Die Verlegerin - Katharine Graham - E-Book

Die Verlegerin E-Book

Katharine Graham

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Beschreibung

Jetzt im Kino in der Verfilmung von Steven Spielberg mit Meryl Streep und Tom Hanks »Die Verlegerin« ist Katharine Grahams bewegende Autobiographie und gleichzeitig ein Spiegel der amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Mit 46 Jahren wurde Graham unvermutet Verlegerin der Washington Post, nachdem sich ihr Mann – der frühere »Post«-Verleger – das Leben genommen hatte. Sie fühlte sich zunächst unwohl in der Männerwelt des Journalismus und lehnte dennoch alle Verkaufsofferten ab. Ihre mutigen Entscheidungen prägen die Zeitung bis heute. 1971 lässt sie die streng geheimen »Pentagon-Papiere« über den Vietnam-Krieg veröffentlichen, trotz drohender Strafe wegen Landesverrats. Ein Jahr später gibt sie ihren Redakteuren Rückendeckung bei der Enthüllung der Watergate-Affäre, die den US-Präsidenten das Amt kostete. Graham wurde als mächtigste Frau Amerikas gefeiert. »Sie stürzte Richard Nixon«, titelte »Die Zeit« später. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis

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Katharine Graham

Die Verlegerin

Wie die Chefin der »Washington Post« Amerika veränderte

Aus dem Englischen von Henning Thies

Über dieses Buch

Jetzt im Kino in der Verfilmung von Steven Spielberg mit Meryl Streep und Tom Hanks

 

»Die Verlegerin« ist Katharine Grahams bewegende Autobiographie und gleichzeitig ein Spiegel der amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Mit 46 Jahren wurde Graham unvermutet Verlegerin der Washington Post, nachdem sich ihr Mann – der frühere »Post«-Verleger – das Leben genommen hatte. Sie fühlte sich zunächst unwohl in der Männerwelt des Journalismus und lehnte dennoch alle Verkaufsofferten ab. Ihre mutigen Entscheidungen prägen die Zeitung bis heute. 1971 lässt sie die streng geheimen »Pentagon-Papiere« über den Vietnam-Krieg veröffentlichen, trotz drohender Strafe wegen Landesverrats. Ein Jahr später gibt sie ihren Redakteuren Rückendeckung bei der Enthüllung der Watergate-Affäre, die den US-Präsidenten das Amt kostete. Graham wurde als mächtigste Frau Amerikas gefeiert. »Sie stürzte Richard Nixon«, titelte »Die Zeit« später.

 

Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis

Vita

Katharine Graham wurde 1917 in Mount Kisco, New York, geboren. 1933 kaufte Grahams Vater, der Finanzier Eugene Meyer, die damals fast bankrotte »Washington Post«, die ihr Ehemann Phil von 1946 bis zu seinem Freitod 1963 leitete. Mit 46 Jahren stürzte sich Katharine Graham ins Zeitungsgeschäft – und schaffte es. Aus der »Washington Post« machte sie eine der angesehensten Zeitungen der USA, aus dem anfangs unbedeutenden Nachrichtenmagazin »Newsweek« den liberalen Konkurrenten von der »Time«. Heute gehören zur »Washington Post Company« auch Fernseh- und Radiosender. 2001 verstarb Katharine Graham an den Folgen eines Sturzes.

Ich möchte dieses Buch den wichtigsten Menschen darin widmen:

meinen Eltern,

Eugene und Agnes Meyer,

meinem Ehemann,

Philip L. Graham,

meinen Kindern,

Elizabeth (Lally) Weymouth, Donald, William und Stephen Graham.

Erstes Kapitel

Die Wege meiner Eltern kreuzten sich erstmals in einem Museum an der 23. Straße in New York. Es war am 12. Februar, Lincolns Geburtstag, und man schrieb das Jahr 1908. Eugene Meyer, zweiunddreißig Jahre alt, war damals erst seit wenigen Jahren als selbständiger Geschäftsmann tätig, aber bereits mehrfacher Millionär. Agnes Ernst, gerade einundzwanzig und frisch vom Barnard College ins Leben entlassen, war auffallend schön. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie als freie Mitarbeiterin einer Zeitung, der alten New York Sun, und vom verdienten Geld konnte sie sogar ihre Familie ein wenig unterstützen. Sie besuchte in diesem Museum eine Ausstellung japanischer Drucke. Ihr Interesse für Kunst und ihre Berufstätigkeit waren damals für eine Frau durchaus ungewöhnlich.

Als mein Vater in seinem Stanley Steamer, einem der ersten Automobile, zur Wall Street fuhr, hatte er einen Bekannten entdeckt, den er eigentlich nicht besonders schätzte. Aber Edgar Kohler sah krank und niedergeschlagen aus und tat meinem Vater leid; also bot er ihm an, ihn mitzunehmen, und erwähnte nebenbei, daß er unterwegs kurz in die japanische Kunstausstellung gehen wolle. Kohler entschied sich, ihn dorthin zu begleiten.

Als sie die Galerie betraten, begegneten sie zwei Freunden, die im Hinausgehen bemerkten: »Da läuft ein Mädchen herum, das besser aussieht als alles an den Wänden.« Sofort entdeckten Kohler und mein Vater besagte junge Dame – groß, mit blondem Haar und blauen Augen, eindeutig eine starke und selbstsichere Persönlichkeit. Meine Mutter konnte sich ihr Leben lang daran erinnern, was sie an jenem Tag getragen hatte, denn sie hatte das Gefühl, ihr »Kostüm« (wie sie es nannte) habe für ihr weiteres Schicksal eine wichtige Rolle gespielt. In der Tat muß sie auffällig gekleidet gewesen sein mit ihrem grauen Tweedkostüm samt Hütchen aus Eichhörnchenfell, das mit einer Adlerfeder geschmückt war. Als mein Vater sie erblickte, sagte er zu Kohler: »Das ist das Mädchen, das ich heiraten werde.«

»Ist das Ihr Ernst?« fragte dieser, worauf mein Vater erwiderte: »In meinem ganzen Leben war es mir noch nie so ernst.« Kohler wandte ein, die Chancen einer erneuten Begegnung seien sicher gering und mein Vater solle das Mädchen deshalb ansprechen. »Nein, das wäre eine Beleidigung für sie und würde alles kaputtmachen.« Statt dessen vereinbarten beide Männer, wer ihr zuerst wieder begegne, der solle sie auch mit dem anderen bekannt machen.

Ungefähr eine Woche später rief Kohler meinen Vater an: »Raten Sie mal, was passiert ist.« – »Sie haben das Mädchen wieder getroffen«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Genau!« Kohler war auf einer Party im Hause einer Barnard-Kommilitonin von Agnes gewesen und hatte dort eine Amateuraufführung der Operette Die lustige Witwe gesehen. Darin spielte meine Mutter den Grafen Danilo. Als sie nach der Aufführung ohne Kostüm in die Runde trat, erkannte Kohler in ihr sofort das Mädchen aus der Kunstausstellung wieder. Er stellte sich vor, erzählte ihr vom Pakt mit meinem Vater und arrangierte einen Lunch zu dritt.

So hatte Kohler sein Versprechen also gehalten und Eugene und Agnes miteinander bekannt gemacht. An Lincolns Geburtstag im Jahre 1910, auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem Eugene Agnes im Museum erstmals gesehen hatte, wurde Hochzeit gefeiert. Wenn ich heute auf mein langes Leben zurückblicke, so sticht mir vor allem eines ins Auge: die Rolle von Glück und Zufall im menschlichen Dasein. Jedenfalls folgte aus dieser besonderen Serie von Zufällen alles Weitere, von dem ich zu berichten habe.

 

Mein Vater kam aus einer angesehenen jüdischen Familie, deren Wurzeln in Elsaß-Lothringen viele Generationen zurückreichten. Aus ihr waren zahlreiche Rabbiner und führende Bürger hervorgegangen. Jacob Meyer, mein Ururgroßvater, war Mitglied der französischen Ehrenlegion und des Sanhedrins gewesen, eines Kollegiums jüdischer Notabeln, das von Napoleon I. in Verbindung mit der Anerkennung der Bürgerrechte für Juden zusammengerufen worden war.

Mein Großvater väterlicherseits, der eigentlich Marc Eugene Meyer hieß, doch immer nur Eugene genannt wurde, kam 1842 in Straßburg als jüngstes von vier Kindern der zweiten Frau seines Vaters zur Welt. Beim Tod des Vaters blieb die Mutter mittellos zurück, so daß Eugene die Schule nur bis zum vierzehnten Lebensjahr besuchen konnte. Dann mußte er, wie zuvor schon seine Geschwister, arbeiten, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Zuerst war er für die Gebrüder Blum tätig, die einen Laden im Elsaß besaßen und einen weiteren – kaum zu glauben – inDonaldsonville, Mississippi. Als einer der Chefs dem jungen Eugene verkündete, er werde nach Amerika gehen, entschied sich mein Großvater, ihn zu begleiten. Unterwegs, in Paris, stellte Blum ihn Alexandre Lazard von der Firma Lazard Frères vor, und dieser gab ihm ein Empfehlungsschreiben für seinen Partner in San Francisco mit. Die Passage nach New York auf dem schnellsten Schiff der damaligen Zeit, einem Raddampfer, kostete in der dritten Klasse 110 Dollar. Auf diesem Schiff verließ Eugene Meyer im September 1859 Europa. Von New York aus nahm er einen Dampfer nach Panama, überquerte die Landenge mit der Eisenbahn und fuhr dann mit einem weiteren Dampfschiff nach San Francisco, einer Stadt, die damals ungefähr fünfzigtausend Einwohner hatte. Dort blieb er zwei Jahre, lernte Englisch und legte vom Lohn, den er für seine Arbeit in einem Auktionshaus bekam, kleinere Ersparnisse an, ehe er 1861 nach Los Angeles weiterzog, wo ein Cousin der Lazards einen tüchtigen Verkäufer für seinen Laden suchte. Laut Eugenes Beschreibungen hatte Los Angeles damals nur etwa drei- bis viertausend Einwohner, die meisten davon Ausländer. Es gab nur vier Ziegelsteinhäuser, ansonsten Lehmgebäude mit Dächern, in denen Risse klafften. Gepflasterte Straßen waren ebenso unbekannt wie eine Kanalisation. Doch mein Großvater verbrachte die folgenden zweiundzwanzig Jahre in Los Angeles.

Er begann als Verkäufer und Buchhalter und wohnte im Hinterzimmer des Ladens. Manchmal schlief er sogar mit seiner Waffe auf dem Tresen, um die Waren zu schützen. Als sich sein Ruf, ein verläßlicher und nüchterner Geschäftsmann zu sein, im Ort verbreitete, begannen einige seiner neuen Freunde, ihr Geld bei ihm zu hinterlegen, denn damals gab es dort noch keine Banken. Innerhalb von drei Jahren war Eugene zum Teilhaber des Ladens aufgestiegen, der unter dem Namen »The City of Paris« bekannt wurde. Und innerhalb von zehn Jahren hatten er und sein Bruder Constant den Laden ganz übernommen. Eugene begann ferner damit, Geld zu verleihen, wurde Bankdirektor, organisierte zugleich den Los Angeles Social Club und half als Mitglied des Vigilance Committee (Bürgerwehr), Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten. Er gehörte zu den Mitbegründern der städtischen Wasserversorgungsgesellschaft, investierte in Immobilien und Bergwerke und diente außerdem noch als französischer Konsularagent. 1867 heiratete er die sechzehnjährige Harriet Newmark, deren Vater, ein Rabbiner, die Hochzeitszeremonie selbst durchführte. Im Anschluß gab es in der neuen Wohnung des Paares ein aufwendiges Hochzeitsessen – mit Eis als Nachtisch, was damals in Los Angeles noch etwas ganz Neues war.

Mein Vater Eugene Isaac Meyer kam 1875 zur Welt. Nach drei älteren Schwestern, Rosalie, Elise und Florence, war er der erste Junge in der Familie; es folgten noch vier weitere Kinder: zwei Töchter, Ruth und Aline, und zwei Söhne, Walter und – als Jüngster – Edgar.

Harriet, deren Konstitution nicht so stark war wie die ihres Mannes, wurde zur mehr oder weniger ständig kränkelnden Invalidin. Ob das nun damit zusammenhing, daß sie bis zum Alter von zweiunddreißig Jahren unter den medizinischen Bedingungen der Pionierzeit acht Kinder zur Welt gebracht hatte, ob sie Depressionen hatte oder ob beide Ursachen eine Rolle spielten, weiß man nicht. Jedenfalls war die Mutterfigur in der Jugend meines Vaters seine Schwester Rosalie, die nur sechs Jahre älter war als er selbst und die Schule verlassen mußte, um bei der Aufzucht ihrer Geschwister zu helfen.

Diese Lebensumstände der Kindheit meines Vaters lassen mich seine Persönlichkeit besser verstehen. Sein eigener Vater war sehr streng und nicht besonders liebevoll, soweit ich das beurteilen kann, und seine einzige wirkliche Mutterfigur war fast gleichaltrig. Rosalie war zwar lieb und sensibel, aber durch die ihr zugefallene Rolle als Respektsperson vollkommen überfordert. Sie war einfach noch nicht soweit, daß sie dieser Verantwortung hätte gerecht werden können. So verspürten wohl alle Geschwister nicht viel Elternliebe, denn der Vater war ehrgeizig und aufstiegsversessen, die Mutter nicht präsent. Mein Vater tat sich in eher intimen persönlichen Dingen immer schwer; seine zweifellos vorhandenen Gefühle konnte er nicht zum Ausdruck bringen.

Anfang 1884 zog mein Vater mit seinen Eltern und Geschwistern zurück nach San Francisco. Inzwischen hatte die Stadt bereits 225000 Einwohner und konnte der Familie Meyer weit bessere Ausbildungschancen und medizinische Behandlungsmöglichkeiten bieten als Los Angeles. Auch um die Sicherheit war es dort besser bestellt. Ich erinnere mich noch an einen Ausspruch meines Vaters, der sagte, in seinen ersten Lebensjahren sei in Los Angeles jeder mit einer Derringer-Pistole herumgelaufen und fast jede Nacht sei jemand erschossen worden. Meinem Großvater mag dieser Wechsel nach San Francisco gefallen haben, doch mein Vater wurde mit seinen acht Jahren sofort zur Zielscheibe von Aggressionen. Er war Einzelgänger und eine Kämpfernatur. Hinzu kam, daß seine Familie ihn zwang, Kleidung zu tragen (einschließlich eines gestärkten weißen Eton-Kragens), in der er anders aussah als die anderen. In der Schule schnappten sich die Älteren die kleineren Jungen, bildeten einen Kreis um sie herum und ließen sie darin gegeneinander kämpfen. Beendet waren solche Kämpfe erst, wenn irgend jemand Nasenbluten hatte, und dieser Jemand war meistens mein armer Vater. Er war auf diese Weise gezwungen zu lernen, wie man sich im Kampf verteidigt. Sein eigener Vater jedoch tadelte ihn wegen seines rauhen Verhaltens heftig. Die ständigen Prügeleien machten Eugene allerdings so stark, daß er in Alameda – wohin die Familie vorübergehend zog, um der Mutter dort, fern vom Nebelwetter San Franciscos, die Möglichkeit zu geben, zu Kräften zu kommen – den bisherigen Anführer auf dem Spielplatz ohne weiteres außer Gefecht setzen konnte. Der zweifelhafte Effekt seines Sieges war jedoch, daß er nun selbst zum Rabauken wurde – in der Schule, aber auch daheim.

Meine Großmutter indes wurde auch in Alameda nicht wieder gesund. Und für meinen Großvater erwies sich der Ort als zu abgelegen und unpraktisch, so daß die Familie schon bald nach San Francisco zurückzog. Für meinen Vater war dies bereits der dritte Schulwechsel. Als er von einem Baseball am Auge getroffen wurde, durfte er nicht weiter an solchen Spielen teilnehmen, mit der Begründung, seine Mutter müsse sich sonst zu viele Sorgen machen. Auch Footballspielen und das Segeln auf einem nahe gelegenen See waren ihm verboten. Fechtunterricht dagegen war gestattet, und bei Gentleman Jim Corbett, dem späteren Weltmeister im Schwergewicht, durfte er sogar das Boxen lernen.

Die Familie gehörte einer reformierten jüdischen Gemeinde an. Eugene erhielt Unterricht in jüdischer Geschichte, in Hebräisch und Religion. Als jedoch die Zeit für seine Bar-Mizwa gekommen war, lehnte er es ab, sich »konfirmieren« zu lassen. Als er aufgerufen wurde, seinen »vollkommenen Glauben« zu bekennen, sagte er: »Ich glaube an einige dieser Dinge, aber nicht an alle, und nicht vollkommen.« Nach außen hin war er niemals religiös, doch später engagierte er sich bei jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen und in Angelegenheiten, die – auch international – die Juden betrafen. Er war kein Zionist und fest davon überzeugt, vor allem Amerikaner zu sein.

Die Schule interessierte ihn nicht, aber er las viel. Als er auf dem Gymnasium nicht Klassenbester, sondern nur Dritter war, wurde er von seinem Vater getadelt – vor allem auch deshalb, weil der Vater wußte, daß sein Sohn faul war. Schließlich allerdings entwickelte Eugene eine wahre Leidenschaft für das Lernen, die noch dadurch gefördert wurde, daß sein Vater ihn immer stärker in geschäftliche Angelegenheiten und in Diskussionen über Politik und Hochfinanz einbezog.

Wie mein Vater wurde auch Rosalie eine starke, dominante Persönlichkeit. Sie heiratete Sigmund Stern, ihre nächstjüngere Schwester Elise Sigmunds Bruder Abraham. Die Sterns waren Neffen von Levi Strauss, der auf dem Höhepunkt des Goldrauschs nach San Francisco gekommen war, um grobes Segeltuch für Zelte an die Goldgräber zu verkaufen. Sei es, daß er den Stoff als Zeltmaterial nicht recht los wurde, sei es, daß das Gewebe sich besser für Niethosen eignete, Levi Strauss jedenfalls machte mit solchen Hosen ein Vermögen, und »Levi’s« wurde später auf der ganzen Welt ein Begriff. Weil Strauss aber Junggeselle blieb, erbten die Sterns, die die Geschäfte geführt hatten, später die ganze Firma.

Mein Großvater erhielt das Angebot, Partner bei Lazard Frères zu werden, und obgleich die Familie höchst ungern aus San Francisco fortzog – zumal sich die beiden ältesten Töchter nach ihrer Heirat inzwischen dort niedergelassen und zwei benachbarte, große Häuser gebaut hatten –, sah er in diesem Angebot eine gute Gelegenheit. Also hieß es im Jahre 1893: auf nach New York! Damals war mein Vater siebzehn, und er hatte gerade das erste Studienjahr am College der University of California in Berkeley hinter sich gebracht. Zum ersten Mal sah er die ungeheure Weite des Landes und die atemberaubende Größe New Yorks – damals eine Stadt von dreieinhalb Millionen Einwohnern, mit sagenhaftem Luxus und, in scharfem Kontrast dazu, erbärmlichen Slums.

Er begann bei Lazard als Bote zu arbeiten, im Bewußtsein, daß er dort eines Tages die Position seines Vaters übernehmen würde. Obwohl er nur drei Wochen Vorbereitungszeit hatte und auch nur eine durchschnittliche Empfehlung aus Berkeley vorweisen konnte, büffelte er für die Aufnahmeprüfung in Yale – und bestand sie. Er mutete sich einen außerordentlich strapaziösen Stundenplan zu. Weil er kaum jemanden kannte – schließlich war er ein einsamer jüdischer Junge aus dem Westen –, lernte er pausenlos und belegte zusätzliche Veranstaltungen. Zweifellos kompensierte er so seinen Mangel an geselligem Leben, aber er spürte in sich auch den Drang, besser sein zu wollen als alle anderen. Er wurde in die Phi-Beta-Kappa-Verbindung aufgenommen, die nur den Begabtesten offensteht, und konnte wegen der zusätzlich besuchten Veranstaltungen das vorletzte Studienjahr überspringen. So schaffte er seinen Yale-Abschluß in nur zwei Jahren, als neunzehnter in einem Jahrgang von 250. Und er war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt.

Nach einem weiteren kurzen Gastspiel bei Lazard ging er für anderthalb Jahre ins Ausland, um in Deutschland, England und Frankreich eine Banklehre zu machen. Zunächst kam er nach Paris, wo er ohne Bezahlung arbeitete; die wunderschöne Krawattennadel mit einer Perle, die er dort als Belohnung bekam, trug er ständig – wenigstens in meinen frühen Kindheitserinnerungen. Die 600 Dollar, die ihm sein Vater geschenkt hatte, weil er bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr auf das Rauchen verzichtet hatte, investierte er an der Börse. (Viele Jahre später bot mein Vater auch uns Kindern allen dasselbe Geschäft an, aber ich glaube nicht, daß jemand darauf eingegangen ist. Möglicherweise hat es niemand von uns geschafft, einundzwanzig zu werden, ohne mit dem Rauchen experimentiert zu haben. Zweifellos bedeuteten uns aber die angebotenen 1000 Dollar auch wesentlich weniger als ihm die 600 Dollar seines Vaters.)

Die ersten Schritte meines Vaters zur Unabhängigkeit fielen mit seiner Rückkehr aus Europa zusammen. Sein eigener Vater, der ihn auf den Eintritt in die Firma Lazard vorbereitet hatte, rechnete sicher fest mit diesem Schritt. Doch was Eugene bei seiner Rückkehr feststellen mußte, war, daß sich überhaupt nichts verändert hatte: Seine anderthalbjährige Banklehre zählte überhaupt nicht. Er bekam ein Anfangsgehalt von 12 Dollar wöchentlich, und die Gehaltserhöhungen waren kaum der Rede wert. Außerdem mußte er unter seinem Schwager George Blumenthal arbeiten, einem schwierigen, sehr von sich überzeugten und zum Aufbrausen neigenden Mann, den mein Vater niemals wirklich mochte. Blumenthal war bereits ein außerordentlich fähiger Außenhandelsbankier. (Später, als Chef von Lazard USA, war er sogar noch erfolgreicher.) Er hatte die heißgeliebte Schwester meines Vaters geheiratet, Florence, von der Familie Florie genannt.

Als ich die Blumenthals zum ersten Mal bewußt wahrnahm, lebten sie im Winter in New York, im Sommer dagegen in Frankreich oder auf Jachten im Mittelmeer. Ihr riesiges, aufwendig ausgestattetes Haus in New York erstreckte sich über einen halben Straßenblock, und es gab darin sogar ein gefliestes Hallenbad. Florie brachte jedes Jahr Unmengen französischer Kleider mit – so viele, daß einmal, als wieder für die Fahrt nach Paris gepackt wurde, noch ein ganzer Koffer mit Kleidern entdeckt wurde, der seit der letzten Heimkehr überhaupt noch nicht ausgepackt worden war. Als mein Vater sich einmal scherzhaft bei George über den extravaganten Kleidergeschmack meiner Mutter beschwerte und dabei übertreibend behauptete, sie trage fast nie dasselbe Kleid ein zweites Mal, erwiderte George allen Ernstes: »Aber Eugene, du erwartest doch nicht etwa, daß deine Frau dasselbe Kleid zweimal trägt?«

Florie hatte eine perfekte Figur – einmal versandten die Blumenthals zu Weihnachten statt Karten Gipsabdrücke ihrer schlanken Füße und Fesseln. Ihr einziges Kind durfte Florie nicht stillen, weil George Angst um ihre wunderschöne Figur hatte. Den frühen Tod dieses Sohnes konnte Florie nie verwinden.

Wie dem auch sei, mein Vater begann von dem Pfad abzuweichen, den ihm sein Vater vorgezeichnet hatte – sei es, weil er mit George Blumenthal nicht harmonierte, sei es, weil er instinktiv wußte, daß er nun seinen eigenen Weg gehen mußte. Nach verschiedenen Abenteuern und Fehlstarts in anderen Bereichen – er hatte versucht, abends im Selbststudium die Juristerei zu erlernen, fand sie jedoch schnell langweilig – stieß er auf ein Buch von William Hartpole Lecky mit dem Titel The Map of Life (Atlas des Lebens). Darin stand, »daß das Leben eines Menschen als ein einziges Ganzes geplant werden sollte, in dem jedes Stadium wiederum Vorstufe zum nächstfolgenden sein sollte«. Und so entwarf Eugene einen entsprechenden Lebensplan. Die ersten zwanzig Jahre lagen schon hinter ihm – sie liefen unter der allgemeinen Bezeichnung »Schule«. Die Zeit zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten Lebensjahr sollte dem Wachstum und Experimenten gewidmet sein. In dieser Zeit wollte er »Kompetenz« erwerben, heiraten und eine Familie gründen. In der Zeit zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Lebensjahr sollte dann all das zuvor Gelernte und Getane umgesetzt werden. »Wenn machbar«, schrieb mein Vater damals, sollten diese Jahre auch »dem Dienst an der Öffentlichkeit gewidmet« sein. Mit sechzig wollte er sich zur Ruhe setzen, ruhig und elegant älter werden und jüngeren Leuten helfen.

Als er sich so bei Lazard umsah und auch das Leben seines Vaters Revue passieren ließ, war er fester denn je davon überzeugt, daß sein Lebensplan richtig sei. Die Bürokratie bei Lazard war hoffnungslos; die älteren Männer trafen alle Entscheidungen und gaben den talentierten jüngeren kaum Gelegenheit, etwas Nennenswertes beizutragen. Die Partner in Paris hatten die Kontrolle über die gesamte Firma.

Eugene führte verschiedene junge Damen aus, und an einer, Irene Untermeyer, der Tochter des Anwalts Samuel Untermeyer, war er wirklich interessiert. Ich glaube, dies war seine einzige echte Romanze, ehe er meiner Mutter begegnete. Bei Lazard verdiente er damals jedoch nur 200 Dollar im Monat, und er war sich – wie sicher auch Irenes Eltern – der Tatsache bewußt, daß er von diesem Gehalt keine Frau ernähren konnte. Inzwischen hatte er jedoch sein »Zigarettengeld« gut angelegt und auf diese Weise 5000 Dollar zusammengespart. Durch den Kauf von Eisenbahnaktien stockte er sein Kapital auf 50000 Dollar auf und trat dann mit dem festen Entschluß, Lazard zu verlassen und seinen eigenen Weg zu gehen, vor seinen Vater. Es war ein sehr emotionaler Augenblick, denn der Vater sah in dieser Entscheidung eine Zurückweisung der eigenen lebenslangen Arbeit und der Weichenstellungen für seinen Sohn. Als dieser sogar noch einen Schritt weiterging und seinem Vater eröffnete, daß er sich an der Börse einkaufen wolle, verweigerte mein Großvater jegliche Hilfe. Da verkündete mein Vater, er habe die erforderlichen 50000 Dollar bereits beisammen und benötige keine Hilfe mehr, worauf mein Großvater entgegnete: »Eugene, du bist ein Spieler!« Wer die spekulativen Möglichkeiten des Marktes nutzte, verdiente aus seiner Sicht kein anderes Urteil.

Der erste unabhängige Schritt meines Vaters entpuppte sich schon bald, nachdem er bei Lazard gegangen war, als ziemliches Desaster: Ahnungslos hatte er sich mit einer betrügerischen Börsenmaklerfirma eingelassen. Doch als er seine Kollegen durchschaut hatte, trennte er sich sofort von ihnen. Das Ganze war ein schwerer Schlag, aber nun stand mein Großvater wieder hinter ihm und beauftragte ihn, sein eigenes Vermögen gewinnbringend an der Börse anzulegen. Er sagte, er erwarte, daß auch andere Familienmitglieder seinem Beispiel folgen würden. Selbst Blumenthal schloß sich an.

Nach diesem Fehlstart zog sich mein Vater nach Palm Beach zurück, um die ganze Angelegenheit zu überdenken. Dort entwarf er seinen »Geschäftsentwicklungsplan«, eine sehr einfache, aber hochherzige Strategie: Er wollte sich mit den Besten zusammentun, nur bekannte Aktien erwerben und daran festhalten; als Geschäftsmann wollte er konstruktiv, nicht destruktiv mit seinen Investitionen umgehen. Auf dieser Basis gründete er 1904 seine eigene Firma, Eugene Meyer and Company. Schritt für Schritt etablierte er sich an der Wall Street, und die Geschäfte liefen gut – für ihn selbst wie für seine Geschäftspartner. 1906 hatte er schon mehrere Millionen Dollar verdient. Zur Zeit der Firmengründung muß es sehr schwer gewesen sein, mit den größeren, bekannteren Häusern zu konkurrieren. Allmählich lernte er jedoch die Chefs dieser Firmen persönlich kennen. Ich hörte ihn sagen, daß er für E.H. Harriman, den Vater von Averell Harriman, die größte Bewunderung hege. Harriman war eine sehr dominante Persönlichkeit, und ich glaube, mein Vater fühlte sich neben Harriman, Morgan und den anderen damals herrschenden Größen der Zunft klein und unsicher. Als diese Titanen aber von ihm Notiz zu nehmen begannen, war mein Vater sehr dankbar. Einen von ihnen zitierte er mit den Worten: »Behaltet diesen Meyer im Auge. Der wird das ganze Geld auf sich ziehen.«

Zur Investitionsphilosophie meines Vaters gehörte eine sorgfältige Untersuchung und Bewertung der betroffenen Firmen – die erste gründliche wirtschaftliche Analyse dieser Art. Dieses Vorgehen war typisch für seinen lebenslangen Impuls, sich erst über die Fakten zu informieren, ehe er Entscheidungen traf. In der Tat hatte Eugene Meyer and Company von allen Investmentbanken an der Wall Street als erste eine Forschungsabteilung. Im Lauf der Zeit wurde mein Vater bei der Analyse ökonomischer Trends immer versierter. Er konnte Paniken und abrupte Ausschläge des Pendels auf dem Markt vorhersehen und zog sich zurück, wenn er zu dem begründeten Schluß kam, daß eine Katastrophe bevorstehe. Er machte zwar ein großes Vermögen, war aber auch bereit, große Risiken einzugehen. Zweimal war er – zumindest nach Wall-Street-Maßstäben – schon so gut wie pleite.

Seiner Familie widmete er sich damals wie sein ganzes späteres Leben lang mit großer Hingabe. So benutzte er seinen Reichtum auch dazu, die Lage seiner Eltern grundlegend zu verbessern. Ein besonders enges Verhältnis hatte mein Vater weiterhin zu seiner Schwester Ro. Als 1906 das schreckliche Erdbeben samt Feuersbrunst San Francisco heimsuchte und die Telefonverbindungen der Stadt zur Außenwelt unterbrochen waren, beschloß er, sich sofort auf den Weg zu machen, um persönlich nach dem Rechten zu sehen. Mit einem Spezialgürtel, der 30000 Dollar Bargeld enthielt, um den Leib, einem kleinen Koffer und einer Pistole versehen, bestieg er in New York den Zug.

Rosalie, Elise und ihre Familien waren in Sicherheit. Sie und ihre beiden Haushalte, zusammen achtundzwanzig Personen, hatten zwei Tage lang Schutz in Ros Haus gefunden. Als das Feuer näher rückte, waren sie zunächst nach Presidio und dann in den Golden Gate Park geflohen, schließlich in ein gemietetes Sommerhaus in Fair Oaks. Dort spürte mein Vater sie auf. Als er sich dem Haus näherte, sah Ro nur kurz auf und sagte: »Eugene, ich wußte, daß du kommen würdest.«

Schon ziemlich früh wurde mein Vater Sammler mit einem besonderen Interesse an Stichen von Dürer und Whistler, an Erstausgaben von Werken der amerikanischen Literatur und an Briefen von Abraham Lincoln. Er lernte den Bildhauer Gutzon Borglum kennen, der gerade an einer Lincoln-Büste arbeitete, und erklärte sich bereit, das Werk anzukaufen und der Nation zum Geschenk zu machen. Präsident Theodore Roosevelt ging auf Borglums Wunsch ein, die Büste zunächst im Weißen Haus zu zeigen, ehe sie dann im Kapitol aufgestellt wurde. So fuhr mein Vater also zum ersten Mal in seinem Leben nach Washington, um Präsident Roosevelt zu treffen. Sehr hellsichtig schrieb er seiner Schwester Rosalie, Roosevelt hätte »einen monetären Mechanismus« erarbeiten sollen, »der jene Art von Panik verhindern könnte, die wir kürzlich erlebt haben. Ich würde selbst gern mit diesen Problemen besser fertig werden. Doch hege ich keinen Zweifel, daß sie immer noch dasein werden, wenn ich einmal aus dem Geschäftsleben ausscheide und meinen lange gehegten Plan realisiere, mich in irgendeiner Form an der Erledigung der Regierungsgeschäfte direkt zu beteiligen.«

Das also war der Mann, der an jenem Februartag im Jahre 1908 die Kunstgalerie betrat – ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Kunstinteressent und Manuskriptsammler und jemand, der bereits über volkswirtschaftliche Themen nachdachte. Er war wohlhabend, war sich aber trotzdem der Probleme der Armut bewußt. Er hatte hohe Werte und Ziele, war aber in gewisser Weise auch ein Einzelgänger, ein Besessener, ein Workaholic. Trotz der komplizierten Beziehungen zu seinem Vater und zu seinem Schwager George Blumenthal war er sehr familienbewußt. Im Grunde war er schüchtern, konnte jedoch auch sehr zornig werden. Zweifellos hatten die Diskriminierungen, denen er im College, an der Wall Street und gesellschaftlich ausgesetzt gewesen war, deutliche Spuren hinterlassen. Doch alles in allem war er stark, brillant, kompetent, geistreich und selbstbewußt.

 

Die junge Frau, die Eugene Meyer durch die Museumsräume hatte gehen sehen, war besonders an der Kunstavantgarde interessiert; sie hielt sich sogar für so etwas wie eine Angehörige der Boheme. Auch sie war voller Entschlußkraft und Selbstvertrauen, doch anders als mein Vater noch vollkommen mit sich selbst beschäftigt. Meine Mutter wurde 1887 in New York geboren und hatte teilweise ähnliche Wurzeln wie mein Vater, teilweise aber auch ganz andersartige. Und diese Unterschiede sollten für eine komplizierte Beziehung zwischen den beiden sorgen.

Väterlicherseits stammte meine Mutter aus einem alten lutherischen Pastorengeschlecht in Hannover, dem in der jüngeren Vergangenheit jedoch auch einige schwarze Schafe angehörten. Die Mitglieder der Familie Ernst sahen gut aus und waren begabt und überaus strebsam, leider aber auch mit einem Hang zum Alkoholismus geschlagen. Mein Urgroßvater Karl Ernst war Hofprediger des letzten Königs von Hannover. Als das Königreich 1866 von den Preußen erobert wurde, schickte er seine sieben Söhne außer Landes, um sie vor der Armee zu bewahren. Bis auf einen gingen sie alle nach Amerika, und auf diese Weise kam auch mein Großvater mütterlicherseits nach New York. Er wurde dort Rechtsanwalt und überredete später die zu Besuch in Amerika weilende Lucy Schmidt, meine Großmutter, bei ihm zu bleiben und ihn zu heiraten. Auch sie stammte aus Norddeutschland. Ihre überwiegend aus Seefahrern und Kaufleuten bestehende Familie hatte schon seit über drei Jahrhunderten in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen gelebt. Aufgewachsen war meine Mutter in dem damals noch kleinen Ort Pelham Heights, direkt am Stadtrand von New York City. Der Erziehungsstil der Familie war eher streng und puritanisch, über Geld wurde nicht gesprochen. Eine besonders wichtige Rolle spielte in Agnes’ Kindheit ihr Vater; sie selbst sprach später von einem »Ödipuskomplex«. Der Vater war es auch, der ihre Liebe zur Musik weckte, indem er ihr Wagner und Mozart nahebrachte. Doch im Lauf der Zeit vernachlässigte er seine Familienpflichten zusehends zugunsten von Alkohol und Liebschaften, und die Tochter fühlte sich von ihm verraten.

Zusätzlich zum Schulunterricht erhielten meine Mutter und ihre drei älteren Brüder zu Hause noch Unterricht in Deutsch und Mathematik. Als Bill und sie selbst, die dieselbe Klasse besuchten, für die High-School, und Fred für das College reif waren, zog die Familie nach New York City, um vom dort kostenlosen öffentlichen Erziehungssystem zu profitieren, das einen sehr guten Ruf genoß. So mußte sich meine Mutter umstellen, aufhören, mit Jungen zu raufen, und eine Mädchenschule besuchen. In der anregenden Lernatmosphäre der Morris High School indes war sie bestens aufgehoben: Sie belegte Latein, Griechisch, Alte Geschichte, Mathematik, Französisch sowie Englische und Amerikanische Literatur.

Je mehr der Vater sich seinen Pflichten entzog, desto größer wurden die Sorgen der Mutter, denn die Schulden häuften sich, und die Situation wurde immer schwieriger – für Agnes eine traumatische Erfahrung, die ihr Männerbild nachhaltig prägen sollte. Überdies mußte sie, um weiter zur Schule gehen zu dürfen, besonders fleißig sein und Stipendien gewinnen.

Mit einem Stipendium konnte sie 1903 auf das Barnard College wechseln. Anfangs konzentrierte sie sich auf Mathematik und Physik, später aber auf Philosophie und Literatur. Sie war ein sehr unabhängiger und respektloser Geist – so sehr, daß man sie als »zu verantwortungslos« ansah, um weiterer Stipendien würdig zu sein. Daraufhin entschloß sie sich, die für ihre damaligen Verhältnisse enorme Summe von 150 Dollar, die für das zweite Jahr im College aufzubringen war, in den Sommerferien selbst zu verdienen. Sie arbeitete mindestens zwölf Stunden pro Tag. Morgens und am frühen Nachmittag unterrichtete sie in einer baptistischen Sommerschule, und von 18 bis 22 Uhr leitete sie die Leihbücherei der Hudson Guild. Ihr fehlten immer noch 50 Dollar, als der Aufsichtsbeamte ihrer Schule bekanntgab, zwei männliche Klassenlehrer seien in ihren Schulen im berüchtigten Stadtteil Hell’s Kitchen den Aufgaben nicht länger gewachsen gewesen und hätten aufgegeben. Nun würden Freiwillige gesucht, die diese Aufgabe gegen doppelte Bezahlung übernähmen. Agnes meldete sich und wurde angenommen. Am ersten Tag in der neuen Schule stieß sie auf ein totales Chaos, das sie dadurch beendete, daß sie einen vierzehnjährigen Jungen aus dem Klassenraum wies. Es stellte sich heraus, daß er Anführer einer Gang war, als ihm die Hälfte der Jungen aus der Klasse folgte. Meine Mutter begriff schnell, was hier gespielt wurde, und verhandelte mit dem vor die Tür geschickten Anführer sowie mit seinem Hauptrivalen. Sie konnte beide auf ihre Seite ziehen, so daß sie von da an gemeinsam mit ihr für Ordnung sorgten, und auf diese Weise die schwierige Situation meistern. Sie selbst war damals erst siebzehn Jahre alt.

Als Agnes auf das College zurückkehrte, erhielt sie die Nachricht, daß sich die Fakultät doch noch entschlossen habe, ihr ein Stipendium zu gewähren. Das war wie Manna vom Himmel. Nun mußte sie nicht mehr durch Unterrichten dazuverdienen und konnte überdies ihrer Mutter helfen, ausstehende Rechnungen zu bezahlen – eine Pflicht, bei der sich ihr Vater inzwischen überhaupt nicht mehr angesprochen fühlte. Fortan kam Agnes ohne Schwierigkeiten durch das College. Sie war überall beliebt und der Schwarm verschiedener Männer. Doch leider wurde sie dadurch, wie sie selbst sagte, auch »unglaublich hochnäsig und egozentrisch … Viele Jahre war ich danach hauptsächlich in mich selbst verliebt – eine Ekstase, die mir und anderen viel Schmerz bereitete, ehe mich das Leben von diesem Rausch befreite.« Das klingt allerdings etwas zu eindeutig, denn ganz hat auch das Leben sie nie von dieser Selbstbezogenheit geheilt.

In ihrem Abschlußjahr auf dem College mußte Agnes nur noch zwei Pflichtstunden absolvieren. Doch was zunächst wie eine lästige Pflicht aussah, entpuppte sich als Segen, denn in ihrem letzten College-Jahr entwickelte sich die erste einer ganzen Reihe von intellektuellen, gleichwohl auch sehr emotionalen Schwärmereien für bedeutende Männer – vor allem aus dem Bereich der Künste und Geisteswissenschaften. Oft verzehrte sie sich geradezu in diesen seltsam passionierten Freundschaften. Jedenfalls soll mein Vater einmal gemurmelt haben: »Ständig ist noch ein Fremder mit im Haus.«

Der erste intellektuelle Schwarm meiner Mutter war John Dewey. Als Vorsitzende der Philosophical Society des Barnard College hatte sie Dewey zu einem Vortrag eingeladen, und dann lernte sie ihn durch seine Tochter Evelyn, eine Klassenkameradin, noch besser kennen. Evelyn nahm sie gelegentlich zum Essen mit nach Hause. Agnes las alles, was Dewey je geschrieben hatte. Sie glaubte, seine Lehre, man müsse das Leben auf hohem Niveau leben, habe es ihr ermöglicht, mit »den vielen Frustrationen, Härten und Enttäuschungen meiner College-Jahre« fertig zu werden. »Ich glaube, ich hätte den Mann, den ich geheiratet habe, nie geheiratet – dabei war es das Beste, was mir je geschehen konnte –, wenn Dewey meinem Sturm und Drang nicht mit seinem inspirierten Common sense entgegengewirkt hätte.«

Als sie ihrer Familie eröffnete, daß sie Zeitungsjournalistin werden wolle, ereignete sich, wie sie später schrieb, folgendes: »Meine Mutter weinte, und mein Vater sagte mit feierlicher Stimme: ›Es wäre mir lieber, wenn du gestorben wärest.‹« In jenen Tagen arbeiteten gebildete Frauen entweder als Lehrerinnen oder als Sekretärinnen, und im Journalismus gab es nur ein halbes Dutzend Frauen, die meisten davon auch noch im Klatschjournalismus. So war es eine höchst bemerkenswerte Angelegenheit, daß meine Mutter begann, freiberuflich für die New York Sun zu schreiben. Sie erhielt lediglich Zeilengeld und stand deshalb ständig unter fürchterlichem Druck, genug Storys zusammenzubekommen, um ihre Familie davon über Wasser halten zu können. Ihr Einkommen belief sich, wenn es hoch kam, auf 40 Dollar die Woche, manchmal aber auch nur auf 5 oder 10 Dollar. Doch sie hielt durch und war schon bald als das »Sun-Girl« bekannt.

Auf der Suche nach Stoff für einen Artikel geriet sie eines Tages in eine neue Galerie für moderne Kunst an der Fifth Avenue. Dort wurden erstmals Fotos als Kunstwerke ausgestellt, und sie meinte, die sehr avantgardistische Gruppe der Foto-Sezessionisten, die dort arbeitete, allen voran Alfred Stieglitz und Edward Steichen, gebe eine wirklich gute Story her. Zu dieser Gruppe gehörten ferner die Malerin Georgia O’Keeffe und die Maler John Marin und Marius de Zayas. Die Leute und Ideen, auf die sie dort stieß – nach der Hausnummer der Galerie war die Gruppe seither unter dem Kürzel »291« bekannt –, faszinierten Agnes Ernst dermaßen, daß sie ihre anderen Pflichten vollkommen vergaß und sich sechs Stunden lang mit den Künstlern unterhielt. Mit politischem Radikalismus konnte meine Mutter überhaupt nichts anfangen, aber mit der künstlerischen Rebellion der Gruppe »291« identifizierte sie sich vollkommen. Sie schloß dort feste Freundschaften, besonders mit Steichen, aber auch mit Marion Beckett und Katharine Rhoades (nach der ich benannt wurde). Die drei Frauen waren unter dem Spitznamen »die drei Grazien« bekannt.

Von da an führte Agnes Ernst ein sehr lebhaftes künstlerisches und gesellschaftliches Leben. Obwohl sich mein Vater zu dieser Zeit bereits für sie interessierte, scheint er nur einer von mehreren Verehrern gewesen zu sein. Sie nahm ihn anscheinend nicht übermäßig ernst; allenfalls sein Wohlstand und die damit verbundenen Annehmlichkeiten reizten sie. Eine höchst erfreuliche Folge dieses Reichtums war beispielsweise, daß sie mit seiner Hilfe eine Reisegefährtin für ihre schon lange geplante und heißersehnte Europareise bekam. Sie selbst hatte sich 500 Dollar geborgt, mit denen sie ein halbes Jahr auskommen wollte, doch zwei Tage vor der geplanten Abreise gestand sie ihrem wohlhabenden neuen Verehrer, ihre Freundin Evangeline Cole (unter dem Namen Nancy bekannt) habe auf einmal festgestellt, daß sie es sich nicht leisten könne, mit ihr nach Europa zu reisen. Weil meinem Vater aber daran lag, daß Agnes Gesellschaft und eine Anstandsdame bei sich hatte, lieh er Nancy das Geld für die Reise. Und so brachen die beiden jungen Damen am 4. August 1908 nach Frankreich auf.

Agnes Ernsts Entschluß, ohne Rücksicht auf ihren Verehrer Eugene Meyer und mindestens zwei weitere Galane nach Europa zu gehen, enthob sie der familiären Probleme – denn nun mußte in ihrer Abwesenheit wieder der Vater für den Unterhalt der Familie sorgen – und setzte sie einer völlig neuen Welt aus. In Europa stürzte sie sich in ein erfülltes musisches Leben: Museen, Theater, Ballett, Konzerte, Opern. Oft stand sie stundenlang nach Karten an. Agnes und Nancy fanden in Paris eine Vierzimmerwohnung für 36 Dollar Monatsmiete, einschließlich Verpflegung, Wäsche und Nebenkosten. Ihr Apartment wurde schnell zum Treffpunkt für Studenten aller Nationalitäten. Die Putzfrau, die einmal wöchentlich für einen halben Tag kam, erhielt – inklusive Trinkgeld – 30 Cent.

Wirklichen Zugang zur Welt der Kunst und Literatur konnte Agnes aber nur einer verschaffen: Steichen, der mit seiner Familie in Frankreich weilte. Doch dieses Entree reichte völlig aus. Durch ihn wurde sie mit vielen Künstlern und Intellektuellen des damaligen Frankreich bekannt. Zugleich vertiefte sich in Paris auch ihre Freundschaft mit Steichen, der ihr und uns allen ein lebenslanger enger Freund blieb. Sie begegnete Leo Stein und seiner Schwester Gertrude. Für Leo empfand sie Bewunderung, sie himmelte ihn sogar an. Mit Gertrude hingegen konnte sie nichts anfangen; sie tat sie als »Schwindlerin« ab. Sie lernte auch die französischen Komponisten der Zeit kennen, allen voran Darius Milhaud und Erik Satie. Picasso tat sie als zu oberflächlich und geschäftstüchtig ab. Mit der einzigen Frau, von der sie in Paris wirklich beeindruckt war, Madame Curie, traf sie zweimal wöchentlich bei Fechtstunden zusammen. Dieser Frau wollte meine Mutter nacheifern, und so wurde Madame Curie zur ersten Frau, die sie derartig begeisterte.

Zwei der wichtigeren Beziehungen, die in Paris ihren Anfang nahmen, waren die zu Brancusi, der ebenfalls ein lebenslanger Freund meiner Mutter und der ganzen Familie wurde, und zu Rodin. Mit letzterem machte sie sogar mein Vater bekannt, als er bei einer Reise in Paris Station machte. Rodin war berühmt-berüchtigt für seine Liebesaffären mit jungen Frauen, und eines Tages fühlte sich auch meine Mutter bedrängt, als er die Ateliertür abschloß, das Telefon abstellte und sie zu umarmen begann. Sie beschwor ihn und sagte, sie liebe ihn vor allem wegen seiner großen Kunst und seines Unterrichts und wolle beides nicht aufs Spiel setzen. Erstaunlicherweise akzeptierte der Bildhauer dieses Plädoyer. Allerdings konnte er immer noch nicht verstehen, warum sie sich weigerte, für eine Statue der Boadicea mit einem Speer in der Hand nackt auf einem Pferderücken zu posieren. Trotzdem nahm er sie weiter unter seine Fittiche.

Meine Mutter verliebte sich in die Stadt Paris. Sie genoß die Freuden des Quartier Latin, besuchte das Hochamt in Notre Dame und in Chartres, nahm Gesangsunterricht, hörte sich unermüdlich Vorlesungen an und genoß ganz allgemein ihre Jugend, ihre Begegnungen und das gute Leben. Ein Tagebuch, das sie in Paris führte, demonstriert ihre hohen Werte, viel Bildungseifer und eine große Leidenschaft für alles, was in der Welt der Kunst und der Ideen geschah.

Wenn mein Vater in diesem Tagebuch vorkommt, dann meistens als ihr etwas herablassend und mit offenkundig nur geringem Interesse beschriebener reicher jüdischer Verehrer. Auch nach den vielen Briefen, die sie aus Europa schrieb, zu urteilen, wurde Eugene Meyer vor allem als Geldgeber ihrer Freundin Nancy und anderer Freunde sowie als Gastgeber üppiger Diners geschätzt, die der gesamten Studentengruppe aus dem Quartier Latin enormen Genuß bereiteten. Bei seinen seltenen Besuchen in Paris wurde mein Vater immer besonders freudig aufgenommen, weil er alle zum Essen im Tour d’Argent ausführte.

Ansonsten aber dachte meine Mutter überhaupt nicht daran, ihn als Bewerber um ihre Hand ernst zu nehmen. Während ihres gesamten Europaaufenthaltes korrespondierte sie mit Otto Merkel, einem deutsch-amerikanischen Freund der Familie, der in New York lebte und als dessen Verlobte sie sich sah. Der gesamte Briefwechsel mit Merkel ist erhalten – Merkel muß ihr also ihre Briefe zurückgegeben haben. Ganz offenkundig verfolgte er eine Rückzugsstrategie – er enttäuschte sie, indem er nicht zu Besuch kam, nachdem er dies zuvor versprochen hatte –, doch sie schien es nicht zu bemerken. Leidenschaftlich und detailliert schrieb sie ihm weiterhin über ihr Leben und über die gemeinsame Zukunft. An einer Stelle heißt es, sie habe eine wunderschöne Erstausgabe für »unsere Bibliothek« erstanden – anstelle eines Pelzmantels, für den sie eigentlich gespart hatte. Jeder, der diese Briefe liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Merkel das Interesse verloren hatte, doch sie verstand, was durchaus nicht untypisch ist, einfach nicht, daß sein wiederholtes Nichterscheinen und seine immer selteneren, immer kälteren Antworten eine deutliche Botschaft waren.

Nancy machte sich im Februar 1909 auf den Heimweg, und meine Mutter zog in ein Zimmer einer Wohnung im sechsten Stock, in der es weder Bad noch Heizung gab. Sie verdiente genug, um weiter in Europa bleiben zu können, indem sie Storys an die Sun und einige weitere Zeitschriften wie St. Nicholas schickte, für die sie gelegentlich auch als Fotografin arbeitete. Über Ostern fuhr sie 1909 nach London. Als sie dort zufällig auf einen kleinen Raum mit chinesischen Gemälden stieß, »verliebte« sie sich plötzlich und unerklärlicherweise »auf den ersten Blick vollkommen, hoffnungslos und auf immer in die chinesische Kunst«. Sie gelobte, diese »Lebenseinstellung« bis in »äußerste Tiefen« zu erforschen, und hielt ihr Versprechen. Viele Jahre nahm diese Erkundung in Anspruch.

Nach einem anregenden Abstecher durch Deutschland, Österreich und Italien kehrte sie schließlich nach Hause zurück. Sogleich aber mußte sie sich entmutigenden Problemen stellen: Sie war ständig zwischen dem Wunsch, möglichst viel Zeit mit ihren Künstler- und Bohemefreunden zu verbringen, und den erneuten Werbungen meines Vaters hin- und hergerissen, und sie muß die schreckliche Wahrheit entdeckt haben, daß der geliebte Merkel nicht länger an ihr interessiert war. Jedenfalls wuchs allmählich ihr Interesse an meinem Vater. Bei einem Essen im Waldorf-Astoria sagte sie ihm, sie verspüre den Drang, nach Europa zurückzugehen, um alles in Ruhe zu überdenken. Da aber Eugene Meyer zu dem Schluß gekommen war, die Probleme der Regierung Taft müßten in die wirtschaftliche Rezession führen, und er folglich seine Investitionen zu Geld gemacht hatte, um die unvermeidlichen Auswirkungen an der Wall Street abzuwarten, konnte er unerwarteterweise antworten: »Ich habe gerade selbst den Entschluß gefaßt, mich ein wenig aus dem Staub zu machen.« Und dann erläuterte er ihr seine eigenen Pläne für eine Weltreise.

»Ja, wie lange willst du denn wegbleiben?« fragte sie überrascht und etwas pikiert.

»Mindestens sechs Monate«, lautete die Antwort.

Und als ihr plötzlich klar wurde, daß er vielleicht doch nicht ewig auf sie warten würde, entgegnete sie, ohne lange zu überlegen: »Ich fahre mit dir.«

»Das war mir schon klar«, sagte er. »Ich habe deine Tickets bereits in der Tasche.«

Drei Wochen später fand im Haus der Braut die Hochzeit statt, eine sehr schlichte lutherische Zeremonie, bei der nur die Familien zugegen waren. Sogar in den New Yorker Zeitungsberichten war zu lesen, daß die Freunde der beiden über die Heirat überrascht gewesen seien. Er war vierunddreißig, sie dreiundzwanzig. Welches waren ihre Motive? In ihrer Autobiographie gab meine Mutter zu:

Ich hätte niemanden ohne ein entsprechendes Vermögen heiraten können. Denn die einzige Mitgift, die ich meinem Ehemann mitbrachte, waren die Schulden meines Vaters und meine eigenen. Daß ich zu Eugene über den ewigen Alptraum meiner Beziehung zu meinem Vater sprechen konnte, dieses Bekenntnis brachte mir Erleichterung von tiefen inneren Spannungen. Auf das nachhaltigste wurde mir klar, daß ich nicht länger allein in der Welt stand. Hinzu kam das segensreiche Bewußtsein, daß ich in Zukunft die drückende Bürde der Schulden los sein würde. Niemand sollte die Bedeutung wirtschaftlicher Unabhängigkeit unterschätzen.

Ihr wenigstens war diese Unabhängigkeit nunmehr sicher: Noch ehe das Paar zur Hochzeitsreise aufbrach, bezahlte mein Vater nicht nur die Schulden ihres Vaters, sondern unterstützte Frederick Ernst darüber hinaus auch großzügig bis zu dessen Tod im Jahre 1913. So konnte sich endlich auch Agnes’ Mutter in Sicherheit wiegen.

Und doch liebte meine Mutter meinen Vater auch – auf ihre ganz eigene Weise und ihr ganzes Leben lang. Sie sah zu ihm auf, bewunderte seinen Verstand, seine Stärke und seine Führungsqualitäten.

Mein Vater seinerseits war damals einfach soweit, daß er heiraten und eine Familie gründen wollte. Auf Bildern aus dieser Zeit sieht meine Mutter außerordentlich hübsch aus, und sie war zweifellos eine gefragte, intelligente junge Frau. Seit jener ersten Begegnung damals in der Galerie muß mein Vater von ihr geblendet gewesen sein. Und er hatte große Entschlossenheit und Geduld an den Tag gelegt.

Bereitete meiner Mutter die Tatsache, daß ihr Mann jüdischer Herkunft war, Probleme? Ich meine, ja. Sie kommt darauf in ihren frühen Briefen aus Paris zu sprechen. Trotz ihrer starken Prägung durch den lutherischen Protestantismus war meine Mutter nicht besonders religiös, doch zweifellos teilte sie den latenten Antisemitismus ihrer Zeit, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Vermutlich wurde aus ihrer Sicht seine jüdische Herkunft durch andere Stärken und Eigenschaften mehr als wettgemacht. Ich denke außerdem, daß sie so jung und unrealistisch war zu glauben, daß ihr seine jüdische Identität nichts anhaben könne – zumal trotz eigener familiärer Probleme letztlich doch so vieles zu ihren Gunsten ausgegangen war. Ich kann nur vermuten, daß ihr Ego und ihre Selbstgewißheit derart ausgeprägt waren, daß sie, als sie meinen Vater heiratete, wahrscheinlich glaubte, eher werde man ihn als nichtjüdisch ansehen, als sie mit den Juden in Verbindung zu bringen. Als sie jedoch nach ihrer Hochzeit in New York plötzlich unter sozialer Diskriminierung zu leiden begann, war sie tief verletzt.

Für ihren Entschluß, Eugene Meyer zu heiraten, gab es zweifellos eine Mischung verschiedener Gründe. Auf jeden Fall verblüffte Agnes Ernst durch diesen Schritt so gut wie alle, und es gab Stimmen, die meinten, diese Ehe werde nicht lange halten. Doch eines weiß ich ganz gewiß: Trotz zahlreicher Spannungen und Schwierigkeiten in der Ehe meiner Eltern verschwendeten sie niemals einen Gedanken daran, was gewesen wäre, wenn …

 

Nach zweiwöchigem Aufenthalt auf der Farm meines Vaters in Mount Kisco im Staat New York, die er einige Jahre zuvor gekauft hatte, starteten die Jungverheirateten in einem privaten Salonwagen namens »Constitution« mit der Eisenbahn zu ihrer Hochzeitsreise um die Welt – er mit einem Kammerdiener, sie mit einer Zofe. Und als sich das Paar nach der Rückkehr in New York niederließ, war meine Mutter bereits schwanger. Mein Vater ging an die Wall Street zurück, und sie mußte nun von Grund auf in ihre neue Rolle als Ehefrau hineinwachsen. Praktisch über Nacht fand sie sich auf einmal als wohlhabende Gattin wieder, die gleich mehrere Haushalte zu führen hatte. Sie hat mir einmal erzählt, daß sie, während sie in einem großen Auto vom Chauffeur gefahren wurde, gedacht habe: »Bin ich das wirklich? Bin ich das noch?« Wie sie selbst zugab, hatte sie mit ihrer neuen Rolle große Schwierigkeiten, besonders in den ersten Jahren, lange vor meiner Geburt als viertes von fünf Kindern. Schließlich hatte sie sich zuvor selten Gedanken darüber gemacht, was die Ehe hinsichtlich der Beziehungen zu Mann und Kindern bedeutete. Ich fürchte, ganz ist sie mit diesem Thema nie fertig geworden.

Sie schien in ihrer Ehe eher einen Vertrag zu sehen, den sie niemals brechen wollte; und auf ihre Weise ist ihr das auch gelungen. Später erläuterte sie in ihrer Autobiographie, wie sie sich damals fühlte:

Ich … rebellierte innerlich wie äußerlich gegen die plötzlich auferlegten Ehepflichten. In den ersten Jahren … benahm ich mich, als habe sich die ganze Welt verschworen, meine Persönlichkeit zu nivellieren und mich in ein universales Klischee namens »Frau« zu pressen. So viele meiner verheirateten Freundinnen vom College hatten ihre intellektuellen Interessen aufgegeben und sich in einer Routine verloren, die aus Windeln, Abendessen und einer anspruchslosen Lebenszufriedenheit bestand, was mir jedoch nicht widerfahren sollte. Dazu war ich fest entschlossen. Ich wollte eine große Familie haben, aber mein Leben als Individuum trotzdem fortführen.

Ich glaube, sie war in ihrer Ehe oft todunglücklich, besonders in der ersten Zeit. Sie suchte einen Psychiater auf, der eine wichtige Stütze für sie wurde. Allen Problemen mit ihrer Ehe und Mutterrolle versuchte sie dadurch zu entfliehen, daß sie chinesische Kunst und die chinesische Sprache studierte, ihre Verbindungen zur Gruppe »291« aufrechterhielt und ein Interesse am Sammeln moderner Kunst entwickelte. Sie hatte bereits jenen Mann getroffen, der eine der einflußreichsten Persönlichkeiten in ihrem Leben werden sollte, den Industriellen und Kunstsammlerpionier Charles Lang Freer. Die beiden waren sich in einer Ausstellung chinesischer Kunst begegnet, und er hatte sie, nachdem er von ihrem Interesse gehört hatte, zur Besichtigung seiner Sammlung nach Detroit eingeladen. Ihre Antwort: »Nächste Woche muß ich erst mal mein Kind zur Welt bringen, doch danach komme ich so bald wie möglich.« Mein Vater begleitete sie nach Detroit und schloß selbst Freundschaft mit Freer.

Von Januar 1913 bis zu Freers Tod studierte meine Mutter bei ihm und sammelte gemeinsam mit ihm chinesische Kunst. Oft teilten sie sich die Lieferungen, die seine Repräsentanten aus China schickten. Bereits von 1911 bis 1913 hatte meine Mutter an der Columbia University Sinologie studiert, und in den folgenden fünf Jahren häufte sie mit Hilfe eines chinesischen Gelehrten, der oft bei ihr in Mount Kisco residierte, Forschungsmaterial an, das einer Analyse der Beiträge von Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus zur Entwicklung der Tang- und der Sung-Dynastie dienen sollte. Daraus ging 1923 ihre Buchveröffentlichung Chinese Painting as Reflected in the Thought and Art of Li Lung-Mien (Die Einflüsse der chinesischen Malerei im Denken und in der Kunst von Li Lung-Mien) hervor. Leider war Freer, dem dieses Buch gewidmet war, bereits 1919 verstorben. Während seiner langen schweren Krankheit hatte meine Mutter ihn laufend besucht. Als Freer vor seinem Tod fünf Treuhänder für seine Galerie in Washington bestimmte, waren meine Eltern beide darunter.

Ein weiteres Betätigungsfeld für ihren Geist stellte das Aufbaustudium an der Columbia University in den Fächern Biologie, Wirtschaft und Geschichte dar. Hier traf sie auf die Historiker Charles und Mary Beard und freundete sich mit ihnen an. Als die Beards, John Dewey und andere die freigeistige, liberale New School for Social Research gründeten, trug meine Mutter zur Finanzierung einen kleinen Anteil bei, und als 1919 der Lehrbetrieb aufgenommen wurde, half sie in Psychologiekursen aus.

Gleichzeitig engagierte sie sich bei der Gruppe »291« sogar noch mehr und tat sich mit Steichen zusammen, um die moderne Kunst zu fördern, insbesondere die von John Marin, der seine Aquarelle aus Paris herüberschickte. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der ersten amerikanischen Avantgarde-Zeitschrift, die nach der Galerie den Titel »291« trug, und wurde deren Herausgeberin. Mit all diesen Aktivitäten war meine Mutter bereits befaßt, als ihr erstes Kind, meine älteste Schwester Florence, geboren wurde. Später erzählte sie Geschichten darüber, wie sie sich zwar entschlossen habe, ihr Kind zu stillen, dann jedoch vergessen habe, von ihren »außerhäuslichen Aktivitäten« rechtzeitig zurückzukehren. Als sie nach Hause gehetzt sei, habe sie ein schreiendes Kind vorgefunden, und das arme Kindermädchen, »Powelly«, sei verzweifelt bemüht gewesen, das Baby zu beruhigen. (Margaret Ellen Powell, die meine Mutter bereits auf der Hochzeitsreise als Zofe begleitet hatte, blieb dann als Kindermädchen bei meinen Eltern. Uns Kindern hätte gar nichts Besseres passieren können.)

Während dieser ersten Ehejahre, als meine Mutter noch besonders mit ihrer Rolle zu kämpfen hatte, erlitt mein Vater einige geschäftliche Rückschläge. Er hatte sich massiv in der neuen Autoindustrie engagiert und im großen Stil in eine Firma namens United States Motor Company investiert, die den Maxwell produzierte. Diese Firma war in Schwierigkeiten geraten, und mein Vater hatte bei der Sanierung und Neuorganisation zur Maxwell Motor Company geholfen. Doch das Unternehmen hatte weiterhin Probleme. Da sich auch seine beträchtlichen Investitionen in Kupferbergwerke noch nicht bezahlt gemacht hatten, hatte mein Vater erstmals das Gefühl, finanziell in der Klemme zu stecken. Meine Eltern waren damals in ein großes, elegantes Haus an der 70. Straße und Park Avenue gezogen. Um ihre Ausgaben einschränken zu können, verkauften sie nun das Haus und bezogen eine ganze Etage im St. Regis Hotel – nicht gerade ein Elendsquartier, doch die Tatsache des Umzugs genügte schon, um Gerüchten Nahrung zu geben, der Jungstar der Wall Street sei in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Letztlich ging mein Vater aber aus seinem Engagement bei Maxwell mit einem erheblichen Profit als Sieger hervor. Er glaubte auch weiterhin an die Automobilindustrie. Allerdings verpaßte er später die Chance, einer der größten Aktionäre von General Motors zu werden.

Ungefähr zur gleichen Zeit machte mein Vater noch einen weiteren, allerdings weniger wichtigen Fehler. Mit seinem Freund Bernard Baruch investierte er in die Goldmine Alaska Juneau. Der Wert dieser Mine schwankte ständig, doch irgendwann wurde darin kein Gold mehr, sondern nur noch Wasser gefunden. Aus irgendeinem Grund hatte mein Vater für uns Kinder Geld in die Mine investiert und uns davon erzählt. So wurde der Kurs von Alaska Juneau viele Jahre lang zu Hause zur ständigen Belustigung bei Tischgesprächen, zusammen mit Erörterungen, ob jedes Kind davon nun profitiert habe oder nicht. Letztlich aber sackten die Kurse immer weiter in den Keller, und irgendwann hatte sich das Geld in Luft aufgelöst.

Die Investitionen meines Vaters in Kupferminen, Auto- und später Chemiewerke belegen allesamt nicht nur seinen Wunsch, Geld zu verdienen, sondern auch seinen Drang, bei der Schaffung neuer Industriezweige an vorderster Front dabeizusein. Er bewunderte E.H. Harriman sehr, weil dieser Eisenbahnen geschaffen hatte, als Eisenbahnen noch etwas Neues waren. Solche Projekte wünschte er sich auch. Den Redakteur James Russell Wiggins von der Washington Post fragte er einmal, was er denn tun würde, wenn er genau das tun könne, was er wolle. Als Wiggins antwortete, er würde dann wahrscheinlich ein Geschichtsbuch schreiben, entgegnete mein Vater: »Ich nicht. Ich würde lieber Geschichte machen.«

In den ersten Jahren nach der Eheschließung hatte mein Vater nicht nur mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern es kam noch eine Reihe persönlicher Probleme und Tragödien hinzu. Am schlimmsten traf ihn der Verlust seines jüngsten Bruders Edgar, der sein Partner und unter den Geschwistern sein Liebling gewesen war. Edgar starb beim Untergang der Titanic, nachdem er Frau und Kind in das letzte Rettungsboot gesetzt hatte. Er war nur achtundzwanzig Jahre alt geworden. Mein Vater, der wesentlich älter – fast eine Vaterfigur, auf jeden Fall aber sein Mentor – war, empfand diesen Verlust auf schmerzhafte Weise. Er hatte nur zu wenigen Menschen eine wirklich enge Beziehung, und Edgar war einer dieser wenigen gewesen.

Natürlich hatte er noch meine Mutter, die bei Bedarf immer unverbrüchlich zu ihm stand. Doch sie entwickelte eine immer stärkere Abneigung dagegen, mehrere große Haushalte zu führen, und auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen waren ihr ein Dorn im Auge. Ferner schockierten und entmutigten sie die Schmerzen bei der Geburt eines Kindes. Während der Wehen bei Florences Geburt fragte sie ihren Geburtshelfer, warum man unter solchen Umständen je ein zweites Kind bekommen wolle oder solle. Später schrieb sie: »Ich wurde eine gewissenhafte, aber kaum eine sehr liebevolle Mutter.«

1914 hatte sie schon ihr zweites Kind geboren, meine Schwester Elizabeth – oder Bis, wie wir sie immer nannten –, und stöhnte dermaßen über das, was sie als »Zerstörung« ihrer Persönlichkeit empfand, daß mein Vater sie ermutigte, eine Auslandsreise zu unternehmen. Ursprünglich wollten die beiden zusammen reisen, doch der heraufziehende Erste Weltkrieg beunruhigte meinen Vater, und so blieb er lieber daheim, um die Kontrolle über seine mittlerweile sehr große Firma zu behalten. Zusätzlich sahen beide in Anbetracht der Frustrationen meiner Mutter bei der Gewöhnung an Ehe und Familie die Notwendigkeit, ein wenig auf Distanz zu gehen. Deshalb lautete die Abmachung schließlich, daß meine Mutter allein nach Europa reisen und häufig schreiben solle.

Aus irgendeinem Grund gab sie mir, als sie selbst schon alt und ich in den mittleren Jahren war, plötzlich die Briefe, die sie und mein Vater sich damals, 1914, geschrieben hatten. Über ihre Motive für diesen Schritt bin ich mir nicht im klaren. Jedenfalls sind die Spannungen zwischen den Eheleuten in diesen Briefen kaum verhüllt; die Unterschiede zwischen ihnen kommen ebenso freimütig zur Sprache wie sein unbegründeter eifersüchtiger Ärger und ihre in sich widersprüchlichen Emotionen.

Die ersten Briefe meiner Mutter an meinen Vater datieren vom Mai 1914, als sie noch an Bord des deutschen Dampfers »Vaterland« auf dem Weg nach Bremen war. Im allerersten Brief fragt sie ihn, warum er beim Abschied das Schiff schon so früh verlassen habe, lange vor der Abfahrt. Sie war jedenfalls ziemlich geknickt und schloß den Brief mit den Worten: »Gib meinen Babys einen Kuß. Ich habe mein Herz bei Dir und bei ihnen gelassen.« Doch scheint der Trennungsschmerz nicht allzu lange gedauert zu haben, denn im nächsten Brief wimmelt es bereits von Einzelheiten über ihr aktives gesellschaftliches Leben an Bord – die sehr hochgestellte Mrs. Stotesbury aus Philadelphia hatte sie unter ihre Fittiche genommen. An einer Stelle fragt sie:

Denkst Du auch in Liebe an mich, obwohl ich Dich vorübergehend verlassen habe? Wir leben in einem revolutionären Zeitalter, selbst was die ehelichen Beziehungen angeht, und ich hoffe, daß Du nicht aufhörst, mir zu vertrauen und mich zu lieben, während ich mir Zeit zum Nachdenken nehme. Denn das Ganze heißt doch nur, daß meine Gefühle für Dich anschließend klarer und deshalb auch schöner sein werden.

Große Teile der Europareise waren lediglich eine Neuauflage des Künstlerlebens, das sie als Studentin in Paris geführt hatte. In Berlin, Wien und Paris ging sie in Kunstausstellungen und kaufte Bücher. Gemeinsam mit de Zayas sah sie sich die »Ultramodernen« an, wie sie sie nannte. Sie war davon ausgegangen, »abgestoßen und erschreckt zu werden« – insbesondere von Picassos Arbeiten, weil sie gehört hatte, er benutze »Tapetenfetzen, Zeitungspapier und andere Gegenstände, um daraus Bilder zu machen« –, doch sie fand seine Werke »so groß wie das Leben und faszinierend« und kaufte ein kleines Stilleben mit »einer Pfeife, einem Glas, einer Flasche und einigen Weintrauben«, wobei die Weintrauben zuvor in Sägemehl gewälzt worden waren. Sie bezeichnete das Bild als »echtes Kunstwerk« und bezahlte dafür 140 Dollar.

Ziemlich zu Anfang der Reise beging meine Mutter –jedenfalls aus der Sicht meines Vaters – einen fast unverzeihlichen Fehler. Sie besuchte einen alten Freund, Alfred von Heymel, den sie im Sommer ihres Auslandsjahres als Studentin durch ihren ehemaligen Verehrer Otto Merkel in Berlin kennengelernt hatte, zum Tee in dessen Wohnung.

Anstatt zur Verbesserung der ehelichen Beziehungen beizutragen, was sie sich eigentlich für diesen Briefwechsel aus der Ferne vorgenommen hatte, führte der Brief über diesen unbegleiteten Besuch in der Wohnung eines fremden Mannes zu einem wunderbar altmodischen Streit zwischen den Eheleuten. Meine Mutter hatte meinem Vater ganz nebenbei über diesen Besuch bei von Heymel berichtet und hinzugefügt, er solle darüber nicht schockiert sein, weil die Wohnung »voller Domestiken« gewesen sei. Doch mein Vater reagierte mit zwei – sorgfältig aufbewahrten – Briefen voll unkontrollierter, wiederholungsreicher, wütender Vorwürfe. Er hatte einfach das Gefühl, ihr nicht blind vertrauen zu können, und warf ihr auch andere Instinktlosigkeiten vor.

Trotz der beiderseitigen Mißverständnisse über diesen unglücklichen Besuch bei von Heymel setzte meine Mutter ihre Reise und den Briefwechsel jedoch fort. Sie schrieb meinem Vater, sie sehe jetzt klarer, daß ihre bisherige Existenz dem Leben gewidmet gewesen sei, die seine aber der Arbeit. Ferner sagte sie, sie sei ihm gegenüber nicht sehr freigebig in ihrer Zuwendung gewesen, doch sei das auch nicht allein ihre Schuld: »Wir haben uns oft kaum gesehen. Wir haben auf dem Marktplatz gelebt, anstatt uns einen eigenen Schrein aufzubauen.« Ihrer Meinung nach spiegelte sogar ihr Stadthaus diese Distanz zwischen ihnen wider: »Wir haben kein Zimmer, in dem man das Gefühl hat, daß wir beide wirklich darin leben.« Sie gab ihm gegenüber zu, im letzten Jahr schrecklich unruhig und unzufrieden gewesen zu sein; sie habe auch sein Unbehagen gespürt: »Ich mache Dir keinen Vorwurf. Nur ein Blinder hätte ein solches Unbehagen angesichts jener Frau, die Dich verlassen hat, vermeiden können. Doch ich glaube, Du wirst dieses Unbehagen angesichts der Frau, die zu Dir zurückkehrt, nicht mehr spüren.«

Die letzte Woche ihres insgesamt mehr als zwei Monate währenden Europaaufenthalts verbrachte sie bei den Steichens in deren einfachem Haus in Voulangis, wo Steichen seiner lebenslangen Leidenschaft frönte, Rittersporn zu züchten. Da sie dort wenig zu tun hatte, schrieb sie meinem Vater, sie sei jetzt »unruhig – Deinetwegen, wegen der Kinder, der Köchin, der Erdbeeren, die nicht eingemacht werden …«

Am 31. Juli trat sie auf einem holländischen Dampfschiff die Heimreise an. So hatte sie es versprochen – zu ihrem Glück, denn es handelte sich um eines der letzten Passagierschiffe, die Europa vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch verlassen konnten. Steichens Haus lag in der Nähe der späteren Frontlinie zu den Deutschen, die diese in der ersten Marne-Schlacht zu durchbrechen versuchten. Steichen war sich der extremen Gefahr, in der er schwebte, nicht bewußt und kabelte meinem Vater die Frage, was er tun solle. »Schlage sofortigen geordneten Rückzug vor«, antwortete mein Vater ohne Umschweife. Die Steichens konnten gerade noch nach Amerika fliehen und fanden bei meinen Eltern in Mount Kisco Unterschlupf.