Die Verlorenen - Maya Shepherd - E-Book

Die Verlorenen E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Die Legion ist zerstört und das Umland verwüstet. Die Rebellen haben kaum noch Vorräte, um ihr Überleben zu sichern. Plötzlich verschwinden immer wieder Mitglieder aus ihrer Gruppe. Verdächtigt werden die Mutanten, doch wie gefährlich diese wirklich sind, erfahren Finn und seine Mitstreiter sehr bald am eigenen Leib. Cleo muss derweil in der Zentrallegion gegen schwere Vorwürfe ankämpfen. Sie gilt als Verräterin und steht unter strenger Beobachtung. Die Trennung von Finn und die Ungewissheit, ob er noch am Leben ist, lassen sie zerbrechen. Gibt es für Cleo und Finn noch eine Chance, während nicht nur Meilen, sondern auch etliche Feinde zwischen ihnen stehen? Ist ihre Liebe stark genug?

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Seitenzahl: 474

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Maya Shepherd

Die Verlorenen

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

01. Cleo

02. Finn

03. Cleo

04. Finn

05. Cleo

06. Finn

07. Cleo

08. Finn

09. Cleo

10. Finn

11. Cleo

12. Finn

13. Cleo

14. Finn

15. Cleo

16. Finn

17. Cleo

18. Finn

19. Cleo

20. Finn

21. Cleo

22. Finn

23. Cleo

24. Finn

25. Cleo

26. Finn

27. Cleo

28. Finn

29. Cleo

30. Finn

31. Cleo

32. Finn

33. Cleo

Mein Dank geht an...

Impressum tolino

Widmung

Für meine Mutter,

die für mich wie eine Löwin kämpft

01. Cleo

Maya Shepherd

RADIOACTIVE

»Die Verlorenen«

Roman

2. Auflage

Copyright © 2014 Maya Shepherd

Neuauflage: 2017

Korrektorat: Martina König

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Facebook: Maya Shepherd

Blog: www.mayashepherd.blogspot.de

Twitter: MayaShepherd

Für meine Mutter,

die für mich wie eine Löwin kämpft

Für einen Moment höre ich nicht einmal mehr die lauten Propeller- und Motorengeräusche. Die Sicht vor meinen Augen verschwimmt. Ich habe das Gefühl, zu fallen – ins Bodenlose. Alles um mich herum dreht sich. Blut rauscht in meinen Ohren.

Ich bin deine Mutter.

A350 hat diese vier Worte mit so einer Selbstverständlichkeit gesagt, als wäre es jedem außer mir längst klar gewesen. Zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Situation hätten mir diese Worte etwas bedeutet. Sie hätten die Welt für mich verändert. Aber jetzt empfinde ich nur Wut und unsäglichen Schmerz.

Finn wird sterben. Finn und alle Rebellen. Die westliche Legionskugel wird explodieren und alle in den Tod reißen. Ich möchte bei ihnen sein. Ich möchte an ihrer Seite um unser Überleben kämpfen. Stattdessen befinde ich mich mit A350, Asha, Iris und einem Piloten in einem Hubschrauber, der uns in die Zentrallegion befördert. Ich fliehe feige und lasse alles und jeden rücksichtslos hinter mir zurück. Niemals wäre ich freiwillig gegangen. Ich habe es nur Finn zuliebe getan. Er wollte mit mir gehen. Wir wollten gemeinsam etwas verändern, stattdessen hat er die Tür hinter mir zugeschlagen. Er konnte die Rebellen nicht zurücklassen, aber wollte mich retten. A350 hat ihm bereitwillig dabei geholfen. Ich fühle mich von beiden verraten. Finn kann ich jedoch nicht hassen, denn ich werde ihn nie wiedersehen.

»Warum?«, stoße ich verständnislos aus und tauche aus dem Gefühlsstrudel auf, der mich zu verschlucken droht. Ich starre in A350s lichtblaue Augen und suche in ihnen nach einer Antwort. Sie hätte auch ohne mich fliehen können. All die Jahre war sie mir keine Mutter. Ich war für sie eine von vielen. Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt weiß, dass ich von ihr abstamme.

Sie schaut mich ruhig an. Ich kann in ihrem Blick keine Reue erkennen. Sie steht hinter ihrer Entscheidung. Dann strafft sie die Schultern. »Du bist meine Tochter. Ich liebe dich.«

Meine Hand reagiert, ehe ich auch nur realisiere, was ich da tue. Sie schnellt vor und hinterlässt auf A350s bleicher Wange einen feuerroten Abdruck. Der Knall hallt mir in den Ohren. Meine Handfläche brennt.

Fassungslos starrt sie mich an. Sicher hat sie in ihrem ganzen Leben noch keine Ohrfeige bekommen. Genauso wenig, wie ich je eine verpasst habe. Ich erinnere mich daran, wie schockiert ich war, als Finn mir eine gescheuert hat. Als der Schock nachgelassen hat, sind Schuldgefühle in mir hochgekommen. Erst sein Schlag hat mir deutlich gemacht, dass ich etwas zu ihm gesagt hatte, was ich nicht einmal hätte denken dürfen. DieLegionhatdeineElterngetötetundhältdeineSchwestergefangen.Hastdudasetwavergessen? Natürlich hatte er das nicht. Wie könnte er das je?

»Wage es nie wieder, mir gegenüber das Wort Liebe in den Mund zu nehmen«, fauche ich A350 an. Dabei bin ich selbst überrascht von dem Klang meiner Stimme. Sie ist so kalt wie Eis und so schneidend wie der scharfe Rand einer Glasscherbe.

»Es ist nicht meine Schuld, dass Finn nicht hier ist. Ich habe ihm nicht verboten, mitzukommen. ER hat sich dagegen entschieden. Es war SEINE Entscheidung«, versucht A350 sich zu verteidigen. Doch meine Wut ist zu groß, um ihr wirklich zuzuhören. Als Legionsführerin, die zufällig Interesse an mir und meinen Gedanken zeigte, konnte ich sie gut leiden. Ich habe sie sogar bewundert und zu ihr aufgesehen. Ihre Meinung hat mir etwas bedeutet und es war mir wichtig, was sie von mir denkt. Aber als Mutter, die mich mein ganzes Leben lang im Stich gelassen und mich zusätzlich der Unterdrückung und Manipulation durch die Legion ausgesetzt hat, kann ich sie nur verachten.

»Ich habe dir vertraut«, sage ich zu ihr. Das trifft mich wohl am meisten – die Enttäuschung. »Ich wäre niemals ohne Finn gegangen.«

»Das wusste er«, erwidert sie verständnisvoll. »Er wusste aber auch, dass du unsere einzige Hoffnung bist und es deshalb für dich keinen anderen Ort als die Zentrallegion geben kann. Nur dort kannst du etwas verändern. Er hat nicht an sich gedacht, sondern an ein höheres Wohl und vor allem an dich.« Es ist das erste Mal, dass ich so etwas wie Anerkennung höre, wenn sie von Finn spricht. Sie mochte ihn nie und hat ihn immer als Ablenkung für mich gesehen. Ein negativer Einfluss, der mich von meinem Weg abbringt. Den Weg, den sie für mich erwählt hat. Wann hat sie angefangen, mein Leben zu planen? Wann hat sie Interesse für mich entwickelt?

»Was ist mit mir?«, frage ich verletzt. »Es ist mein Leben.« Sie haben mich übergangen. Das bin ich aus der Legion nicht anders gewohnt. Aber gerade von Finn hätte ich erwartet, dass er mir gegenüber aufrichtig ist. »Was ist, wenn ich gar nichts verändern will? Ich wollte nie alle retten. Alles, was ich wollte, war, mit Finn zusammen sein zu können.« Sein Name sprengt die letzten Dämme, die meine Tränen zurückgehalten haben. Sie brechen ungehindert aus meinen Augen hervor und fließen über meine Wangen. Ich würde den Schmerz, der in meiner Brust wütet, am liebsten herausschreien. Finn. Ich werde ihn nie wiedersehen.

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Das Wohl der Bewohner der Legion lag dir sehr am Herzen. Du wolltest ihnen ein besseres Leben schenken …«

Ich falle ihr ungehalten ins Wort: »Genau DIESE Menschen werden jetzt zusammen mit Finn und den Rebellen in den Flammen sterben. Ich habe nichts verbessert, sondern alles nur noch schlimmer gemacht.«

»Vielleicht schaffen sie es, zu fliehen«, fügt Iris kleinlaut hinzu, während sie ihren Wüstenfuchs Fennek gegen ihre Brust presst. Er hat die Ohren angelegt und wirkt genauso verängstigt wie Iris. Sie ist die Einzige, die mir von den Rebellen geblieben ist. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass A350 Iris und Asha einen Platz in dem Hubschrauber gewährt hat.

Ich kann Iris’ Worten keinen Glauben schenken. Ich verbiete es mir. Wenn ich wage, zu hoffen, wird mich die Gewissheit ihres Todes nur umso tiefer treffen. Es gibt für Finn und die anderen keine Hoffnung. Ich wüsste nicht, wie sie es schaffen sollten, der Explosion zu entkommen. Und selbst wenn: Sobald die Strommauer ausgeschaltet ist, sind sie den Wesen, die wir dort draußen gesichtet haben, schutzlos ausgeliefert. Wir wissen nicht, ob sie uns feindlich gesinnt sind.

Ich fühle mich leer. Wie eine Hülle, der alles egal geworden ist. Es gibt nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde. Zitternd schlinge ich mir die Arme um den Körper.

»In der Zentrallegion gibt es auch Menschen, die deine Hilfe brauchen. Du wirst lernen, sie zu lieben«, behauptet A350 gleichgültig.

Ich ertrage ihre Nähe nicht. Woher nimmt sie sich das Recht, über mich und meine Gefühle zu urteilen? Sie kennt mich nicht. Sie weiß nichts von mir. Nichts, worauf es ankommt. Vor Wut schlage ich mit meiner Faust gegen die Seitenwand des Hubschraubers. »Du hast doch keine Ahnung! Du verstehst rein gar nichts. Menschen sind nicht austauschbar. Jeder Mensch ist einzigartig. Die Rebellen waren die ersten wahren Freunde in meinem Leben und ich werde nie wieder jemanden so sehr lieben können wie Finn.« Mein Herz rebelliert. Es hämmert gegen meine Rippen. Am liebsten würde ich mir die Hand auf die Brust pressen, so weh tut es. Ich starre auf den Verband an meiner Hand. Mein kleiner Finger fehlt. Gustav hat ihn mir abgeschnitten, um sich Zugang zur Legion zu verschaffen. Blut sickert durch den hellen Stoff, doch ich spüre keinen körperlichen Schmerz.

A350 scheint einzusehen, dass sie bei mir mit ihren Lehrbuchweisheiten nicht weiterkommen wird. Sie wendet sich resigniert von mir ab. Dabei wirkt sie enttäuscht. Was hat sie denn erwartet? Es ändert nichts, dass sie meine biologische Mutter ist. Es macht es sogar nur noch schlimmer. Sie mag alles über die menschliche Gefühlswelt gelesen und studiert haben, aber das ist alles nur Theorie. Ihr fehlt es an jeglichem Einfühlungsvermögen. Ihre Beteuerung, dass sie all das nur aus Liebe zu mir getan hätte, kann ich ihr nicht abnehmen. Aus meiner Sicht ist A350 nicht in der Lage, mehr als eine Maschine zu fühlen. Sie ist ein Roboter.

»Hörst du dir eigentlich auch nur einen Moment selbst zu?«, knurrt Asha plötzlich.

Überrascht schaue ich in ihre Richtung und erkenne erst dann, dass sie mit mir spricht. Verdutzt starre ich sie an. »Wie meinst du das?«

»Du benimmst dich absolut selbstsüchtig und egoistisch. Die Wahrheit ist doch, dass dir die Bewohner der Sicherheitszone im Grunde egal sind. Der Einzige, um den es dir geht, ist Finn. Wenn du könntest, würdest du jeden von uns gegen ihn eintauschen.«

»Das ist nicht wahr«, protestiere ich, doch Asha lässt mich nicht mehr zu Wort kommen.

»Natürlich ist es das! Als du den Hubschrauber gesehen hast, muss dir klar gewesen sein, dass wir damit unmöglich alle Bewohner der Sicherheitszone retten können, bevor die Legion in die Luft fliegt. Aber es war dir egal, solange nur du und dein Liebster zusammenbleiben könnt.«

»Finn hat gesagt …«, setze ich kleinlaut an.

»Es ist egal, was Finn gesagt hat«, faucht sie. »Du weißt selbst, dass die Zentrallegion zu weit weg ist. Es ging nie darum, alle zu retten. Menschen wären gestorben, nur dass Finn nicht einer von ihnen gewesen wäre. Inwiefern hätte es das für die Allgemeinheit besser gemacht? Ist sein Leben mehr wert als das irgendeines anderen?«

Ich senke schuldbewusst den Blick. Wir sind alle gleich. Plötzlich erscheint die oberste Regel der Legion wahrer denn je. Finn mag nur einer von vielen sein, aber für mich war er meine Hoffnung. Erst durch ihn konnte ich daran glauben, dass es noch ein anderes Leben für mich geben könnte – ein besseres. Ein Leben in Freiheit.

»Du willst alles, was dir einmal wichtig war, für einen Mann hinwerfen, der es gar nicht wert ist. Finn hat dich verlassen, und das nicht zum ersten Mal!«

Ich schüttle wütend den Kopf und will, dass sie einfach nur aufhört. Er hat mich gerettet.

»Du warst für die Rebellen immer nur Mittel zum Zweck. Sie wollten dich als Waffe gegen die Legion einsetzen, mehr nicht!«

»Das ist nicht wahr«, schreit Iris plötzlich aufgebracht. »Die Rebellen lieben Cleo. Wir sind eine Familie.«

»Die Träume eines Kindes«, schnaubt Asha verächtlich, bevor sie sich wieder mir zuwendet. Dieses Mal nicht ganz so wütend, sondern fast einfühlsam. »Vielleicht kann Finn dich ganz gut leiden, aber er liebt die Rebellen mehr als dich, sonst wäre er jetzt hier. Und wenn du tief in dich gehst, wirst du erkennen, dass du jetzt genau hier wärst, selbst wenn Finn dir die Entscheidung überlassen hätte. Du bist keine von den Frauen, die ohne ihren Mann ein Niemand sind. Du bist mehr als das! Du bist stärker und du …«

Ihre restlichen Worte gehen in einer unglaublichen Explosion unter. Erschrocken pressen wir alle unsere Hände auf die Ohren, um uns gleich darauf Halt suchend an die Griffe der Türen zu klammern, während der Hubschrauber mehrere Meter in die Tiefe stürzt. Als er sich wieder fängt, ist alles um uns herum in ein grelles orangefarbenes Licht getaucht. Obwohl ich es nicht sehen wollte, wende ich mich nun reflexartig zum Fenster um und blicke geradewegs in das Inferno. Dort, wo einmal die Legion war, leuchtet nun ein gigantischer Feuerball, der schwere Rauchfahnen in den Himmel entsendet. Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich habe das Gefühl, mein Herz bleibt stehen.

Neben mir knien Asha und Iris. Beide starren genauso entsetzt wie ich auf das schreckliche Schauspiel. Asha hat die Legion gehasst und trotzdem war sie genauso ihr Zuhause wie meines. Ich lege meine Hand auf ihre. Sofort schließt sie ihre Finger um meine. Ihre Worte waren hart, aber ehrlich. Vielleicht kennt sie mich besser als ich mich selbst. Denn es stimmt: Selbst wenn ich könnte, würde ich nicht tauschen. Die Zentrallegion ist der einzige Ort, an dem ich im Moment etwas ausrichten kann, und ich bin froh, dass ich diesen Kampf nicht allein ausfechten muss, sondern Asha und Iris an meiner Seite habe.

02. Finn

Finn blickt dem Hubschrauber hinterher, bis er am Horizont verschwindet. Eigentlich hat er dafür keine Zeit, aber diesen winzigen Moment des Abschiednehmens gönnt er sich. Obwohl er sich schrecklich wegen seines Verrats an Cleo fühlt, bereut er seinen Entschluss nicht. So weiß er zumindest, dass wenigstens sie in Sicherheit ist. Sein Tod wird sie treffen, aber er wird sie gleichzeitig dazu animieren, niemals aufzuhören, zu kämpfen. Wenn es jemand schafft, etwas zu verändern, dann sie. Seine Zeit in der Legion hat ihn in diesem Glauben Gewissheit verliehen. Er hat erlebt, wie sie mit den Menschen umgeht und sich für sie einsetzt. Auf ihre ganz eigene Art. Sie überzeugt sie mit Worten anstatt mit Fäusten und Gewalt.

Kaum dass der Hubschrauber aus seinem Sichtfeld verschwunden ist, lässt er sich von dem Chaos, das um ihn herrscht, mitziehen. Einige Menschen rennen panisch durcheinander und schreien, andere stehen nur apathisch da, unfähig, sich zu rühren. SO werden sie garantiert alle sterben. Vor allem die ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Sie sind zu sehr an die Führung durch andere gewöhnt, um selbstständig denken und entscheiden zu können. Der Schock, an der Oberfläche, außerhalb der Legion zu sein, ist für sie viel größer als eine drohende Explosion. Sie rechnen ohnehin mit ihrem Tod durch die radioaktiv verseuchte Luft. Was machen da schon ein paar Stunden oder Tage aus? Lieber ein schneller Tod als ein langer, qualvoller.

Es wäre leicht, sie sich selbst zu überlassen, doch das kann Finn nicht. Er weiß, dass Cleo alles getan hätte, um diese Menschen zu retten. Sie war eine von ihnen. Er ist es ihr schuldig, ihnen zu helfen. Hilfe suchend blickt er sich nach einem bekannten Gesicht in der Masse um. Ruby ist ihm nicht von der Seite gewichen. Sie hat die Laserwaffe erhoben, bereit, jeden zu erschießen, der ihnen zu nah kommt.

»Komm mit«, fordert Finn sie auf und steuert auf einen der Panzer zu. Rund um das riesige Gefährt stehen weitere Transportfahrzeuge, bewacht von den achtlos zurückgelassenen Kämpfereinheiten der Legion. Sie sind genauso überfordert mit der Situation wie alle anderen. Als Finn sich ihnen nähert, richten sie ihre Laser auf ihn.

»Bleib stehen oder wir schießen«, droht ihm einer der C-ler.

»Nehmt die Waffen runter. Wir sterben in einigen Minuten ohnehin, wenn wir nichts unternehmen«, versucht Finn ihnen zu erklären, doch es ist, als würde er gegen eine Wand reden. Sie scheinen ihm nicht im Geringsten zuzuhören.

»Er hat recht«, stimmt ihm Ruby zu. Sie trägt den blauen Anzug der Kämpfer. Obwohl sie eine Rebellin ist, ist sie gleichzeitig auch ein Mitglied der Kämpfereinheit. Sie hat nicht nur mit ihnen trainiert, sondern auch Seite an Seite mit ihnen gekämpft und die Legion verteidigt.

Ihre Worte verunsichern die Wachen. Sie blicken ratlos zu ihr und warten auf eine Erklärung, die sie das ganze Chaos verstehen lässt.

»Die Legionsführer sind alle geflüchtet«, sagt sie zu ihnen. »Sie haben uns einfach zurückgelassen. In wenigen Minuten wird die gesamte Legion in die Luft fliegen, und wir direkt mit, wenn wir nichts unternehmen.«

Die Kämpfer wirken nach wie vor unschlüssig, doch sie senken ihre Waffen und das reicht Finn als Zeichen ihres Einverständnisses. Er klettert auf den Panzer und formt seine Hände zu einem Trichter.

»Wir müssen uns auf die verfügbaren Transportfahrzeuge verteilen«, schreit er, so laut er kann. Niemand hört ihm zu. Alle rennen achtlos an ihm vorbei und haben nicht mehr als einen gehetzten Blick für ihn übrig.

Plötzlich wird ihm von unten ein Megafon gereicht. Er blickt in das Gesicht von Clyde. Neben ihm steht Zoe. »Damit geht es besser.«

Finn räuspert sich und versucht es erneut: »Bitte verteilt euch auf die vorhandenen Transportfahrzeuge.«

Einige der Vorbeieilenden bleiben stehen, doch sie wirken unschlüssig und machen keine Anstalten, seinen Worten Folge zu leisten.

»Wir müssen hier weg, sonst werden wir alle sterben«, versucht Finn zu erklären, doch bei seinen Worten bricht nur erneut das Chaos aus. Die Panik ist den Menschen ins Gesicht geschrieben.

Ruby stöhnt genervt auf. Mit einem Satz steht sie neben ihm auf dem Dach des Panzers. »So wird das nichts«, sagt sie schroff und nimmt ihm das Megafon aus der Hand. »Alle herhören, das ist ein Befehl! Jeder Bewohner der Legion hat sich sofort in eines der Transportfahrzeuge zu begeben. Ein Nichtbefolgen wird nicht geduldet!« Ihre Stimme ist kalt und autoritär. Sie gibt sich keine Mühe, etwas zu erklären oder zu bitten – sie befiehlt. Das ist die einzige Art von Sprache, die die ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone verstehen.

Es ist wie ein Wunder. Alle, die sie hören können, bleiben augenblicklich stehen und folgen ihre Aufforderung. Sogar die C-Einheit arrangiert ohne weitere Angaben die Verteilung auf die vorhandenen Fahrzeuge.

Ruby gibt Finn das Megafon zurück. »Merke dir eins im Umgang mit den Sizos: keine Bitten, sondern Befehle. Anders verstehen sie es nicht!«

Sie springt geschmeidig von dem Panzer und macht den Sizos, wie sie die Bewohner der Sicherheitszone nennt, Feuer unter dem Hintern. Es ärgert Finn zwar insgeheim, dass sie ihn wie einen dummen Schuljungen hat dastehen lassen, aber er vertreibt den Gedanken schleunigst aus seinem Kopf. Wichtig ist nur, dass sie hier so schnell wie möglich verschwinden.

Nach wenigen Sekunden sind die Transportfahrzeuge voll besetzt und Ruby gibt den Befehl zum Start. Mit Vollgas brettern sie in einer Kolonne in Richtung der Höhlen. Nicht alle haben einen Platz auf den Transportfahrzeugen gefunden und rennen deshalb in einer Staubwolke hinterher. Ihnen blieb keine Zeit, gerecht über die Verteilung zu debattieren. Es verlief nach einer ganz einfachen Regel: Wer zuerst kommt, erhält einen Platz.

Finn weiß nicht, wie viel Zeit ihnen noch bleibt, aber je weiter sie von der Legion entfernt sind, umso besser. Jede Sekunde zählt.

Sie haben die Höhlen noch nicht erreicht, da erschüttert ein Beben, begleitet von einem lauten Knall, die Erde und zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Selbst die schweren Panzer werden ein Stück durch die Luft katapultiert. Ein grelles Licht umhüllt sie, so gewaltig, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als die Augen zusammenzukneifen. Es ist, als würde die Erde stehen bleiben.

Sobald sie wieder auf dem Boden aufschlagen, scheint die Realität wie eine Welle über ihnen zusammenbrechen. Sie sind eingeschlossen von einem Flammenmeer, während Glas- und Stahlsplitter wie Meteoriten auf sie hinabregnen. Direkt neben ihnen stürzt ein gewaltiger Stahlmast in einen anderen Panzer. Er wird praktisch aufgespießt und kommt sofort zum Stehen.

»Gib Gas!«, fordert Finn die erstarrte Ruby auf, die am Steuer sitzt. Seine Worte reißen sie aus der Bewegungslosigkeit. Mit laut aufheulendem Motor jagen sie durch das Feuer. Obwohl der Panzer jegliche Geräusche von ihnen abschirmt, hat Finn das Gefühl, die Schreie und Qualen der verbrennenden Menschen in seinen Ohren zu hören.

Neben ihm sitzen Clyde, Zoe und vier weitere, ihm unbekannte Kämpfer der Legion. Er kann nur hoffen, dass Paul und die anderen Rebellen es auch geschafft haben.

Als sie die Höhlen erreichen, ist der Feuersturm vorüber. Stattdessen hängt ein grauer, fast pechschwarzer Nebel über ihnen. Asche fällt wie Regen vom Himmel. Niemand spricht ein Wort. Sie wissen nicht, wie viele der anderen überlebt haben. Doch solange die Luft von der grauen Rauchwolke erfüllt ist, ist es zu gefährlich, das Innere des Panzers zu verlassen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen. Denn der winzige Funke Hoffnung ist das Einzige, was ihnen geblieben ist.

03. Cleo

Der graue Rauch breitet sich wie eine Glocke über das ganze hinter uns liegende Gebiet aus. Während bei uns gerade erst die Sonne untergeht, scheint dort bereits finstere Nacht zu herrschen. Eine Nacht ohne Sterne und Mond. Eine Nacht ohne Hoffnung.

Ich will den Gedanken nicht zulassen, dennoch frage ich mich, ob es wohl eine winzige Möglichkeit gibt, dass jemand diesen entsetzlichen Feuersturm überlebt hat. Vielleicht konnten sie rechtzeitig irgendwo Zuflucht suchen. Vielleicht konnten sie in die Höhlen fliehen. Würde sie das retten?

Iris scheint meine Gedanken zu lesen, denn sie wendet sich in diesem Moment an A350. »Ist der Rauch giftig?«

A350 zuckt unbeteiligt mit den Schultern, was meine Wut auf sie erneut anfacht. »Wer weiß das schon. Die Legion hat an allen möglichen Waffen gearbeitet. Ich kann nicht ausschließen, dass darunter auch chemische oder biologische Waffen waren. Wenn es so ist, wären diese nun in der Luft.«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so ahnungslos ist, wie sie tut. Sie ist auch jetzt nicht ehrlich zu mir. »Du warst Legionsführerin! Warum weißt du nicht, was für Waffen in deiner Legion entwickelt wurden?«

»Du bist selbst Legionsführerin«, entgegnet sie mir. »Warum weißt du es nicht? Du musst verstehen, dass die westliche Legion nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen ist. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von der Zentrallegion getroffen.«

»Wenn es auch nur geringe Hoffnung gibt, dass jemand überlebt hat, könnte die Zentrallegion Suchtrupps losschicken«, wendet Iris hoffnungsvoll ein.

Asha schnaubt. »Mach dich doch nicht lächerlich! Die Zentrallegion ist froh über jeden Rebellen, der bei der Explosion draufgegangen ist. Wenn überhaupt, würden sie einen Suchtrupp losschicken, um die letzten Überlebenden endgültig auszulöschen.«

Obwohl mir ihre herablassende Art nicht behagt, muss ich Asha zustimmen. Am besten ist es wohl in der Tat, die Rebellen vor der Zentrallegion gar nicht erst zu erwähnen, deshalb wechsle ich schnell das Thema.

»Was weißt du über die Zentrallegion?«, frage ich A350, jedoch nicht, ohne meiner Stimme einen rein sachlichen und kalten Ton zu verleihen. Auf einer anderen Ebene kann ich mit ihr im Moment nicht kommunizieren. Aber wahrscheinlich ist ihr das nur recht, denn damit kann sie wenigstens umgehen.

»Die Zentrallegion ist größer als alles, was ihr euch vorstellen könnt. Die Menschen leben dort sowohl unter als auch über der Erde. Die gesamte Anlage befindet sich unter einer atmosphärischen Stromkuppel.«

Ich bemerke A350s Begeisterung sofort. Sie schwärmt regelrecht für die Zentrallegion.

»Was ist mit den Legionsführern?«

»Dort gibt es viel mehr als bei uns. Sie setzen sich sowohl aus Vertretern der einzelnen Legionen zusammen als auch aus eigenen Abgesandten. Wir und die anderen werden ebenfalls Teil der Führungsebene werden. Der Status des Legionsführers ist lebenslänglich.« Ich höre den Stolz in ihrer Stimme. Nach allem, was war, begreift sie immer noch nicht, dass die Klassifizierung eines Menschen völlig unbedeutend ist. »Die anderen Legionsführer der westlichen Legion sind wahrscheinlich schon eingetroffen.«

»Und was ist mit den Bewohnern der Sicherheitszone?«, hake ich nach. Ich mag einen weißen Anzug tragen, aber ich habe mich immer wie eine Helferin gefühlt.

A350 lächelt mich an. »Du wirst dich über diesen Fortschritt wohl am meisten freuen«, verkündet sie mir. »In der Zentrallegion leben die Menschen viel freier. Sie arbeiten über der Erde, schlafen jedoch weiterhin darunter. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Dort schlafen alle Menschen unter der Erde. Das Wohngebiet liegt praktisch unter der Stadt.«

Früher hätten mich ihre Worte beeindruckt. Heute weiß ich, dass es egal ist, ob ein Käfig aus Beton, Stahl, Glas oder Strom besteht. Es bleibt ein Gefängnis. Vielleicht haben die Menschen in der Zentrallegion mehr Freiheiten, dennoch bin ich mir ihrer Unterdrückung sicher.

»Schaut!«, ruft Iris plötzlich und klebt erneut mit ihrer Nase am Fenster. Neugierig krabbeln Asha und ich über den schwankenden Hubschrauberboden zu ihr. Auch A350 dreht sich in unsere Richtung.

Am Horizont erhebt sich ein hell erleuchteter Punkt. Mittlerweile ist es Nacht geworden, doch die Leuchtkraft dieser entfernten Kuppel ist um ein Vielfaches stärker als die der Sterne. Sie wirft ihr strahlendes Licht auf die gesamte Umgebung. Rund um die Kuppel erhebt sich eine unebene Landschaft voller Hügel, Berge und Schluchten. Ganz anders als die flache Ebene, die ich von der westlichen Legion gewohnt bin.

Langsam lassen sich in den Umrissen hochhausähnliche Gebäude erkennen. Sie ragen in den Himmel empor und werfen ihre dunklen Schatten wie Riesen auf die gesamte Umgebung hinter sich. Inmitten der gigantischen Gebäude thront ein Mast, der einen Leuchtstrahl aussendet, der die gesamte Stadt in sich einschließt, fast wie ein Leuchtturm.

Aus dem Cockpit ist ein Knistern des Funkgerätes zu hören. »Hier spricht die Zentrallegion. Geben Sie sich zu erkennen.«

A350 eilt sofort zu dem Piloten und reißt das Funkgerät an sich. »Westliche Legion. A350 und A518 sowie zwei Bewohner der Sicherheitszone sind an Bord. Ich bitte um Einlass.«

Es folgt ein kurzes Knacken, dann kommt auch schon die monotone Antwort: »Einlass gewährt.«

Während A350 persönlich in das Mikrofon spricht, handelt es sich bei der Stimme aus der Zentrallegion eindeutig um einen Computer.

Mittlerweile sind wir der Zentrallegion so nah, dass ich neben den Hochhäusern und dem Leuchtmast auch einzelne kleinere Bauten erkennen kann. Allesamt sind sie aus Glas und Stahl, so wie die ehemalige Kuppel der Legionsführer.

Als wir den Einlass gewährt bekommen, wird plötzlich ein blauer Film, der über allen Gebäuden liegt, sichtbar. Dieser fährt, angefangen bei dem Mast, langsam herunter, jedoch gerade so weit, dass wir mit dem Hubschrauber passieren können. Danach wird das Schutzschild wieder aktiviert.

Die Stadt ist so hell erleuchtet, dass das Licht beinahe in den Augen brennt. Kein Wunder, dass die Menschen hier unter der Erde schlafen. Bei dieser Helligkeit würden sie sonst kein Auge zubekommen.

Der Hubschrauber landet mit rotierenden Propellern auf einer runden Plattform. Mir fallen die weißen und blauen Anzüge auf, welche die Menschen, die uns erwarten, tragen – Legionsführer und Kämpfer.

Kaum dass der Hubschrauber gelandet ist, wird auch schon die Tür der Innenkabine aufgerissen und ein C-ler leuchtet mit seinem Laserstrahl bedrohlich in das Innere. Neben ihm steht ein B-ler, der genau wie der C-ler einen Helm trägt, der gerade einmal einen Blick auf seine Augen freigibt.

Zu ihnen gesellt sich ein Legionsführer, der ebenfalls einen Helm trägt. »Willkommen in der Zentrallegion«, gibt er beinahe mechanisch von sich. »Bevor ich euch Zutritt gewähren kann, müsst ihr in Quarantäne, um jede Verseuchung ausschließen zu können. Ich befehle euch, mir ohne jegliche Gegenwehr zu folgen.«

Selbst A350 wirkt geschockt. Mit so einem Empfang hätte nicht einmal sie gerechnet. Doch sie strafft ihre Schultern, hebt den Kopf und folgt dem Befehl. Asha ist die Nächste. Ich nehme Iris an die Hand, die Fennek fest an sich presst. Gemeinsam schließen wir uns ihnen an.

Die Laserwaffen von insgesamt zwölf C-lern sind auf uns gerichtet, als wären wir Schwerverbrecher. Gleichzeitig halten sich die fremden Legionsführer im Hintergrund und beobachten uns. Ihren Augen bleibt nichts verborgen. So auch nicht der Wüstenfuchs. Einer der Führer gibt dem Kampftrupp das Zeichen anzuhalten. Er gestikuliert wild und deutet immer wieder auf Iris. Da erst bemerkt der Leiter der Kämpfer den Grund für die Unterbrechung. Zielstrebig marschiert er auf uns zu, die Waffe erhoben. Iris ahnt bereits, was als Nächstes folgen wird, und presst das Tier verzweifelt an ihre Brust. Sie schüttelt den Kopf.

»Nein, nein, nein«, jammert sie, worauf auch Fennek zu winseln beginnt.

Der Kämpfer bleibt vor uns stehen. Sein roter Laserstrahl ruht auf dem Fuchs. Er streckt seine Hand aus. »Gib mir das Tier«, fordert er Iris auf.

»Nein!«, schreit diese. »Ich gehe nicht ohne Fennek. Wir gehören zusammen.«

Ich stelle mich schützend vor sie und verstecke sie hinter meinem Rücken. »Das Tier ist zahm«, erwidere ich, auch wenn ich mir wenig Hoffnungen mache, dass sich die Legionsführer erbarmen werden.

A350 eilt zu uns. Sie wirft einen geringschätzigen Blick auf den zitternden Wüstenfuchs. Dann überrascht sie mich jedoch, als sie sagt: »Ich übernehme die Verantwortung.«

Der Kämpfer blickt verunsichert von ihr zurück zu den Legionsführern der Zentrallegion. Sie tuscheln kurz miteinander, ohne dass ich verstehen könnte, was sie sagen. Dann geben sie Entwarnung und winken uns weiter. Ich kann kaum glauben, dass sie uns wirklich ein Tier mit hineinnehmen lassen. Iris auch nicht, denn sie lockert auch jetzt den Griff um den Körper von Fennek nicht. Fast, als rechne sie damit, dass alles nur ein Trick ist und man ihr jeden Moment ihren Freund entreißen wird.

Wir werden von dem Flugplatz direkt in ein Gebäude mit weißen Wänden geschleust. Es erinnert mich entfernt an die Krankenstation. In der Luft liegt der strenge Geruch von Desinfektionsmitteln.

Wir passieren mehrere Vakuumschleusen. Der Weg erscheint mir beinahe wie ein Irrgarten und ich bin mir sicher, dass ich hier niemals wieder allein rausfinden würde.

Nach geschätzten fünfzehn Minuten erreichen wir schließlich unser Ziel. Der Arzt im grünen Anzug öffnet die Tür eines großen Raums, in dem sich bereits die anderen Legionsführer der westlichen Legion befinden. Grob bugsieren sie uns ins Innere, bevor wortlos erneut die Tür hinter uns geschlossen wird. Der Einzige, der fehlt, ist A566. Ein Umstand, der mich erleichtert aufatmen lassen würde, wenn die Situation nicht auch ohne ihn schlimm genug wäre.

04. Finn

Als Finn die Augen aufschlägt, ist es noch früher Morgen. Er blickt aus den Fenstern des Panzers. Der Himmel ist nach wie vor unter einem grauen Schleier verborgen, durch den selbst die Sonne kaum dringt. Mittlerweile ist aber wenigstens die Umgebung zu erkennen. Sie haben direkt vor den Höhlen geparkt. Eigentlich müsste es sich anfühlen, wie nach Hause zu kommen, doch das tut es nicht. Die Höhlen sind verwüstet und die Menschen, die ihnen Leben eingehaucht haben, womöglich tot.

Ein Schlag auf die Windschutzscheibe lässt ihn zusammenzucken und Ruby am Steuer aus dem kurzen Schlaf hochfahren. Es ist Raymond. Neben ihm steht Sharon. Sie geben ihnen zu verstehen, das Fahrzeug nun zu verlassen.

Auch Zoe und die anderen sind von dem Schlag erwacht. Nacheinander klettern sie aus der Dachluke des Panzers.

Die Luft ist von einem so starken Rauchgestank erfüllt, dass sie kaum zu atmen wagen. Vielleicht bringt sie jeder Atemzug dem Tod ein Stückchen näher.

Auf allen Fahrzeugen liegt eine millimeterhohe Ascheschicht. Neben vier weiteren Panzern haben sich sechs Lkw, zwölf Jeeps sowie etwa zwanzig Wüstendrifts eingefunden, wobei neben den Wüstendrifts nur noch die Leichen der Fahrer liegen. Sie sind bereits in der Feuersbrunst gestorben.

Zwischen den Fahrzeugen tummeln sich etwa zweihundert Menschen. Es sind sowohl Rebellen als auch Bewohner der Legion, jedoch nur wenige in den braunen Anzügen der D-Klassifizierung. Sie hat der Schock am härtesten getroffen. Alles, woran sie ihr Leben lang geglaubt haben, hat sich als falsch herausgestellt. Sie waren es, die in dem Flammensturm als Erste starben. Die Legion trägt die größte Schuld an ihrem Tod. Durch ihre Lügen waren die Menschen der wirklichen Welt nicht gewachsen – unfähig, allein auch nur zu atmen. Sie hätten Zeit gebraucht, um sich langsam an alles zu gewöhnen. So wie Cleo damals Zeit gebraucht hat. Aber diese Zeit hatten sie nicht.

Finn lässt seinen Blick durch die Reihen schweifen und atmet erleichtert auf, als er seine Freunde unter ihnen findet. Gemeinsam mit Zoe stürmt er auf Paul, Florance, Pep, Grace, Emily und seine Mutter Maggie zu. Es ist zwei Jahre her, dass Zoe sie alle gesehen hat. Maggie hielten sie für tot. Grace und sie liegen sich weinend in den Armen. Bevor sie auseinandergerissen wurden, waren sie Vertraute und beste Freundinnen.

»Du bist ja eine richtige Dame geworden«, zieht Paul Zoe auf und wirft ihr einen anerkennenden Blick zu. Florance verpasst ihm dafür einen spielerischen Schlag auf den Hinterkopf und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. Ihr breites Lächeln verrät sie jedoch. Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Für Paul gab es immer nur sie.

Zu spät bemerkt Finn die Reaktion seiner Schwester. Anstatt sich über das Kompliment zu freuen, erstarrt Zoe förmlich. Geistesabwesend legt sie eine Hand auf ihren Bauch. Natürlich ist noch nichts zu spüren, aber es reicht, dass sie weiß, was in ihr heranwächst. Ein Kind, das sie weder wollte, noch je lieben können wird. Es ist wie eine Narbe, die die Legion ihr zugefügt hat.

Finn bemerkt Zoes Unbehagen und legt tröstend den Arm um ihre Schultern. Er zieht sie an sich und empfindet tiefe Schuldgefühle, weil er nicht verhindern konnte, was die Legion ihr angetan hat. Wieder nicht. Er hat beim ersten Mal versagt, als sie sie mit sich nahmen. Und nun war er machtlos, als sie ihr den Feind förmlich in den eigenen Körper gepflanzt haben.

In dem Moment ertönt Raymonds Stimme durch das Megafon. Er und Sharon sind auf die Hügel geklettert, welche die Höhlen beherbergen, um so für alle gut sichtbar zu sein.

»Wir haben es geschafft. Wir haben überlebt.« Niemand applaudiert. Es gibt keinen Grund zur Freude. »Aber viele von uns sind in den Flammen gestorben.«

Es legt sich ein betretenes Schweigen über die gemischte Gruppe. Nicht nur die Rebellen, sondern auch die ehemaligen Bewohner der Legion hören Raymond zu. Sie haben genauso Menschen verloren wie die Rebellen, wenn nicht sogar mehr. Sie haben alles verloren, was ihr Leben ausgemacht hat.

»Wir sind als Gegner aufeinandergetroffen, aber nun vereint uns dasselbe Schicksal. Wir wurden verlassen. Wir wurden dem sicheren Tod überlassen. Niemand hat sich um unser Leben geschert. Aber wir waren stärker. Wir haben gekämpft und gewonnen. Doch das ist erst der Anfang.«

Sharon übernimmt nun das Wort. »Es ist an der Zeit, zu kämpfen. Wir alle sind Menschen. Nicht besser oder schlechter als die Legionsführer, und trotzdem sind sie geflüchtet, während wir sterben sollten. Sie haben ihr Leben über unseres gestellt. Das haben wir nicht verdient. Keiner von uns!« Sie blickt nun vor allem in die Gesichter der Sizos. »Oder seht ihr das anders?« Niemand rührt sich. »Die Legionsführer werden nicht zurückkommen, um uns zu retten. Wenn überhaupt, kommen sie zurück, um uns zu töten. Doch das werden wir uns nicht gefallen lassen. Seid ihr bereit, mit uns zu kämpfen? Seite an Seite für ein besseres Leben? Für ein Leben frei von Unterdrückung und Lügen? Ein Leben in Freiheit?«

Ihre Stimme hallt von den Felsen wider. Sharon bräuchte kein Megafon, um gehört zu werden. Ihre Stimme ist laut, stark und voller Hass. Ihre Worte wirken ansteckend, denn plötzlich erheben sich tatsächlich einige Stimmen unter den ehemaligen Legionsbewohnern. »Ein Leben in Freiheit«, wiederholen sie, wenn auch nur leise und verhalten. Als könnten sie die Bedeutung noch nicht ganz begreifen.

Finn und die anderen Rebellen nehmen diesen Kampfruf direkt auf und wiederholen ihn aus vollem Hals: »Ein Leben in Freiheit!«

Bald rufen ihn alle aus. Selbst die Menschen der ehemaligen D-Klassifizierung passen sich der Menge an. »Ein Leben in Freiheit!«

Zwar wird es sicher noch etwas dauern, bis sie wirklich verstehen, was sie rufen, aber das Wichtige ist, sie erst einmal auf ihrer Seite zu haben. Wenn sie erst mal die Freiheit geschmeckt haben, werden sie ihr Leben dafür riskieren, sie nicht mehr zu verlieren. Genauso wie Finn. Er wird kämpfen. Kämpfen für seine Familie, für sein Leben und vor allem für Cleo. Er hat überlebt und wird alles dafür tun, sie wiederzusehen.

Finn steht in den Trümmern seines ehemaligen Zuhauses, seine Schwester und Clyde neben sich. Den Angriff der Legion hat nicht ein Stuhl überlebt. Sie haben alles kurz und klein geschlagen. Selbst den Inhalt der Schränke haben sie ausgeräumt. Die ganze Küche liegt unter einer weißen Mehlschicht.

»Der Nächste, bitte!«, flötet Florance aus einem der benachbarten Höhlenräume. Finn kann nicht verstehen, wie sie immer noch so fröhlich und unbeschwert sein kann, nachdem sie fast alle gestorben wären. Das ist auch der Grund, warum er ihr lieber aus dem Weg geht. Doch jetzt führt nichts an ihr vorbei, denn Florance hat die Verteilung der Kleidung übernommen. Jeder Sizo, der es möchte, darf seinen Legionsanzug gegen Kleidung der Rebellen tauschen, solange noch welche da ist. Viele haben das Angebot überraschenderweise schon angenommen. Es hat etwas von einer Schlange, die ihre alte Haut abstreift.

Auch Finn und Zoe sehnen sich danach, das letzte Überbleibsel der Legion endlich von ihren Körpern zu bekommen. Selbst Clyde ist bereit, seinen blauen Anzug gegen weniger auffällige Kleidung einzutauschen. Er und Zoe sind während ihrer gemeinsamen Zeit in der Legion zu einer Einheit zusammengewachsen. Sobald Clyde nicht in Zoes Sichtweite ist, wird sie unruhig und schaut sich nach ihm um. Vielleicht fühlt sie sich für ihn verantwortlich oder sie hat sich so sehr an seinen Schutz gewöhnt, dass sie sich ohne ihn verloren fühlt.

Finn ist Clyde sehr dankbar. Er hat sich um seine Schwester gekümmert, als er es nicht konnte. Trotzdem empfindet er auch etwas Eifersucht, wenn er daran denkt, dass seine kleine Schwester nun in den Armen eines anderen Schutz sucht. Gleichzeitig führt ihm ihre Vertrautheit vor Augen, was er aufgegeben hat, als er die Türen des Hubschraubers hinter Cleo geschlossen hat. Sie könnten nun beide hier sein. Sie könnten gemeinsam gegen die Legion kämpfen, so wie sie es immer wollten. Stattdessen ist Cleo nun in der Zentrallegion auf sich allein gestellt. Sie wird zurechtkommen, darüber sorgt sich Finn nicht. Dennoch vermisst er sie schmerzlich. Er vermisst ihre warmen Augen, ihre aufrichtigen Worte und ihre sanften Berührungen. Er vermisst es, mit ihr zu diskutieren und sich eines Besseren belehren zu lassen. Sie hat ihn verändert. Seine ganze Ansicht. Er ist nicht mehr derselbe.

Finn tritt als Nächster in das Bekleidungszimmer. Florance erstrahlt, als sie ihn erblickt.

»Lass dich noch mal drücken«, ruft sie aus und umarmt ihn zum gefühlt zwanzigsten Mal an diesem Tag. Er erträgt ihre Liebkosung, ohne sie zu erwidern. Sie braucht die Nähe anderer Menschen, um sich lebendig zu fühlen. »Also, was darf es sein? Wie wäre es mit einem blauen Oberteil? Das würde deine Augen betonen«, überlegt sie laut, während sie die Kleiderkisten durchwühlt. Für Finn ist seine Kleidung völlig bedeutungslos. Sie muss ihn schützen. Mehr nicht

»Ist mir egal«, murmelt er.

Florance geht darauf gar nicht ein, sondern hält ihm ein marineblaues Shirt vor die Nase. »Ja, das passt.« Danach reicht sie ihm eine schwarze Cargohose mit einer passenden schwarzen Weste. Die Stiefel von der Legion behält er. Sie haben nicht genug Schuhe für alle, zudem sind es gute Stiefel.

»Was du trägst, das bist du«, zwinkert sie ihm zu. »Wir müssen uns nicht nur innerlich für den Kampf gegen die Legion wappnen, sondern auch äußerlich.« Es ist Florance’ Art, zu kämpfen. Sie kann keine Waffen schwingen, dennoch trägt sie etwas zur Gemeinschaft bei: Liebe. Sie behandelt alle Menschen gleich. In ihrer Gegenwart hat man stets das Gefühl, einen Freund an der Seite zu haben. Sie vermag Brücken zu schlagen, wo es unmöglich scheint.

Finn muss an die Zeit zurückdenken, in der Cleo neu bei ihnen war. Florance hat sich damals um sie gekümmert und wurde zu Cleos erster Freundin. Ohne sie hätte Cleo es sicher viel schwerer gehabt, was sie nicht zuletzt ihm zu verdanken hat. Er hat keine Chance ausgelassen, sie zu demütigen. Heute tut ihm die Erinnerung daran weh. Er war damals zu feige, um irgendein Gefühl außer Hass für sie zuzulassen.

Er tritt aus den Höhlen. Außerhalb sieht es auch nicht besser aus als im Inneren. Ihre Felder sind verwüstet, alle Pflanzen niedergetrampelt und unbrauchbar. Er entdeckt seine Mutter, Grace und Emily in einer Gruppe von grün gekleideten Sizos. Es müssen Doktoren oder Forscher sein. Finn steuert auf sie zu.

»Es würde Wochen dauern«, sagt gerade einer von ihnen, als Finn sich dazustellt.

Grace seufzt, als sie ihn sieht »Die Pflanzen sind alle kaputt. Wir konnten noch ein paar Möhren retten, aber das reicht nicht einmal, um alle für einen Abend satt zu bekommen.«

»Und was ist mit den Konserven?«, wendet Finn ein. Sie besaßen ein scheinbar unendliches Lager davon. Als seine Eltern die Legion verlassen haben, haben sie alles mitgenommen, was von der alten Erde noch übrig war.

»Wir waren früher zwanzig Personen, dann kamen die anderen Rebellen mit leeren Taschen und knurrenden Mägen zu uns.« Grace sagt es ohne jeden Vorwurf. Es ist eine Tatsache. »Jetzt sind wir zweihundert. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es mit den Konserven über die nächsten Tage, aber auf keinen Fall länger.«

»Wir könnten jagen«, schlägt Finn vor.

Maggie nickt. »Die Idee hatte Paul auch. Hoffen wir, dass er Erfolg hat.«

Am Abend haben sie ein großes Lagerfeuer errichtet, um das sich alle drängen. In den Nächten ist es kühl und sie haben bei Weitem nicht genug Decken für alle. Deshalb haben sie die wenigen, die es gibt, unter den Kindern aufgeteilt. Florance ist alle Kleider losgeworden. Für manche hat es nicht mal mehr für ein komplettes Outfit gereicht, sie mussten sich mit einem Schal oder einer Mütze zufriedengeben.

Trotzdem ist Florance die Einzige, deren Tag man als halbwegs erfolgreich bezeichnen könnte. Paul hat mit einer Truppe aus Rebellen und Kämpfern der Legion den gesamten Wald durchkämmt, ohne auch nur ein Tier zu finden. Sie müssen die Gefahr gewittert haben und geflohen sein.

Es gibt für niemanden mehr als eine Kelle voll Bohnen. Die Sizos betrachten ihr Essen sowohl misstrauisch als auch andächtig. Für viele ist es die erste richtige Mahlzeit in ihrem Leben.

Finn selbst hat sein Essen an eines der Kinder aus der Legion verschenkt. Sie erinnern ihn alle an Iris. Finn weiß, dass Cleo genauso gehandelt hätte. Die Anwesenheit der Sizos macht ihre Abwesenheit nur umso deutlicher. Er vermisst ihren unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Sie hat ihm geholfen, Licht in der Dunkelheit zu sehen.

Ruby lässt sich neben ihm nieder. In den Händen hält sie ihre Nahrungsration. Sie hat natürlich nicht geteilt und auch nicht ihre Kleidung gewechselt. Sie trägt nach wie vor den blauen Anzug der Legion. Finn kann sich nicht einmal mehr an die Zeit erinnern, in der sie etwas anderes als das getragen hat.

»Warum hast du dein Essen verschenkt?«, fragt sie mit vollem Mund.

»Die Kinder brauchen es dringender als ich.«

»Blödsinn!«, schnaubt sie kauend. »Können die Kinder kämpfen? Wenn jemand seine Kräfte braucht, dann du!«

Finn zuckt mit den Schultern. »Zu spät.«

Ruby hält ihm ihre Schale hin. »Hier!« Sie hat etwa die Hälfte gegessen.

Finn starrt sie überrascht an. Damit hätte er nicht gerechnet, aber er nimmt ihr Angebot an und schaufelt gierig die Bohnen in seinen Mund. Erst jetzt merkt er, wie groß sein Hunger war.

»Warum?«, nuschelt er mit vollem Mund.

Ruby stupst ihn mit der Schulter an. »Ich kann doch nicht zulassen, dass du verhungerst.«

Finn schluckt den letzten Bissen hinunter. »Verhungern wir nicht früher oder später ohnehin?«

»Darüber wollte ich mit dir reden«, sagt sie, wobei ihre Augen ihm herausfordernd entgegenblitzen. »Wir sollten noch einmal zurück zur Legion gehen.«

Finn hat nicht das geringste Interesse, über verkohlte Leichen zu steigen. »Wozu?«

»Vielleicht finden wir etwas Nützliches. Waffen, Medikamente oder Nahrungseinheiten.«

»Ja, vielleicht«, gibt Finn zu. »Hast du schon mit den anderen darüber gesprochen?«

Sie beugt sich verschwörerisch zu ihm vor. »Nein, genau darum geht es ja. Ich halte es nicht für schlau, die Sizos einzuweihen.«

»Warum?«, fragt Finn und runzelt verwirrt die Stirn. Neben Ruby hat er immer das Gefühl, völlig unwissend zu sein. Sie scheint ihm immer einen Schritt voraus zu sein.

»Stell dir vor, wir finden tatsächlich Waffen …« Sie legt eine bedeutungsschwere Pause ein. Doch Finn versteht nach wie vor nicht, worauf sie hinauswill. »Waffen bedeuten Macht«, erläutert Ruby. »Es reicht, dass die Sizos ihre Laserwaffen haben. Wir müssen sicherstellen, dass wir diejenigen sind, die das Sagen haben.«

Finn versteht ihre Bedenken, dennoch ist ihm unwohl bei dem Gedanken, allein zurück zur Legion zu gehen. »Wir stehen doch jetzt auf einer Seite …«

Ruby fällt ihm sofort ins Wort: »Weil sie keine andere Wahl haben. Aber glaubst du, den führenden Legionsmitgliedern gefällt es, jetzt nach unserer Pfeife zu tanzen? Wir sind doch in ihren Augen nur ungebildete Rebellen. Wenn sie die Chance hätten, würden sie sofort selbst das Zepter in die Hand nehmen …«

»Um was zu tun?«, unterbricht Finn sie. »Sie sind doch genauso verloren wie wir. Niemand weiß, wie es weitergehen soll, weder sie noch wir.«

»Genau … sie oder wir. Das Essen reicht nicht für alle.«

Finn schüttelt abwehrend den Kopf. »Ich werde niemanden verhungern lassen.«

»Du vielleicht nicht, sie schon.«

Finn zieht sich von ihr zurück. Es sind harte Zeiten, aber nicht so harte, dass er dabei zusehen wird, wie andere Menschen leiden. Früher hätte er nicht anders als Ruby gedacht. Da hätte er gesagt: Es sind doch nur Sizos, besser sie als wir. Aber diese Zeiten sind vorbei und er ist froh darüber.

»Nein.«

Ruby kneift verärgert die Augen zusammen. »Du willst mir nicht helfen?«

Finn blickt zu Sharon, die mit ihren Leuten abseits der Sizos sitzt, als verabscheue sie jeden Kontakt mit ihnen.

Er nickt in ihre Richtung. »Versuch es doch mal bei ihr, da hast du bessere Chancen.«

Ruby blickt ihn einen Moment lang an. Er kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Er ist sich zwar sicher, dass sie wütend ist, aber er glaubt, auch eine gewisse Kränkung darin zu lesen. Doch ehe er weiter darüber nachdenken könnte, setzt Ruby wieder ihre harte Maske auf und erhebt sich kühl. »Wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo du mich findest.« Danach steuert sie tatsächlich auf Sharon zu. Vielleicht war es ein Fehler, Ruby zu ihr zu schicken.

Finn lässt seinen Blick über die Menge wandern. Es haben sich verschiedene Gruppen gebildet. Sharon sitzt mit ihren Rebellen in der einen Ecke, während sich etwa zwei Dutzend ehemalige Kämpfer der Legion in ihren blauen Anzügen in der anderen drängen. Abseits vom Feuer kauern ehemalige D-Klassifizierte. Sie scheinen immer noch vor Angst gelähmt zu sein.

Finn wendet seinen Blick bereits ab, doch etwas lässt ihn innehalten. Er schaut genauer hin und erkennt eines der Gesichter. Der Anzug der betreffenden Person wirkt braun wie die der anderen, doch jetzt bemerkt er, dass sich unter der Dreckschicht weißer Stoff verbirgt. Der Mann scheint keine Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln zu haben, denn Speichel tropft ihm von den feuchten Lippen und seine Augen starren abwesend in den Himmel. Ohne seine Arroganz und den kühlen Glanz in seinen Augen ist er kaum zu erkennen. Finn ist sich dennoch sicher, dass dort unter den ganzen verängstigten Sizos der ehemalige Legionsführer A566 sitzt.

Heiße Wut flammt in seinem Inneren auf. Dieser Mann ist das Abscheulichste, was die Legion je hervorgebracht hat. Er hat nicht nur beinahe seine Schwester und Cleo vergewaltigt, sondern Asha das Leben zur Hölle auf Erden gemacht. Zudem ist er an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Er trägt keinen Funken Mitgefühl in sich.

Finn kann sich nicht länger zurückhalten und rast wutentbrannt auf A566 zu. Als er ihn an seinem Kragen in die Luft reißt, schreien die anderen Sizos panisch auf und rücken von ihm ab.

»Du widerlicher Mistkerl!«, schreit Finn A566 an und schüttelt ihn heftig. A566s Augen treten aus ihren Höhlen, während er panisch zu röcheln beginnt, offenbar unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.

Starke Hände legen sich um Finns Oberarme und reißen ihn von dem wehrlosen A566 los. Es ist Paul. Er packt Finn an beiden Schultern und zwingt ihn so, ihn anzusehen, während A566 wie eine Puppe zu Boden sackt.

»Mann, was ist in dich gefahren?«

»Dieser Abschaum ist ein Legionsführer und dazu der schlimmste von allen«, schreit Finn wütend und versucht sich weiterhin aus Pauls starkem Griff zu befreien. Inzwischen sind auch die anderen Rebellen herbeigeeilt, um zu sehen, was die Ursache für die Aufregung ist.

Zoes Gesicht ist beim Anblick von A566 kreidebleich geworden. Ihre Knie zittern und sie krallt sich Halt suchend an den Arm von Clyde. Auch Pep und Florance starren auf den sabbernden und keuchenden A566, der nicht fähig zu sein scheint, auf eigenen Beinen zu stehen. Ihre Blicke sind skeptisch.

»Der?«, zweifelt Pep. »Ich glaube nicht, dass von ihm noch irgendeine Gefahr ausgeht.«

»Das ist doch alles nur eine Masche. Er spielt uns etwas vor!« Finn ist außer sich. Das Wiedersehen mit dem Legionsführer wirbelt all die Erinnerungen und das Gefühl der Machtlosigkeit wieder auf. Er konnte weder seiner Schwester noch Cleo oder der armen Asha helfen. Vor allem Asha musste ein ganzes Jahr lang unter der Folter von A566 leiden, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hat.

»Was hat er getan?«, will Paul wissen und blickt dabei fragend zwischen Zoe und Finn hin und her.

Finn will bereits zum Sprechen ansetzen, doch da unterbricht Zoe ihn mit fester Stimme. »Nicht! Ich sollte es ihnen sagen.«

Die anderen schauen neugierig zu ihr. Inzwischen sind auch Raymond, Sharon und andere Rebellen dazugekommen. Die anderen Sizos sind ängstlich von A566 abgerückt, sodass er allein in dem Kreis der Rebellen sitzt. Er wimmert wie ein Kleinkind.

»Er ist ein Vergewaltiger. Fast hätte er es auch bei mir geschafft.« Sie blickt dankbar zu Clyde auf. »Wenn du nicht gewesen wärst …« Tränen steigen in ihren Augen auf, die sie wütend wegblinzelt. Clyde senkt nur bescheiden den Kopf und streichelt Zoe tröstend über den Arm, während Maggie die Hand ihrer Tochter ergreift. Nicht einmal sie wusste etwas davon, was Zoe beinahe zugestoßen wäre. Es schürt ihren Hass auf die Legion. Sie haben ihr den Mann und ihren Kindern den Vater geraubt sowie ein Jahr ihres Lebens. Ein Jahr, in dem alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, dachten, dass sie tot sei.

Bei Zoes Worten erbleicht selbst Florance, die sonst für jeden und alles eine Entschuldigung parat hat.

»Wir könnten an ihm ein Exempel statuieren«, schlägt Sharon vor, wobei ihre Augen im Schein des Feuers gefährlich funkeln. »Für Diebstahl wurde den Menschen früher die Hand abgeschlagen, vielleicht sollten wir ihm für seine Verbrechen einen anderen Körperteil nehmen.« Ein gehässiges Grinsen bildet sich auf ihren Lippen, während sie den Blick an A566 auf und ab gleiten lässt, als könne sie es kaum erwarten, das Urteil selbst zu vollstrecken.

»Jetzt aber mal langsam!«, ruft Paul erschrocken aus und hebt beschwichtigend seine Hände. »Wir sind doch keine Barbaren!«

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, erwidert Sharon schulterzuckend.

»Er kann ja nicht einmal sprechen«, wendet Paul ein und blickt fast mitleidig zu dem heulenden A566. »Hast du irgendetwas dazu zu sagen?«

A566 merkt nicht einmal, dass er angesprochen wurde, sondern wiegt sich sabbernd und schluchzend vor und zurück. Es ist ein Wunder, dass er die Explosion überlebt hat. Er ist nur noch ein Schatten seines alten Selbst – ein Wrack. In dieser Verfassung kann er niemandem etwas tun.

»Das ist alles nur Show«, ereifert sich Finn aufgebracht und spuckt direkt vor A566s Füße.

»Was ist mit ihm passiert?«, will nun Pep wissen.

»Er musste gegen Asha in den Paarungskämpfen antreten«, erklärt Zoe, wobei ein triumphierender Glanz in ihre Augen tritt. »Sie hat die Gelegenheit ergriffen und sich an ihm für alles gerächt, was er ihr angetan hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde er jetzt nicht mehr atmen.«

Paul betrachtet den ehemaligen Legionsführer mit Skepsis. »Er wirkt auf mich nicht so, als ob er irgendetwas von dem, was wir sagen, auch nur ansatzweise verstehen würde«, sagt er und blickt in die Runde. »Wir können doch niemanden bestrafen, der nicht einmal weiß, wer er ist.«

Florance fasst sich wieder und stellt sich neben ihren Freund. »Das sehe ich auch so.«

»Was sagst du?«, will Sharon wissen und wendet sich an Zoe. »Du bist diejenige, die er verletzt hat. Du solltest deshalb auch über sein Schicksal entscheiden.«

Zoe blickt mit Abscheu auf A566 hinunter. »Ich denke, seine Hilflosigkeit ist eine größere Strafe, als es der Tod sein könnte.« Mehr hat sie dazu nicht zu sagen. Sie kehrt den anderen den Rücken zu und verlässt das Gespräch, dicht gefolgt von Clyde und ihrer Mutter.

»Dann wäre das also geklärt«, meint Sharon etwas enttäuscht und räumt ebenfalls das Feld.

Finn kann nicht glauben, dass A566 so leicht davonkommt. Er glaubt nicht daran, dass dieser so hilflos ist, wie er sich gibt. Wie sollte ihm sonst die Flucht aus der Legion gelungen sein? »Das kann doch nicht euer Ernst sein?«, ruft er frustriert aus.

Nur Paul steht noch neben ihm. »Komm schon, Mann, der pisst sich vermutlich selbst ein.«

Finn ignoriert Paul und wendet sich erneut A566 zu. Er geht bedrohlich auf ihn zu, baut sich vor ihm auf und deutet ihm mit dem Zeigefinger direkt auf die Stirn, als wolle er ihn erschießen. »Ich behalte dich im Auge, und wenn ich merke, dass das alles nur eines deiner miesen Spielchen ist, bist du dran!«

A566 zittert am ganzen Leib und kreischt wie ein in die Enge getriebenes Tier. Unter seinem Körper bildet sich eine dunkle Pfütze und ein strenger Geruch steigt zu Paul und Finn auf.

Paul reißt Finn zurück. »Verdammt, Finn! Ich habe es dir doch gesagt. Der ist für niemanden mehr eine Gefahr, außer für sich selbst.«

Finn blickt missmutig zu A566, der weinend in seinem eigenen Urin sitzt. Das gibt ihm zu denken. Selbst A566 würde nicht so tief sinken, sich vor ihm und allen anderen in die Hose zu machen. Oder?

05. Cleo

A233 läuft uns als Einzige der ehemaligen Anführer der westlichen Legion erleichtert entgegen. »Endlich seid ihr da! Wir haben uns schon Sorgen gemacht«, behauptet sie.

Das bezweifle ich stark, dennoch nicke ich ihr zu. A233 war immer fair zu mir, es gibt keinen Grund, sie zu bestrafen. Sie kann für die Explosion der Legion genauso wenig wie irgendein anderer der Anwesenden. Ihr einziger Fehler war es, nie das Gespräch mit den Rebellen gesucht und sie stattdessen verstoßen zu haben. Vielleicht hätte sie sogar ihren Tod in Kauf genommen, aber niemals hätte sie dafür alle Bewohner der Sicherheitszone geopfert. Ich hatte bei ihr immer das Gefühl, dass sie mich in meinen Versuchen, das Leben der Menschen zu verbessern, unterstützen wollte.

»Wie lange seid ihr schon da?«, übernimmt A350 das Gespräch.

»Seit etwa zwei Stunden, aber wir wissen auch nicht mehr als ihr«, antwortet A233. »Niemand gibt uns Auskunft.« Es muss für sie eine ungewohnte Situation sein, nicht länger an erster Stelle der Befehlskette zu stehen.

»Wir können ihnen nicht verübeln, dass sie uns erst untersuchen wollen, bevor sie uns frei durch die Gänge laufen lassen. Es ist wichtig, dass wir zuerst dekontaminiert werden. Im Falle unseres Todes würden unsere Leichen beim Zerfall Radioaktivität freisetzen«, verteidigt A350 das Verfahren der Zentrallegion.

Ihre Worte lassen erneut Zorn in mir auflodern. Ich habe mein ganzes Leben lang die Lügen der Legion geglaubt und es war ein Schock, die Wahrheit herauszufinden. Ich fühle mich so vieler Chancen beraubt. »Welche Radioaktivität?«, rufe ich aufgebracht aus. »Wir wissen doch alle, dass die Verstrahlung bereits seit Jahren nicht mehr im gefährlichen Bereich liegt.«

»Das stimmt so nicht«, widerspricht mir A233. »Niemand kann die Spätfolgen beurteilen.«

»Wen willst du damit überzeugen? Dich selbst?«, verhöhne ich sie abfällig. Ich weiß nicht, woher ich den Mut dazu nehme. Ich war nie ein Mensch, der leichtfertig über andere geurteilt hat, sondern stets bemüht, mir alle Ansichten anzuhören. Finns Tod stellt jedoch alles, was ich bisher getan habe, infrage. Wäre alles anders verlaufen, wenn ich mich anders verhalten hätte? Was, wenn ich für die Rebellen gearbeitet hätte, wie ich es ihnen versprochen habe? Was, wenn ich nicht versucht hätte, eine friedliche Lösung zu finden? Was, wenn ich mich für eine Seite entschieden hätte, anstatt zu versuchen, mich zu zerreißen?

Würde Finn dann noch leben?

A233 wirkt empört. Sie ist es nicht gewohnt, dass man so mit ihr spricht. In der westlichen Legion war sie ranghöchste Legionsführerin und konnte sich somit sicher sein, keine Widerworte zu erhalten. Aber hier zählt sie nicht mehr als irgendein anderer Legionsführer. Das scheint sie selbst auch zu wissen, denn sie verkneift sich eine Antwort. Vielleicht gehen ihr auch nur langsam die Argumente aus. Sie zieht sich mit A350 in eine Ecke des Raums zurück, in dem die restlichen Legionsführer auf Sesseln und Sofas wartend Platz genommen haben.

Asha, Iris und ich halten uns abseits von den anderen und lassen uns erschöpft gegen die Wand sinken. Iris deutet auf meine Hand. »Es ist gut, dass wir untersucht werden. Jemand sollte sich deine Verletzung ansehen.«

Der Verband ist von Blut und Schmutz durchweicht, doch ich zucke nur mit den Schultern. Der Verlust meines kleinen Fingers ist mir egal. Ich würde alle Finger beider Hände dafür geben, um die Explosion ungeschehen machen zu können.

Iris streichelt dem Wüstenfuchs besorgt über den Kopf und beginnt erneut ein Gespräch. »Denkst du, sie werden mir Fennek wegnehmen? Bei uns in der Legion waren Haustiere nie erlaubt.«

Ich blicke mitleidig zu ihr und streichle dem zahmen Tier ebenfalls über den Kopf. »Sie können es ja versuchen, aber dafür müssen sie erst an mir vorbei.«

Asha streckt ebenfalls ihre Hand nach Fennek aus. »Und an mir.« Sie lächelt Iris an.

Auch wenn die Situation noch so schrecklich ist, dürfen wir nicht vergessen, dass Iris noch ein halbes Kind ist. Für sie muss alles noch viel angsteinflößender sein als für uns.

»Wir bleiben doch jetzt zusammen, oder?«, fragt sie ängstlich und blickt von Asha zu mir. Ich nicke. »Dieses Mal wirklich?«, hakt sie zweifelnd nach. Ich weiß nicht, ob sie es mir je übelgenommen hat, dass ich ohne sie zurück in die Legion gegangen bin. Aber es steht zumindest nun nicht mehr zwischen uns.

»Ich verspreche es«, sage ich ihr zu und meine es dieses Mal auch so. Ich drücke ihre Hand.

Iris schüttelt jedoch betrübt den Kopf.

- Ende der Buchvorschau -

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ISBN: 978-3-7393-9320-9