Die Verlassenen - Tom Perrotta - E-Book

Die Verlassenen E-Book

Tom Perrotta

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Beschreibung

Wo sind all die Menschen hin?

Was passiert, wenn die Apokalypse plötzlich eintritt und Millionen von Menschen von der Erde verschwinden? Wie gehen die Zurückgelassenen mit der veränderten Welt um, in der plötzlich Nachbarn, Freunde, Verwandte und Geliebte fehlen, ihr Leben aber gnadenlos weitergeht?

Der Bestseller von Tom Perrotta ist die Romanvorlage zur HBO-TV-Serie The Leftovers, die von Damon Lindelof (Lost) verfilmt wurde.

Was wäre, wenn einige von uns – einfach so, ohne Erklärung – verschwinden würden? Würden wir Zurückgebliebenen an das Jüngste Gericht, an die Entrückung glauben? Würden wir den Verstand verlieren? Oder würden wir einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen?

Diese Fragen müssen sich die ratlosen Einwohner des beschaulichen Vororts Mapleton stellen. Kevin Garvey will wieder Ordnung in sein Leben bringen, obwohl das Phänomen, das inzwischen als »Plötzlicher Fortgang« bezeichnet wird, seine Familie zerstört hat: Seine Frau Laurie hat sich einem Kult angeschlossen, der sich »Der Schuldige Rest« nennt, sein Sohn hat das College abgebrochen, um einem zwielichtigen »Propheten« namens Holy Wayne und seiner Bewegung der »Heilenden Umarmung« nachzufolgen. Nur Kevins Tochter ist bei ihm geblieben, doch der Teenager kapselt sich seit jenem 14. Oktober zunehmend ab und verliert den Bezug zur Realität.

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ZUM BUCH

Was wäre, wenn einige von uns – einfach so, ohne Erklärung – verschwinden würden? Würden wir Zurückgebliebenen an das Jüngste Gericht, an die Entrückung glauben? Würden wir den Verstand verlieren? Oder würden wir einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen?

Diese Fragen müssen sich die ratlosen Einwohner des beschaulichen Vororts Mapleton stellen. Kevin Garvey will wieder Ordnung in sein Leben bringen, obwohl das Phänomen, das inzwischen als Plötzlicher Fortgang bezeichnet wird, seine Familie zerstört hat: Seine Frau Laurie hat sich einem Kult angeschlossen, der sich Der Schuldige Rest nennt; sein Sohn hat das College abgebrochen, um einem zwielichtigen Propheten namens Holy Wayne nachzufolgen. Nur Kevins Tochter ist bei ihm geblieben, doch der Teenager kapselt sich seit jenem 14. Oktober zunehmend ab und verliert bald jeden Bezug zur Realität.

Tom Perrotta zeigt anhand einer bürgerlichen Familie, auf welch unterschiedliche Art und Weise die menschliche Psyche mit einer Ausnahmesituation, mit Trauer und Schmerz umgeht. Ein erschreckendes, zum Nachdenken anregendes Buch über Liebe, Verlust und die Natur menschlicher Beziehungen.

»Es ist davon auszugehen, dass Perrottas bemerkenswerte Interpretation der Entrückung breit diskutiert und der Gegenstand manch einer Sonntagspredigt werden wird. Falls ja, dann zu Recht.«    Stephen King

ZUMAUTOR

Tom Perrotta ist der Autor von sechs fiktionalen Werken. Seine Romane Election und Little Children waren die Vorlage für gefeierte und preisgekrönte Kinofilme. Für die von ihm verfasste Drehbuchadaption von Little Children wurde Perrotta für den Oscar nominiert. Er lebt in der Nähe von Boston, Massachusetts.

STIMMENZU DIE VERLASSENEN

»Die Verlassenen ist schlicht und ergreifend die beste Twilight-Zone-Episode, die man nie zu sehen bekam.«

Stephen King

»Schon seit Little Children ist Tom Perrotta als meisterhafter Chronist vorstädtischer Langeweile bekannt, doch mit dem einfühlsamen und fesselnden Die Verlassenen spielt er auf einer ganz neuen Ebene.«

Marie Claire

»Tom Perrotta gelingt das Kunststück, aus einer postapokalyptischen Story eine Betrachtung spiritueller Krisen und existenziellen Ennuis zu machen.«

Elle

»Perrotta kombiniert auf wunderbare Weise ungewöhnliche Umstände und authentische Charaktere, er erforscht, an was wir glauben, was im Leben wichtig ist und wie wir weitermachen.«

Seattle Times

»Ein ambitionierter, intelligenter, ergreifender Roman, der alle Zutaten für einen großen Erfolg besitzt.«

USA Today

»Sein bislang ausgereiftester Roman, in dem er unsere tiefsten Ängste und menschlichen Sehnsüchte erforscht. Mit feinem Humor nähert er sich dem Grauen und entführt uns in die dunkelsten Ecken der menschlichen Psyche.«

The Washington Post

TOM PERROTTA

DIE

VERLASSENEN

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Jan Schönherr

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE LEFTOVERS bei St. Martin’s Press, New York.

Copyright © 2011 by Tom Perrotta

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Stefanie Schlatt

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,

unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (romakoma)

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-15153-9

www.heyne.de

Für Nina und Luke

Prolog

Laurie Garvey war nicht zum Glauben an die Entrückung erzogen worden. Eigentlich war sie zu gar keinem Glauben erzogen worden, außer zu dem, dass Glaube Unfug ist.

Wir sind Agnostiker, hatte sie ihren Kindern immer gesagt, als die noch klein waren und sich ihren katholischen, jüdischen oder unitarischen Freunden gegenüber irgendwie definieren mussten. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, und die anderen wissen es auch nicht. Sie sagen vielleicht, sie wüssten es, aber das tun sie nicht.

Zum ersten Mal hatte sie von der Entrückung in ihrem ersten Jahr am College gehört, in einem Kurs namens »Einführung in die Weltreligionen«. Was der Professor da beschrieb, kam ihr vor wie ein Witz: Heerscharen von Christen, die aus ihrer Kleidung gleiten und durch die Dächer ihrer Häuser und Autos gen Himmel fahren, wo Jesus schon auf sie wartet, während alle anderen mit weit aufgerissenen Mündern herumstehen und sich fragen, wo all die guten Menschen geblieben sind. Das theologische Argument wurde ihr auch nicht klarer, nachdem sie den Abschnitt über »Prämillenarischen Dispensationalismus« in ihrem Lehrbuch gelesen hatte, das ganze Geschwafel über Armageddon, den Antichrist und die vier apokalyptischen Reiter. Es kam ihr vor wie religiöser Kitsch, so geschmacklos wie Bilder von Einhörnern im Mondschein, wie Fantasy für Leute, die zu viel Frittiertes essen, ihren Kindern den Hintern versohlen und bereitwillig glauben, ihr lieber Gott habe Aids erfunden, um die Schwulen zu bestrafen. In den Jahren darauf sah Laurie ab und zu am Flughafen oder in einem Zug jemanden eines der Finale-Bücher lesen und verspürte einen Anflug von Mitleid, ja sogar so etwas wie zärtliche Güte gegenüber dem armen Irren, der nichts Besseres zu lesen hatte, nichts Besseres zu tun, als herumzusitzen und vom Ende der Welt zu träumen.

Und dann geschah es. Die biblische Prophezeiung erfüllte sich, wenigstens zum Teil. Überall auf der Welt verschwanden Menschen, millionenfach und auf einmal. Das war nicht bloß ein altes Ammenmärchen wie jenes von dem Toten im alten Rom, der plötzlich wieder lebendig wird, und auch keine angestaubte Volkssage wie die von Joseph Smith, der im Norden des Staates New York goldene Tafeln ausgräbt und sich mit Engeln unterhält. Das war echt. Die Entrückung geschah in ihrer Heimatstadt, und sie geschah unter anderem der Tochter ihrer besten Freundin, während Laurie selbst bei ihnen zu Gast war. Gottes Eingriff in ihr Leben hätte selbst dann nicht eindeutiger sein können, wenn Er aus einer brennenden Azalee zu ihr gesprochen hätte.

Sollte man jedenfalls meinen. Trotzdem verleugnete sie wochen- und monatelang erfolgreich das Offensichtliche, klammerte sich an ihren Zweifeln fest wie an einem Rettungsring und plapperte hartnäckig den Experten, Politikern und Wissenschaftlern nach, die darauf beharrten, dass der Grund für den von ihnen so bezeichneten »Plötzlichen Fortgang« noch unklar sei, und vor voreiligen Schlüssen warnten, ehe der offizielle Bericht des unparteiischen Regierungsausschusses zu der Angelegenheit veröffentlicht wäre.

»Es war ein tragischer Vorfall«, wiederholten die Fachleute unablässig. »So etwas Ähnliches wie die Entrückung, aber sehr wahrscheinlich nicht die wirkliche Entrückung.«

Zu den lautstärksten Vertretern dieser These gehörten interessanterweise einige Christen, denen nicht entgangen war, dass viele der am 14. Oktober Verschwundenen – Hindus und Buddhisten, Muslime und Juden, Atheisten und Animisten, Homosexuelle, Eskimos, Mormonen, Zoroastrier und was immer sie sonst waren – Jesus Christus nicht als ihren Erlöser angenommen hatten. Soweit sich sagen ließ, war es eine willkürliche Auslese gewesen, und wenn die Entrückung eines nicht sein konnte, dann willkürlich. Der ganze Sinn der Sache war, die Spreu vom Weizen zu trennen, die wahrhaft Gläubigen zu belohnen und den Rest der Welt abzustrafen. Eine wahllose Entrückung war gar keine Entrückung.

Es lag also durchaus nahe, ratlos die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und zu erklären, man verstünde nicht, was vor sich ging. Doch Laurie wusste es. Ab dem ersten Moment wusste sie es, ganz tief im Herzen. Sie war zurückgelassen worden. Alle waren sie zurückgelassen worden. Dass Religion bei Gottes Entscheidung keine Rolle spielte, war gleichgültig – wenn überhaupt wurde es dadurch nur noch schlimmer, eher zu einer Art persönlicher Zurückweisung. Und doch ignorierte sie dieses Wissen ganz bewusst, verbannte es in einen finsteren Winkel ihres Verstands, in denselben Kellerverschlag, wo man unerträgliche Gedanken wie das Wissen um die eigene Sterblichkeit versteckt, um durchs Leben gehen zu können, ohne jede wache Minute von Depressionen erdrückt zu werden.

Obendrein waren die ersten Monate nach der Entrückung ziemlich hektisch. In Mapleton fiel die Schule aus, ihre Tochter war den ganzen Tag zu Hause, und ihr Sohn kam vom College zurück. Genau wie vorher mussten Einkäufe und Wäsche gemacht, Mahlzeiten gekocht und Geschirr und Besteck gespült werden. Es galt Beerdigungen zu besuchen, Diashows vorzubereiten, Tränen zu trocknen und unzählige anstrengende Gespräche zu führen. Sie verbrachte viel Zeit mit der bedauernswerten Rosalie Sussman, besuchte sie fast jeden Vormittag und versuchte, ihr in ihrer unermesslichen Trauer beizustehen. Manchmal sprachen sie über Rosalies fortgegangene Tochter Jen – so ein liebes Mädchen, immer ein Lächeln auf den Lippen etc. –, aber meistens saßen sie einfach still nebeneinander. Das Schweigen fühlte sich bedeutsam und richtig an, so als könnte keine von ihnen irgendetwas sagen, das wichtig genug wäre, es zu brechen.

Im folgenden Herbst tauchten sie zum ersten Mal in der Stadt auf: weiß gekleidete Menschen, unterwegs in gleichgeschlechtlichen Zweierteams und immer eine Zigarette zwischen den Lippen. Ein paar von ihnen kannte Laurie. Barbara Santangelo, deren Sohn mit ihrer Tochter in eine Klasse ging; Marty Powers, der früher Softball mit ihrem Mann gespielt hatte und dessen Frau bei der Entrückung – oder was auch immer es gewesen sein mochte – verschwunden war. Meistens ignorierten sie einen einfach, aber manchmal verfolgten sie einen auch so hartnäckig, als hätte jemand sie als Privatdetektive angeheuert. Wenn man sie grüßte, blickten sie einen nur ausdruckslos an, aber wenn man eine gehaltvollere Frage stellte, reichten sie einem eine Visitenkarte, die auf einer Seite mit folgender Botschaft bedruckt war:

WIR SIND MITGLIEDER DES SCHULDIGEN RESTS. WIR HABEN EIN SCHWEIGEGELÜBDE ABGELEGT. WIR SIND DIE LEBENDE ERINNERUNG AN GOTTES FÜRCHTERLICHE MACHT. SEIN URTEIL IST ÜBER UNS GEKOMMEN.

Auf der anderen Seite stand in kleinerer Schrift eine Internetadresse, unter der man weitere Informationen finden konnte: www.schuldigerrest.com.

Ein seltsamer Herbst war das. Seit der Katastrophe war ein ganzes Jahr vergangen. Die Hinterbliebenen hatten den Schlag weggesteckt und zu ihrer Verwunderung festgestellt, dass sie immer noch aufrecht standen, auch wenn einige stärker schwankten als andere. Zaghaft kehrte ein zerbrechlicher Alltag zurück. Die Schulen waren wieder geöffnet, und die meisten Leute gingen wie früher zur Arbeit. Am Wochenende spielten Kinder im Park Fußball, an Halloween waren ein paar von ihnen sogar für Süßes oder Saures unterwegs. Man spürte, wie die alten Gewohnheiten wieder Einzug hielten, wie das Leben wieder seine vorherige Form annahm.

Doch Laurie konnte da nicht mithalten. Sie kümmerte sich nicht nur um Rosalie, sondern war auch krank vor Sorge um ihre Kinder. Tom war fürs Sommersemester zurück ans College gefahren, dort dem Einfluss eines zwielichtigen, selbst ernannten »Heilungspropheten« namens Heiliger Wayne erlegen und in sämtlichen Kursen durchgefallen. Jetzt weigerte er sich, nach Hause zu kommen. Während des Sommers hatte er ein paarmal angerufen, um zu sagen, dass es ihm gut gehe, aber nie erzählt, wo er war oder was er machte. Jill kämpfte mit Depressionen und posttraumatischem Stress – kein Wunder, schließlich war Jen Sussman seit der Vorschule ihre beste Freundin gewesen –, doch sie weigerte sich, darüber mit Laurie zu sprechen oder zu einem Therapeuten zu gehen. Nur ihr Mann Kevin wirkte merkwürdig beschwingt, hatte ständig gute Neuigkeiten zu verkünden. Das Geschäft lief bestens, das Wetter war spitze, und er war gerade zehn Kilometer in weniger als einer Stunde gelaufen.

»Und du?«, fragte er, kein bisschen verlegen in seiner Stretchhose, das Gesicht glänzend von Gesundheit und einem dünnen Schweißfilm. »Was hast du den ganzen Tag so getrieben?«

»Ich? Ich habe Rosalie mit ihrem Album geholfen.«

Er verzog das Gesicht, gleichzeitig missbilligend und nachsichtig.

»Macht sie das immer noch?«

»Sie will nicht aufhören. Heute haben wir eine kleine Chronik von Jens Schwimmkarriere geklebt. Man konnte auf den Fotos zusehen, wie sie von Jahr zu Jahr größer wurde, wie ihr kleiner Körper sich in dem blauen Badeanzug verändert hat. Herzzerreißend sah das aus.«

»Hm.« Kevin füllte sein Glas mit Eiswasser aus dem eingebauten Spender am Kühlschrank. Ganz offensichtlich hörte er nicht zu; er hatte das Interesse am Thema Jen Sussman schon vor Monaten verloren. »Was gibt’s zum Abendessen?«

Laurie war nicht besonders überrascht, als Rosalie ankündigte, sich dem Schuldigen Rest anschließen zu wollen. Ihre Freundin war fasziniert von den Leuten in Weiß, seit sie ihnen zum ersten Mal über den Weg gelaufen war, und sie dachte oft laut darüber nach, wie schwierig es wohl wäre, so ein Schweigegelübde einzuhalten, vor allem dann, wenn man einen alten Freund träfe, jemanden, den man schon lange nicht mehr gesehen hat.

»Da werden sie doch wohl Zugeständnisse machen, meinst du nicht?«

»Keine Ahnung«, antwortete Laurie. »Eher nicht, glaube ich. Das sind Fanatiker. Die machen nicht gern Ausnahmen.«

»Nicht mal, wenn man seinen Bruder trifft und man ihn zwanzig Jahre nicht gesehen hat? Nicht mal Hallo darf man dann sagen?«

»Frag nicht mich, frag sie.«

»Wie soll ich sie denn fragen? Die dürfen ja nicht sprechen.«

»Keine Ahnung. Schau auf die Website.«

Rosalie schaute in diesem Winter oft auf die Website. Sie schloss eine enge Chatfreundschaft mit der Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit – offenbar erstreckte sich das Schweigegelübde nicht auf elektronische Kommunikation –, einer netten Dame, die all ihre Fragen beantwortete und ihre Ängste und Vorbehalte mit ihr durchsprach.

»Sie heißt Connie. Früher war sie Dermatologin.«

»Ach ja?«

»Sie hat ihre Praxis verkauft und den Erlös der Organisation gespendet. Das machen viele so. Ist nicht billig, so einen großen Laden am Laufen zu halten.«

Laurie hatte in der Lokalzeitung einen Artikel über den Schuldigen Rest gelesen und wusste daher, dass mindestens sechzig Menschen auf dessen »Gelände« in der Ginkgo Street lebten, einer Siedlung mit acht Häusern, die deren Bauherr der Organisation überschrieben hatte – ein wohlhabender Mann namens Troy Vincent, der dort jetzt ohne besondere Privilegien als ganz normales Mitglied lebte.

»Und du?«, fragte Laurie. »Verkaufst du das Haus?«

»Nicht sofort. Die haben eine sechsmonatige Probezeit. Solange muss ich keine Entscheidungen treffen.«

»Das ist schlau.«

Rosalie schüttelte den Kopf, als staunte sie über ihren eigenen Mut. Laurie sah ihr an, wie aufgeregt sie war, jetzt, wo sie kurz vor einer völligen Veränderung im Leben stand.

»Wird bestimmt komisch, die ganze Zeit Weiß zu tragen. Ich glaube, Blau oder Grau fänd ich besser. Weiß steht mir nicht.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du anfangen wirst zu rauchen.«

»Igitt.« Rosalie verzog das Gesicht. Sie war militante Nichtraucherin, eine von denen, die sich wild mit der Hand vorm Gesicht herumwedeln, sobald im Umkreis von zwanzig Metern eine Zigarette brennt. »Daran werde ich mich erst mal gewöhnen müssen. Aber das ist wie ein Sakrament, weißt du? Man muss rauchen. Das kann man sich nicht aussuchen.«

»Deine armen Lungen.«

»Wir leben sowieso nicht mehr lange genug, um Krebs zu kriegen. In der Bibel steht, nach der Entrückung kommen nur noch sieben Jahre Trübsal.«

»Aber das war ja nicht die Entrückung«, erinnerte Laurie sich selbst genauso wie ihre Freundin. »Nicht wirklich.«

»Du solltest mit mir kommen«, sagte Rosalie leise und ernsthaft. »Wir könnten uns ein Zimmer teilen oder so.«

»Ich kann nicht«, antwortete Laurie. »Ich kann meine Familie nicht alleinlassen.«

Familie. Sie fühlte sich schlecht dabei, das Wort auch nur in den Mund zu nehmen. Rosalie hatte keine Familie, die den Namen verdiente. Sie war seit Jahren geschieden, und Jen war ihr einziges Kind gewesen. Sie hatte eine Mutter und einen Stiefvater in Michigan und eine Schwester in Minneapolis, aber mit denen sprach sie nur selten.

»Dachte ich mir schon.« Rosalie zuckte resigniert mit den Schultern. »Na ja, einen Versuch war’s wert.«

Eine Woche später fuhr Laurie Rosalie zur Ginkgo Street. Es war ein schöner Tag, voll Sonnenschein und Vogelgesang. Die Häuser waren imposant – großzügige, dreistöckige Kolonialvillen auf 2 000m2-Grundstücken, von denen jede zur Bauzeit wahrscheinlich mindestens eine Million Dollar eingebracht hätte.

»Wow«, sagte sie. »Ganz schön protzig.«

»Ich weiß.« Rosalie lächelte nervös. Sie war weiß gekleidet und trug einen kleinen Koffer, in dem sich hauptsächlich Unterwäsche, Toilettenartikel und die Alben befanden, in die sie so viel Zeit gesteckt hatte. »Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich mache.«

»Wenn’s dir nicht gefällt, ruf mich einfach an. Dann hol ich dich ab.«

»Das wird schon, glaub ich.«

Sie gingen die Außentreppe eines weißen Hauses hinauf, über dessen Tür das Wort HAUPTQUARTIER aufgemalt war. Laurie durfte das Gebäude nicht betreten, also umarmte sie ihre Freundin zum Abschied auf der Veranda und sah dann zu, wie eine Frau mit blassem, freundlichem Gesicht sie hineinführte – möglicherweise Connie, die ehemalige Dermatologin.

Fast ein Jahr verging, bevor Laurie zur Ginkgo Street zurückkehrte – wieder an einem Frühlingstag, etwas frischer allerdings, nicht ganz so sonnig. Dieses Mal war sie es, die weiße Kleidung trug und einen kleinen Koffer mithatte. Schwer war er nicht: Nur Unterwäsche war darin, eine Zahnbürste und ein Album mit sorgfältig ausgewählten Fotos ihrer Familie, eine kurze, in Bildern erzählte Geschichte der Menschen, die sie liebte und die sie zurückließ.

Erster Teil

Der dritte Jahrestag

Heldentag

Es war ein guter Tag für eine Parade, sonnig und ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, ein Himmel wie aus einer Kinderbibel. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätten sich die Leute bei diesem Wetter noch zu nervösen Witzen bemüßigt gefühlt – so etwas wie Hey, dieser Klimawandel ist eigentlich gar nicht so übel –, aber heute interessierte sich niemand mehr besonders für das Ozonloch oder die Tragik einer Welt ohne Eisbären. Im Nachhinein war es fast zum Lachen, all diese Energie für etwas verschwendet zu haben, das so weit weg und ungewiss war – für eine Umweltkatastrophe, die sich vielleicht irgendwann in ferner Zukunft einmal ereignen könnte, lange nachdem man mitsamt Kindern und Kindeskindern sein irdisches Dasein gefristet haben und dorthin gegangen sein würde, wo auch immer man hingeht, wenn alles vorbei ist.

Trotz der Aufregung, die Bürgermeister Kevin Garvey den ganzen Vormittag über im Nacken gesessen hatte, wurde er plötzlich nostalgisch, als er den Washington Boulevard hinab auf den Parkplatz der Highschool zuging, wo die Teilnehmer der Parade sich versammelten. In einer halben Stunde sollte es losgehen. Die Festwagen waren aufgereiht und abfahrbereit, und die Marschkapelle wappnete sich für die Schlacht, indem sie ein Vorspiel aus misstönendem Plärren und Tuten und halbherzigen Trommelwirbeln in die Luft schoss. Kevin war in Mapleton geboren und aufgewachsen, und er musste an die Paraden zum Unabhängigkeitstag denken, an damals, als alles noch einen Sinn gehabt hatte. Die eine Hälfte der Stadt hatte sich dazu immer an der Main Street aufgereiht, während die andere – Jugendbaseballteams, Pfadfinder und fußlahme Kriegsveteranen mitsamt ihren weiblichen Hilfstruppen – die Straße hinabschritt und den Zuschauern zuwinkte, als wären sie überrascht, sie zu sehen, als handle es sich nicht um den Nationalfeiertag, sondern nur um einen verrückten Zufall. Zumindest in Kevins Erinnerung war all das unglaublich laut, hektisch und unschuldig, ein Durcheinander aus Feuerwehrautos, Tubas, irischen Stepptänzern und stockwirbelnden Tambourmajoren in Paillettenkostümen. Einmal war sogar eine Schwadron Fes tragender Shriner dabei, die in lustigen Zwergenautos herumfuhren. Danach traf man sich zu Softballspielen und Grillpartys, zu einer ganzen Reihe erquicklicher Rituale, deren Höhepunkt das große Feuerwerk über Fielding Lake war, bei dem Hunderte verzückter Gesichter sich zum Himmel wandten und Oh und Ah zu den knisternden Feuerrädern und langsam aufblühenden Sternregen machten, die die Nacht erhellten und alle daran erinnerten, wer sie waren, wo sie hingehörten und wieso alles gut war.

Die heutige Veranstaltung – der erste alljährliche Gedenktag der Fortgegangenen Helden – würde ganz anders werden. Kevin spürte die düstere Stimmung auf dem Highschoolgelände sofort. Ein unsichtbarer Schleier aus schaler Trauer und chronischer Fassungslosigkeit lag schwer in der Luft, und die Leute sprachen leiser und bewegten sich vorsichtiger als sonst bei großen Open-Air-Versammlungen. Gleichzeitig war er angenehm überrascht, dass so viele gekommen waren, zumal der Vorschlag zu dieser Parade anfangs auf wenig Begeisterung gestoßen war. Einige fanden den Zeitpunkt unangemessen – »Zu früh!«, beharrten sie –, andere waren der Meinung, eine weltliche Gedenkfeier für den 14. Oktober sei überhaupt eine verquere und möglicherweise sogar gotteslästerliche Idee. Doch diese Einwände verstummten mit der Zeit – entweder weil die Organisatoren die Zweifler erfolgreich umstimmen konnten, oder, weil die Leute einfach Paraden mochten, unabhängig vom Anlass. Jedenfalls hatten sich so viele Mapletoner freiwillig zur Teilnahme gemeldet, dass Kevin sich fragte, ob ihnen auf dem Weg von der Main Street zum Greenway Park überhaupt noch jemand vom Straßenrand aus zujubeln konnte.

Kurz hinter der Polizeiabsperrung hielt er einen Augenblick inne, um für den langen, anstrengenden Tag seine Kräfte zu sammeln. Wo er auch hinsah, stets fiel sein Blick auf unglückliche Menschen und neue Mahnungen an Leid. Er winkte Martha Reeder zu, der früher so gesprächigen Dame vom Briefmarkenschalter im Postamt. Sie lächelte traurig und drehte sich, damit er ihr hochgerecktes Schild besser sehen konnte. Ein Foto ihrer dreijährigen Enkelin im Posterformat war darauf: ein ernsthaftes Kind mit lockigem Haar und einer etwas schief sitzenden Brille. ASHLEY, stand darunter, MEIN KLEINER ENGEL. Neben Martha stand Kevins ehemaliger Footballcoach Stan Washburn, ein untersetzter, halsloser Polizist im Ruhestand. FRAG MICH NACH MEINEM BRUDER, lud er mit seinem über den stattlichen Bierbauch gespannten T-Shirt alle ein, die es interessierte. Kevin verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, nach Hause abzuhauen und den Nachmittag mit Hanteltraining oder Laubrechen zu verbringen, mit irgendetwas Einsamem und Stumpfsinnigem eben, aber es verflog schnell wieder, so wie ein Schluckauf oder eine peinliche Sexfantasie.

Mit einem leisen, pflichtbewussten Seufzen arbeitete er sich in die Menge vor, schüttelte Hände, rief Leute beim Namen und spielte nach besten Kräften den Kleinstadtpolitiker. Als ehemaliger Footballstar der Mapleton High und Geschäftsmann von regionalem Rang – er hatte das aus einer Kette supermarktgroßer Schnapsläden bestehende Familienunternehmen geerbt, es ausgebaut und die Einnahmen innerhalb von fünfzehn Jahren verdreifacht – war Kevin in der Stadt eine beliebte und überall präsente Persönlichkeit. Dennoch war ihm nie in den Sinn gekommen, für ein Amt zu kandidieren. Dann hatte man ihm letztes Jahr aus heiterem Himmel eine Petition vorgelegt, unterzeichnet von zweihundert Mitbürgern, darunter viele gute Bekannte: »Wir, die Unterzeichner, sehnen uns nach Führung in diesen finsteren Zeiten. Werden Sie uns helfen, unsere Stadt zurückzuerobern?« Von dieser Bitte gerührt und selbst etwas verloren – er hatte die Firma ein paar Monate zuvor für ein kleines Vermögen verkauft und wusste immer noch nicht, was er nun anstellen sollte –, ließ er sich von der neu gegründeten »Partei der Hoffnungsvollen« zur Bürgermeisterwahl aufstellen.

In einem Erdrutschsieg warf er Rick Malvern aus dem Amt, der das Vertrauen der Wähler nach drei Amtszeiten durch den Versuch verloren hatte, in einer »rituellen Reinigung« sein Haus niederzubrennen. Der Plan war gescheitert, weil die Feuerwehr sich trotz seines erbitterten Einspruchs nicht davon hatte abbringen lassen, den Brand zu löschen, und Rick lebte heute vor dem eindrucksvollen Hintergrund der verkohlten Überreste seines viktorianischen 5-Schlafzimmer-Hauses in einem Zelt in seinem Garten. Ab und zu begegnete Kevin seinem einstigen Rivalen morgens beim Joggen, wenn der gerade aus dem Zelt kam – einmal mit nichts als gestreiften Boxershorts am Leib –, und die beiden riefen sich ein verlegenes Na, alles gut? oder Wie läuft’s? zu, um zu signalisieren, dass sie einander nichts übel nahmen.

Sosehr ihm der Körperkontakt und das Schulterklopfen, die zu seinem neuen Job gehörten, auch missfielen, fühlte Kevin sich doch verpflichtet, für seine Wähler erreichbar zu sein – selbst für die Sonderlinge und Miesepeter, die bei Veranstaltungen wie dieser zwangsläufig aus ihren Löchern gekrochen kamen. Der Erste, der ihn auf dem Parkplatz ansprach, war Ralph Sorrento, ein mürrischer Klempner aus der Sycamore Road, der sich durch ein Grüppchen traurig dreinblickender Frauen in identischen rosa T-Shirts drängelte und sich direkt vor Kevin aufpflanzte.

»Herr Bürgermeister«, schnarrte er und grinste dabei, als wäre dieser Titel irgendwie von Natur aus lächerlich. »Hab gehofft, Sie hier zu treffen. Sie antworten ja nie auf meine E-Mails.«

»Morgen, Ralph.«

Sorrento verschränkte die Arme und betrachtete Kevin mit einer unangenehmen Mischung aus Belustigung und Verachtung. Er war groß und kräftig gebaut, hatte eine Igelfrisur, einen stoppeligen Kinnbart und trug fettbeschmierte Cargohosen zu einem gefütterten Kapuzenpulli. Sogar um diese Zeit – es war nicht mal elf Uhr – roch sein Atem nach Bier, und er suchte offensichtlich Streit.

»Nur um das klarzustellen«, verkündete Sorrento unnatürlich laut. »Ich zahle dieses verdammte Geld auf keinen Fall.«

Damit meinte er ein Bußgeld von hundert Dollar, das gegen ihn verhängt worden war, weil er auf ein Rudel streunender Hunde geschossen hatte, die sich in seinen Garten verirrt hatten. Ein Beagle war sofort tot umgefallen, doch ein Schäferhund-Labrador-Mischling war mit einer Kugel im Hinterlauf davongehumpelt und hatte eine drei Blocks lange Blutspur hinterlassen, bevor er in der Nähe des Little-Sprouts-Kindergartens in der Oak Street auf dem Bürgersteig zusammengebrochen war. Normalerweise kümmerte sich die Polizei nicht groß um einen erschossenen Hund – so etwas geschah mit trauriger Regelmäßigkeit –, aber ein paar der »kleinen Sprossen« hatten den Todeskampf des Tiers mit angesehen, und deren Eltern und Kindergärtnerinnen hatten Sorrento angezeigt.

»Reißen Sie sich zusammen!«, mahnte Kevin ihn. Die Leute schauten schon, und es war ihm peinlich.

Sorrento pikste ihm den Zeigefinger in den Brustkorb. »Ich hab die Schnauze voll davon, dass diese Köter mir den Rasen vollkacken.«

»Niemand kann die Hunde leiden«, räumte Kevin ein. »Aber beim nächsten Mal rufen Sie einfach die Hundefänger, ja?«

»Die Hundefänger.« Sorrento wiederholte die Worte mit einem verächtlichen Lachen. Erneut rammte er Kevin den Finger in die Brust, bohrte ihn zwischen die Rippen. »Die machen doch einen Scheißdreck.«

»Die haben nicht genug Leute.« Kevin rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Sie tun, was sie können, in einer schwierigen Lage. So wie wir alle. Das verstehen Sie doch.«

Als wollte er zeigen, dass er tatsächlich verstand, verringerte Sorrento den Druck auf Kevins Brustbein. Dann beugte er sich dicht zu ihm vor und sagte leise, vertraulich und mit saurem Atem: »Tun Sie mir einen Gefallen, ja? Sagen Sie den Bullen, wenn sie mein Geld wollen, müssen sie es sich schon holen. Sagen Sie ihnen, ich warte mit meiner abgesägten Schrotflinte auf sie.«

Er grinste, versuchte wie ein harter Kerl auszusehen, aber Kevin sah den Schmerz in seinen Augen, den glasigen, flehenden Blick hinter dem Gepolter. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Sorrento eine Tochter verloren, ein pummeliges Mädchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Tiffany oder Britney, irgendwas in der Art.

»Ich werd’s ausrichten.« Kevin klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Und jetzt gehen Sie besser nach Hause und ruhen sich etwas aus.«

Sorrento schlug nach Kevins Hand.

»Fassen Sie mich nicht an!«

»Tut mir leid.«

»Sagen Sie denen einfach, was ich gesagt habe, okay?«

Kevin versprach, das zu tun, und ging dann schnell weiter. Er versuchte, die böse Vorahnung zu ignorieren, die ihm plötzlich wie ein Kloß in der Magengrube lag. Im Gegensatz zu einigen Nachbarstädten hatte sich in Mapleton noch nie jemand absichtlich durch die Polizei umbringen lassen, aber er spürte, dass Ralph Sorrento zumindest mit dem Gedanken spielte. Sein Plan dazu erschien Kevin nicht gerade brillant, denn die Polizei hatte Wichtigeres zu tun, als sich um ein unbezahltes Bußgeld für Tierquälerei zu kümmern. Aber wenn jemand es wirklich darauf anlegte, konnte er auf alle möglichen Arten eine Auseinandersetzung provozieren. Er würde dem Chief Bescheid geben müssen, damit die Streifenpolizisten wussten, womit sie es zu tun hatten.

Gedankenversunken steuerte Kevin direkt auf Matt Jamison zu, den ehemaligen Reverend der Zion Bible Church, und bemerkte ihn erst, als es für ein Ausweichmanöver schon zu spät war. Jetzt konnte er nur noch vergeblich versuchen, mit beiden Händen das Klatschblatt abzuwehren, das der Pfarrer ihm unter die Nase hielt.

»Nehmen Sie’s«, forderte Jamison ihn auf. »Da stehen Sachen drin, die ziehen Ihnen die Schuhe aus.«

Ohne einen einigermaßen höflichen Ausweg in Sicht, nahm Kevin widerwillig eins der Mitteilungsblätter mit dem ebenso sperrigen wie eindringlichen Titel »DER 14. OKTOBER WAR NICHT DIE ENTRÜCKUNG!!!«. Auf der ersten Seite prangte ein Foto von Dr. Hillary Edgers, der allseits beliebten Kinderärztin, die vor drei Jahren zusammen mit siebenundachtzig anderen Einheimischen und Millionen von Unbekannten auf der ganzen Welt verschwunden war. AUFGEDECKT: DIE BISEXUELLE COLLEGEZEIT DER ÄRZTIN, verkündete die Schlagzeile. In einem Kasten zwischen den Zeilen des Artikels stand: »Exmitbewohnerin verrät: ›Wir dachten alle, die ist total lesbisch.‹«

Kevin hatte Dr. Edgers, deren Zwillingssöhne im selben Alter waren wie seine Tochter, gekannt und bewundert. Zwei Abende pro Woche hatte sie ehrenamtlich in einer kostenlosen Klinik für arme Kinder in der nahen Großstadt gearbeitet und vor dem Lehrer-Eltern-Ausschuss Vorträge mit Titeln wie »Die Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen bei jungen Sportlern« oder »Essstörungen erkennen« gehalten. Ob am Fußballplatz oder im Supermarkt, ständig hatte jemand versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln und kostenlosen medizinischen Rat abzustauben, aber sie hatte nie auch nur das geringste Anzeichen von Verärgerung oder Ungeduld gezeigt.

»Mein Gott, Matt. Muss das sein?«

Die Frage schien den Pfarrer zu verblüffen. Er war ein adretter, rotblonder Mann von etwa vierzig Jahren, doch sein Gesicht war in den letzten Jahren schlaff und sackartig geworden, so als alterte er nach einem beschleunigten Zeitplan.

»Diese Leute waren keine Helden, und wir müssen aufhören, sie wie welche zu behandeln. Ich meine, die ganze Parade hier …«

»Die Frau hatte Kinder. Die brauchen nicht zu lesen, mit wem sie auf dem College im Bett war.«

»Aber es ist nun mal die Wahrheit. Vor der Wahrheit kann man sich nicht verstecken.«

Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Nach allem, was Kevin hörte, war Matt Jamison früher ein anständiger Kerl gewesen, hatte aber inzwischen einfach den Kopf verloren. Wie viele andere gottesfürchtige Christen hatte der Plötzliche Fortgang auch ihn schwer traumatisiert, und ihn quälte die Angst, das Jüngste Gericht habe bereits getagt und ihn für unwürdig befunden. Wo manche seiner Leidensgenossen mit doppelter Frömmigkeit reagierten, schlug der Pfarrer den entgegengesetzten Weg ein und wurde zum leidenschaftlichen Entrückungsleugner, der sein Leben der Aufgabe verschrieb, zu beweisen, dass die Menschen, die am 14. Oktober ihre irdischen Fesseln abgelegt hatten, weder gute Christen noch auch nur besonders tugendhaft gewesen waren. Mit der Zeit war aus ihm dabei ein hartnäckiger investigativer Journalist und eine unerträgliche Nervensäge geworden.

»Na gut«, brummte Kevin, faltete das Blatt zusammen und stopfte es in seine Gesäßtasche. »Ich seh’s mir mal an.«

• • •

Ein paar Minuten nach elf setzte sich der Umzug in Bewegung. Ein Polizeikonvoi fuhr voran, gefolgt von einer kleinen Armada aus Festwagen, die eine Vielzahl öffentlicher und wirtschaftlicher Organisationen repräsentierten – größtenteils alte Säulen der Gemeinde wie die Handelskammer von Groß-Mapleton, der Ortsverband des D.A.R.E-Drogenpräventionsprogramms oder der Seniorenverein. Auf einigen Wagen wurden Aufführungen geboten: Schüler der Alice-Herlihy-Tanzschule legten auf einer improvisierten Bühne einen verhaltenen Jitterbug hin, während eine Gruppe Karate Kids vom Devlin-Brothers-Kampfsportzentrum unter wildem, einstimmigem Grunzen eine Revuenummer aus wirbelnden Luftschlägen und Tritten aufführte. Einem zufälligen Beobachter wäre all das wohl altbekannt vorgekommen, nicht viel anders als die anderen Festzüge, die während der letzten fünfzig Jahre durch die Stadt gekrochen waren. Nur der letzte Festwagen in der Kolonne hätte ihn stutzig gemacht: ein mit schwarzem Tuch behängter Pritschenwagen ohne einen einzigen Menschen darauf, eine schonungslose, selbsterklärende Leere.

Als Bürgermeister durfte Kevin gleich hinter dem Gedenkwagen in einem der beiden Ehrencabrios mitfahren, einem kleinen Mazda, mit seinem Freund und früheren Nachbarn Pete Thorne am Steuer. Sie fuhren an zweiter Stelle, etwa zehn Meter hinter dem Fiat Spider mit der Zeremonienmeisterin, einer hübschen, aber zerbrechlich wirkenden Frau namens Nora Durst, die am 14. Oktober ihre gesamte Familie – ihren Mann und zwei kleine Kinder – verloren hatte. Nach Meinung vieler war das die schlimmste Tragödie in ganz Mapleton gewesen. Angeblich hatte Nora am Vormittag eine kleine Panikattacke erlitten. Ihr sei schwindlig und übel, hatte sie gesagt, und sie wolle lieber nach Hause gehen, aber mithilfe ihrer Schwester und einer für solche Notfälle bereitstehenden ehrenamtlichen Trauerhelferin hatte sie die Krise überstanden. Jetzt schien es ihr besser zu gehen. Fast wie eine Königin saß sie auf dem Rücksitz des Spiders, drehte sich nach links und rechts und hob müde die Hand, um den immer wieder aufbrandenden Applaus der am Straßenrand versammelten Zuschauer entgegenzunehmen.

»Ganz schön was los«, rief Kevin seinem Fahrer zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass so viele kommen.«

»Was?«, bellte Pete über die Schulter.

»Vergiss es!«, rief Kevin zurück. Keine Chance, sich über die Musik der Kapelle hinweg Gehör zu verschaffen. Die Blechbläser klebten ihnen an der Stoßstange und spielten schon so lange überschwänglich die Titelmelodie vonHawaii Fünf-Null, dass er sich langsam fragte, ob sie überhaupt noch etwas anderes konnten. Vor lauter Ungeduld mit dem Trauerzugstempo der Parade drängten die Musiker immer wieder vorwärts, überholten kurz das Auto und ließen sich dann plötzlich wieder zurückfallen, was die feierliche Prozession hinter ihnen bestimmt ziemlich ins Schleudern brachte. Kevin drehte sich im Sitz um und versuchte, einen Blick auf die Menschen hinter den Musikern zu erhaschen, doch das Dickicht aus rot-braunen Uniformen, ernsthaften jungen Gesichtern mit aufgeplusterten Wangen und Blasinstrumenten, die wie geschmolzenes Gold in der Sonne glänzten, versperrte ihm die Sicht.

Das da hinten, dachte er, das war die eigentliche Parade, die, die noch nie zuvor jemand gesehen hatte. Hunderte ganz normaler Menschen, die in kleinen Grüppchen zusammen marschierten, einige mit Schildern, andere mit T-Shirts, auf denen das Bild eines Freundes oder Verwandten prangte, der ihnen genommen worden war. Er hatte diese Leute auf dem Parkplatz gesehen, kurz nachdem sie sich in ihre Züge aufgeteilt hatten, und der Anblick ihrer unermesslichen Trauer hatte ihn so sehr erschüttert, dass er kaum noch die Schriftzüge auf ihren Bannern lesen konnte: die Waisen des 14. Oktober, der Bund trauernder Ehepartner, die Mütter und Väter fortgegangener Kinder, der Verband beraubter Geschwister, Mapleton gedenkt seiner Freunde und Nachbarn, die Hinterbliebenen der Myrtle Avenue, die Schüler von Shirley de Santos, Uns fehlt Bud Phipps und viele mehr. Ein paar der großen Religionsgruppen waren auch mit dabei – die Mater-Dolorosa-Kirche, die Synagoge Beth-El und die Presbyterianer von St. James hatten jeweils ein Aufgebot abgestellt –, aber sie konnten sich nur noch ganz am Ende einreihen, unmittelbar vor den Rettungsfahrzeugen, und wirkten fast wie ein nachträglicher Einfall.

Im Zentrum von Mapleton drängten sich mitfühlende Zuschauer, und die Straßen waren mit Blumen bedeckt, von denen viele bereits unter Lkw-Reifen zerquetscht worden waren und nun von der Prozession endgültig zertrampelt würden. Auch einige Schüler der Highschool waren unter den Zuschauern, doch Kevins Tochter Jill und ihre beste Freundin Aimee sah man nirgends. Die Mädchen hatten noch tief geschlafen, als er gegangen war – wie üblich waren sie am Vorabend viel zu lange unterwegs gewesen –, und Kevin hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu wecken. Und er hatte auch nicht die Kraft für die Begegnung mit Aimee gehabt, die immer nur in Höschen und hauchdünnen, kurzen Tanktops schlief, bei denen er nie wusste, wo er hinsehen sollte. In der Hoffnung, das Klingeln würde sie aufscheuchen, hatte er während der letzten halben Stunde zweimal zu Hause angerufen, aber die Mädchen hatten nicht abgenommen.

Jill und er hatten schon seit Wochen wegen der Parade gestritten, auf diese entnervte, halb ernste, halb scherzhafte Weise, mit der sie mit allen wichtigen Dingen im Leben umgingen. Er hatte sie gedrängt, ihrer fortgegangenen Freundin Jen zu Ehren mitzulaufen, doch das hatte sie kaltgelassen.

»Weißt du was, Dad? Jen ist es völlig egal, ob ich mitmache.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie ist weg. Ihr ist alles scheißegal.«

»Ja, vielleicht«, erwiderte er. »Aber was, wenn sie noch hier ist und wir sie bloß nicht sehen können?«

Diese Möglichkeit schien Jill zu amüsieren. »Das wäre echt scheiße. Wahrscheinlich wedelt sie den ganzen Tag mit den Armen, damit wir sie bemerken.« Jill sah sich in der Küche um, als würde sie nach ihrer Freundin suchen. Mit lauter Stimme, so als spräche sie mit ihrer halb tauben Großmutter, sagte sie: »Jen, falls du da bist: Tut mir leid, dass ich dich ignoriere. Du könntest dich ja vielleicht mal räuspern oder so.«

Kevin sparte sich seinen Einspruch. Jill wusste, dass er es nicht mochte, wenn sie sich über die Verschwundenen lustig machte. Ihr das zum hundertsten Mal zu sagen, würde auch nichts nützen.

»Weißt du, mein Schatz«, sagte er ruhig, »die Parade ist nicht für sie, sondern für uns.«

Sie warf ihm diesen Blick zu, den sie seit Kurzem perfekt beherrschte: völliges Unverständnis, etwas gemildert durch einen winzigen Hauch weiblicher Nachsicht. Hätte sie noch Haare auf dem Kopf gehabt und nicht so viel Kajal aufgelegt, wäre der Blick noch niedlicher gewesen.

»Sag mal«, fragte sie, »warum ist dir das eigentlich so unglaublich wichtig?«

Hätte Kevin eine gute Antwort auf diese Frage geben können, er hätte es mit Freuden getan. Aber in Wahrheit hatte er keine Ahnung, warum es ihm so wichtig war, warum er bei der Parade nicht genauso aufgegeben hatte wie bei allem anderen, worüber sie im letzten Jahr gestritten hatten: beim Zapfenstreich, dem rasierten Kopf, der Frage, wie klug es war, so viel Zeit mit Aimee zu verbringen, oder der Feierei unter der Woche. Jill war siebzehn, und er begriff, dass sie irgendwie unwiderruflich seinem Einfluss entglitten war und nun tun würde, was immer sie wollte, wann immer sie wollte, egal, was er gern hätte.

Dennoch wünschte Kevin sich wirklich, dass sie an der Parade teilnahm und wenigstens ein bisschen zeigte, dass sie die Ansprüche von Familie und Gemeinschaft noch ernst nahm, dass sie ihren Vater immer noch liebte und respektierte und dass sie alles tun würde, um ihn glücklich zu machen. Ihr war das sonnenklar, das wusste er, aber aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht über sich, da mitzuspielen. Das tat ihm natürlich weh, aber alle Wut, die er gegenüber seiner Tochter empfand, ging immer automatisch mit einer Entschuldigung einher, mit dem inneren Eingeständnis, dass sie so viel hatte durchstehen müssen und er ihr dabei so wenig hatte helfen können.

Jill war eine Augenzeugin, und er brauchte keinen Psychologen, um zu wissen, dass sie damit ihr ganzes Leben lang zu kämpfen haben würde. Sie und Jen waren am 14. Oktober zusammen gewesen: Zwei kichernde junge Mädchen sitzen nebeneinander auf dem Sofa, knabbern Brezeln und sehen sich YouTube-Videos auf dem Laptop an, und einen Mausklick später ist eine fort, und die andere schreit sich die Seele aus dem Leib. Und auch in den Monaten und Jahren darauf waren rings um sie herum Menschen verschwunden, wenn auch nicht auf ganz so dramatische Weise. Ihr älterer Bruder war zurück ans College gefahren und nie wieder heimgekommen. Ihre Mutter war ausgezogen und hatte ein Schweigegelübde abgelegt. Nur ihr Vater war geblieben, ein verwirrter Mann, der versuchte, ihr zu helfen, aber nie die richtigen Worte fand. Wie sollte er auch, wo er doch genauso verloren und ratlos war wie sie?

Es überraschte Kevin nicht, dass Jill wütend war, oder rebellisch, oder depressiv. Sie hatte jedes Recht dazu. Das Einzige, was ihn überraschte, war, dass sie immer noch da war, immer noch unter einem Dach mit ihm wohnte, wo sie doch genauso gut mit den Barfüßlern hätte durchbrennen oder in den nächsten Greyhound-Bus nach Nirgendwo hätte springen können. Viele andere Teenager hatten das getan. Sicher, sie sah anders aus als früher, kahl und gequält, so als wollte sie, dass auch wildfremde Menschen genau verstünden, wie schlecht es ihr ging. Aber manchmal, wenn sie lächelte, hatte Kevin das Gefühl, ihr eigentliches Selbst sei immer noch irgendwo in ihr lebendig, sei trotz allem sonderbar unversehrt. Diese andere Jill war es, die Jill, die zu werden sie niemals wirklich eine Chance bekommen hatte, die er heute Morgen gern beim Frühstück angetroffen hätte, nicht die, die er nur zu gut kannte: das auf dem Bett zusammengerollte Mädchen, das am Vorabend zu betrunken oder high nach Hause gekommen war, um sich noch das Make-up vom Gesicht zu waschen.

Er überlegte, noch einmal anzurufen, als sie die Lovell Terrace erreichten, die noble Stichstraße, in die sie vor fünf Jahren gezogen waren, in einer Zeit, die ihm jetzt so fern und unwirklich vorkam wie die Goldenen Zwanziger. Doch so gern er auch Jills Stimme hören wollte, sein Sinn für Etikette hielt ihn davon ab. Es sähe einfach nicht gut aus, wenn der Bürgermeister mitten in der Parade das Handy am Ohr hätte. Und was sollte er überhaupt sagen?

Hallo, mein Schatz, ich fahre grade an unserer Straße vorbei, aber ich sehe dich nirgends …

Schon bevor er seine Frau an den Schuldigen Rest verloren hatte, hatte Kevin eine Art zähneknirschenden Respekt für diese Leute entwickelt. Als die Gruppe vor zwei Jahren zum ersten Mal auf seinem Radar aufgetaucht war, hatte er sie fälschlicherweise für eine harmlose Entrückungssekte gehalten, für einen Haufen fanatischer Separatisten, die nichts weiter wollten, als in Ruhe gelassen zu werden, zu trauern und friedlich zu meditieren – bis zur Wiederkunft des Herrn, oder worauf auch immer sie sonst warten mochten. Ihre Theologie begriff er immer noch nicht recht, und er war sich nicht sicher, ob sie selbst das überhaupt taten. Irgendwie leuchtete es ihm aber sogar ein, dass todunglückliche Menschen wie Rosalie Sussman Trost darin fanden, sich ihnen anzuschließen, ein Schweigegelübde abzulegen und der Welt den Rücken zuzukehren.

Der Schuldige Rest schien damals aus dem Nichts aufgetaucht zu sein, eine spontane, lokale Reaktion auf eine Tragödie von unerhörtem Ausmaß. Erst nach einer Weile war Kevin klar geworden, dass ähnliche Gruppen sich im ganzen Land bildeten und zu einem lockeren Netzwerk verbanden, dessen Zweigstellen allesamt dieselben Grundsätze befolgten – weiße Kleidung, Zigaretten und Zweier-Überwachungsteams –, sich sonst aber ohne nennenswerte Aufsichtsorgane oder Einmischung von außen selbst organisierten.

Dem mönchischen Anschein zum Trotz entpuppte sich die Ortsgruppe Mapleton schnell als ehrgeizige und disziplinierte Organisation mit Geschmack an Polit-Theater und zivilem Ungehorsam. Nicht genug, dass die Gruppe sich weigerte, Steuern oder Betriebskosten zu bezahlen: Auf ihrem Gelände in der Ginkgo Street setzten die Mitglieder sich obendrein über einen ganzen Haufen städtischer Verordnungen hinweg, indem sie Dutzende Menschen in Einfamilienhäuser pferchten, sich Gerichtsbeschlüssen und Zwangsvollstreckungen widersetzten und sich vor den Behörden verbarrikadierten. Es gab eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen, und bei einer davon wurde ein S.R.-Mitglied, das Polizisten mit Steinen beworfen hatte, um sie an der Ausführung eines Durchsuchungsbefehls zu hindern, am Ende von den Beamten erschossen. Die Sympathiewerte des Schuldigen Rests schnellten infolge der verpfuschten Razzia nach oben, was zum Rücktritt des Polizeichefs und zu rapide schwindendem Rückhalt für den damaligen Bürgermeister Malvern führte, weil beide den Einsatz genehmigt hatten.

Seit seiner Amtseinführung hatte Kevin sein Bestes getan, um die Spannungen zwischen der Sekte und der Stadt zu verringern, und eine Reihe von Abmachungen ausgehandelt, die dem S.R. im Austausch für sehr geringe Steuerzahlungen und Zufahrtsgarantien für Polizei und Rettungsfahrzeuge in genau bestimmten Situationen mehr oder weniger erlaubten, zu leben, wie es ihm gefiel. Der Waffenstillstand schien zu halten, doch der S.R. blieb ein unberechenbares Ärgernis, das immer wieder Angst und Verwirrung unter gesetzestreuen Bürgern zu stiften versuchte. Dieses Jahr hatten einige weiß gekleidete Erwachsene am ersten Schultag ein Sit-in an der Kingman-Grundschule veranstaltet und einen ganzen Vormittag lang ein Klassenzimmer der zweiten Jahrgangsstufe besetzt. Ein paar Wochen später war eine andere Gruppe während eines Spiels auf den Footballplatz der Highschool marschiert und hatte sich mitten aufs Feld gelegt, bis wütende Spieler und Zuschauer sie gewaltsam entfernten.

Seit Monaten hatten die Abgeordneten der Stadt gerätselt, was der S.R. wohl unternehmen würde, um den Heldentag zu stören. Kevin hatte zwei Planungstreffen durchgestanden, in denen das Thema detailliert besprochen worden war, und er hatte zahlreiche denkbare Szenarien durchgespielt. Den ganzen Tag hatte er nun schon darauf gewartet, dass sie loslegten, mit einer seltsamen Mischung aus Sorge und Neugier, so als wäre die Party erst dann perfekt, wenn der Schuldige Rest sie gesprengt hätte.

Doch die Parade war ohne eine Spur von ihnen vorbeigegangen, und auch der Gedenkgottesdienst neigte sich schon dem Ende zu. Kevin hatte einen Kranz am Fortgegangenen-Denkmal in Greenway Park niedergelegt, einer gruseligen Bronzeskulptur, die ein Kunstlehrer der Highschool angefertigt hatte. Eigentlich sollte sie ein Baby darstellen, das aus den Armen seiner sprachlosen Mutter entschwebt, aber irgendetwas war schiefgelaufen. Kevin war kein Kunstkritiker, aber ihm kam es immer so vor, als würde das Baby nicht emporschweben, sondern hinunterfallen – und es sah nicht so aus, als würde die Mutter es noch auffangen können.

Auf den Segen von Pater Gonzalez folgte eine Schweigeminute, dann läuteten die Kirchenglocken. Der letzte Programmpunkt war Nora Dursts Festrede. Kevin saß mit anderen Würdenträgern auf der improvisierten Bühne und beobachtete etwas besorgt, wie sie auf das Podium trat. Er wusste aus Erfahrung, wie bange einem vor so einer Rede sein konnte, wie viel Können und Selbstvertrauen nötig waren, um die Aufmerksamkeit selbst eines nur halb so großen Publikums zu halten.

Doch seine Sorgen waren unberechtigt. Als Nora sich räusperte und ihre Karteikarten ordnete, verstummte die Menge augenblicklich. Sie hatte gelitten, sie war die Frau, die alles verloren hatte, und ihr Leid verlieh ihr Autorität. Sie musste sich niemandes Aufmerksamkeit oder Respekt verdienen.

Obendrein entpuppte Nora sich als Naturtalent. Sie sprach langsam und deutlich – auf dem Niveau eines Rhetorikeinführungskurses zwar, doch auch den hatten überraschend viele ihrer Vorredner wohl verpasst –, und sie stammelte und stockte dabei gerade genug, damit die Rede nicht zu geschliffen wirkte. Es schadete natürlich nicht, dass sie eine attraktive Frau war: Sie war groß, hatte eine gute Figur und sprach mit sanfter, aber fester Stimme. Wie der Großteil des Publikums war sie leger gekleidet, und Kevin ertappte sich bei einem etwas zu sehnsüchtigen Blick auf die kunstvollen Nähte an der Gesäßtasche ihrer Jeans, die deutlich besser saß, als man das gewöhnlich bei offiziellen Feierlichkeiten zu sehen bekam. Sie hatte einen überraschend jugendlichen Körper für eine Fünfunddreißigjährige, die zwei Kinder auf die Welt gebracht hat. Zwei Kinder verloren hat, rief er sich ins Gedächtnis und zwang sich, das Kinn oben und die Aufmerksamkeit bei angemesseneren Dingen zu behalten. Das Letzte, was er auf der Titelseite des Mapleton Messenger sehen wollte, war ein großes Farbfoto des Bürgermeisters, der den Hintern einer trauernden Mutter begafft.

Nora begann mit der Feststellung, dass sie ursprünglich vorgehabt hatte, ihre Rede der freudigen Erinnerung an den schönsten Tag ihres Lebens zu widmen. Diesen Tag hatte sie nur wenige Monate vor dem 14. Oktober erlebt, während eines Familienurlaubs an der Küste von New Jersey. Es war nichts Besonderes passiert, und zu dem Zeitpunkt hatte sie nicht einmal ganz begriffen, wie glücklich sie gewesen war. Erst später war ihr das klar geworden, als ihr Mann und ihre Kinder fort waren, und sie hatte seither zahllose schlaflose Nächte damit zugebracht, sich das ganze Ausmaß ihres Verlusts bewusst zu machen.

Es war ein schöner Sommertag, sprach sie, warm und windig, aber die Sonne war nicht so stark, dass man ständig an Sonnenmilch denken musste. Irgendwann am Vormittag begannen ihre Kinder – Jeremy war sechs und Erin vier, älter sollten sie nicht werden –, eine Sandburg zu bauen, und sie arbeiteten daran mit dem feierlichen Eifer, mit dem Kinder manchmal die unwichtigsten Aufgaben angehen können. Nora und ihr Mann Doug saßen in der Nähe Hand in Hand auf einer Decke und beobachteten die emsigen kleinen Arbeiter dabei, wie sie zur Brandung liefen, ihre Plastikeimerchen mit nassem Sand füllten und wieder zurückstapften, die Streichholzärmchen angestrengt von der schweren Last. Die Kinder lachten nicht, doch ihre Gesichter strahlten vor freudiger Entschlossenheit. Stundenlang waren sie mit ihrer Festung beschäftigt, und sie wurde erstaunlich groß und kunstvoll.

»Wir hatten die Videokamera dabei«, fuhr Nora fort. »Aber irgendwie dachten wir nicht daran zu filmen. In gewisser Weise bin ich froh darüber. Wenn wir von dem Tag ein Video gemacht hätten, würde ich es mir nur andauernd ansehen. Ich würde es wieder und wieder zurückspulen und vor dem Fernseher vor die Hunde gehen.«

Doch als sie so über diesen Tag nachdachte, musste sie plötzlich an einen anderen denken, an einen fürchterlichen Samstag im vergangenen März, an dem die ganze Familie mit einem Magen-Darm-Infekt im Bett gelegen hatte. Es war, als würde jedes Mal, wenn man sich umdrehte, gerade jemand anderes brechen, und zwar nicht immer in die Toilette. Im ganzen Haus stank es, die Kinder heulten, und der Hund winselte pausenlos, weil er vor die Tür wollte. Nora konnte nicht aufstehen – sie hatte Fieber und driftete von einem Delirium ins nächste –, und Doug ging es auch nicht besser. Am Nachmittag dachte sie eine Zeit lang, sie müsse sterben. Als sie das ihrem Mann mitteilte, nickte der nur und sagte: »Okay.« Sie waren so krank, dass sie nicht einmal auf die Idee kamen, jemanden anzurufen und um Hilfe zu bitten. Irgendwann am Abend – Erin lag zwischen ihnen im Bett, das Haar verkrustet von getrocknetem Erbrochenen – kam Jeremy ins Zimmer und zeigte unter Tränen auf seinen Fuß. Woody hat in die Küche gemacht, schniefte er. Woody hat einen Haufen gemacht, und ich bin reingetreten.

»Es war die Hölle«, sagte Nora. »Das haben wir immer wieder zueinander gesagt: ›Das ist wirklich die Hölle.‹«

Natürlich hatten sie es irgendwann überstanden. Ein paar Tage später waren alle wieder gesund, und das Haus kam einigermaßen in Ordnung. Aber von da an sprachen sie von diesem Familien-Kotzmarathon als dem Tiefpunkt ihres gesamten Lebens, als der Katastrophe, im Vergleich zu der alles andere nur halb so schlimm ist. Wenn der Keller überflutet war, Nora einen Strafzettel bekam oder Doug einen Kunden verlor, konnten sie sich immer daran erinnern, dass es Schlimmeres gab.

»›Na ja‹, sagten wir dann, ›zumindest ist es nicht so schlimm wie damals, als wir alle krank waren.‹«

Ungefähr an diesem Punkt von Noras Rede erschien endlich der Schuldige Rest auf der Bildfläche. Um die zwanzig Weißgekleidete traten aus dem kleinen Wäldchen am Westrand des Parks und näherten sich langsam der Versammlung. Anfangs wirkten sie wie ein unorganisierter Haufen, doch dann ordneten sie sich langsam nebeneinander zu einer Reihe an, die Kevin an einen Suchtrupp erinnerte. Jeder und jede von ihnen trug ein Plakat, auf dem ein einziger schwarzer Buchstabe prangte. In Rufweite zur Bühne blieben sie stehen und hoben die Plakate über die Köpfe. Zusammen ergab die zackige Buchstabenreihe den Satz: SPART EUCH EUREN ATEM.

Ein wütendes Raunen ging durch die Menge, die weder die Störung noch die Bekundung zu schätzen wusste. Fast die gesamte Polizei war bei der Zeremonie anwesend, und nach einem Augenblick der Unsicherheit setzten sich mehrere Beamte in Richtung der Störenfriede in Bewegung. Chief Rogers war auf der Bühne, doch gerade als Kevin aufstand, um mit ihm zu beraten, ob es klug sei, es auf eine Auseinandersetzung ankommen zu lassen, wandte Nora sich an die Beamten.

»Bitte«, sagte sie. »Lassen Sie sie in Ruhe. Sie tun ja keinem was.«

Die Polizisten zögerten und stoppten schließlich auf ein Zeichen des Chiefs hin ihren Vormarsch. Kevin hatte von seinem Platz aus freie Sicht auf die Demonstranten und wusste inzwischen, dass seine Frau unter ihnen war. Er hatte Laurie schon seit einigen Monaten nicht mehr gesehen und erschrak, wie sehr sie abgenommen hatte. Als wäre sie nicht in einer Entrückungssekte, sondern in einem Fitnessstudio abgetaucht. Er hatte ihr Haar noch nie so grau gesehen – auf Äußerlichkeiten gab der S.R. nicht viel –, aber im Großen und Ganzen wirkte sie seltsam jugendlich. Vielleicht lag es nur an der Zigarette, denn Laurie hatte geraucht, als sie gerade frisch zusammengekommen waren, aber diese Frau dort, die den Buchstaben N hoch über den Kopf hielt, erinnerte ihn mehr an das lebenslustige Mädchen aus dem College als an die schwermütige und etwas füllige Frau, die ihn vor sechs Monaten verlassen hatte. Den Umständen zum Trotz verspürte er ein unleugbares stechendes Begehren nach ihr, ein Ziehen im Schritt, das ihn zu verspotten schien.

»Ich bin nicht gierig«, nahm Nora den Faden ihrer Rede wieder auf. »Ich brauche gar nicht diesen perfekten Tag am Strand. Mir reicht schon dieser schreckliche Samstag, an dem wir alle krank und elend waren, aber lebendig und zusammen. Im Augenblick kommt mir das wie der Himmel vor.« Zum ersten Mal seit Beginn der Rede brach ihre Stimme unter der Last der Gefühle. »Gott segne uns alle – die, die hier sind, und die, die es nicht sind. Wir haben alle so viel durchgemacht.«

Während des anhaltenden, irgendwie trotzigen Applauses, der nach ihrer Rede anhob, versuchte Kevin, Blickkontakt mit Laurie aufzunehmen, aber die weigerte sich, auch nur kurz in seine Richtung zu sehen. Er versuchte, sich einzureden, sie täte das gegen ihren Willen – schließlich standen links und rechts von ihr zwei große, bärtige Männer, von denen einer ein bisschen wie Neil Felton aussah, dem früher die Gourmet-Pizzeria in der Innenstadt gehört hatte. Es wäre tröstlich gewesen zu denken, ihre Vorgesetzten hätten sie angewiesen, sich nicht einmal durch wortlosen Kontakt mit ihrem Mann in Versuchung führen zu lassen, aber in seinem Innern wusste er, dass das nicht stimmte. Sie hätte ihn ansehen können, wenn ihr danach gewesen wäre, hätte zumindest die Existenz des Mannes anerkennen können, dem sie versprochen hatte, ihr Leben mit ihm zu verbringen. Sie wollte aber einfach nicht.

Als er später darüber nachdachte, fragte er sich, weshalb er nicht einfach von der Bühne gestiegen und hinübergegangen war, um zu sagen: Hey, lange nicht gesehen. Gut siehst du aus. Du fehlst mir. Nichts hätte ihn daran gehindert. Und dennoch war er einfach sitzen geblieben, ohne irgendetwas zu tun, bis die Leute in Weiß ihre Plakate herunternahmen, sich umdrehten und wieder zwischen den Bäumen verschwanden.

Eine ganze Klasse voll Jills

Jill Garvey wusste, wie leicht es war, die Verschwundenen zu verklären und zu besseren Menschen zu machen, als sie wirklich waren, den zurückgebliebenen Verlierern irgendwie überlegen. In den Wochen nach dem 14. Oktober hatte sie das aus nächster Nähe mitbekommen, als die verschiedensten Leute – hauptsächlich Erwachsene, aber auch einige Gleichaltrige – ihr alle möglichen verrückten Dinge über Jen Sussman erzählt hatten, die wirklich niemand Besonderes gewesen war, nur ein ganz normaler Mensch, ein bisschen hübscher als die meisten Mädchen ihres Alters vielleicht, aber ganz sicher kein Engel, der zu gut für diese Welt gewesen wäre.

Gott wollte sie bei sich haben, sagten sie. Ihm fehlten ihre blauen Augen und ihr wunderschönes Lächeln.

Sie meinten es gut, das war Jill schon klar. Weil sie eine sogenannte Augenzeugin war, die einzige andere Person im Raum, als Jill fortging, behandelten die Leute sie oft mit eigenartigem Respekt und auf unheimliche Weise liebevoll, fast so, als wäre sie eine trauernde Verwandte, als wären Jen und sie nachträglich plötzlich zu Schwestern geworden. Niemand hörte ihr zu, wenn sie zu erklären versuchte, dass sie in Wahrheit überhaupt nichts mit angesehen hatte und letztlich genauso ratlos war wie alle anderen. Im entscheidenden Moment hatte sie ein gleichzeitig trauriges und saukomisches YouTube-Video von einem kleinen Kind verfolgt, das sich an den Kopf boxte und tat, als würde das nicht wehtun. Vier- oder fünfmal hintereinander musste sie es wohl angesehen haben, und als sie endlich wieder aufblickte, war Jen verschwunden. Erst nach einiger Zeit hatte Jill begriffen, dass sie nicht einfach auf dem Klo war.

Du armes Ding, sagten die Leute immer wieder. Es muss unglaublich hart sein, einfach so seine beste Freundin zu verlieren.

Das war die andere Sache, die niemand hören wollte: dass Jen und sie keine besten Freundinnen mehr gewesen waren – wenn sie es überhaupt jemals gewesen waren, was Jill bezweifelte, obwohl sie den Ausdruck jahrelang gebraucht hatten, ohne darüber nachzudenken: meine beste Freundin Jen, meine beste Freundin Jill. Ihre Mütter waren beste Freundinnen gewesen, nicht sie. Die Mädchen hatten einfach mitgemacht, weil ihnen keine andere Wahl geblieben war. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie tatsächlich wie Schwestern gewesen. Sie wurden zusammen zur Schule gefahren, übernachteten beieinander, verbrachten gemeinsame Familienurlaube und schlugen zahllose Stunden vor Fernseh- und Computerbildschirmen tot, während ihre Mütter bei Tee oder Wein am Küchentisch saßen.

Ihr Zweckbündnis war überraschend beständig und hielt vom Kindergarten bis Mitte der achten Klasse, als Jen eine plötzliche, rätselhafte Verwandlung durchmachte. Eines Tages hatte sie einen neuen Körper – so kam es Jill zumindest vor –, am nächsten Tag neue Klamotten und an dem darauf neue Freundinnen: eine Clique hübscher, beliebter Mädchen unter der Führung von Hillary Beardon, die Jen vorher angeblich verachtet hatte. Als Jill sie fragte, warum sie mit Leuten abhängen wollte, die sie selbst als oberflächlich und unausstehlich bezeichnet hatte, lächelte Jen nur und sagte, sie seien eigentlich ganz nett, wenn man sie erst mal besser kennenlernen würde.

Gemein war sie dabei nicht zu Jill. Sie log sie nie an, machte sich nie hinter ihrem Rücken über sie lustig. Es war einfach, als würde sie langsam davontreiben, in andere, vornehmere Sphären. Sie machte einen symbolischen Versuch, Jill in ihr neues Leben einzubinden, und lud sie – höchstwahrscheinlich auf Drängen ihrer Mutter – zu einem Tagesausflug in Julia Horowitz’ Strandhaus ein, aber das machte die Kluft zwischen ihnen eigentlich nur noch offensichtlicher. Jill fühlte sich in ihrem jämmerlichen Badeanzug den ganzen Nachmittag lang wie eine Fremde, wie ein blasser, verhuschter Eindringling, der still und verunsichert zusah, wie die anderen Mädchen gegenseitig ihre Bikinis bewunderten, Bräunungssprays verglichen und auf bonbonfarbenen Handys SMS an Jungs schrieben. Was sie am meisten verblüffte, war, wie sehr Jen sich in diesem merkwürdigen Umfeld wohlzufühlen schien, wie nahtlos sie mit den anderen verschmolz.

»Das ist hart, ich weiß«, erklärte Jills Mutter ihr. »Aber sie orientiert sich eben um, und das solltest du vielleicht auch tun.«

Jener Sommer – der letzte vor der Katastrophe – fühlte sich an, als würde er nie zu Ende gehen. Jill war zu alt fürs Feriencamp, zu jung, um zu arbeiten, und zu schüchtern, um das Telefon in die Hand zu nehmen und jemanden anzurufen. Sie verbrachte viel zu viel Zeit auf Facebook, wo sie Bilder von Jen und ihren neuen Freundinnen betrachtete und sich fragte, ob sie wirklich alle so glücklich waren, wie sie aussahen. Sie hatten damit angefangen, sich »die Luxusluder« zu nennen, und fast jedes Foto trug diesen Spitznamen im Titel: Luxusluder hängen ab, Luxusluder Pyjamaparty, Hey LL, was willst Du trinken? Sie behielt Jens Statusmeldungen genau im Auge und verfolgte das Auf und Ab ihrer aufkeimenden Romanze mit Sam Pardo, einem der süßesten Jungs in ihrer Klasse.

Jen  schaut einen Film und hält Händchen mit Sam Pardo.

JenBESTER KUSS EVER!!!

Jendie zwei längsten Wochen meines Lebens.

Jen  … SCHEISS DRAUF.

Jen  Jungs sind so scheiße!

Jen  Vergeben und vergessen (mehr als das).

Jill wollte sie hassen, aber sie schaffte es einfach nicht. Wozu sollte das auch gut sein? Jen war, wo sie sein wollte, mit Leuten, die sie mochte, und tat Dinge, die sie glücklich machten. Wie sollte man jemanden dafür hassen? Man musste einfach einen Weg finden, all das selbst zu bekommen.

Als der September endlich kam, glaubte sie, das Schlimmste überstanden zu haben. Mit der Highschool fing ein neues Kapitel an: Die Vergangenheit zählte nicht mehr, und die Zukunft musste erst noch geschrieben werden. Wenn sie und Jen sich auf dem Gang begegneten, sagten sie einfach nur Hi und beließen es dabei. Ab und zu sah Jill sie an und dachte: Wir sind jetzt andere Menschen.

Dass sie am 14. Oktober zusammen waren, war reiner Zufall. Jills Mutter hatte etwas Garn für Mrs. Sussman gekauft – Stricken war in jenem Herbst das große Ding der beiden –, und Jill war eben gerade im Auto, als sie es ihr vorbeibringen wollte. Aus alter Gewohnheit landete sie mit Jen im Keller, wo die beiden verlegen über ihre neuen Lehrer tratschten und sich schließlich dem Computer zuwandten, als ihnen der Gesprächsstoff ausging. Jen hatte eine krakelige Telefonnummer auf dem Handrücken stehen – Jill bemerkte sie, als Jen den Rechner einschaltete, und fragte sich, von wem sie wohl war – und abgeplatzten rosa Nagellack auf den Fingernägeln. Der Bildschirmschoner ihres Laptops zeigte ein Foto der beiden, Jill und Jen, das ein paar Jahre zuvor während eines Schneesturms gemacht worden war. Sie waren von Kopf bis Fuß eingemummelt, hatten Zahnspangen und rote Wangen und zeigten stolz grinsend auf einen Schneemann, ein mit Liebe gebautes Kerlchen mit einer Karottennase und einem geliehenen Schal. Selbst in diesem Moment, als Jen direkt neben ihr saß, als sie noch kein Engel war, erschien ihr das Bild wie uralte Geschichte, wie ein Überbleibsel einer versunkenen Kultur.

Erst als ihre Mutter sich dem S.R. anschloss, begann Jill selbst zu begreifen, wie sehr Abwesenheit einem das Hirn verdrehen und einen dazu bringen kann, die Vorzüge der verschwundenen Person zu überhöhen und ihre Mängel herunterzuspielen. Natürlich war das etwas anderes: Ihre Mutter war nicht ganz fort, nicht so wie Jen, aber das machte offenbar keinen Unterschied.

Ihre Beziehung zueinander war kompliziert und etwas erdrückend gewesen, etwas enger, als für sie beide gut war, und Jill hatte sich oft etwas mehr Abstand gewünscht, etwas mehr Freiraum, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Wenn ich endlich auf dem College bin, wird’s besser, hatte sie oft gedacht. Viel angenehmer wird das, wenn sie mir nicht mehr dauernd im Nacken sitzt.

Doch das war der natürliche Lauf der Dinge – man wurde erwachsen, und man zog aus. Nicht natürlich hingegen war es, wenn die eigene Mutter einen sitzen ließ, um am anderen Ende der Stadt bei einem Haufen religiöser Spinner einzuziehen und jeden Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen.