Die vergessenen Theaterstücke - Maria Lazar - E-Book

Die vergessenen Theaterstücke E-Book

Maria Lazar

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Beschreibung

Mit "Der blinde Passagier", "Die Hölle auf Erden" und "Die Liebe höret immer auf" präsentiert der Verlag Das vergessene Buch erstmals drei bis vor kurzem unveröffentlicht und unaufgeführt gebliebene Theaterstücke aus dem Nachlass der mittlerweile im In- und Ausland erfolgreich wiederentdeckten österreichisch-jüdischen Exilschriftstellerin Maria Lazar (1895–1948). Nach der erfolgreichen Inszenierung von Lazars Einakter "Der Henker" (2019) und der gefeierten Dramatisierung ihres antifaschistischen Widerstandsromans "Die Eingeborenen von Maria Blut" (2023) am Wiener BURGTHEATER lädt dieser Band ein, den Facettenreichtum und das dramaturgische Genie einer absoluten Ausnahmeautorin zu entdecken, deren Gesamtwerk in seiner politischen Klarsicht so aktuell scheint wie nie zuvor. Mit einem umfangreichen Nachwort zur Theaterautorin Maria Lazar von FAZ-Theaterkritiker und Bestsellerautor SIMON STRAUSS. „Ihr Werk harrt weitgehend noch der Entdeckung…“ – Margarete Affenzeller, DER STANDARD "Die Theaterautorin Maria Lazar wird bald kein Geheimtipp mehr sein..." – SIMON STRAUSS

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2025

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SIMON STRAUSS, geb. 1988 in Berlin, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Es folgten Hospitanzen und eine Gastdramaturgie am Theater. Mitorganisator des Jungen Salons in Berlin. Von 2012 bis 2016 Promotionsstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er mit einer Dissertation unter dem Titel Von Mommsen zu Gelzer? Konzeptionen römisch-republikanischer Gesellschaft in ›Staatsrecht‹ und ›Nobilität‹ abschloss. Seit Oktober 2016 ist er Theaterkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2017 veröffentlichte er sein erzählerisches Debüt Sieben Nächte, das zu einem Bestseller avancierte. Seit 2018 gehört er zum Vorstand des Vereins Arbeit an Europa e. V. 2020 gab er bei Tropen die vielbeachtete Theateranthologie Spielplanänderung. 30 Stücke, die das Theater heute braucht heraus. Zuletzt erschien seine Novelle zu zweit.

MARIA LAZAR (1895–1948) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Wiener Familie. Sie absolvierte das berühmte Mädchengymnasium der Eugenia Schwarzwald, in deren Salon Oskar Kokoschka sie 1916 porträtierte und in dem sie mit zahlreichen prominenten Figuren der damaligen Wiener Kulturszene zusammentraf, darunter Adolf Loos, Hermann Broch, Elias Canetti und Egon Friedell. Seit den frühen 20er Jahren war sie als Übersetzerin tätig und schrieb für renommierte österreichische, skandinavische und Schweizer Zeitungen. Erst als sie 1930 zum nordischen Pseudonym Esther Grenen greift, stellt sich quasi über Nacht ihr verdienter literarischer Ruhm ein; ein Erfolg, der allerdings durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten ein jähes Ende findet. Aufgrund des repressiven Klimas verlässt sie schon 1933 mit ihrer Tochter Österreich und geht zuerst, gemeinsam mit Bertolt Brecht und Helene Weigel, ins Exil nach Dänemark. 1939 flüchtet sie nach Schweden und scheidet 1948 nach einer langwierigen, unheilbaren Krankheit freiwillig aus dem Leben. Ihr breitgefächertes und wagemutiges literarisches OEuvre geriet schon vor 1945 völlig in Vergessenheit. Im Verlag Das vergessene Buch werden ihre literarischen Werke seit Ende 2014 sukzessive wiederentdeckt.

MARIA LAZAR

DIE VERGESSENEN THEATERSTÜCKE

Erstmals aus dem Nachlass herausgegeben von Albert C. Eibl

Mit einem Nachwort von Simon Strauß

Die drei in diesem Band versammelten Theaterstücke Maria Lazars, wahrscheinlich zwischen 1933 und 1939 im dänischen Exil entstanden, sind noch nie veröffentlicht worden und werden hier erstmals aus dem Nachlass herausgegeben – auf Grundlage der in der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien aufbewahrten Typoskripte letzter Hand.

Erstausgabe 2024

Das vergessene Buch | www.dvb-verlag.at

Copyright © by DVB Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Die Printausgabe, die dieser digitalen Ausgabe zugrunde liegt, wurde vom österreichischen Bundesministerium gefördert.

Umschlaggestaltung: Lukas Spreitzer, Wien, unter Verwendung eines Portraitfotos der Autorin aus dem Nachlass

Satz: philotypen, Dortmund

Bühnenaufführungsrechte: Thomas Sessler Verlag, Wien

ISBN 978-3-903244-38-2

Maria Lazar in den 1930er Jahren © Österreichische Exilbibliothek – Literaturhaus Wien

INHALT

Der blinde Passagier

1938/39

Die Hölle auf Erden

Mitte 1930er Jahre

Die Liebe höret immer auf

Mitte 1930er Jahre

Dramatische Zeugnisse einer brennenden Zeit. Die Theaterautorin Maria Lazar

Nachwort von Simon Strauß

Editorische Anmerkung und Dank

von Albert C. Eibl

DER BLINDE PASSAGIER

Ein Schauspiel

1938/39

PERSONEN

Petersen, Kapitän

Nina, seine Tochter

Carl, sein Sohn, Leichtmatrose

Die Mutter

Jörgen, Steuermann

Hartmann, ein Fremder

Die Handlung spielt auf einem Paketboot

Nach dem 3. und 6. Bild größere Pause

ANMERKUNGEN

Kapitän Petersen ist ein gutmütiger älterer Mann mit zufriedenem Gewissen und einem Hang zu unbefangener Heiterkeit.

Carl ist noch sehr jung, ein verschlossener und schwerfälliger Bursche, störrisch und ungeschickt, wenn es gilt, seine Meinung durchzusetzen.

Nina ist ein trivial hübsches Mädchen, sie kann ganz reizend aussehen in Hosen und Pullover, wenn sie sich »fein« macht, wirkt sie leicht ordinär. Ihr Gefühlsleben ist so ungeweckt, dass die Ereignisse sie bis zu einem Grade, der an Hysterie grenzt, aus dem Gleichgewicht bringen.

Die Mutter ist eine kleinbürgerliche ältliche Hausfrau, selbstgefällig und etwas weinerlich in dem Bewusstsein, ihr Leben der Familie geopfert zu haben.

Jörgen ist nicht mehr ganz jung, hübsch und eitel. Wird er in seiner männlichen Sicherheit gestört, so kann er richtig böse werden.

Hartmann ist ein zarter Mensch, wohlerzogen, zurückhaltend und mit einer Neigung zu resignierter Ironie.

Das Paketboot ist eines jener kleinen Schiffe, welches den Handel an nicht zu fernen Küsten besorgt.

Der Malebrock ist ein Kinderlied, eine Verhunzung des französischen Malborough.

1. BILD

Die Kajüte eines Paketboots.

Vier Kojen, je zwei übereinander. Zwischen ihnen großer Tisch. Rechts Schränkchen mit Radioapparat. Darüber Spiegel. Links Tür, hinter der die Treppe an Deck führt. An ihr Kleiderhaken. Daneben kleiner Eisenofen.

Wie der Vorhang aufgeht, steht Carl mitten im Raum, gespannt lauschend. Dann wirft er einen Blick um sich, richtet die Tischdecke, rückt einen Stuhl zurecht, bückt sich neben dem Ofen, hebt etwas auf, was er rasch in eine der oberen Kojen wirft.

Man hört von weitem Männerstimmen. Carl nimmt eine Zeitung vom Schränkchen, setzt sich an den Tisch, breitet die Zeitung auf, scheint mit aufgestützten Ellbogen plötzlich in ihre Lektüre versunken. Tritte von oben. Die Stimmen werden lauter.

NINAS STIMME lebt wohl, adieu und vielen Dank. Es war ein reizender Abend. Auf Wiedersehen.

Die Tür ging inzwischen auf. Man sieht auf der Treppe ein Paar Mädchenbeine in Seidenstrümpfen.

NINAS STIMME auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!

MÄNNERSTIMMEN(durcheinander) Wiedersehen, – schönes Fräulein – Wiedersehen – Heil!

NINAS STIMME(hell und klar) Heil!

CARL(zuckt zusammen, starrt gleich darauf wie vorher in seine Zeitung)

NINA(kommt nun, lässt die Tür hinter sich offen. Sie trägt einen dunklen Wollmantel, modernes Hütchen, darunter auffallend viel Locken. Sie hat einige Pakete bei sich, die sie auf das Schränkchen legt. Ist sehr angeregt) also, das war was. Zu schade, dass du nicht mit uns gewesen bist. Diese Geschäfte (nimmt den Hut ab) und zuerst beim Friseur (sieht in den Spiegel) ganz ein feiner. Na, was meinst du, wie sehe ich aus? (wendet sich um)

CARL(hat den Kopf gehoben) mach die Tür zu.

NINA nett bist du nicht. Übrigens, Jörgen muss gleich kommen. Wo bleibt er nur? (ruft zur Tür hinaus) Jörgen! Jörgen! (wieder vor dem Spiegel, zupft an den Löckchen) der kann sich gar nicht trennen von unseren Freunden.

CARL(in die Zeitung starrend) was für Freunden?

NINA aus dem Café. Wir waren nämlich nachher im Café. Du, dort gab es eine Masse Leute. Reizende Leute. Sie haben alle mit uns zu sprechen versucht. Und uns zugetrunken. Und getanzt haben wir dann auch.

CARL mach die Tür zu.

NINA(indem sie weiter an ihren Löckchen zupft) ja, ja, sofort, ich sage dir doch, Jörgen muss jeden Augenblick kommen. Und hier ist es zum Ersticken heiß. (legt den Mantel ab) sieh mal her! (sie trägt ein schwarzes Seidenkleidchen mit einer riesigen rosa Chrysantheme an der Schulter. Auf diese deutend) die hat Jörgen mir eben gekauft. Ist mein Kleid nicht wie neu?

CARL(indem er den Kopf kaum hebt) kann schon sein.

NINA du bist unausstehlich. (zu Jörgen, der inzwischen über die Treppe gelaufen kam und die Tür hinter sich schließt) Jörgen, er sieht nicht einmal meine Blume an.

JÖRGEN lass ihn. Er hat dafür noch nicht den rechten Blick. (indem er seine Jacke auszieht und an den Haken hängt) das kommt mit den Jahren. So wie bei mir. Zeig dich mal her. Schick siehst du aus. Ganz wie im Film. Hier merkt man es erst. (nimmt ihren Kopf zwischen die Hände) die Locken, die Locken! Und der Mund! Mädel, hast du dich angestrichen! (küsst sie plötzlich sehr heftig auf den Mund)

NINA au, au, lass los (reißt sich los) du wirst mir meine Blume zerquetschen.

JÖRGEN ach was, die Blume.

CARL ihr seid wohl betrunken.

NINA gar nicht. Man wird noch ein bisschen vergnügt sein dürfen. (hängt ihren Mantel an den Kleiderhaken)

JÖRGEN(indem er sich Carl gegenüber setzt) betrunken? Im Gegenteil, ich hätte nichts gegen ein Gläschen. Der raue Nebel draußen (räuspert sich)

CARL kommt Vater nicht bald?

JÖRGEN weiß nicht. Wir haben ihn gleich unterwegs verloren. Er wollte wichtige Wege machen. (indem er seine Pfeife stopft) es gibt vielleicht ein kleines Geschäft.

CARL was für ein Geschäft?

JÖRGEN eine Last natürlich. Kann sein, dass wir an der Küste bleiben.

CARL(erschreckt auffahrend) du meinst, wir segeln morgen nicht zurück, nachhause?

JÖRGEN(gleichmütig seine Pfeife rauchend) der Alte sagte so etwas.

CARL aber das gibt es doch nicht.

JÖRGEN warum denn nicht?

CARL es ist – wir sind lange genug unterwegs – und außerdem, wenn Mutter Geburtstag hat –

NINA(die unterdessen ihre Pakete geöffnet und einiges in eine Lade des Schränkchens gelegt hat) zu Mutters Geburtstag sind wir natürlich längst wieder da. (indem sie plötzlich aufmerksam in der Kajüte herum sieht) hast du so fein hier Ordnung gemacht?

CARL(in die Zeitung starrend) meinst du mich?

NINA weißt du vielleicht, wo mein Nähzeug ist?

CARL ja – oder nein – das heißt –

NINA(zeigt neben das Radio) dort lag es.

CARL(greift hinter sich in die Koje) hier vielleicht –

NINA dort?

CARL oder, warte (öffnet die Tischlade, nimmt eine Schachtel heraus, reicht sie ihr) da ist es.

NINA(kopfschüttelnd) was fällt dir nur ein.

CARL ich kann nicht leiden, wenn alles so herum liegt.

NINA(spitz) so. (setzt sich auch an den Tisch) noch nicht bemerkt, dass du so ordentlich bist.

JÖRGEN(behäbig) Kinder, Kinder, es ist nicht schön, wenn Geschwister sich zanken. Wer weiß, wie lange ihr zusammen bleibt.

CARL wieso?

NINA wir wollen heiraten. Im März.

CARL(verbissen) ich gratuliere.

NINA aber Carl!

CARL verzeih, ich habe es nicht so gemeint. Ich dachte nur, es wird nicht gar so bald.

JÖRGEN bald? Im März, das ist nicht gar so bald. Das sind noch fast vier Monate. Bis dorthin haben wir unser Haus. Ich nehme Heuer auf einem großen Schiff. Es gibt jetzt Angebote. Wie lange dauert es und Nina ist Frau Kapitän. Ein Junge, zwei Jungen vielleicht –

NINA und wenn es ein Mädel wird. (zu Carl) gib mir mal deinen grauen Pullover.

CARL wozu?

NINA mein Gott, du hast mich doch heut morgen erst darum gebeten. Das Loch am Ellbogen –

CARL das hat Zeit.

NINA es passt mir aber jetzt. Wo hast du den Pullover?

CARL ich weiß es nicht. Lass mich in Ruh.

NINA(beugt sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ernst und gar nicht böse) sag mal, was ist mit dir?

JÖRGEN der Herr ist schlecht gelaunt.

NINA fehlt dir etwas?

CARL(aufbrausend) könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen.

NINA jetzt gibst du den Pullover her.

CARL ich weiß nicht, wo er ist.

NINA wo wird er schon sein. (aufstehend) du Schlampsack wirfst doch alles immer in deine Koje. (greift nach der einen Koje oben) was ist denn das? (hält einen Strumpf in der Hand) ein Strumpf?

CARL(ist aufgesprungen, reißt ihr den Strumpf wütend aus der Hand, wirft ihn in die Koje zurück) meine Sachen gehen dich nichts an.

NINA(verwundert) aber Junge –

JÖRGEN(packt Carl beim Ärmel) was fällt dir ein. Mir kommt fast vor, als wärest du betrunken.

NINA(zieht Jörgen zurück) Jörgen, ich bitte dich –

CARL(indem er sich wieder setzt und mit aufgestützten Ellbogen in seine Zeitung starrt) sei mir nicht bös, Nina. Ich wollte dich nicht kränken.

NINA(wie vorher) Carl, was ist mit dir?

JÖRGEN(der sich wieder gesetzt hat und brummend an seiner Pfeife kaut) ich sage doch, der Herr ist schlecht gelaunt. Das kommt davon, wenn man die ganze Zeit in der Kajüte hockt.

NINA(indem sie in ihrer Nähschachtel kramt) wirklich Carl, es wäre besser gewesen, du wärst mit uns gekommen.

JÖRGEN was weißt du überhaupt von diesem Land. (Handbewegung gegen die Tür hin) Nichts, als was in deinen Zeitungen steht.

CARL es sind nicht meine Zeitungen. Es sind die ihren.

JÖRGEN bildest dir ein, dass die Mörder in den Straßen herum laufen und dass alles (dieselbe Handbewegung) wie ein Gefängnis ist.

CARL wie ein Gefängnis – oh noch viel schlimmer.

JÖRGEN es gibt Leute, die anderer Ansicht sind.

CARL da kann man keiner anderen Ansicht sein.

NINA wieso?

CARL weil, was sie tun, kein Geheimnis ist. (auf das Radio deutend) du brauchst ja nur dort anzudrehen. Aber freilich, du suchst lieber Tanzmusik.

NINA hörst du deshalb immer ihre Sender?

JÖRGEN ich verstehe die Sprache nicht. Und außerdem, ich frage nur: was geht es uns an?

CARL das fragst du?

JÖRGEN in seinem Land kann jeder tun, was er will. Wir würden uns von unseren Nachbarn auch nichts drein reden lassen. Man darf die Nase nicht in alles hinein stecken. Das tut nicht gut.

CARL(in die Zeitung starrend) wann wollt ihr heiraten? Im März?

NINA Jörgen hat recht. Und Vater fährt seit Jahren hier an der Küste. Er würde es nicht tun, wenn es was Unrechtes wäre. Und alle Leute sind immer freundlich zu ihm. Vater hat es unlängst erst wieder gesagt: er meint, dass vieles übertrieben ist.

CARL was ist übertrieben.

NINA nun, was man eben so bei uns erzählt.

CARL das wird er aber nicht lange mehr meinen.

NINA(die inzwischen weiter in ihrer Nähschachtel gekramt hat, hebt plötzlich den Kopf) bist du den ganzen Nachmittag zuhaus gewesen.

CARL natürlich. Wo denn sonst.

JÖRGEN hast du den Seewetterbericht gehört?

CARL nein.

JÖRGEN nein?

NINA aber Carl. Vater hat dich doch darum gebeten.

JÖRGEN(indem er auf seine Uhr sieht) da dürfen wir den nächsten nicht versäumen. (steht auf, räkelt sich) wenn du mein Sohn wärst oder ich auf diesem Schiff der Kapitän –

CARL man wird noch was vergessen dürfen.

NINA(zu Jörgen) dreh lieber gleich das Radio an. Vielleicht gibt es ein bisschen Musik.

Man hört mehrere Sirenen auf einmal.

NINA mein Gott, was ist das.

JÖRGEN(indem er auf das Radio zutritt und es andreht) die Sirenen. Der Nebel wird immer dicker.

NINA aber gleich so viele auf einmal?

JÖRGEN(neben dem Radio an seiner Pfeife ziehend, gleichmütig) es fahren eben mehrere Schiffe ein. Wir sind in einem großen Hafen. Übrigens, es sollte mich nicht wundern, wenn wir morgen nicht weiter könnten. Da gehen wir nochmals in unser Café. Du, das wird ein toller Empfang.

CARL der Nebel liegt nur hier so dick. Wenn wir nachhause fahren auf offener See –

JÖRGEN du hörst doch, dass der Alte eine neue Last bekommt. Wir bleiben sicherlich noch an der Küste.

CARL(aufstehend) Vater hat mir nichts davon gesagt.

NINA er wusste es wohl selbst noch nicht genau.

CARL das kann nicht sein – ich fahre da nicht mit – ich will zurück – Nina (beschwörend) wenn Mutter Geburtstag hat –

Im Radio hat eine leise Tanzmusik eingesetzt.

NINA Mutters Geburtstag ist in vierzehn Tagen.

CARL(wie hilfeflehend) Nina –

Die beiden Geschwister sehen sich einen Augenblick an.

CARL(plötzlich) ich gehe jetzt an Deck. Ein wenig Luft schnappen. (läuft hinaus, wirft die Tür hinter sich zu)

JÖRGEN ich sag es immer, der Junge ist zu verwöhnt. Die ganze Zeit auf seines Vaters Schiff, das gibt ihm keine Disziplin. Er muss mal raus. Was hast du da?

NINA(ist inzwischen aufgestanden und hat den Strumpf aus Carls Koje genommen. Indem sie ihn aufmerksam betrachtet) ein Strumpf von Carl. Ich sehe nach, ob er zerrissen ist.

JÖRGEN es fehlte nur, dass du ihn auch noch bittest, ob du sein Zeug zusammenflicken darfst. Das ist nicht richtig, Nina. Und warum will er nur so rasch zurück? Du, ich sage dir, der hat zuhaus ein Mädel.

NINA(indem sie den Strumpf zurück in die Koje wirft) meinethalben. Ich gönn es ihm. (auf das Radio zutretend) warum so leise? (dreht es stärker an)

JÖRGEN du bist immer auf seiner Seite.

NINA und du hackst immer auf ihn. (vor dem Spiegel über dem Radio die Löckchen zupfend) statt dass du freundlich mit mir bist und mit mir tanzt. (er legt den Arm um sie) wo ich doch heut so schön bin – oder nicht – (singt den Schlager, den das Radio spielt, mit)

Sie tanzen. Und während sie tanzen erscheint Kapitän Petersen in der Tür, stutzt und singt dann händeklatschend den Schlager mit.

NINA(indem sie sich plötzlich von Jörgen losreißt und Petersen an den Hals fliegt) Vater!

PETERSEN tanzt weiter, Kinder, lasst euch nicht stören.

NINA kommst du aber spät.

PETERSEN(indem er den Mantel ablegt und ihn Nina gibt, die ihn an den Haken hängt) Geschäfte, Geschäfte, gute Geschäfte. (summt den Schlager mit, setzt sich an den Tisch) wo ist Carl?

JÖRGEN an Deck.

PETERSEN hab ihn nicht gesehen.

NINA(sich vor den Vater stellend) wie gefällt dir meine neue Frisur?

PETERSEN viele Locken. Sehr viele Locken. Muss das jetzt bei euch Frauenzimmern sein?

JÖRGEN wir bleiben also an der Küste? (setzt sich neben Petersen)

PETERSEN die nächsten Tage. Wir kriegen morgen eine neue Last. Gib den Wermuth her, Nina, den feinen, den teuern. Wir wollen einen darauf trinken. Und stell das Radio ab.

JÖRGEN aber der Seewetterbericht –

PETERSEN schon gehört. Alles in Ordnung. Viel Küstennebel. Glatte See.

Nina stellt das Radio ab.

CARL(erscheint etwas zögernd in der Tür) guten Abend, Vater.

PETERSEN guten Abend, Junge. Wo treibst du dich herum? (nach der Flasche greifend, die Nina eben auf den Tisch gestellt hat, und sie gegen das Licht hebend) Donnerwetter! Da hat einer einen tüchtigen Schluck gemacht.

NINA aber Vater.

JÖRGEN ich war es nicht.

CARL(setzt sich schweigend an den Tisch)

NINA(indem sie drei Gläser auf den Tisch stellt, halblaut) es fehlt ein Glas.

CARL lass sein. Ich trinke ohnehin nicht mit.

JÖRGEN hast deinen Teil wohl schon gehabt.

NINA red keinen Unsinn, Jörgen.

JÖRGEN wieso? Wer denn sonst hat hier Wermuth getrunken?

NINA wenn du es wissen willst: ich. (setzt sich als vierte an den Tisch)

PETERSEN alle Achtung, Mädel. Da hast du einen guten Zug.

NINA(indem sie einschenkt) es gibt nichts besseres gegen Erkältung. Und ich hatte solche Halsschmerzen. Und ich wollte doch so gern in die Stadt, zum Friseur und meine Besorgungen machen. (hebt ihr Glas) zum Wohlsein!

PETERSEN UND JÖRGEN(heben auch ihre Gläser) zum Wohlsein!

NINA(reicht ihr Glas, an dem sie kaum genippt hat, Carl) da hast du. Nimm auch einen Schluck. (er tut es)

PETERSEN(indem er sein Glas nochmals hebt) und auf gute Fahrt!

JÖRGEN(auch sein Glas hebend) auf gute Fahrt an dieser schönen Küste.

CARL wir bleiben noch?

NINA willst du nicht sehen, Vater, was ich gekauft habe? Das Halstuch für Mutter. Grau. Seide. Zum Geburtstag.

PETERSEN das Halstuch? Da wollte ich doch mitkommen. Es freut sie nicht, wenn ich nicht sagen kann, ich hab es für sie ausgesucht.

NINA es war so hübsch. Und gar nicht teuer. Da konnte ich nicht widerstehen. Und du warst ja plötzlich verschwunden.

PETERSEN verschwunden. Sie haben mich fast umgerannt.

JÖRGEN ich zog Nina rasch noch in eine Seitenstraße.

NINA sagt mal, was war da eigentlich los?

JÖRGEN sie jagten hinter einem drein.

NINA wer?

PETERSEN Uniformierte. Und andere auch. Sogar Frauen und Kinder.

NINA ob es ein Dieb gewesen war.

PETERSEN was weiß denn ich. Ich sah, dass ich mit heiler Haut davon kam. Aber da wart ihr beide auch schon weg.

JÖRGEN ich zog Nina mit mir. Sie kann so etwas nicht vertragen.

NINA ich? Wieso? Was kann ich nicht vertragen? Ich habe ja nichts weiter gesehen. Nur schreien gehört. Wo lief der Mann denn hin?

PETERSEN ins Wasser.

NINA ins Wasser?

PETERSEN sie sagen, dass er in den Hafen sprang.

NINA und?

JÖRGEN was und. Sie werden ihn heraus gezogen haben.

NINA du, davon hast du mir gar nichts gesagt.

JÖRGEN du hast mich auch gar nichts gefragt. Wolltest nur möglichst schnell zum Friseur.

NINA Vater, meinst du, dass er ertrunken ist?

PETERSEN ich ging zur Stadt.

NINA hast du dich nicht erkundigt.

JÖRGEN die Leute mögen so etwas nicht gern. Auch ist es schwer in einer fremden Sprache.

NINA Vater versteht die Sprache gut genug. Wisst ihr bestimmt, dass er ins Wasser sprang?

PETERSEN frag nicht so viel. Wie sollen wir es wissen. Ein fremder Mensch in einem fremden Land .

JÖRGEN wahrscheinlich irgend ein Verbrecher.

CARL ja natürlich, ein Verbrecher.

Einige sehr laute Sirenenpfiffe.

NINA hast du ihn gesehen?

CARL ich – ich habe überhaupt nichts gesehen.

PETERSEN bist du denn nicht an Deck gekommen? Es war doch hier ganz in der Nähe.

NINA hast du denn das Geschrei nicht gehört?

CARL ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Ich schlief.

NINA(nachdenklich) du schliefst.

Wieder die Sirenen, noch lauter.

NINA(springt auf) da ist was los, ich sage euch, da stimmt was nicht.

JÖRGEN Unsinn. Es sind im Nebel die Sirenen.

Noch ein scharfer Pfiff.

NINA das ist dicht nebenan. (die Tür öffnend) Ich höre Stimmen. Die rufen was. Jörgen komm, oh bitte, komm mit mir. (reißt ihn an der Hand mit sich hinaus. Die Tür bleibt offen)

PETERSEN man darf sich nicht um alles kümmern. Kann sein, dass sie die Leiche suchen wollen. Oder was anderes. (schenkt sich noch ein Glas ein und trinkt) Hast du gehört, wir haben eine neue Last. Ein kleiner Umweg, der sich gut rentiert. Wenn wir nachhause kommen und Mutter Geburtstag hat –

NINA(erscheint in der Tür) Vater, Vater, es sind die Leute vom Nachbarboot. Sie fischen alles Mögliche heraus. Eine Mütze und – so komm doch Vater – vielleicht dass man was helfen kann – es kommen auch noch andere gerudert –

PETERSEN(indem er aufsteht) ja wenn du meinst (auf die Tür zugehend) es geht uns zwar nichts an. Und außerdem, was kann man da noch helfen (geht hinaus)

NINA(wirft die Tür hinter ihm zu, tritt dicht neben Carl, der mit gesenktem Kopf vor sich hin starrt. Leise und eindringlich) Carl, wo ist er?

CARL wer?

NINA der Mann, dem der Strumpf gehört, der deinen Pullover trägt. Der Mann, dem du den Wermuth gegeben hast.

CARL Nina, du musst mir helfen.

NINA das will ich auch. Wo ist er?

CARL im Lastraum.

NINA dann schaff ihn fort. Noch heute nacht.

CARL(aufspringend) du meinst doch nicht –

NINA ich meine, dass du ein Narr bist und ein Esel. Wie stellst du dir das eigentlich vor. Einen Menschen verstecken auf unserem kleinen Boot.

CARL Nina, du weißt ja nicht –

NINA willst du Vater ins Unglück stürzen.

CARL Vater – es handelt sich jetzt nicht um ihn.

NINA doch, selbstverständlich. Es ist sein Schiff. Du hast kein Recht zu so etwas.

CARL sprich nicht von Recht, wenn einer am Ertrinken ist.

NINA er wird jetzt nicht mehr am Ertrinken sein. Und wenn du ihn heut Nacht an Land bringst – Carl, sei vernünftig und ich helfe dir.

CARL willst du mir helfen ein Mörder zu sein?

NINA du musst ihn ja nicht ausliefern. Du schaffst ihn nur ganz einfach fort. Niemand weiß, dass er lebt. Er wird sich retten.

CARL er ist verloren, wenn er nur ihr Land betritt.

NINA ist er denn ein so arger Verbrecher?

CARL Nina, er wird gejagt von Verbrechern.

NINA das versteh ich nicht.

CARL nein, das verstehst du nicht. Du weißt ja nicht, was sie dort tun. Ihr wisst ja alle nicht, was sie dort tun. Nina, er ist auf unsere Fahne zugeschwommen, hörst du, er ist nur nicht ertrunken, weil er die Fahne sah. Nina, willst du unsere Fahne verraten. Er blieb unter Wasser, aber er kam wieder hoch, weil er die Fahne sah. Unsere Fahne.

NINA du musst mit Vater sprechen.

CARL nicht jetzt. Ein andermal. Er wird es heut noch nicht verstehen. Erst wenn wir jenseits der Küste sind.

NINA aber wir bleiben doch. Und morgen kommt die neue Last. Wie willst du dann noch unten einen Mann verstecken. Das ist ja wahnsinnig.

CARL(packt Nina bei den Schultern, beschwörend) es gibt auf diesem Schiff nur einen einzigen Platz –

Die Tür öffnet sich. Petersen und Jörgen kommen.

PETERSEN seid ihr hier geblieben?

NINA hat man die Leiche gefunden?

JÖRGEN nein, sie haben nur eine Mütze gefischt, ein Taschentuch und ein paar Papiere.

NINA(vor den Spiegel tretend) war es die Polizei?

JÖRGEN die kam erst jetzt dazu.

PETERSEN im Nebel hielten sie das Taschentuch für ein Gesicht. Der arme Teufel treibt schon längst irgendwo draußen. Na Kinder, gute Nacht. Wir wollen schlafen gehen. Was nützt es, weiter drüber nachzudenken.

NINA(indem sie automatisch vor dem Spiegel an ihren Löckchen zupft) geht es morgen schon zeitlich los? Wann kommt die neue Last? Und wann –

Während der letzten Worte ferner Sirenenpfiff.

VORHANG

2. BILD

Die Kajüte des Kapitäns. Sehr klein. Da sie derzeit von Nina bewohnt wird, ist sie voll mit allen möglichen Kleidungsstücken und bunten Kleinigkeiten, wie ein junges Mädchen sie besitzt. In der Ecke hängt ein grell geblümter Schlafrock. Links an der Wand große Landkarte, unter ihr ein Toilettetischchen. Rechts zwei Kojen übereinander. Vorne links Tür.

Wie der Vorhang aufgeht, hat Carl soeben den Kopf zur Tür hereingesteckt. Er hält Nina, die in langen Hosen und Pullover ist, eine Medizinflasche und einen Löffel hin.

CARL(beinahe flüsternd) da, nimm rasch. Es ist ein Hustenmittel. Ich fand es in dem Apothekerschränkchen.

NINA(nimmt beides) aber das steht doch schon seit Jahren dort.

CARL macht nichts. Nimm nur. Und hier (greift in die Tasche) hier hast du die Harmonika (gibt ihr eine Mundharmonika)

Man hört unterdrücktes Husten.

NINA(wirft die Harmonika auf die Koje unten) sind sie schon da?

CARL sie kommen eben mit den ersten Kisten (winkt gegen die obere Koje) seid vorsichtig. (verschwindet, schließt die Tür leise. Nina riegelt sie ab)

Das Husten wird heftiger.

NINA(nimmt die Harmonika und spielt darauf ungeschickt wie ein Schulkind Malebrock)

Man hört Tritte und heftiges Poltern.

NINA(nimmt Flasche und Löffel, reicht beides zu der oberen Koje) da, rasch, nehmen Sie einen Löffel.

HARTMANN(beugt sich aus der Koje. Trägt einen grauen Pullover. Nimmt die Flasche, betrachtet sie, schüttelt sie, gibt sie wieder zurück)

NINA nun, was ist?

HARTMANN(sich zurück legend, aber so, dass er sichtbar bleibt) es nützt mir nichts. Das ist uralt.

NINA Unsinn. Wir haben hier nichts besseres (wieder Gepolter, diesmal nicht so nah) wenn Sie jetzt husten, die anderen sind daneben im Lastraum.

HARTMANN entschuldigen Sie. Ich werde mein bestes tun. (hustet in die Decke hinein)

NINA(ungeduldig) woher wissen Sie denn, dass es nichts nützt. Sie könnten es doch wenigstens versuchen.

HARTMANN es ist schlecht geworden. Gießen Sie es fort. Man könnte sich daran verderben.

NINA(noch ungeduldiger) das sagen Sie nur, weil Sie es nicht nehmen wollen. So was verrücktes. So lange die anderen die Kisten verladen – es sind auch Leute vom Hafen dabei –

HARTMANN(von Husten unterbrochen) spielen Sie doch bitte wieder Harmonika.

NINA woher wissen Sie denn, dass das Mittel nicht taugt. Werfen nur einen Blick auf die Flasche –

HARTMANN ich bin Arzt.

NINA(ungläubig) Sie sind Arzt?

HARTMANN(sich etwas aus der Koje beugend) entschuldigen Sie. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Hartmann. Doktor Hartmann.

NINA wollen Sie sich lustig machen.

HARTMANN(sich zurück legend, sodass man ihn nicht sieht) das heißt natürlich, Sie können es mir glauben oder nicht.

NINA(verlegen, indem sie die Flasche auf das Toilettetischchen stellt) ich heiße Nina Petersen. Und ich wollte Sie gewiss nicht kränken.

HARTMANN Sie sind sehr freundlich.

NINA(unsicher, mit einem fragenden Blick auf die Koje) finden Sie?

HARTMANN(sein Kopf wird wieder sichtbar. Er lächelt) sehr freundlich. Ein junges Mädchen, das einem Hergelaufenen, man muss wohl sagen Hergeschwommenen, seine Kajüte zur Verfügung stellt. (hustet wieder)

NINA reden Sie nicht so viel. Überhaupt –

Es klopft an die Tür. Gleich darauf wird an ihr gerüttelt.

JÖRGENS STIMME Nina!

NINA(spielt wild auf der Harmonika den Malebrock)

JÖRGEN Nina, was treibst du denn?

NINA(sehr laut, fast schreiend) ich kleide mich um (unwillkürliche Handbewegung, als wollte sie es wirklich)

JÖRGEN spielst du dazu Harmonika?

NINA(wie vorher) seid ihr bald fertig? Dauert es noch lange?

JÖRGEN so mach doch auf!

NINA(wütend) was hilfst du denn nicht mit.

JÖRGEN ich möchte nur –

NINA(wütend) lass mich in Ruh. (spielt wieder Harmonika. Hartmann hustet. Draußen Poltern und Männerstimmen)

HARTMANN(nach einer Pause) ich danke Ihnen, Fräulein Nina. War das Ihr Vater?

NINA nein. Mein Bräutigam. (spielt wieder)

HARTMANN ich glaube, Sie sollten nicht zu viel spielen. Es könnte auffallen.

NINA(ausbrechend) ich hab solche Angst.

HARTMANN Sie sind sehr freundlich, Fräulein Nina.

Pause. Heftiges Gepolter. Männerstimmen von ferne.

HARTMANN wie lange dauert so ein Verladen?

NINA kommt darauf an, wie groß die Last ist.

HARTMANN ich gehe dann gleich wieder zurück.

NINA wohin?

HARTMANN zwischen die Kisten. Es findet sich sicher ein Plätzchen.

NINA Sie sind doch krank. Und bei diesem Wetter im Lastraum –

HARTMANN ach was, ich werde schon nicht zu laut husten (hustet leise)

NINA ich mein es nicht deshalb. Sie können sich den Tod holen, wenn Sie in diesem Zustand im Lastraum bleiben.

HARTMANN es gibt ärgeres.

NINA ich wusste nicht, dass Sie krank sind. Sonst hätte ich Sie schon nachts in die Koje genommen. War es sehr kalt da draußen?

HARTMANN nicht so besonders. Jedenfalls wärmer als zwischen Fischen und Algen.

NINA wie sind Sie nur auf den Einfall gekommen?

HARTMANN auf welchen Einfall?

NINA in den Hafen zu springen. (setzt sich auf den Hocker neben dem Tischchen) wussten Sie denn von unserem Schiff?

HARTMANN es war kein Einfall. Ich wusste nichts, als dass ich fliehen wollte.

NINA(die ihre Neugier nicht bezähmen kann) was haben Sie denn eigentlich verbrochen?

HARTMANN(mit aufgestütztem Ellbogen auf sie herunter blickend) Ich ließ mich in die Welt setzen. Vor neunundzwanzig Jahren.

NINA wie?

HARTMANN von jüdischen Eltern. In Wien.

NINA was soll das heißen? Ich weiß natürlich, dass man die Juden verfolgt und das alles –

HARTMANN liebes Fräulein Nina, Sie sind ein hübsches Mädchen (auf ihren Kopf blickend) die vielen Locken –

NINA(sieht zu ihm auf) warum sagen Sie das?

HARTMANN weil es schade wäre, wenn Sie nicht länger so ein hübsches Mädchen blieben. Und deshalb will ich Ihnen nicht zu hässliches erzählen. Sie könnten dann vielleicht nicht schlafen. Und Ringe unter den Augen bekommen. (hustet, steckt den Kopf unter die Decke)

NINA(nach der Harmonika greifend) Sie sprechen viel zu viel. Sie sollten überhaupt nicht sprechen. (bläst ein paar Töne)

HARTMANN spielen Sie nur nicht wieder das gleiche.

NINA warum nicht. Ich kann nichts anders. (spielt trotzig den Malebrock)

Es klopft heftig an die Tür.

JÖRGEN Nina, Nina!

NINA was denn? Was willst du denn schon wieder?

JÖRGEN wir sind bald fertig. Machst du uns nicht Kaffee?

NINA ich komme gleich. (da Hartmann hustet, hustet sie in der Verzweiflung gekünstelt laut)

JÖRGEN bist du nicht wohl? Fehlt dir etwas?

NINA ich komme gleich.

JÖRGEN du hustest.

NINA so lass mich husten. Ich habe Kopfweh. Aber man gönnt mir nicht ein paar Minuten Ruhe. Es hat wohl Zeit mit deinem Kaffee.

Kurze Pause.

JÖRGEN warum hast du die Tür verriegelt?

NINA(bläst wütend ihren Malebrock auf der Harmonika. Neuerlich Poltern und Rufen. Sie hört auf, lauscht gespannt. Ebenso Hartmann. Dann fast flüsternd) ich glaube, er ist weg.

HARTMANN es wird besser sein, wenn ich wieder im Lastraum bin.

NINA wir werden sehen.

HARTMANN wie lange brauchen wir von hier nachhause? Zu Ihnen nachhause?

NINA wir fahren doch nicht nachhause zurück.

HARTMANN(auffahrend) nicht zurück?

NINA hat mein Bruder es Ihnen noch nicht gesagt?

HARTMANN nicht zurück? Wohin denn sonst?

NINA wir bleiben noch ein paar Tage an der Küste. Vater bekam eine neue Last, die er erst abliefern soll. Aber wissen Sie, das dauert auch nicht sehr lange.

HARTMANN wir legen also hier im Lande noch einmal an?

NINA oh bitte, fürchten Sie sich nicht. Die Zollpolizei hat meine Kajüte noch nie untersucht.

HARTMANN(sich verzweifelt zurück legend) es war eben doch eine Dummheit von mir.

NINA was?

HARTMANN dass ich nicht blieb, wo ich schon einmal war.

NINA sehen Sie, das sagte ich gleich. Aber Carl war nicht dazu zu bewegen. Ich wollte helfen, Sie noch nachts an Land zu bringen.

HARTMANN an Land?

NINA wohin denn sonst? Sie sagen selbst, Sie hätten bleiben sollen.

HARTMANN doch nicht an Land.

NINA wo sonst?

HARTMANN im Wasser. Wenn ich die Fahne nicht gesehen hätte, eure liebe, eure lustige Fahne. Einen Augenblick lang, dann war ich wieder unter Wasser. Aber ich sah die Fahne weiter, mit geschlossenen Augen. Auf einer hellen Sandburg. Ein Kinderfähnchen, wie man es mir einmal zum Spielen gab. Und ich sah Himmel und Sonne, so wie damals, als ich als Knabe in Ihrem Lande war, Fräulein Nina. Damals war man sehr freundlich zu mir. Man gab mir Milch. Zuhause hatten wir keine. Knapp nach dem Krieg. Niemand verlangte, dass ich ertrinken sollte. Im Gegenteil. Sie hatten Angst. Geh nicht zu weit ins Wasser hinaus, sagten sie alle. Und sie schenkten mir die kleine Fahne und es gab Muscheln im Sand und ich baute Burgen und alle Leute waren sehr freundlich zu mir. Nur hatten sie Angst, dass ich ertrinken könnte. Mein Gott, Angst – (richtet sich auf)

NINA(greift nach seiner Hand) Sie fiebern. Bitte, reden Sie nicht weiter.

HARTMANN ich fiebere nicht. Es war wirklich so.

NINA Ihre Hand ist ganz heiß.

HARTMANN(reißt die Hand los) das ist gleichgiltig.

NINA und Sie wollen ein Arzt sein.

HARTMANN Sie können es mir glauben oder nicht. Ich habe keinen Namen mehr, keine Papiere. Die sind fortgeschwommen, die sind ertrunken. Sie können es mir glauben oder nicht, dass ich einmal als Kind zu Gast in Ihrem Land gewesen bin, mit einer Sandburg und viel Zärtlichkeit. Sie können es mir glauben oder nicht, dass man mich jetzt ertrinken lassen will. (sich aufrichtend, fast schreiend) aber ich werde ihnen den Gefallen nicht tun. (hustet)

NINA bitte, reden Sie nicht so laut. Sie husten wieder. Bitte, legen Sie sich jetzt zurück. Es ist doch niemand hier, der Sie ertrinken lassen will.

HARTMANN(sich zurück legend) Sie sind ein hübsches Mädchen, Fräulein Nina. Ein gutes Mädchen. Es wäre schrecklich, wenn auch Sie einmal diesen Gefallen von mir verlangen wollten.

NINA Sie reden Unsinn. Glauben Sie mir, das ist, weil Sie fiebern.

HARTMANN nein, nein, Sie irren. Ich rede nicht im Fieber. Es ist alles wahr. Und noch viel schlimmer. So etwas kann man gar nicht im Fieber träumen.

NINA(wieder nach seiner Hand greifend) ich spüre es doch an der Hand.

HARTMANN Ihre Hand ist kühl. Und sanft.

Heftiges Klopfen an der Tür.

NINA(zurück fahrend) was ist schon wieder? Ich kann jetzt nicht.

Nochmals Klopfen.

NINA(verworren vor Angst, schiebt Hartmann zurück in die Koje, wirft die Decke aus der unteren Koje auf ihn)

Klopfen und Rütteln an der Tür.

NINA(greift verzweifelt nach der Harmonika, bringt aber nur ein paar Töne hervor, die falsch klingen)

EINE STIMME(nicht sehr laut) Nina! Nina! (Rütteln an der Tür)

NINA(öffnet die Tür in einem verzweifelten Entschluss. Carl schlüpft herein) ach Carl, bist du es –

CARL(atemlos, gedämpft) geh gleich – Vater fragt nach dir – wir müssen jeden Augenblick losfahren – und Jörgen sagt, mit dir ist was los (man hört plötzlich sehr laut die Schiffschraube und das Stampfen des Motors) geh, geh – wir fahren schon – sonst kommt er dich holen.

VORHANG

3. BILD

In derselben Kajüte wie im 1. Bild.

Carl liegt in seiner Koje oben und schläft. Nina kommt mit einem Tablett mit Kaffee und Kuchen. Sie ist gekleidet wie im letzten Bild, nur dass sie über die Locken wie ein breites Band ein Tuch gebunden hat, was ihr Gesicht etwas schmäler macht und ihr überhaupt einen veränderten Ausdruck gibt.

NINA(stellt das Tablett auf den Tisch und ruft) Carl! (da er sich nicht rührt) Carl, wach auf, es ist Zeit! (packt ihn am Ärmel, schüttelt ihn) Carl, Carl, du musst Jörgen jetzt ablösen. So wach doch auf!

CARL(fährt in die Höhe) was ist? Was willst du?

NINA komm herunter, Carl, es ist Zeit.

CARL(schlaftrunken) was ist geschehen? Wo ist er?

NINA nichts ist geschehen. So wach mir doch schon endlich auf. (rüttelt ihn nochmals)

CARL(auf sie herunter starrend, wie im Traum) wo ist er?

NINA frag nicht so viel. Herrgott, bist du verschlafen.

CARL(indem er sich die Augen reibt) ich meinte nur –

NINA es ist alles in Ordnung. Er liegt bei mir in der Koje. Wie denn auch sonst. (während er aus seiner Koje herunter steigt) du aber musst dich zusammen nehmen. Dass du nur ja nicht wieder an die Tür läufst (Kaffee einschenkend) und klopfst und fragst. (zieht einen Schlüssel aus der Tasche ihrer Hose) ich habe abgesperrt. (steckt den Schlüssel wieder ein)

CARL(setzt sich zu seiner Tasse Kaffee) merkst du nicht, dass Jörgen immer wieder vor deiner Tür herum streicht.

NINA eben deshalb darfst du nicht hin. (stellt die Kaffeekanne auf den Ofen)

CARL aber wenn er klopft. Oder fragt. Und der arme Kerl wieder so hustet.

NINA(achselzuckend) das muss man abwarten.

CARL(beißt in einen Kuchen) mir kommt vor, als wäre Jörgen schon misstrauisch.

NINA(setzt sich Carl gegenüber) vielleicht.

CARL(kauend) was hast du ihm als Grund gesagt? Für die abgesperrte Tür.

NINA Weihnachtsgeschenke. Überraschungen.

CARL und das soll er glauben?

NINA natürlich glaubt er es nicht.

CARL Nina, hast du nicht Angst?

NINA was soll das nützen. Vor allem gilt es morgen durchzukommen. Hat ihn die Hafenpolizei bei uns nicht erwischt und sind wir erst mal unterwegs nachhause –

CARL was dann?

NINA dann werden wir es eben Vater sagen.

CARL ach Nina.

NINA wieso? Sind wir erst einmal fort aus diesem Land, so kann ihm doch nichts mehr passieren.

CARL meinst du.

NINA Vater wird vielleicht ein wenig böse sein, weil wir es nicht gesagt haben. Aber glaub mir, es ist trotzdem besser so. Und Jörgen macht uns einen Krach. Na wenn schon (steht auf, holt ihre Nähschachtel)

CARL und dann?

NINA ich verstehe nicht, was du noch fragst. (setzt sich wieder, beginnt an einem Socken zu stopfen) Dann müssen wir ihm eben weiterhelfen. Es gibt bei uns ja viele solche Flüchtlinge, nicht wahr?

CARL nicht gar so viele.

NINA doch. Es steht immer in allen Zeitungen. Und es wird wohl schwer sein, wenn er keine Arbeit suchen darf. Wegen der Arbeitslosigkeit bei uns. Aber vielleicht –

CARL(steht mit einem Ruck auf, wodurch er sie unterbricht) ich muss jetzt gehen.

NINA(stopfend) Hauptsache ist, dass niemand ihm was antun darf, dass er unter anständige Menschen kommt und nicht gejagt wird wie ein Tier –

CARL(nach seiner Mütze greifend) man wird ja sehen.

NINA(stopfend) ich bin nur froh, dass bei uns zuhause alles so ganz anders ist. Ordentlich stolz. Und unsere Fahne – immer schon hab ich sie gern gehabt. Aber wenn ich jetzt daran denke, dass es gerade unsere Fahne war –

CARL(schreit sie wütend an) schweig still! (geht hinaus, wirft die Tür hinter sich zu)

NINA(zuckt zusammen) Carl! (sie ist erschrocken und erstaunt. Stopft einige Sekunden weiter, hebt dann den Kopf, als wollte sie lauschen, wirft den Socken hin, geht unruhig hin und her, dann an die Tür, öffnet sie, geht die Treppe ein paar Stufen hinauf, man hört sie rufen) Jörgen, Jörgen, wo bleibst du denn, Jörgen! (kommt zurück, lässt die Tür offen, geht zu der Kaffeekanne, die sie vom Ofen nimmt, dann wieder unschlüssig hinstellt)

JÖRGEN(kommt) da bin ich. Was schreist du so? Schon Sehnsucht gehabt?

NINA(stellt die Kaffeekanne auf den Tisch) hier ist Kaffee. (schenkt ein)

JÖRGEN(die Tasse angreifend) Der ist nicht warm. Und ich bin hungrig. (auf die Kuchen zeigend) Ist das alles, was du für mich hast?

NINA du kannst auch Butterbrote bekommen.

JÖRGEN ach was. Lass sein.

NINA(auf das Radio zugehend) vielleicht machen wir uns etwas Musik?

JÖRGEN Gott behüte. Ich hab genug von deiner Harmonika.

NINA(sich ihm gegenüber setzend) schlecht gelaunt? (greift nach dem Socken)

JÖRGEN was stopfst du da schon wieder?

NINA(hält ihm den Socken hin) deine Socken.

JÖRGEN und der Pullover? Carls grauer Pullover? Wolltest du nicht den Pullover stopfen? Das Loch am Ärmel?

NINA(mit gesenktem Kopf ruhig weiter stopfend) was kümmert dich Carls grauer Pullover?

JÖRGEN(sie starr ansehend) ich möchte wissen, wo der hinverschwunden ist.

NINA da musst du Carl wohl selber fragen.

JÖRGEN ich sah nach unter allen seinen Sachen –

NINA(hebt den Kopf) tust du so etwas?

JÖRGEN warum denn nicht. Man ist neugierig. Und ich möchte heute noch wissen, wer von dem Wermuth getrunken hat. Auch fehlt noch immer eines von unseren Gläsern. (Nina stopft inzwischen weiter) Kann es vielleicht in deiner Kajüte sein? (lehnt sich bequem zurück, stopft seine Pfeife) Ich dachte, dass du eine gute Hausfrau bist. Alles an seinem Platz. Du warst doch immer so für Ordnung. Und nun fehlt hier etwas und dort etwas.

NINA(legt den Socken hin, beugt sich vor) sag mal, was willst du eigentlich von mir?

JÖRGEN ich möchte wissen, wo die Sachen sind.

NINA das geht dich einen Dreck an, hast du verstanden.

JÖRGEN oho, man ist Bräutigam, man wird heiraten. Man möchte nicht, dass die Frau einmal irgendwelche Geheimnisse hat.

NINA dann kann man es ja bleiben lassen.

JÖRGEN was –

NINA das Heiraten.

JÖRGEN(auffahrend) Nina!

NINA wenn du schon jetzt so anfängst.

JÖRGEN(greift nach ihren beiden Handgelenken) Nina, sag das nicht noch einmal.

NINA lass los.

JÖRGEN(sie weiter festhaltend) dann kann man es ja bleiben lassen –

NINA mein Gott, ich hab es doch nicht so gemeint. (er lässt sie los, sie greift nach der Kanne) willst du vielleicht noch Kaffee? Soll ich ihn dir wärmen?

JÖRGEN dann kann man es ja bleiben lassen, hast du gesagt. (steht auf, tritt auf sie zu, beugt sich über sie) Nina, wenn du meinst, dass du von jetzt an mit mir spielen kannst – seit zwei Tagen bist du ganz anders. Seit wir in dem Café gewesen sind. Sollte vielleicht dort irgend einer –

NINA(ihn abschüttelnd) du bist ja verrückt.

JÖRGEN(vor ihr stehend) du bist anders. Und alles ist anders hier auf dem Schiff. Man könnte meinen, dass der Klabautermann spukt. Und manchmal ist mir, als stünde jemand hinter mir im Nebel.

NINA und deshalb bist du unfreundlich und zankst. Und die Kuchen sind dir nicht recht und der Kaffee ist dir zu kalt. (steht auf, greift nach der Kanne) nun will ich ihn dir aber wirklich wärmen.

JÖRGEN Nina, warum hältst du die Tür von deiner Kajüte versperrt?

NINA du weißt es doch. Weihnachtsgeschenke.

JÖRGEN aber Carl darf zu dir.

NINA sie sind nicht für ihn.

JÖRGEN du wirst wieder sagen, ich bin verrückt. Aber ich glaube nicht, dass der Klabautermann spukt. Nein, ich glaube nicht an Gespenster. Ihr lügt mir was vor. Da stimmt etwas nicht. Ich– ich kann dir gar nicht sagen, was ich schon gedacht habe –

NINA