewohner der Sicherheitszone und ich möchte, dass jeder von ihnen das sehen und fühlen darf, was ich erfahren habe. Sie sollen spüren, was Freiheit bedeutet.

»Ich kämpfe weder für die Rebellen noch für die Legion, sondern für das Recht auf Leben eines JEDEN Menschen.«

04. TREUE WIRD BELOHNT

Es ist leichter, die Tage mit einem Ziel vor Augen zu überstehen. Wenn man weiß, wofür man morgens aufsteht, hat der Tag einen Sinn. Früher war es mein Ziel, eine gute Klassifizierung zu erreichen. Während der Entführung war es das blanke Überleben. Danach, zurück in der Legion, so viel wie möglich herauszufinden, um den Rebellen helfen zu können.

Ich wusste immer, wo ich hingehöre, doch jetzt fühle ich mich einsamer denn je. Enttäuschungen waren meinem Leben fremd. Wer nie hofft, kann nicht enttäuscht werden. Wer keine eigenen Entscheidungen trifft, kann keine falschen treffen. Mir wird bewusst, dass Freiheit einen Preis hat. Aber ich weiß nicht, was ich bereit bin, dafür zu zahlen, und so sitze ich in einer endlosen Schleife aus Arbeit und Schlafen fest. Es ist jeden Tag das Gleiche. Der einzige Sinn in meinem Leben besteht darin, die Nahrungsrationen zu verteilen, und selbst diese Aufgabe ist unnötig, denn das System macht keine Fehler. Es gibt nichts in meinem Leben, wofür es sich noch zu leben lohnen würde. Alles, worauf ich meine Hoffnungen gesetzt habe, hat sich als falsch herausgestellt. Ich fühle mich wie gefangen in meiner eigenen Hülle.

Diese Gedanken schleichen sich wie Nebel in meinen Kopf, während ich vor dem Monitor sitze und mechanisch die Pillen und Tabletten bestätige. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Das passiert immer, wenn man lange Zeit auf einen Punkt starrt. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich meine Seele aus meinem Körper zurückzieht? Wochen? Monate? Jahre? Ich wäre fast dankbar dafür, denn jedes Gefühl und jeder Gedanke schmerzt.

Selbst als das Signal zum Ende der Schicht ertönt, stellt sich bei mir keine Erleichterung ein. Auch jetzt erwartet mich keine aufregende Abwechslung. In der Sicherheitszone haben die Menschen keine Freizeit. Es gibt keine Hobbys und nicht einmal Zeit, um sich zu unterhalten. Niemand redet mit dem anderen, wenn es nicht sein muss. Kommunikation ist unnötig.

Obwohl ich mich wieder anpassen wollte, schaffe ich es nicht, den Computerraum in dem gleichen eiligen Schritt der anderen Arbeiter zu verlassen. Ich muss mich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Am liebsten würde ich mich auf den Boden schmeißen und schreien, schluchzen und weinen. Sie würden mich in der Krankenstation wegschließen – so wie Zoe. Es wäre nichts anderes. Egal wo sie mich auch hinbringen, in der Sicherheitszone ist man immer gefangen.

Ohne auch nur den Kopf zu heben, schleiche ich durchs Atrium. Die beweglichen Bilder interessieren mich nicht mehr. Es ist alles nur eine Illusion. Plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg. Überrascht hebe ich den Kopf. Es ist Clyde.

»Geht es dir gut?«, fragt er mich und ich bilde mir ein, Sorge aus seiner Stimme herauszuhören. Rund um uns herum hasten die anderen Bewohner vorbei, ohne überhaupt Notiz von uns zu nehmen. Es ist, als würde für uns die Zeit stillstehen, während sie für alle anderen weiter rennt.

»Ich bin funktionsfähig«, antworte ich ihm nüchtern. Doch Clyde scheint hinter die Mauer blicken zu können, die ich mir sorgfältig errichtet habe. Er sieht den Schmerz und die Verzweiflung in meinem Inneren.

»Danach habe ich nicht gefragt.« Er schweigt und wir blicken uns in die Augen. Es ist ein vertrauter Moment. Wir kennen uns, seitdem wir denken können, aber wissen trotzdem nichts über den anderen. Nichts, was wichtig ist.

»Ich habe dich gesehen«, sagt er plötzlich und ich verstehe nicht, was er damit meint. Fragend lege ich meine Stirn in Falten. »Draußen.«

Ungläubig reiße ich meine Augen auf und starre ihn entsetzt an. Wie soll das möglich sein?

»Ich war bei dem Einsatz dabei, als die Verstoßenen auf die Strommauer gestoßen sind. Du bist in die Hügellandschaft geflüchtet und ich bin dir gefolgt.«

Er war es. Der C-ler, der das Gewehr vor mir sinken ließ. Der Kämpfer, den Finn niederschlug.

»Ich habe dich sofort erkannt, obwohl du anders aussahst.«

Allein die Erinnerung an Cleo, die hoffnungsvolle Person, die ich damals war, treibt mir die Tränen in die Augen. »Meine Haare waren gewachsen und meine Augenfarbe hatte sich verändert …«

Er unterbricht mich. »Das meine ich nicht. Du sahst lebendig aus.«

Das Wort schwebt zwischen uns wie eine Wolke. Er hat Recht. Genau so habe ich mich damals gefühlt. Ich habe geglaubt, ich könnte die Welt verändern und alles schaffen, wenn ich nur den Mut dafür finde. Dieses Gefühl ist es, das ich jeden Menschen in der Sicherheitszone wenigstens einmal in seinem Leben spüren lassen möchte. Aber es soll nicht der letzte Moment ihres Lebens sein. Deshalb habe ich mich von den Rebellen abgewandt. Ihnen ist das Schicksal der Bewohner egal, mir nicht.

»Die Legion hat uns gesagt, dass die Reste der Radioaktivität die Verstoßenen verrückt und aggressiv gemacht hätten. Aber du warst nichts von beidem. Das hat meine ganze Sichtweise verändert.«

»Die Rebellen haben mich entführt«, erwidere ich kleinlaut.

»Du bist freiwillig bei ihnen geblieben«, entgegnet er jedoch. »Du hast an ihrer Seite gekämpft.«

Damals dachte ich, wir hätten dieselben Ziele. Damals war ich wie sie. Damals war ich eine Rebellin, wenn auch nur kurz.

Weil ich nichts sage, spricht er weiter. »Zoe hat mir von ihrem Leben erzählt. Von ihren Eltern, ihrem Bruder, dem Essen, den Tieren, den Pflanzen und so vielem mehr, das ich mir gar nicht alles merken kann. Ich habe nie zuvor jemanden mit solch einer Begeisterung und Liebe sprechen hören. Ihre Worte waren wie eine Melodie, die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich sehne mich danach, all das mit eigenen Augen zu sehen. Ich möchte Kuchen schmecken und den Wind in meinen Haaren spüren. Ist es wirklich so schön, wie Zoe sagt?«

Ich spüre, wie meine Hände zu zittern beginnen. Die Art, wie er mich ansieht, lässt mich wissen, dass viel mehr von meiner Antwort abhängt, als es den Anschein macht. Er hat als Kämpfer die Welt außerhalb der Sicherheitszone gesehen und ist trotzdem zurückgekehrt. Er muss voller Zweifel sein, genau wie ich. Er weiß nicht mehr, wem er glauben kann. Die Wahrheit ist: niemandem. Zoes Worte haben die Sehnsucht nach Freiheit in ihm geweckt. Eine Sehnsucht, die wohl immer ein Traum bleiben wird.

Ich greife nach seiner Hand, die genauso kalt ist wie meine. Ich denke nicht an all die Kameras, die uns beobachten, und auch nicht an die Menschen um uns herum. Für sie sind wir unsichtbar. Sie sind nicht in der Lage, sich für andere zu interessieren. Es ist egal, was wir tun und worüber wir miteinander sprechen.

»Es ist wunderschön, aber der Preis, den die Freiheit kostet, ist zu hoch.«

Irritiert blickt er mich an. »Was für ein Preis?«

»Die Verstoßenen interessieren sich nicht für Menschen wie uns. Wir sind für sie nur Mittel zum Zweck. Sie sehen uns nicht einmal als Menschen an. Für sie sind wir Roboter, ohne die Fähigkeit, zu fühlen.«

Clyde schüttelt ungläubig den Kopf. »Warum warst du dann eine von ihnen?«

»Weil sie in mir etwas gesehen haben, das ich nicht bin.« Als ich ihre Gefangene war, wollte ich nichts lieber, als zu sein wie sie. Nun bin ich froh, dass ich es nicht bin. Ich kenne meine Wurzeln und sie reichen so tief, dass ich ohne sie nicht existieren kann. »Die Verstoßenen möchten die Legion zerstören und ihnen ist egal, wie viele Bewohner der Sicherheitszone dabei sterben werden.« Sie wollten mich dafür benutzen.

Geschockt blickt er mir entgegen und entzieht seine Hand der meinen. »Zoe ist anders.«

»Solange sie hier ist. Aber müsste sie sich zwischen uns und ihrer Familie entscheiden, würde sie nicht eine Sekunde zögern.« Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Die Rebellen sind ihre Wurzeln, so wie meine die Sicherheitszone sind.

Clyde wirkt erschüttert. »Warum sagst du so etwas? Was hat die Legionsführerin mit dir gemacht?«

»Sie hat mir die Augen geöffnet.« Eindringlich schaue ich ihn an. »Vergiss, was Zoe dir erzählt hat. Vergiss, was du dort draußen in meinen Augen gesehen hast. Es war eine Lüge. So unecht wie die Bilder des Atriums.«

Clyde schüttelt energisch den Kopf. »Nein! Du weißt, dass das nicht stimmt. Augen können nicht lügen.«

Mit diesen Worten lässt er mich stehen und geht. Nun bin ich wirklich allein. Das Atrium hat sich geleert. Die anderen Bewohner sind schon längst in ihren Zimmern, während ich mitten im Blick der Kameras stehe. Ich schaue ihnen provozierend entgegen. Es gibt nichts, das die Legion mir noch antun könnte. Mein Wille ist gebrochen und jegliche Hoffnung gestorben.

Mir fallen langsam die Augen zu, während ich auf den Bildschirm vor mir starre. Ein herzhaftes Gähnen entfährt mir und ich schlage erschrocken die Hand vor meinen Mund. Was ist denn nur los mit mir? Früher war ich doch nicht so. Früher habe ich mich wenigstens bemüht, einen Sinn in meiner Arbeit zu sehen.

Früher saß Zoe neben mir.

Ich blicke mich gelangweilt in dem Raum um, doch niemand erwidert meinen Blick. Alle sind vertieft in die Monitore vor sich. Niemand gähnt oder streckt sich, stattdessen sitzen sie alle mit aufrechter Haltung da, so als gebe es auf dem Bildschirm etwas Interessantes zu sehen.

Unruhig tippe ich mit meinen Fingern auf die Tischplatte, sodass ein leises Geräusch entsteht. Ich ändere den Rhythmus und versuche ein Lied nachzuspielen, das ich bei Jep und Pep gehört habe. Zu spät bemerke ich, dass ich damit nun doch die Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Ich schaue erst empor, als sich der Dienstleiter bereits missbilligend vor mir aufbaut.

»Was tust du da?«, will er von mir wissen. In seinen Augen lese ich deutlich, was er über mich denkt: Verrückte!

»Musik«, entgegne ich schlicht und klopfe wie zur Bestätigung noch ein paarmal auf den Tisch.

»Ich werde dich melden«, droht er mir erneut. Aber was soll schon passieren? Es ist egal, ob sie mich hier oder in der Krankenstation gefangen halten. Die Zeit bei den Rebellen hat mich irreparabel zerstört. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch und werde es auch nie wieder sein. Fast wünsche ich mir, dass die Legion mir meine Erinnerungen einfach genommen hätte. Es wäre so viel leichter.