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Kommissar Hellander bekommt eine neue Kollegin. Diese stellt eine Herausforderung dar, denn im Gegensatz zu seiner Zurückhaltung und Selbstbeherrschung zeigt sie sich unkonventionell, direkt, risikofreudig und lebenslustig. Und sie bringt neue Methoden in die Ermittlungen ein. Die sprichwörtlichen Fälle der Abteilung für spezielle Fälle am Staatlichen Kriminalamt Nord werden allerdings nie aufgeklärt - und doch gelöst. Mit viel Humor lockert sich dabei zusehends auch Hellanders Zurückhaltung. "Tun Sie etwas. Machen Sie sich auf die Suche nach der verlorenen Beherrschung und bringen Sie sie zurück. Wenn Sie dieses Problem lösen, winkt ihnen eine hohe Belohnung. Wenn Sie versagen, winkt ihnen niemand mehr." Hellander schluckte. Als er an ihre bisherige Aufklärungsquote dachte, bestellte er gleich einen Kamillentee on the Rocks. Sie mussten jetzt geschmeidig bleiben, um diesen speziellen Fall zu lösen.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ingmar Decker lebt und arbeitet in Berlin. Er begeisterte sich schon als Kind für das Comic-Zeichnen und Schreiben, vergaß es aber für längere Zeit, um es nach einigen Jahren wieder neu für sich zu entdecken.
Während der Zeit des Vergessens studierte er Informationswissenschaft und Informatik und arbeitete mehrere Jahre im Internet-Milieu.
Das tut er immer noch, widmet sich aber wieder mehr dem Zeichnen und Schreiben.
Rufmord
Das Phantom
Tassen im Schrank
Das perfekte Dekolleté
Die verlorene Beherrschung
Die Kinder des Dämons
Der versperrte Blick
Harmonieleere
Der ganz andere Fall
Der Fall, um den es vorhin noch ging
Kommissar Hellander schritt müde zum Tatort, in der Hand eine Tasse mit einem verlängerten Espresso. Sein hellbrauner Trenchcoat flatterte in der kühlen Brise. Auf dem Gras glitzerte der Morgentau und Hellander bekam feuchte Schuhe.
Er hielt kurz inne und trank seinen Espresso. Danach fühlte er sich ein bisschen wacher. Er schaute auf die leere Tasse in seiner Hand und fragte sich, was er jetzt damit machen sollte. Kurzerhand ließ er sie in seiner Manteltasche verschwinden.
Die Sonne war gerade aufgegangen. Sie wusste noch nicht genau, ob sie die Kälte der Nacht vertreiben sollte oder nicht. Etwas zu früh, fand Hellander. Doch was tut man nicht alles für seinen Job. Es war wieder einer dieser Spezialfälle.
Seine Abteilung.
Ein Rufmord.
Etwas weiter den abschüssigen Rasen hinab lag offenbar die Leiche. Er sah, wie sich der Gerichtsmediziner über etwas beugte. Er war gespannt. Einen toten Ruf hatte er noch nicht gesehen.
Ein paar Kollegen von der Spurensicherung waren auch schon da und gerade dabei, das Gebiet weiträumig abzusperren. Einer von ihnen zog gelangweilt ein rot-weißes Band abrollend an ihm vorbei und grüßte beiläufig. Hellander lächelte und grüßte mit einem freundlichen „Guten Morgen“ zurück.
Er blieb stehen und sah sich um. Er stand auf einer weiten, abschüssigen Rasenfläche. Links und rechts vereinzelte Bäume, am unteren Ende ein kleiner Teich, über dem ein leichter Nebel schwebte. Ein paar Meter daneben lag die Leiche.
Er ließ den Blick schweifen. Rechts sah er eine eigenartige Formation von großen Findlingen, auch dort ein paar Nebelschwaden.
Er atmete tief ein. Es roch nach frischer, feuchter Erde.
Etwas mulmig war ihm zu Mute. Es lag etwas Mystisches in der Luft.
Die Formation der Findlinge und die neblige Morgenstimmung erinnerten ihn an Stonehenge, diesen sagenumwobenen Steinkreis in England. Er stellte sich vor, er wäre Merlin, der den Nebel und damit den Drachen heraufbeschwor. „Anal natrach“, säuselte er im Geiste, „uthwas bethatt, dôriell djenweh“. Irgendwie so hatte er den Zauberspruch aus einem Film in Erinnerung. Noch einmal sprach er ihn leise vor sich hin. Bald würde der Drache kommen …
Und er erinnerte sich an die Filmszene, wie die Stimme sich erhob, grollender und eindringlicher wurde. „Anal natrach, uthwas bethatt, dôriell djenweh!“ Er wünschte sich diese Fähigkeit, diese Macht, Drachen heraufbeschwören und Dinge in Bewegung setzen zu können. Diese Macht, die keiner bei ihm vermutete, aber im entscheidenden Moment träte sie hervor und würde die Welt richten. Und dann die Blitze, die aus seinen Händen flossen und den am Boden liegenden Luke Skywalker zappeln und schreien ließen. Ach, nein, der Luke, der war ja ein Guter. Voll gemein. Besser irgendein Mistkerl, der es so richtig verdient hatte, niedergestreckt zu werden, der sich am Boden winden würde vor Schmerz, während er, der mächtige Imperator, mit ausgestreckten Armen und verzerrtem Gesicht dastand, seine Macht genoss und dabei röchelnde und lechzende Laute von sich gab …
„Alles in Ordnung, Herr Kollege?“ Eine Frau stand schräg hinter ihm und legte vorsichtig ihre Hand auf seine Schulter. Er zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. Noch einmal zuckte er zusammen. Abgründe taten sich vor ihm auf.
Wer war das?
Das musste seine neue Kollegin sein.
Sie trug ein grünes Jackett mit Nadelstreifen, darunter ein blass-rosa Stretch-Top, das ein Stück ihres weichen Bauches frei ließ. Um den Nabel war mit Kajal ein Kreis gemalt. Dazu trug sie einen orange-gelben Batik-Minirock und schwarze Lederstiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichten und in die viele runde Löcher hineingeschnitten waren. „Zur Belüftung“, wie sie später erzählen sollte.
Die dunkelblonden Haare mit weißen und roten Strähnchen waren konfus nach oben geknüllt und notdürftig fixiert mit zwei Stäbchen vom Chinesen. Aus dem Knäuel ragte eine kleine Plastikrose von der Schießbude. Im linken Ohr steckte ein Ohrstecker mit einer rot blinkenden Leuchtdiode.
Er sah die Kollegin zum ersten Mal. Herr Müller hatte ihm angekündigt, dass an diesem Tag seine neue Kollegin anfangen würde, aber nicht gesagt, was für eine.
Eine ruhige, elegante junge Dame, eher ein kleines Häschen hatte er sich vorgestellt. Eine, die zu ihm aufschauen und ihm mit freundlichem Lächeln unangenehme Arbeit abnehmen würde. Und mit der er zwischendurch auch mal ganz unkompliziert im Bett landen könnte, oder so.
Doch er hatte seinerzeit schon geahnt, dass das – wie so oft – ein Traum bleiben würde.
Diese Frau wirkte auf jeden Fall weder unkompliziert, noch elegant, noch ruhig, noch wie ein Häschen.
Das konnte ja ein Spaß werden.
Nach einigen Momenten trafen sich ihre Blicke. Ihre Augen hatten seine schon eine Zeit lang fixiert.
Die nächsten Abgründe taten sich auf.
Diesmal in seinem Inneren.
Diese Augen …! Diese Augen, so schien es, konnten ohne Umwege in ihn hineinsehen.
In diesem Moment fühlte es sich an, als wäre sein Körper die steinerne Hülle einer großen, dunklen Höhle. Seine Augen waren zwei kleine Löcher, die nur ein wenig Licht hereinließen und die in der Ferne schwach leuchteten. Und die Augen der Kollegin konnten genau dort hindurchschauen. Hinein in die Höhle, in der das, was von ihm übrig war, in Mitten der Dunkelheit zusammengekauert saß, während ein verzweifelter Schrei den dunklen Abgrund neben ihm hinabstürzte.
Er wandte sich ab. Diesem Blick wollte er nicht standhalten.
Die hat bestimmt Psychologie studiert, dachte er verunsichert. Verdammt.
„Alles in Ordnung?“, fragte die Kollegin erneut.
„Äh, ja, klar, alles okay“, antwortete er.
Doch das war eine Lüge. Plötzlich versteifte sich sein Geschlechtsteil und wuchs dramatisch in die Länge. Es durchbohrte seinen Hosenschlitz und ragte nunmehr einen Meter in die Höhe.
Wieder taten sich Abgründe auf. Diesmal vor der Kollegin. Sie stierte atemlos auf die Spitze seines Geschlechtsteils, das bestimmt dreißig Zentimeter über ihren Augen schwebte.
Hellander war unfähig, sich zu bewegen. Ähnliches hatte er schon früher erlebt, aber das hier hatte eine neue Dimension.
Die männlichen Kollegen von der Spurensicherung schauten auf und erblassten vor Neid. Die weiblichen Kollegen, die Kolleginnen, hielten sich die Hand vor den Mund und den Atem an. Das sah gefährlich aus.
Hellander versank für einen Moment im Boden. Als er wieder auftauchte, scheuerte ihm die Kollegin eine und der Spuk war vorbei. Sein Geschlechtsteil beruhigte sich wieder und verschwand in seiner Hose.
Noch starr vor Schreck rollte Hellander seine Augen hin und her. Ob jemand etwas bemerkt hatte? Es schien leider so. Schnell versuchte er, die Situation vergessen zu machen. „An die Arbeit, meine Herren!“, befahl er. Die Herren taten das sogar. Das verblüffte ihn. Manchmal, so nahm er zur Kenntnis, besaß er mehr Autorität, als er sich selbst zutraute.
„… und Damen“, schob er mit einem verstohlenen Blick auf die Kollegin nach, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.
Die schaute noch immer leicht verstört. Herr Müller hatte ihr ja ein bisschen von ihrem neuen Kollegen erzählt, aber das Interessanteste hatte er verschwiegen.
Langsam schummelte sich ein Hauch von einem Lächeln auf ihr Gesicht. War das eben wahr gewesen? War das eben echt passiert? Oder hatte sie geträumt?
„Kneifen Sie mich mal“, bat sie ihren Kollegen.
„Äh“, brachte dieser nur heraus. „Wir sollten uns jetzt dem Fall widmen“, lenkte er ab. Er drehte sich um und schritt energisch zum Tatort hinunter. Die Kollegin folgte ihm langsamen Schrittes. Zu ihrem Lächeln auf den orange gefärbten Lippen gesellte sich eine gerunzelte Stirn. Na, dachte sie, das kann ja ein Spaß werden.
„Was haben wir?“, fragte Hellander, als er die Leiche und den daneben knienden Gerichtsmediziner erreicht hatte.
„Ein toter Ruf“, antwortete der Mediziner, während er sich mit einem Lächeln erhob, das Hellander nicht genau zu deuten wusste. Es versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen.
Vor den beiden lag der Ruf leblos im feuchten Gras. Ein halb durchsichtiges Schema eines Menschen, das immer noch vage ein paar Bilder und Assoziationen von Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft hervorrief. Aber die Bilder waren verzerrt. Der Ruf war hässlich verrenkt und stark zerbeult. An einigen Stellen klafften große Löcher, so als habe jemand mit Kanonen hindurchgeschossen.
„Ein krasser Rufmord“, murmelte Hellander, kniete nun selbst betroffen neben der Leiche nieder und betrachtete sie eingehend. „War wohl mal ein echt guter Ruf“, murmelte er versonnen.
„Ja, durchaus“, pflichtete ihm der Mediziner bei. „Ein Jammer.“
„Hier, diese freundlichen Züge und Bilder“, seufzte er und zeigte auf die besagten Stellen. „Todeszeitpunkt?“
„Gestern Abend, schätze ich“, antwortete der Mediziner, „genaueres nach der Obduktion.“
„Todesursache?“, fragte die Kollegin.
„Das muss die Obduktion ergeben. Aber es sieht nach der Einwirkung starker äußerlicher Gewalt aus.“
„Tatwaffe?“
„Etwas Verbales, schätze ich. Besser gesagt, viel Verbales, so wie es aussieht. Und kräftiges, sehen Sie hier …“ Der Mediziner zeigte auf ein paar besonders auffällige Löcher und Beulen.
„Grauenvoll“, hauchte Hellander. „Wer tut so was?“
„Tja“, sinnierte die Kollegin, „… da muss eine Menge Wut im Spiel gewesen sein … Spuren?“
„Eine ganze Menge“, bemerkte der Anführer der Spurensicherung, der gerade zu ihnen herübergekommen war, lächelnd. „Sie stehen gerade auf einigen.“
„Ach, und das sagen Sie erst jetzt?“ Die Kollegin trat einen Schritt zurück und schaute zu Boden.
„Keine Sorge“, schob der Anführer nach. „Es sind genug da. Müssen mehrere Leute hier gewesen sein.“
Die beiden Ermittler schauten sich um. Diverse Fußspuren waren im näheren Umkreis zu erkennen. Dazu entdeckten sie einige Zigarettenkippen, und ein paar leere Weinflaschen lagen herum. „Können die Leute ihren Müll nicht wegräumen?“, dachte Hellander gereizt.
Nach einiger Zeit der weiteren Spurensuche entdeckten sie ein paar Worthülsen am Boden. „Hey, was ist das?“, fragte Hellander, während er nach einer griff und sie sich ans Ohr hielt. Sie klang noch etwas nach. „Hm, man kann noch etwas vom Nachklang hören, klingt wie … »dreckiges Arschloch« …“
„Schau an! Aber damit zerstört man keinen Ruf“, sinnierte die Kollegin. „Aber es zeigt die Wucht des Ganzen … Nicht so was Subtiles hinter’m Rücken, sondern voll auf die Nuss! Cool …“
„Hm, sieht so aus.“ Hellander wunderte sich über die Wortwahl der Kollegin.
„Schauen Sie mal, hier liegen noch welche.“ Er ging in die Knie und hielt sich zwei weitere Hülsen ans Ohr. „Hm, klingt ein bisschen wie »verlogen« … und hier? »Marionette«.“
„Hm, na ja, wer will schon als Marionette bezeichnet werden?“, dachte die Kollegin laut.
„Und hier, klingt … wie … »heimliche Affären« …“
„Oh“, frohlockte die Kollegin, „jetzt wird’s ja interessant!“
Hellander schmunzelte und schaute zu ihr. Diesmal lag etwas Neugieriges, Verspieltes in ihrem Blick. „Interessanter Fall“, murmelte sie mit zusammengekniffenen Lippen.
Kurze Zeit später erblickte Hellander wieder eine Worthülse, hob sie auf und lauschte: „Äh, klingt wie »kriegst keinen hoch« …“
Die Kollegin lachte laut auf: „Na, mit so was müssen Sie sich ja nicht rumschlagen!“
Der Kommissar lächelte verkrampft. Sehr witzig, dachte er und tat so, als habe er nichts gehört.
Nach weiterer Suche fanden sie noch andere Worthülsen, doch diese waren allesamt unbrauchbar.
Blitze zuckten. Die Kollegen von der Spurensicherung schossen Fotos vom Tatort. „Können wir die Leiche jetzt mitnehmen?“, fragte der Mediziner.
„Ja, ich denke schon“, antwortete Hellander. „Oder?“ Er blickte zur Kollegin. Die kniete sich noch einmal neben die Leiche und taxierte sie eingehend. „Irgendwas ist merkwürdig daran, aber ich komme nicht drauf …“
„Können wir die Leiche jetzt mitnehmen?“, fragte der Mediziner etwas ungeduldig. „Ich mache Ihnen dann ein Album mit den Fotos, können Sie sich dann alles noch mal in Ruhe anschauen.“
„Nett von Ihnen“, kommentierte die Kollegin, „aber das ist so wie mit Urlaubsfotos: live ist anders.“ Sie fixierte den Mediziner, der daraufhin etwas unruhig wurde. Ob sie in den jetzt auch hineinschaut, wie sie es vorhin bei ihm getan hatte, fragte Hellander sich mit einem Anflug von Schadenfreude. Tatsächlich mal jemand, der diesen Typen irgendwie aus der Fassung bringt.
„Nun ja, nehmen Sie sie mit“, schloss Hellander. „Wann kriegen wir das Album und den Bericht?“ „Demnächst“, antwortete der Mediziner. „Einen toten Ruf hatten wir noch nicht bei uns auf’m Tisch. Kann ein bisschen dauern.“
Der Ruf wurde aufgebahrt und abtransportiert.
„Ach!“, rief die Kollegin dem Anführer der Spurensicherung hinterher. „Gab es eigentlich Zeugen oder so was?“
Verdammt gute Frage, dachte Hellander, die ist ja vom Fach, die Frau, uiuiui.
„Ja.“ Der Anführer setze ein paar Schritte zurück. „Einen alten Mann und einen Fisch.“ Er deutete zum Teich. Dort stand ganz unscheinbar ein alter Greis, den sie bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatten. Der Anführer lächelte und zwinkerte Hellander zu. Dann verschwand er.
„Okay“, organisierte die Kollegin, „Sie befragen den alten Mann und ich springe in den Teich und befrage den Fisch. Hab eh noch nicht geduscht heute Morgen.“ Ih, dachte Hellander, krasse Frau.
Die Kollegin lief ein paar Schritte Richtung Teich, zog sich aus, nahm Anlauf, sprang in einem hohen Bogen und landete mit einer fetten Bombe im Wasser. Es gab ein lautes, dumpfes Geräusch und Hellander und der alte Mann wurden von oben bis unten nass gespritzt.
Hellander wusste nicht, was er sagen sollte. Also sagte er nichts.
Nach einiger Zeit tauchte die Kollegin wieder auf, schnappte laut nach Luft und jauchzte. Der Teich war eiskalt.
Sie schwamm hechelnd ein paar Züge Richtung Ufer, richtete sich auf, drehte sich herum und warf dabei ihren Kopf zurück, so dass ihr nasses, schweres Haar auf ihren Rücken peitschte und eine ganze Kette von Wasserbomben durch die Luft geschleudert wurde. Eine nach der anderen traf den Kommissar mit lautem Klatschen. Der wusste immer noch nichts zu sagen und hielt vor Schreck die Luft an.
Die Kollegin fuhr sich durchs Haar, dann dehnte und streckte sie sich lang Richtung Himmel, stöhnte und jauchzte ausgelassen. Die Morgensonne schien wie ein Scheinwerfer auf sie herab und Tausende Wassertropfen auf ihrer Haut glitzerten in hellen Farben. Langsam drehte sie sich wieder um und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Ihr Brustkorb hob und senkte sich deutlich.
Ihre Brüste glänzten in der Sonne und blendeten alle anderen, dass sie sich wegdrehen mussten. Ihre Brüste strahlten so hell, als wäre die Sonne direkt in ihrem Herzen.
So war es auch.
Durch den Sprung ins kalte Wasser hatte sich ihr Herz geöffnet und die Sonne herausscheinen lassen, die immer schon dort drin gewesen war, aber oft verdeckt. Doch nun strahlte sie von innen heraus.
Dass von den meisten Menschen, insbesondere von Männern, nur die strahlenden Brüste gesehen werden, liegt vermutlich daran, dass Licht von innen durch die Rundungen gebündelt wird und die meisten Augen nur dieses gebündelte Spektrum wahrnehmen können.
Die Kollegin stieg weiter tief atmend aus dem Wasser. Fröstelnd aber glücklich trippelte sie zu ihren Sachen.
Zum Abtrocknen reichte Hellander ihr ein Stofftaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, wobei er peinlich berührt vermied, ihre Brüste anzuschauen. Das gehörte sich ja nicht.
Er dachte noch einmal kurz an das Bild, das die Kollegin eben im Teich abgegeben hatte. Wie sie sich so mir nichts dir nichts ausgezogen hatte und in den Teich gesprungen war. Wie sie so nackt und frei im Teich gestanden und geradezu schamlose Laute von sich gegeben hatte. Fast wie beim Sex. Peinlich, irgendwie. Doch … auch … sehr … faszinierend.
Er hielt ihr weiter das Taschentuch hin, aber die Kollegin lächelte nur mitleidig, nahm ihr Stretch-Top und trocknete sich damit ab. „Boa, das tut gut! Der Teich ist eiskalt! Echt geil! Müssen Sie auch mal machen!“, keuchte sie begeistert.
Er überlegte. Allein das erstaunte ihn, dass er nicht sofort kategorisch ablehnte. Nun ja, er war ja ohnehin schon nass. Okay. Er glaubte sich selbst kaum, als er bemerkte, dass er sich auszog und mit einem Kopfsprung in den Teich hechtete. Dabei bekam er einen kleinen Schock. Es war wirklich eiskalt im Teich, doch unfassbar erfrischend. Auch er tauchte auf und hörte sich jauchzen. Was war das für ein komischer Laut? Heute ist alles irgendwie komisch, dachte er.
Eine Weile verharrte er im Wasser und spürte die Eiseskälte.
Als er aus dem Teich schritt, hatte auch er für einen Moment das Gefühl, die Sonne im Herzen zu haben. Er fühlte dabei eine prickelnde Frische in der Brust. Eine Zeit lang blieb er stehen, spürte seinen Brustkorb beim Atmen und wunderte sich über dieses Gefühl. Er vergaß für diesen Moment völlig, dass er gerade nackt an einem Tatort stand, wo sich noch einige Kollegen und Kolleginnen in der Nähe aufhielten. Auch er strahlte nun so hell, dass alle sich wegdrehen mussten. Nur die Kollegin nicht. Neugierig schaute sie Hellander an.
Langsam wurde ihm wieder klar, wo er war – und wie. Sein Strahlen verblasste und er eilte zu seinen Sachen. Die Sonne behielten er und seine Kollegin aber weiter im Herzen, auch wenn sie es nicht immer bemerkten, weil sich mal wieder irgendwas davorgeschoben hatte.
Als er endlich bei seinen Sachen angekommen war, war die Kollegin bereits angezogen.
„Wie finden Sie eigentlich mein Dressing?“, fragte ihn die Kollegin unvermittelt.
„Ihr was?“
„Na, mein Outfit, meinen Street Style.“
„Och“, nuschelte Hellander, „Lässig“, schob er nach im Versuch, überzeugend zu wirken. „Ja, gut halt, wirklich …“ Doch das war eine Lüge, er fand es total bescheuert. Prompt wurde sein Geschlechtsteil stahlhart und wuchs bestimmt um einen Meter in die Länge. Beide hielten schockiert den Atem an. Hellander reagierte und rannte zurück zum Teich. Dabei war es sehr ungewohnt mit einem mindestens einen Meter langen, steifen Geschlechtsteil zu rennen. Er sprang wieder hinein in den Teich zur Abkühlung und blieb so lange untergetaucht, bis sich sein Geschlechtsteil beruhigt und er keine Luft mehr hatte. Dann wagte er es, den Kopf aus dem Teich zu heben. Die Kollegin war bereits ein paar Schritte die Anhöhe hinauf Richtung Straße gegangen und schien dort kopfschüttelnd auf ihn zu warten. Hellander stieg aus dem Wasser, trocknete sich mit seinem Unterhemd ab und zog sich an.
Da fiel ihm der Zeuge ein, der alte Mann, den er eigentlich hatte befragen wollen. Der alte Mann stand fassungslos an Ort und Stelle. Sein Mund stand offen, die Zunge hing etwas heraus, die Augen ins Leere gerichtet. Hellander glaubte, in seinen Augen leuchtende Brüste zu sehen. Er sprach ihn kurz an, doch er antwortete nicht. Der Mann war offensichtlich nicht vernehmungsfähig und vermutlich auch nicht mehr zurechnungsfähig. So ein Mist, dachte Hellander.
Er ließ ihn stehen und schloss mit gesenktem Blick zur Kollegin auf.
Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Blickkontakt wurde geflissentlich vermieden. Nach einiger Zeit brach Hellander das Schweigen und versuchte, zur Tagesordnung überzugehen.
„Was hat der Fisch eigentlich gesehen?“
„Nichts“, antwortete die Kollegin, in dem Versuch, ebenfalls zur Tagesordnung überzugehen. „Von da unten kann man gar nichts sehen oder hören. Er hat offensichtlich die Kollegen von der Spurensicherung angelogen. Vermutlich wollte er sich wichtigmachen.“
„Schade, keine Zeugen also.“
„Sind Ihre Fälle eigentlich immer so?“, fragte die Kollegin.
„Etwa. Sind halt Spezialfälle. Die, mit denen die anderen im Kriminalamt nichts anfangen können. Oder wollen. Weil sie halt speziell sind. Dann komme ich ins Spiel. Beziehungsweise wir jetzt. Meistens kann ich damit auch nichts anfangen, aber einer muss sich ja drum kümmern. Aber der Fall hier ist schon ein spezieller Spezialfall. Hier haben wir es mit einer richtigen Leiche zu tun, das hatte ich bisher nicht!“
Nach einiger Zeit ergänzte er versonnen: „Wir müssen den Hinterbliebenen informieren, das macht man doch so, wenn man einen Toten gefunden hat, nicht wahr?“
„Wenn wir wüssten, wer das ist? Mal sehen, ob im Amt schon eine Vermisstenanzeige eingegangen ist. Wir haben die Leiche ja noch nicht einmal identifizieren können.“
„Ja, stimmt. Was meinen Sie, wie sollten wir vorgehen?“
Hellander fragte mit echtem Interesse, da dieser Fall ihn verunsicherte. Genauso wie die Kollegin.
„Wir werden im Amt noch mal den Anführer der Spurensicherung anrufen. Er muss ja mit den Zeugen gesprochen haben, wenigstens kurz. Vielleicht hat er einen Hinweis.“
„Okay, so machen wir das“, schloss Hellander.
Dann liefen sie wieder schweigend nebeneinander her.
„Sagen Sie,“ fragte Hellander die Kollegin irritiert, „haben Sie mir vorhin eine gescheuert?“
„Sagen Sie,“ entgegnete die Kollegin, „haben Sie vorhin ein meterlanges Geschlechtsteil gehabt?“
„Äh …“ Hellander stockte und verstummte.
Erneut liefen sie schweigend nebeneinander her.
Hellander war erleichtert, als sie endlich ihren Arbeitsplatz erreicht hatten: das Staatliche Kriminalamt Nord. Da fiel es nicht so auf, dass man sich gerade nichts zu sagen hatte.
In seinem Büro fanden sie bereits das Album mit den Fotos vom Tatort vor. Es war ein richtiges Fotobuch, die Leute von der Spurensicherung hatten sich echt Mühe gegeben. Hellander schürzte die Lippen. Die beiden setzten sich nebeneinander und blätterten im Buch. Jedes Foto war vorbildlich beschriftet. Hellander musste schmunzeln, denn das Album sah zwar geschmeidig aus, aber von Gestaltung hatten die Damen und Herren von der Spurensicherung im Grunde keine Ahnung. Sie hatten in ihrem kreativen Eifer jeden verfügbaren Schrifttyp verwendet und fast jede erdenkliche Schriftfarbe und –größe. Scheinbar hatte jemand alles ausprobiert, was man so machen konnte.
„Tja, ein wirklich guter Ruf war das, oder?“, sagte Hellander, als er sich wieder auf die Bilder konzentrieren konnte. „Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft sieht man da, oder?“
„Ja“, pflichtete ihm die Kollegin bei, „nett, selbstlos, zuvorkommend, würde ich sagen … Aber vielleicht auch ein bisschen selbstvergessen …“
„Was meinen Sie damit?“
„Na ja, es sieht auch so aus, als würde der Halter dieses Rufs sich auch ein bisschen selbst vergessen.“
„Hm?“
„Vergessen, dass er selbst auch noch da ist.“
„Wie kann man das vergessen?“
Die Kollegin schaute ihn verwirrt an. „Na ja, dass man halt alles für andere macht, aber für sich selbst sorgt man zu wenig. Also dass man z.B. ständig anderen Leuten hilft – und selbst ist man am Ende pleite. Oder man braucht eigentlich Ruhe, springt aber immer auf, wenn andere was von einem wollen. Oder vielleicht geht man zum Sport, weil da tut man ja was für sich, aber eigentlich geht man da nur hin, weil die anderen hin gehen, oder weil’s ausfallen würde, wenn man nicht kommt, und deshalb geht man da hin, obwohl man gar kein’ Bock darauf hat oder obwohl es einem gar nicht gut geht …“
„Aber zum Sport hat man doch auch nicht immer Lust, da muss man schon mal seinen inneren Schweinehund überwinden, sonst hängt man nur faul zu Hause rum.“
„Vielleicht. Vielleicht ist das aber genau das, was Sie in dem Moment brauchen, was gut für Sie ist, was richtig ist in dem Moment.“
„Vielleicht“, antwortete Hellander mit rollenden Augen. „Vielleicht aber auch nicht.“
„Ja, vielleicht auch nicht. Aber Sie hätten dann … ach, egal. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Nein.“
„Ich meine, Sie tun Dinge, nicht weil Sie es selbst wollen, sondern weil andere es wollen. Oder von Ihnen erwarten. Oder weil Sie glauben, dass die anderen das von Ihnen erwarten. Und Sie tun nicht die Dinge, die Sie selbst brauchen, sondern die, die andere brauchen. Und oftmals wissen Sie gar nicht, was Sie selbst eigentlich brauchen … Das meine ich mit selbstvergessen.“
„Jaaa“, sagte Hellander gedehnt und den Kopf angestrengt zur Seite gedreht. „Ja, na ja, das kommt doch auch mal vor, so ist das halt im Leben manchmal.“
„Manchmal, vielleicht“, seufzte die Kollegin.
Sie blätterten noch etwas schweigend im Album herum.
„Ich schlage vor“, sagte die Kollegin nach einer Weile, „wir kopieren ein Foto, das hier zum Beispiel, das sieht gut aus, und gehen damit raus in die einschlägigen Etablissements und fragen die Leute, ob sie diesen Ruf bzw. dessen Halter kennen.“
„Welche einschlägigen Etablissements?“
„Na, die netten Lokale in der Umgebung des Parks, wo wir die Leiche gefunden haben, denke ich. Da sollten wir anfangen.“
„Okay, so machen wir das.“ Hellander war beeindruckt von der pragmatischen Vorgehensweise der Kollegin. Aber dieser blinkende Ohrstecker, der nervte. Und überhaupt, wie die aussah …
Die beiden Ermittler fuhren mit dem Bus wieder in den Außenbezirk, wo sie den Ruf entdeckt hatten. Sie praktizierten etwas Smalltalk und unterhielten sich über den Geschmack und die richtige Mischung von Apfelschorle und über Quantenphysik, von der sie beide keine Ahnung hatten. Und prompt fuhren sie am Park vorbei. Erst an der Endstation am Rande der Stadt bemerkten sie, dass sie zu weit gefahren waren.
Sie stiegen aus und schauten sich um. Zur einen Seite glitten ihre Blicke über Felder und Wälder, zur anderen sahen sie ein paar adrette Häuschen mit Vorgärten und ein paar ältere Mietshäuser. Direkt gegenüber lag ein kleines Café, das so aussah, als wäre es für die Innenstadtklientel gemacht. Es passte nicht so recht an den Rand der Stadt, sagten sich die beiden mit ihren Blicken. Aber ihnen gefiel es. Es sah so aus, als würde es dort guten Kaffee geben. So richtigen italienischen und keine Kännchen Filterkaffee.
Sie gingen hinein und bestellten jeder einen verlängerten Espresso.
Es war nur ein weiterer Gast im Haus, ein Mann in etwa ihrem Alter. Hellander fragte sich, wie sich der Laden halten konnte, bei dieser Auslastung.
Die beiden machten es sich bequem und tranken ihren Kaffee. Er schmeckte sehr lecker, aber nur mit viel Zucker.
Die Kollegin nickte Hellander zu und deutete zu dem Mann am anderen Ende des Cafés. Sie standen auf und gingen zu ihm hinüber.
„Entschuldigen Sie“, startete der Kommissar, „wir sind vom Staatlichen Kriminalamt Nord, Abteilung für Spezialfälle, haben Sie eine Sekunde Zeit für uns?“
„Eine Sekunde“, antwortete der Mann. „Vorbei“, schob er nach und schaute wieder aus dem Fenster.
Sehr witzig, dachte Hellander. „Eine Minute?“
„Sie sollten diese Zeitangaben lassen, das ist doch Gefasel. Sagen Sie, was Sie wollen und dann schauen wir mal“, antwortete der Mann trocken, schenkte ihnen aber dennoch ein bisschen Aufmerksamkeit. „Worum geht’s denn?“
Hellander war verstummt. Mist, dachte er, Start vermasselt.
„Dürfen wir uns setzen?“, übernahm die Kollegin ungerührt.
„Okay, worum geht’s?“
Sie setzten sich an den Tisch und die Kollegin zeigte ihm das Foto des toten Rufs, das sie am Computer etwas aufgehübscht hatten, so dass man die Zerstörung nicht so einfach erkennen konnte. „Kennen Sie diesen Ruf? Wissen Sie, wer der Halter ist?“
Der Mann betrachtete das Foto und schmunzelte. „Ja, so einen Ruf kenne ich. Schon oft gesehen.“
„Ach, bei wem?“, setzte die Kollegin frohlockend nach.
„Bei vielen Leuten. Laufen doch viele mit so was rum“, sagte er belustigt, räkelte sich ächzend und lehnte sich dann entspannt zurück.
„Hm“, machte Hellander. Das war unbefriedigend. Er versuchte es erneut. „Schauen Sie noch mal genau hin. Lässt er sich vielleicht genauer zuordnen? Hier sehen Sie mal, diese spezielle Freundlichkeit, dieses Zuvorkommende …“
„… Selbstvergessene“, ergänzte die Kollegin.
Der Mann ließ sich dazu herab, beugte sich vor und schaute noch einmal auf das Foto. Langsam schien er etwas zu erkennen. „Hm, verstehe“, murmelte er gedehnt und fügte schmunzelnd hinzu, „ja, das dürfte der Ruf von Herrn Lichtrecht sein, der wohnt da hinten, drei Straßen weiter.“
Kommissar Hellander und seine Kollegin schauten sich verblüfft an und lächelten vergnügt, da sich nun eine Spur abzeichnete. Sie bestellten einen weiteren verlängerten Espresso und beim Trinken unterhielten Sie sich noch etwas mit dem Mann.
„Was machen Sie so beruflich?“, fragte Hellander.
„Ach, momentan gar nichts“, sagte dieser lässig. „Ich habe gekündigt und jetzt schauen wir einfach mal.“
„Ach“, entfuhr es Hellander, „das klingt ja … interessant …“ Nachdenklich fragte er sich, wie das wäre, zu kündigen und „einfach mal zu schauen“. Wahnsinn. Einfach Schluss machen mit diesem komischen Job, mit dem ganzen Zeug. Warum machte er das eigentlich nicht auch? Vom Gesparten könnte er eine Weile leben, ein bisschen blieb ja Monat für Monat übrig. Einfach treiben lassen. So viel Freiheit! Ruhe! Entspannung! Sein Ding machen … Aber …, was war denn sein Ding? Er hatte eigentlich gar kein Bild davon, musste er sich eingestehen.
Und diese Freiheit …
Diese Unsicherheit …
Unheimlich.
Später vielleicht …
„Keine Zukunftsangst?“
„Nö.“
„Na ja, dann viel Spaß“, wünschte Hellander mit einem Anflug von Neid und Missgunst … und Wehmut … und Sehnsucht …
Sie ließen sich die Adresse von besagtem Herrn Lichtrecht geben, bezahlten und verließen das Café.
„Na, das ist doch mal eine Spur!“ Hellander freute sich darüber, in Gedanken wieder beim Fall, und die beiden machten sich auf den Weg.
Sie liefen durch sauber gefegte Straßen, an gut gepflegten Vorgärten vorbei, bis sie drei Straßen weiter am Haus von Herrn Lichtrecht ankamen. Es war ein mittelgroßes Haus für vier Mietparteien. Die unteren Wohnungen hatten Zugang zum Garten. Sie gingen in den Hausflur und klingelten bei „Lichtrecht“ im Erdgeschoss zur Straße hin. Sie klingelten erneut. Nichts rührte sich. Er war wohl nicht zu Hause. „Blöd“, sagte die Kollegin. „Ja, blöd“, ergänzte Hellander. Nun standen sie da.
Die Kollegin ergriff die Initiative und ging zum Nachbarhaus, einem Einfamilienhaus mit sauber geharktem Vorgarten. Die Nachbarin öffnete und erzählte, ihr Mann sei nicht da. Danach hatte die Kollegin gar nicht gefragt, aber sie nahm die Tatsache zur Kenntnis. Ja, natürlich kenne sie den Herrn Lichtrecht, er sei ein netter Kerl. Immer sehr hilfsbereit und freundlich. Auch danach hatte die Kollegin nicht gefragt, aber auch das nahm sie interessiert zur Kenntnis. Sie fragte die Nachbarin, wann sie den Nachbarn zuletzt gesehen hätte. „Wieso, ist was passiert?“, fragte sie mit hoch gezogenen Augenbrauen. „Reine Routine“, wehrte die Kollegin ab.
„Heute früh“, antwortete die Nachbarin, „ich hab’ die Zeitung reingeholt, da lief er vorbei zur Arbeit.“
„Wirkte er irgendwie anders als sonst?“
„Äh, nein, ganz und gar nicht, wie immer. Ja, freundlich, ganz so wie immer.“
Sie sollten in die Firma gehen, dort würden sie ihn bestimmt antreffen, schloss die Nachbarin, bemüht, das Gespräch zu beenden. Ihr Mann und Lichtrecht seien ja Kollegen, sie könnten dort also beide antreffen.
Hellander und seine Kollegin bedankten sich und fuhren in die Firma. Die Firma war etwas weiter Richtung Innenstadt angesiedelt und residierte in einem mittelgroßen Kasten aus Glas und silbrig grauem Blech.
Am Empfang wurden sie freundlich empfangen. Nein, der Herr Lichtrecht sei heute nicht zu sprechen, er sei aushäusig. „Aushäusig“, wiederholte die Kollegin stirnrunzelnd. Ob denn der Herr Nachbar zugegen sei. Ja, sei er.
„Und wo finden wir den?“
„Sind Sie denn befugt?“
„Natürlich sind wir befugt“, antwortete die Kollegin spöttisch und schob der Empfängerin ihren Dienstausweis vom Staatlichen Kriminalamt Nord über den Tresen.
Die Empfängerin räusperte sich und zog ihren kurzen Rock zurecht, obwohl man den durch den Tresen gar nicht sehen konnte.
„Ja, selbstverständlich, ich rufe gleich an, sie können gleich mit ihm sprechen, ja, sicher, gleich, sofort.“
Nach einem kurzen Telefonat wies die Empfängerin sie an, mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock zu fahren, sich dann links zu halten, am Kaffeeautomaten vorbei, dann käme der Kopierer, dann den Gang rechts, durch die Glastür, dann zweiter Gang links und dann Zimmer 307.
Mit dieser präzisen Beschreibung schafften sie es spielend und konnten den Nachbarn befragen.
Ja, klar kenne er seinen Nachbarn, ein netter Nachbar, wirklich richtig nett. Nein, er sei heute noch nicht aufgetaucht, mehr wisse er aber auch nicht. Ja, er wäre wirklich ein angenehmer Geselle, guter Arbeitskollege, fleißig, zuverlässig und immer freundlich und hilfsbereit.
Die Kollegin musste gähnen.
Nein, Zweifel an seiner Güte hätte er nicht. Nein, schlechtes wüsste er überhaupt nicht zu berichten, nein, auch keine kompromittierenden Gerüchte oder Wahrheiten. Da müsste er sie enttäuschen.
Enttäuscht gingen Hellander und seine Kollegin zum nächsten Kollegen.
Der erzählte das gleiche. Der dritte erzählte nichts anderes.
Kein Anhaltspunkt für einen Rufmord, dachte Hellander. „Mist, wir stecken fest.“ Er war wirklich enttäuscht, musste er sich eingestehen, dass er keine spannenden Gerüchte zu Ohren bekommen hatte. Insgeheim hatte er sich auf aufregende Geschichten gefreut.
Zur Kontrolle zeigte die Kollegin dem dritten Kollegen das Foto vom toten Ruf. Ja, der gehöre Herrn Lichtrecht, würde er sagen. Nun, immerhin schienen sie auf der richtigen Spur zu sein, freuten sie sich, als sie das Gebäude verließen.
Zurück im Büro stellten sie fest, dass immer noch keine Vermisstenanzeige vorlag. Daraufhin machten sie Feierabend.
Am nächsten Morgen trafen sie sich wieder in Hellanders Büro. Die Kollegin trug diesmal ein schwarz-weiß gestreiftes Kleid mit einer gelben Jeansjacke und einer roten Strumpfhose. Das eine Auge hatte sie mit Wimperntusche und einem Lidstrich hervorgehoben. Das verwirrte Hellander beim Blick in ihr Gesicht. Zum Glück, dachte er nach kurzer Zeit erleichtert, fragt sie nicht nach ihrem „Dressing“.
Hellander fasste die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammen: „Hm …“
Die Kollegin pflichtete ihm bei. Dann ergänzte er: „Ein ermordeter Ruf. Ein Hinterbliebener, der nicht da ist. Keine brauchbaren Zeugen. Kein Hinweis auf den Mörder. Oder die Mörder … Kein Motiv … Kein Verdächtiger. Keiner, der was Schlechtes über diesen Mann zu sagen hat …“
„Genau! Das ist es!“, unterbrach ihn die Kollegin energisch. „Keiner erzählt etwas Schlechtes über ihn, nur gutes! Aber das können sie ja gar nicht!“
„Hä?“, fragte Hellander verständnislos.
„Sein guter Ruf, der ist tot! Richtig tot! Liegt jetzt in der Gerichtsmedizin. Keiner kann diesen guten Ruf mehr haben.“
„Tja, der Lichtrecht hat ihn wohl auch nicht mehr …“ Hellander hatte es noch nicht begriffen.
„Überlegen Sie doch mal, was ein Ruf ist! Natürlich gibt es einen Besitzer, einen Halter, aber im Grunde ist es ein Bild, das andere von seinem Besitzer haben. Und dieses Bild ist tot.“
„Hm, interessant.“
„Das bedeutet, keiner hat mehr dieses gute Bild von dem Mann. Und das bedeutet, die lieben Nachbarn und Kollegen haben gelogen! Sie haben alle gelogen! Auf jeden Fall die Nachbarn, denn die haben den Lichtrecht noch gestern früh gesehen. Aber der Ruf ist seit vorgestern Abend tot!“
„Ach … Aber muss sich so was nicht erst rumsprechen?“
„Nein, nicht wenn der Ruf tot ist.“
„Ach, woher wissen Sie das?“
„Aus dem Lexikon.“
„Ach, so was lesen Sie?“
„Hin und wieder.“
„Respekt …“ Hellander war beeindruckt.
„Wir sollten uns den Nachbarn noch mal vorknöpfen“, forderte die Kollegin. Hellander griff zum Telefon und sorgte dafür, dass der Nachbar vorgeladen wurde.
Etwa eine Stunde später wurde der Nachbar ins Verhörzimmer geführt. Hellander ließ der Kollegin den Vortritt, als Einstand sozusagen, blieb vorerst draußen und stellte sich hinter die Spiegelwand, durch die er das Geschehen sehen und durch Lautsprecher hören konnte.
Der Nachbar wirkte nervös und schaute sich im kargen Raum um. Graue Wände, von denen der Putz bröckelte, blasse Neonröhren an der Decke, ein klappriger Holztisch in der Mitte, darauf ein Tonbandgerät.
„Sie haben gelogen“, startete die Kollegin gleich durch. Hellander war beeindruckt von dieser Direktheit.
Der Nachbar rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her.
„Was meinen Sie?“, fragte er mit unschuldiger Miene.
„Sie haben uns gestern erzählt, Herr Lichtrecht sei ein freundlicher, guter Mensch. Das war eine Lüge. Der gute Ruf von Herrn Lichtrecht ist vorgestern Abend ermordet worden.“
Der Nachbar schaute die Kollegin konsterniert an.
„Aber …“
„Wo waren Sie vorgestern Abend? So gegen 21 Uhr?“
„Äh“, stammelte er.
Die Kollegin beugte sich etwas vor über den Tisch und fixierte seine Augen. Hellander fragte sich, ob sie wieder ihren Ich-schau-in-dich-hinein-Blick aufgelegt hatte und schmunzelte. In der Tat schien der Nachbar verunsichert. Dann sackte er zusammen.
„Ich war im Park. Da unten am Teich.“
„Ach, schau an“, bemerkte die Kollegin süffisant. „Haben Sie den Ruf von Herrn Lichtrecht ermordet?“
„Was? Ich? Nein! Nein!“, stammelte der Nachbar.
„Warum haben Sie uns angelogen?“
„Na ja, ich hatte Angst unter Mordverdacht zu geraten“, gestand er.
„Wieso?“
„Na ja, ich war halt da …“
„Sie waren da, als es passierte?“
„Nein, nicht direkt. Ich war gerade Wasser lassen, als es passiert sein muss …“
„Aha. Erzählen Sie mal.“
„Na ja, ich stand da bei den Steinen, zog meinen Hosenschlitz runter, holte meinen …“
„Ersparen Sie mir weitere Details. Ich dachte eher an die Gesamtsituation. Was war da los?“
Nach einigem Zögern erzählte der Nachbar, dass sie sich dort am Teich getroffen hatten. Das war schon früher oft ihr Treffpunkt gewesen, wenn sie abends ausgingen. Früher hätten dort auch mal Parkbänke gestanden, aber die hätten Jugendliche von heute bestimmt zerstört oder in den Teich geworfen.
Nein, widersprach die Kollegin, sie wäre im Teich gewesen und hätte keine Bank gesehen. Er möge sich mit vagen verleumderischen Aussagen über Jugendliche zurückhalten.
Nach einer kurzen Entschuldigung erzählte er weiter, dass er dann mal kurz austreten musste, etwas weiter oben, bei den Steinen.
Stonehenge, dachte Hellander. Er hat Stonehenge entweiht! Hellander verzog das Gesicht missbilligend.
„Und als Sie fertig waren?“, fragte die Kollegin nach.
Während er austreten gewesen sei, hätte er viel lautes Geschrei unten gehört, aber nichts Genaues verstanden. Aber es wäre heiß her gegangen. Richtig heiß, so viel hätte er mitbekommen. Als er zurückkam, sah es dann unten am Teich aus wie auf einem Schlachtfeld. Der gute Ruf von Lichtrecht lag tot am Boden, aber auch die Rufe von vielen anderen lagen dort schwer verletzt herum. Und viele Worthülsen.
„Auch mein Ruf lag da, da fehlte richtig ein Stück!“, fuhr der Nachbar fort. „Ich dachte »Du Arsch«, Alter …“
„Wer Arsch?“, fragte die Kollegin.
„Na der Lichtrecht! Der hat doch am Ende alle angeschossen!“
„Ach, der war auch da?“
„Äh, ja, hatte ich das noch nicht erwähnt?“
„Nein. Woher wissen Sie, dass der alle angeschossen hat, Sie waren doch gar nicht da?“
„Na ja, die waren alle sauer auf ihn. Und viele Worthülsen von ihm.“
„Aha. Und der stand da einfach noch so rum? Wie war der denn drauf?“
„Echt scheiße, der Sack! Miese Sau!“
„Wie sah er aus? Wie immer?“
„Nein, ganz komisch. Na, so scheiße halt.“
„Mann, geht’s ein bisschen präziser?“
„Na, richtig scheiße. Voll fies hat der geguckt.“
„War er verstört? Schockiert? Traurig? Konsterniert?“
„Weiß nicht. Eigentlich, wo Sie es sagen, weder noch, oder so, weiß nicht. Ich war eher mit meinem Ruf beschäftigt.“
„Ach, was fehlte ihm denn?“, fragte die Kollegin mit gespieltem Mitleid und lehnte sich dann süffisant lächelnd im Stuhl zurück.
„Sag’ ich nicht. Das geht Sie gar nichts an!“, fauchte der Nachbar.
„Schade.“ Die Kollegin beugte sich wieder nach vorne. „Und wer war es nun? Wer hat den Ruf von Lichtrecht ermordet? Irgendjemand muss es doch gewesen sein, der den Ruf ermordet hat, woraufhin Lichtrecht dann offenbar wild um sich geschossen hat!“
„Keine Ahnung! Ich weiß es nicht! Echt! Ich weiß nichts!“
„Hm.“ Die Kollegin pausierte. „Was passierte dann?“
„Wir alle waren ganz aufgeregt damit beschäftigt, unseren Ruf zu versorgen und uns gegenseitig zu beschwichtigen.“
„Lichtrecht auch?“
„Nein, der stand einfach nur da mit verschränkten Armen und schaute uns zu, der Vollpfosten.“
Die Kollegin bohrte weiter. „Dann?“
„Haben wir alle unseren Ruf wieder an uns genommen und sind nach Hause gegangen. Hatten alle schlechte Laune und echt keinen Bock mehr, noch irgendwo hin zu gehen. Also ich jedenfalls. So was krasses.“
„Ist es nicht normal, dass man sich verteidigt und zurückschießt, wenn einem der Ruf ermordet wird?“
„Weiß nicht.“ Der Nachbar wandte sich unangenehm berührt auf seinem Stuhl. „Na ja, … aber doch nicht so!“
Hellander dachte nach. Was hätte er getan? Die Frage war echt interessant. Er hatte zwar keine Vorstellung davon, wie der Ruf von Lichtrecht umgekommen war, aber wenn sein Ruf einfach vor allen Leuten abgeschlachtet werden würde …? Welcher Ruf eigentlich? Hatte er einen? Was für einen?
Was, wenn der tot ist? Entsteht ein neuer? Ja, offensichtlich. Beim Lichtrecht gab’s einen neuen, einen schlechten Ruf. Einen Ruf als mieser Typ, als Vollpfosten, oder so. Vermutlich hat man immer einen. Irgendeinen auf jeden Fall.
Hellander fragte sich, ob seiner ähnlich gut war wie der tote vom Lichtrecht. Die Leute waren freundlich zu ihm, hier im Amt, wenn man sich begegnete. Wobei, war das immer so richtig echt? Oder war da im Lächeln und in der Freundlichkeit der anderen nicht auch manchmal etwas … etwas …, dass sie ihn nicht ganz ernst nahmen? Er spürte Verunsicherung. Er hatte ja auch einen speziellen Job hier, den kein anderer machen wollte. Warum machte er ihn eigentlich? Weil er so was gelernt hatte, irgendwie. Oder? Hatte ja schließlich auch Spezialwissenschaften studiert, neben Kunstgeschichte, aber auf diesem Gebiet hatte er keine große Lust gehabt, zu arbeiten.
In der Praxis hatte er aber immer wieder festgestellt, dass er in seinem Studium nicht viel Brauchbares gelernt hatte. Seine Aufklärungsquote lag im Promillebereich. Viele Fälle akribisch analysiert und bearbeitet, sich den Kopf darüber zerbrochen, und doch am Ende ungelöst zu den Akten gelegt. Frustrierend. Lag das an ihm oder an den Fällen? An seinen Methoden? Mal sehen, ob das irgendwie anders wird mit dieser eigenartigen Kollegin, die Herr Müller ihm da aufgetischt hat. Er hatte wohl kein Vertrauen mehr in seine Arbeit? Tja …
Tja, also, wie war sein Ruf? Der Vollidiot, der diesen beknackten Job machte? Oder vielleicht sahen sie ihn doch alle als freundlichen, hilfsbereiten Menschen und ihre Freundlichkeit ihm gegenüber war echt? Vielleicht sahen sie ihn sogar als ziemlich coolen Typen, der diesen krassen Job meistert?
Wäre immerhin eine Möglichkeit …
Und überhaupt, kam ihm der Gedanke, war seine Freundlichkeit immer echt? Er war doch eigentlich immer freundlich, mit Freundlichkeit geht doch alles viel einfacher! Genau, und dieses Motto war doch gut, oder? Echt – was heißt das eigentlich?
Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, denn die Kollegin nahm die Befragung wieder auf.
„Warum hat Lichtrecht seine Leiche nicht weggeschafft?“
„Weiß ich doch nicht. Müssen Sie den Penner schon selber fragen.“
Die Kollegin lächelte gedankenverloren. „Vielleicht wollte er keine Leiche im Keller haben …, so einfach könnte es sein …“
Hellander schoss ein neuer Gedanke durch seinen Kopf, der ihn beängstigte: Was hatte sich gestern früh mit seinem Ruf getan, als das mit seinem Geschlechtsteil passierte? Was hatten die anderen wohl von ihm gedacht? Vor allem die Kollegin! Hatte er bei ihr überhaupt einen Ruf? Sie kannten sich ja noch gar nicht wirklich. Eilte ihm ein Ruf voraus? Hatte er bei der Kollegin einen ganz anderen Ruf als bei den Kollegen? Bei Männern? Bei Frauen? Irgendwas Erstauntes, Neidisches hatte er bei den Männern im Blick gesehen, erinnerte er sich, obwohl bei dem Schock seine Erinnerung leicht getrübt gewesen sein musste. Aber da war was. Tja, ein langes Geschlechtsteil,