Die Verlorenen von Greyswick - Anita Frank - E-Book

Die Verlorenen von Greyswick E-Book

Anita Frank

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Beschreibung

Manche Häuser finden keinen Frieden. England, 1917. Noch erschüttert vom Tod ihres Verlobten nimmt Stella das Angebot ihrer schwangeren Schwester Madeleine an, gemeinsam in deren imposantem Landhaus Greyswick zu wohnen. Als Stella dort ankommt, findet sie ein Haus vor, das von einer unerklärlichen Angst erfüllt ist. Und bald häufen sich unheimliche Vorfälle: Nachts hört man Kinder weinen und die Treppen auf und ab laufen. Jedoch leben in Greyswick keine Kinder. Mit Hilfe ihrer »übersinnlich begabten« Zofe beginnt Stella die tragische Geschichte des alten Hauses zu erkunden. Doch das Flüstern der Toten warnt sie vor den dunklen und schrecklichen Geheimnissen von Greyswick … Sunday Mirror: »Ein brillantes Gothic-Abenteuer – und der perfekte Winter-Pageturner.« Woman & Home: »Wenn Ihnen The Woman in Black gefallen hat, werden Sie dieses absolut packende und atmosphärische Buch lieben.«  Samantha King: »Eine fesselnde Geistergeschichte mit einem grausamen Familiengeheimnis im Mittelpunkt.«

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Seitenzahl: 703

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Englischen von Susanne Picard

Impressum

Die englische Originalausgabe The Lost Ones

erschien 2019 im Verlag HQ, ein Imprint von HarperCollinsPublishers Ltd.

Copyright © 2019 by Anita Frank

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: Iguads / 99designs

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-246-9

www.Festa-Verlag.de

Für Rebecca

1

Sonntag, 6. Mai 1917

Das Messing der Plakette war so blank poliert, dass es beinahe wie brüniertes Gold glänzte. Sie selbst prangte mitten auf der Wand des Chorgestühls und war somit eine neue, wenn auch unwillkommene Ergänzung der Dorfkirche. Die für unsere Familie reservierten Kirchenbänke befanden sich genau gegenüber der Gedenktafel, und statt mir den Nacken zu verrenken, um den Pastor, der von der Kanzel herab predigte, im Auge zu behalten, ertappte ich mich dabei, die verschnörkelte Schrift auf der Plakette zu studieren.

IN MEMORIAM

ROBERT RICHARDSON

LIEUTENANT 2. GRADES, 3. BATAILLON

DES BERKSHIRE-REGIMENTS

GELIEBTER UND EINZIGER SOHN

VON MR. UND MRS. HENRY RICHARDSON

GEFALLEN IN DER SCHLACHT AN DER SOMME

IN FRANKREICH, 2. JULI 1916, MIT 18 JAHREN

ER TAT EHRENVOLL SEINE PFLICHT

Ich schloss für einen Moment die Augen und erinnerte mich an den idyllischen Sommer 1914: glühende Hitze, das Sportereignis der Saison – ein Cricketspiel auf dem Dorfanger. Ich erinnerte mich an einen schlaksigen Schuljungen, dem ein unwiderstehliches Lächeln Grübchen in die Wangen zauberte, einen roten Streifen an den Beinen der weißen Crickethose, einen perfekten Windmühlenwurf, das befriedigende Klatschen des Schlägers auf den Ball, Applaus. Seine Leiche hatte man nie gefunden, seine Eltern hatten sich anstelle eines Grabs mit einer Gedenkplakette hier in der Kirche zufriedengeben müssen. Er war nur 18 Jahre alt geworden. Ein Junge, der ohne Umwege von der Schulbank in Eton als Offizier an die Front gekommen war.

Ich las die Worte wieder und wieder und tastete dabei nach dem Goldmedaillon, das auf meinem schwarzen Kleid lag. Es glänzte nicht mehr, die Oberfläche war durch das häufige Darüberstreichen ganz stumpf geworden. Schließlich brachte ich es fertig, meinen Blick von der Plakette abzuwenden, doch er wanderte nur bis zur ersten Bank, wo er an den Eltern des armen Jungen hängen blieb. Sie saßen dicht beieinander, Schulter an Schulter, steif vor Trauer. Mrs. Richardson, einst eine charismatische Frau voller Leben, hatte sich nach dem Tod ihres Sohnes ganz in sich zurückgezogen. Ihre einst vollen und rosigen Wangen waren eingefallen, was ihr eine leichenähnliche Erscheinung verlieh. Die so sorgfältig ausgewählte Trauerkleidung hing schlaff an ihrer abgemagerten Gestalt.

Ich bezweifelte nicht, dass sie sich der Anwesenheit einer anderen Mutter bewusst war, die nur wenige Reihen hinter ihr saß. Mrs. Whittakers breite Schultern zuckten, denn sie ließ ihrem Elend freien Lauf, war ihr Leid doch noch frisch. Wir drei warfen düstere Schatten, wir waren Abgründe tiefer Trauer in diesem Teich der Mitglieder unserer Kirchengemeinde.

Ich wandte mich wieder der eintönig vorgetragenen und endlosen Predigt zu, einem Monolog über den Wert des Opfers; aber es dauerte nicht lange, bis ich unruhig auf der harten Holzbank hin und her zu rutschen begann. Meine Erfahrungen als Lazarettschwester beim Freiwilligenkorps hatten die gute Sache, an die ich so loyal geglaubt hatte, zur Lüge werden lassen; ich hatte zu viele auf barbarische Weise verletzte Menschen gesehen, um noch zu glauben, dass sich der Kampf im Namen angeblich höherer Dinge lohnte. Der langatmige Wortschwall des Pfarrers änderte nur wenig an dieser erst kürzlich gewonnenen Einstellung. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen wünschte ich mir, ich wäre nicht mit in die Kirche gegangen, aber meine Eltern hatten sich klar ausgedrückt: Die regelmäßige Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst war, wenn schon keine Frage des Glaubens, so doch eine Pflicht. Mein Fernbleiben, so war mir unmissverständlich mitgeteilt worden, stand nicht zur Diskussion.

Ich stieß einen leisen Seufzer aus und versuchte noch einmal, mich bequemer hinzusetzen. Sowohl meine Ungeduld als auch mein Unbehagen wuchsen. Die respektvolle Aufmerksamkeit, die die Gemeinde der Predigt des Pfarrers zukommen ließ, erregte meinen Zorn. Abgesehen vom alten Withers, dem das Einnicken in seiner Bank aufgrund seiner 92 Jahre vergeben wurde, richtete sich die Andacht aller Gemeindemitglieder auf die Worte von der Kanzel. Im überalterten Publikum war ich die Einzige, die persönlich Zeugin des ungefilterten Grauens an der Front geworden war. Vielleicht konnte man es als Freundlichkeit bezeichnen, ihnen die naive Überzeugung, dieser Krieg wäre ein gerechter, nicht zu nehmen; sollten sie sich doch weiter für die gute Sache, für Gottes angeblichen Willen einsetzen, aber ich konnte diese Hingabe nicht länger teilen.

Es schien, als wäre ich nicht das einzige Gemeindemitglied, das Mühe hatte, der Predigt zu folgen. Mein Blick fiel auf Annie Burrows, das jüngste unserer Hausmädchen, die sich ans Ende der Bank gequetscht hatte, in der unsere Bediensteten saßen. Die Wirtschafterin, Mrs. Scrivens, und unser Butler Brown saßen dort mit ein paar Dienstmädchen. Beide lauschten andächtig der Predigt des Pfarrers, doch Annie war von den unterdrückten Schluchzern Mrs. Whittakers abgelenkt worden. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten wusste, ruhte ihr Blick auf der Mutter, deren Herz offenbar gebrochen war. Sie spürte wohl, dass ich sie beobachtete, denn sie wand sich unruhig auf ihrem Platz und drehte den Kopf, sodass ihr Blick den meinen traf. So ertappt, röteten sich meine Wangen und ich sah schnell weg.

Natürlich galt Annie Burrows ganz allgemein als überaus seltsam. Als ich aus Frankreich zurückgekehrt war, von Geralds Tod gebrochen und ganz außer mir, war ihre überraschende Anwesenheit auf Haverton Hall eines der wenigen Dinge gewesen, die mein Interesse geweckt hatten. Ich erfuhr, dass Mrs. Burrows nur ein paar Monate, nachdem ich im Herbst 1914 dem Schwesternkorps beigetreten war, auf meine Mutter zukam. Sie war bereits vom Krebs gezeichnet und hatte nicht zuletzt deshalb um eine Anstellung für ihre 13-jährige Tochter gebeten. Meine Mutter war sofort einverstanden – stand sie, wie sie später behauptete, doch tief in der Schuld der Familie Burrows, und so sei dies das Mindeste, was sie tun könne.

Ich wusste, dass Annies Gebaren unter den anderen Dienstboten nicht gerade populär war. Selbst Mrs. Scrivens hatte meine Mutter ganz offen und unmissverständlich gebeten, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Annie hatte ausgefallene Angewohnheiten, die man als verstörend ansah: Sie ließ sich von den seltsamsten Dingen ablenken, wisperte Unverständliches vor sich hin und war so zurückhaltend, dass sie sich den anderen damit schon wieder verdächtig machte. Doch meine Mutter war entschlossen, ihrer Verpflichtung nachzukommen, und ließ sich auch von den Einwänden ihrer Hauswirtschafterin nicht umstimmen. Als die Anzahl des Personals kriegsbedingt immer kleiner wurde, war Mrs. Scrivens schließlich gezwungen, Annie vom Küchen- zum Hausmädchen zu befördern. Annie selbst fügte sich mit stiller Würde in ihr Schicksal. Mit der Zeit verbesserte sich die Meinung der Haushälterin über Annie, und diese lernte, ein paar ihrer exzentrischeren Verhaltensweisen abzulegen. Doch immer noch hatte das junge Hausmädchen auch meiner Ansicht nach etwas an sich, das andere nervös machen konnte, das ich aber nicht richtig zu benennen vermochte. Man hätte es vielleicht etwas Jenseitiges, Andersweltliches nennen können.

Hinter mir versuchte jemand, ein Husten zu unterdrücken. Endlich kam der Sermon des Pfarrers zu einem Ende. Er ließ einen letzten, strengen Blick über seine Schäfchen gleiten. Hinter ihm erwachte die alte Orgel mit einem Ächzen wieder zum Leben, und wir alle standen in einer fließenden Bewegung auf, als hätten uns die Worte des Glaubens neue Kraft gegeben. Ich öffnete mein in Leder gebundenes Kirchengesangbuch und blätterte durch die dünnen und abgegriffenen Seiten, bis ich die richtige gefunden hatte: »Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt’«. Ich schnaubte.

Um mich herum stimmten jetzt viele in den Gesang ein, ich gehörte nicht dazu. Die missbilligende Miene meiner Mutter spürte ich dabei eher, als dass ich sie sah. Ich warf erneut einen Blick auf die Bank, an deren Ende Annie Burrows stand und mit leerem Blick in ihr Gesangbuch starrte. Auch sie schwieg.

Wir blieben stehen, um den Schlusssegen des Pfarrers zu empfangen, dann schlurften wir aus den Bänken und schwärmten den Gang entlang auf den Torbogen des Ausgangs zu. Ein Murmeln höflicher Gespräche erhob sich, Nachbarn begrüßten einander. Ich aber richtete den Blick auf die unebenen Steinfliesen zu meinen Füßen.

Als wir endlich den Pfarrer am Ausgang erreichten, blieb ich ein wenig zurück, während Mutter vortrat, um ihm ihren Dank für den Gottesdienst auszusprechen. Mein Vater machte einige kluge Bemerkungen zur Predigt. Ich huschte um sie herum, flüchtete mich mit hochgezogenen Schultern auf den Vorplatz und bahnte mir einen Weg durch die versammelte Menge, bis ich auch die hinter mir ließ. Ich schlängelte mich durch die Reihen der Gräber in Richtung Dorfplatz, vorbei am frischen Grab von Private Tom Whittaker, der sich lange genug ans Leben geklammert hatte, um noch einmal nach Hause zurückkehren zu können. Man hatte einen Kranz weißer Rosen auf die aufgehäufte Graberde gelegt, die Ränder der Blütenblätter wurden langsam braun und welk. Ich kämpfte gegen eine Woge des Neids an, denn wenigstens war seine Familie in der Lage, frische Blumen an diesem Ort abzulegen, wann immer ihnen danach war. Mich trennte ein breiter Streifen Ozean von Geralds Grab. Ich trauerte, weil seine letzte Ruhestätte ungeschmückt bleiben würde.

Ich ging rasch weiter, darauf bedacht, die Geselligkeit nach dem Gottesdienst hinter mir zu lassen. Kies knirschte unter meinen Füßen, als ich zwischen den still nebeneinanderstehenden, mit Flechten und Moos bedeckten Grabsteinen mit ihren verwitterten und nichtssagenden Inschriften entlanghuschte. Diejenigen, deren Gräber sie zierten, waren vergessen.

Aber ich war nicht die Einzige, die sich von den anderen Kirchgängern abgesetzt hatte: Annie kauerte vor einem bescheidenen Grabstein, der dicht an der Friedhofsmauer stand. Ich wusste, wem er gehörte, denn vor zehn Jahren hatte ich selbst dort gestanden und ihrem Vater meinen Respekt erwiesen.

Jim Burrows war gestorben, während er meine kleine Schwester Lydia aus dem verheerenden Feuer rettete, das Haverton Hall damals, vor all diesen Jahren, erfasst hatte. Es war wie ein Wunder, dass er sie tatsächlich fand, hatten doch alle anderen dabei versagt. Er hatte sie aus einem Fenster im ersten Stock hinabgelassen und somit in Sicherheit gebracht, bevor er dann selbst den Flammen zum Opfer gefallen war. Doch am Ende hatte sich sein Tod als sinnlos erwiesen: Lydias verkohlte Lunge war so geschädigt worden, dass sie ein paar Wochen später starb. Aber wir waren bis heute für die Zeit, die uns seine Tapferkeit geschenkt hatte, dankbar – auch wenn diese letzten Tage, in denen wir ihr bei jedem qualvollen Atemzug hatten zusehen müssen, ohne etwas tun zu können, unfassbar niederschmetternd gewesen waren. Immerhin hatten wir so die Möglichkeit, sie im Arm zu halten, sie zu küssen, sie zu verwöhnen … und uns zu verabschieden. Annies Vater hingegen war in einer Minute noch da gewesen und in der nächsten fort. Es hatte kaum Überreste gegeben, die man hatte beerdigen können. Wie viel schwieriger mochte es wohl für Annie und ihre Mutter gewesen sein, mit so einem plötzlichen Verlust fertigzuwerden! Ich fragte mich oft, ob sie den verpassten Gelegenheiten hinterhertrauerten, den Dingen, die sie hätten sagen oder tun können, hätten sie nur die Möglichkeit dazu gehabt. Stattdessen hatten sie nur einen Grabstein. Ich mied den Blick auf das Grab, als ich daran vorbeilief, und ließ Annie die Privatsphäre. Mir kam es so vor, als fänden wir beide Trost bei den Toten.

Ich wandte mich vom Pfad ab und wanderte zum hinteren Teil der Kirche. Das Mausoleum unserer Familie, der Marchams, war in griechischem Stil erbaut und glich einem Miniatur-Pantheon. Um ehrlich zu sein, war es viel zu mächtig für einen Friedhof dieser Größe, und so thronte es völlig überdimensioniert über den bescheidenen Grabsteinen, die es umgaben. Die Wände aus Sandstein waren verwittert und geschwärzt von Regen und Frost, die Farbe begann an den schmiedeeisernen Toren, die ins Innere führten, bereits abzublättern. Ich war acht, als man meinen Großvater hier bestattet und zwei Jahre später dann Lydia zur letzten Ruhe gebettet hatte.

Eigentlich war das Mausoleum für meine Großmutter errichtet worden. Ich hatte sie nie kennengelernt, doch ein monumentales Porträt von ihr hing an prominenter Stelle im Treppenhaus. Als Kind hatte ich mich der Ausstrahlung, die von ihrem Gemälde ausging, nie so recht entziehen können. Als ich so an sie dachte, kam mir der Gedanke, dass meine Familie wirklich vom Pech verfolgt sei. Sie selbst war weit vor ihrer Zeit gestorben, als mein Vater noch ein Junge war. Mein Großvater sprach nie über ihren Unfall, aber ich erinnere mich an die wehmütige Traurigkeit, die sich in seinen Blick stahl, wenn – was selten genug vorkam – ihr Name erwähnt wurde. Wenn sie sich in seine Gedanken stahl, lockerte sich der feste Griff, mit dem er seine allgegenwärtige Dublin-Pfeife in der Hand hielt. Ich stellte ihm nie Fragen, raffte aber irgendwann all meinen Mut zusammen, um meinen Vater auf sie anzusprechen. Es war spät am Abend, als er in unser Kinderzimmer kam, um mir Gute Nacht zu sagen.

Sie war begeisterte Reiterin und überglücklich, als mein Großvater ihr ein neues Jagdpferd schenkte. Die Tragödie geschah bei ihrem ersten Ausritt. Das Pferd, noch nicht vertraut mit der ihm neuen, ländlichen Umgebung, ging durch, und in einem Augenblick der Raserei, noch bevor meine Großmutter die Kontrolle über ihr Reittier hatte wiedergewinnen können, setzte es zu einem Sprung über einen unglaublich hohen Zaun an. Gemeinsam gingen sie auf der anderen Seite zu Boden, ein schreckliches Chaos von durcheinanderwirbelnden Gliedern und grauenvollen Schreien. Mein Großvater konnte nur hilflos zusehen. Er trug sie rasch zurück zum Haus, während die Reitknechte versuchten, das traumatisierte Pferd einzufangen, das kopflos über das Feld stolperte. In ihren letzten, qualvollen Stunden ließ meine Großmutter ihn versprechen, dass er das Pferd nicht strafen würde, ein Versprechen, das vergessen war, kaum dass der letzte Atemzug ihre Lippen verlassen hatte.

Mein Vater erinnerte sich noch an den unheimlichen Aufschrei, der durchs Haus hallte, ein animalischer Schrei der Trauer. Er erinnerte sich auch an den Zorn und die Wut, daran, wie mein Großvater durchs Haus getobt war, seine Schrotflinte aus der Waffenkammer holte und in Richtung der Stallungen gestürmt war. Mein Vater war ihm aus Angst vor der drohenden Katastrophe hinterhergerannt, während die Pferdeknechte vor meinem Großvater zurückschreckten. Nur Jim Burrows, damals noch beinahe ein Kind, hatte sich ihm in den Weg gestellt und ihm den Zugang zu den Ställen verwehrt.

Niemand weiß genau, was damals zwischen den beiden besprochen wurde, aber als mein Großvater schließlich wieder auftauchte, lag das Gewehr zerbrochen in seinem Arm. Die Patronen trug er in der Hand. Er war aschgrau. Das Jagdpferd lebte noch, wurde aber schnell verkauft. Von diesem Augenblick an zeigte mein Großvater einen beinahe ehrerbietigen Respekt vor dem jungen Stallburschen. Oft fand man sie danach trotz aller Rang- und Altersunterschiede in stiller Konversation miteinander.

Ich war immer der Ansicht, dass eine gewisse poetische Gerechtigkeit darin lag, dass Jim Burrows sich damals in die Flammen geworfen hatte, um Lydia zu retten, auch wenn sich das letztendlich als eine Tragödie für unsere beiden Familien herausgestellt hatte. Es war, als wären die Schicksale der Marchams und der Burrows’ unentwirrbar miteinander verbunden. Und jetzt würden einige sogar sagen, dass ich selbst Annie Burrows mein Leben verdankte, aber ich zog es vor, mich nicht lange mit diesem Umstand zu beschäftigen.

Vor dem Mausoleum wuchs eine gewaltige Trauerweide, unter der eine einfache Sitzbank stand. Die Sitzbretter waren schon gesplittert vom Alter und immer noch feucht vom nächtlichen Regen, aber ich raffte meinen Mantel und ließ mich trotzdem darauf nieder. Die Feuchtigkeit machte mir nichts aus. Vielleicht war es etwas makaber, aber das hier war ein Ort, an dem ich stets Frieden fand. Hier konnte ich sitzen und schweigend an die denken, die von uns gegangen waren: meine Großmutter, mein Großvater, Lydia und jetzt auch noch Gerald.

Wieder tasteten meine Finger nach dem Medaillon und spielten mit dem komplizierten Verschluss herum, bis er schließlich aufging und die beiden ovalen Bildchen darin enthüllte. An dem rechten hatte ich kein Interesse, denn in diesem Abbild meiner selbst erkannte ich mich nicht wieder: jugendlich, optimistisch … glücklich eben. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die ausgeblichene Fotografie links. Das Bild war in einem Fotostudio aufgenommen worden und wirkte auf den ersten Blick steif und formell, aber wenn man genauer hinsah – was ich immer tat –, konnte man den Humor in den Augen aufblitzen sehen, so hell, dass er durch den Schatten hindurchschimmerte, den die Schirmmütze des Offiziers warf, der er gewesen war. Der gepflegte Schnurrbart verbarg den zu einem unterdrückten Lächeln gekrümmten Mundwinkel. Wieder flammte der allzu vertraute Schmerz in meiner Brust auf. Ich ließ das Medaillon zuschnappen und wischte mir mit dem Handrücken über die tropfende Nase.

»Ich habe sie hier entlanggehen sehen. Wenn sie hier irgendwo ist, sitzt sie sicher unter der Trauerweide dort.«

»Und wie geht es ihr?«

Ich sprang auf. Der theatralische Tonfall von Dr. Mayhew ließ meinen Körper auf der Stelle in den Fluchtmodus wechseln. Noch war ich im Vorteil – ich konnte sie herankommen hören, aber weder meine Mutter noch er konnten mich schon sehen. Mein Puls beschleunigte sich, als ich mich rasch auf der hinteren Seite des Mausoleums versteckte und mich an den kalten Stein drückte. Das lange, feuchte Gras durchnässte meine Strümpfe an den Knöcheln. Ich schloss die Augen und hielt den Atem an. Die Krempe meines Huts stieß an die Steinmauer.

»Oh!« Meine Mutter, sehr nahe jetzt, klang verwirrt. »Ich war sicher, dass ich sie hierhergehen sah.«

»Vielleicht ist sie um die Kirche herumgegangen. Aber das ist ja auch nicht so wichtig. Ich dachte nur, ich sollte vielleicht bald bei Ihnen vorbeischauen und fragen, wie es ihr geht.«

»Ach Doktor, ich wünschte, Sie würden das tun. Sie hat sich immer noch nicht wieder gefangen … Überhaupt nicht, wissen Sie? Ich habe solche Angst, dass sie wieder etwas Dummes anstellt …!« Sie senkte die Stimme, als sie weitersprach. »Und ich habe guten Grund, das anzunehmen.«

»Das wäre in der Tat eine sehr besorgniserregende Entwicklung.« Seine Stimme war sehr ernst und ich konnte ihn geradezu vor mir sehen, wie er auf den Fersen wippte, die Hände hinter den Rücken gelegt und die Brust in seiner üblichen Selbstüberschätzung vorgestreckt. »Nach all der Zeit hatte ich gehofft, dass wir langsam ein Anzeichen der Besserung hätten erkennen können … Schauen Sie«, er ließ einen langen Stoßseufzer hören, »ich werde vorbeikommen und nach ihr sehen. Vielleicht können wir dann ein wenig ausführlicher miteinander sprechen.«

Ich wartete in meinem Versteck, misstrauisch, dass das Schweigen mich in die Irre führen sollte. Man hatte mich schon öfter so ausgetrickst, doch mittlerweile war ich vorsichtiger. Die Minuten vergingen. Meine Zehen schmerzten in der penetranten Kälte, doch schließlich öffnete ich die Augen.

Annie Burrows stand kaum einen Meter von mir entfernt. Ihre Augen waren von außergewöhnlich blauer Farbe, beinahe violett, sehr ungewöhnlich und beinahe unnatürlich, und standen über der Nase zu eng beieinander. Das vermittelte den Eindruck, dass sie schielte, auch wenn das bei genauerer Betrachtung gar nicht der Fall war. Und doch verstörte es.

»Sie sind weg.«

Sie hielt inne, um abzuwarten, wie ich die Worte aufnahm, bevor sie sich umdrehte und über die Wiese davonging. Befremdet trat ich aus dem Schatten des Mausoleums heraus und sah dem jungen Hausmädchen hinterher, wie es durch die überdachten Tore des Kirchhofs verschwand. Eine Elster, die in den Zweigen der Weide gesessen hatte, flatterte auf und landete auf dem Pfad vor mir. Das glatte schwarze Gefieder des Vogels glänzte im Sonnenlicht, das erst jetzt kräftig genug war, den Nebel zu durchbrechen. Die Elster stakste auf dünnen Beinchen umher und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf.

»Vogel der Trauer«, murmelte ich und ließ mich erschöpft auf eine Bank fallen, denn eine Woge der Verzweiflung drohte mich zu übermannen. »Ach Gerald …« Sein Name entschlüpfte meinen Lippen mit einem sehnsüchtigen Flüstern.

Ich suchte Zuflucht in einer schönen Erinnerung: ein warmer Julitag, kurz vor dem Krieg, ein Picknick. Ich konnte mich sehr genau an den Augenblick erinnern, den dahinplätschernden kleinen Fluss, eine Decke mit Karomuster, das bittere Ingwerbier – eine fruchtige Erfrischung für unsere ausgedörrten Kehlen –, dann Geralds Arm, der meinen streifte, während wir den Sonnenschein genossen. Es war ein perfekter Nachmittag. Ich hörte sogar seine Stimme, sein Lachen. Auch die winzigste Facette des Tages stand mir kristallklar vor Augen … alles, außer Geralds Gesicht. Dieser Teil des Gesamtbildes entzog sich mir, was mich frustrierte. Wenn ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, war es, als schöbe sich eine Wolke davor, sodass sein Antlitz verschwamm und nur vage zu erahnen war. Mein Herz tat weh.

Was ich immer gefürchtet hatte, war eingetreten.

Ich hatte angefangen, ihn zu vergessen.

2

Nach Geralds Tod fürchtete ich eine lange Zeit, dass mein Verstand der Trauer zum Opfer gefallen war. Zumindest direkt danach war mein Lebenswille ganz sicher dahin. In den ersten Tagen nachdem es geschehen war, hatte sich unsere Oberschwester, eine strenge Waliserin mit dem Ruf, keine Extravaganzen zu dulden, als überraschend weich und verständnisvoll erwiesen. Ich lag reglos auf meiner Pritsche, nicht in der Lage, etwas zu essen, zu schlafen, ja, ich war nicht einmal in der Lage, zu weinen. Meine Schwesternkolleginnen sprachen nur in gedämpftem, beinahe feierlichem Tonfall miteinander, wenn sie in unserem Zelt zu tun hatten, nur um mich ja nicht zu stören. Ihr Mitgefühl war mit Händen zu greifen, genau wie die Erleichterung, dass mein Kummer nicht sie getroffen hatte.

Als meine Verfassung sich nicht besserte, hatte die Oberschwester vorgeschlagen, dass ein Heimaturlaub mir vielleicht helfen könnte, aber als mein Zustand länger als eine Woche andauerte, wurde sie ungehaltener. Ihre Geduld nutzte sich ab, bis die Heimreise kein Vorschlag mehr war, sondern ein Befehl. Die Mädchen nahmen mir das Packen meiner Sachen ab. Ich glaube, wir wussten alle, dass ich nicht zurückkommen würde.

Ich kann mich an die Reise durch Frankreich nach Hause kaum noch erinnern. Damals war mir jeglicher Lebenswille abhandengekommen. Mir ist aber noch im Gedächtnis, an der Reling des Schiffs gestanden und in die graue, schäumende See hinabgestarrt zu haben, während das Schiff dahinstampfte. Ich erinnere mich, dass ich mich an der regennassen Reling festhielt, die sich glatt und rutschig unter meinen klammen Fingern anfühlte. Ich stellte den Fuß in meinem Stiefel auf die unterste Sprosse und starrte in die Wogen hinab, die sich an der Schiffswand brachen. Mein Kopf sank auf meine Brust und ich strengte mich an, den Sirenengesang, der unter den Wellen hervordrang, genauer auszumachen. Die Gischt spritzte mir ins Gesicht und nahm dabei keine Rücksicht auf mein Leid.

Dann machte das Schiff einen Satz und ich taumelte. Ein Offizier packte mich am Arm, sodass ich nicht fiel. Sein Gesicht war halb von einem Verband bedeckt. Er rief mir über das Donnern der Wellen hinweg zu, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn wir hineingingen. Ich setzte ihm keinen Widerstand entgegen, als er mich am Ellbogen nahm und durch die stählerne Luke ins Schiffsinnere brachte.

Drinnen sagte er etwas zu einer Schwester; etwas, das ich nicht verstand. Sie kam auf mich zu, während er die Treppe hinunter in den unteren Decks verschwand. Seine Stiefel knallten auf die geriffelten Stahlstufen. Die Miene der Krankenschwester wurde weich, als sie meinen leeren Gesichtsausdruck bemerkte. Sie brachte mich zu meiner Kabine und zu Bett. Dann steckte sie die Decke so eng um mich herum fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Vielleicht hoffte sie, mich so an weiteren Eskapaden hindern zu können.

Meine Mutter erwartete mich, als das Schiff anlegte. Unser ältlicher Chauffeur hatte sie den ganzen Weg bis nach Portsmouth gefahren; weiß der Himmel, wo sie das Benzin dafür aufgetrieben hatten. Ich erinnere mich daran, wie mich der Anblick des blank gewienerten Wagens neben der ganzen gelöschten Kriegsfracht verwirrte: die Schwerverwundeten auf ihren Transportliegen, die zerschmetterten Leichen, die blutdurchtränkten Verbände. Die Krankenschwester, die mich ins Bett gebracht hatte, begleitete mich nun beim Verlassen des Schiffs, den Arm fest um meinen Rücken gelegt half sie mir die Gangway hinunter, ein schwacher Schritt nach dem anderen.

Als sie mich meiner Mutter übergab, wechselten die beiden ein paar Worte, doch was gesagt wurde, erfasste ich nicht. Es ging in den Rufen, dem Stöhnen, dem Zuschlagen der Türen von Sanitätswagen und dem Aufheulen von Motoren unter. Ich war zu der Zeit schon daran gewöhnt, dass die Leute über mich sprachen, als wäre ich gar nicht anwesend. So ging das noch Wochen nach meiner Rückkehr, auch Dr. Mayhew machte das so mit meinen Eltern. Ich war zu taub, um mich dagegen zur Wehr zu setzen. Irgendwann würde ich mich sicher wieder fangen, versicherte mir jeder mit fröhlicher Stimme, die vor Unehrlichkeit nur so triefte und mit Zweifel geschwängert war. Dr. Mayhew hatte angeordnet, dass ich nicht allein bleiben durfte. Jemand, der so tief in dermaßen gefährlichen Abgründen der Trauer versunken war, musste rund um die Uhr überwacht werden. Man war viele Möglichkeiten durchgegangen.

Dann war meine geliebte Schwester Madeleine gekommen und hatte stilles Mitgefühl, Beistand und Verständnis mitgebracht.

Nach und nach begannen sich die scharfen Kanten der gähnenden Leere, die Gerald hinterlassen hatte, zu schließen. Die Finsternis zog sich langsam zurück, wenn sie auch nicht ganz verschwand. Wenigstens war ich in der Lage, aufzustehen, mein Bett zu verlassen, zu essen oder nachzudenken. Dann und wann brachte ich sogar ein Lächeln zustande, nur kurz, bis ich mich wieder erinnerte. Madeleine versicherte mir, dass das der Beginn meiner Genesung sei und dass ich mich zwingen müsse, auf diesem Weg weiterzugehen wie ein erschöpfter Bergsteiger, der den nächsten Haken schon in Sichtweite hat. Denn die Alternative sei zu schrecklich, um daran auch nur zu denken.

Das Ganze erwies sich als ein langer und anstrengender Aufstieg. Und es gab immer noch Menschen, die mit meinem Absturz rechneten.

Ich stand spät auf, denn ich hatte wieder einmal eine unruhige Nacht ohne viel Schlaf hinter mir, aber mir wurde in diesen Tagen die Langschläferei nachgesehen. Ich hatte nur wenige Pflichten zu erfüllen und Mutter sorgte mit aller Macht dafür, dass ich nicht weiter behelligt wurde.

Ich hatte Krug und Waschschüssel auf meinem Waschtisch in Anspruch genommen und zog mich ohne viele Umstände an. Dann trat ich an die Vorhänge am Fenster und legte mir die Kette mit dem Medaillon um den Hals. Anschließend schob ich mit einem Ruck die schweren Gardinen von den Fenstern fort und blinzelte im Sonnenlicht, das nun ins Zimmer flutete.

Unter mir tauchte Annie Burrows auf. Sie brachte einen Ascheeimer zu den Blumenbeeten, ihr rotes Haar schimmerte im Morgenlicht kupferfarben. Mit der Asche wurden die Beete gedüngt, aber nicht diese alltägliche Verrichtung fesselte mich. Es war Annies außergewöhnliches Verhalten.

Sie war in ein Gespräch mit sich selbst versunken, gestikulierte mit der freien Hand und lächelte dabei in sich hinein – auf eine sehr merkwürdige Weise sah sie aus, als leuchtete sie von innen. Bei jeder anderen hätte das amüsant und vielleicht sogar charmant gewirkt, aber bei Annie hatte die Szenerie etwas Unheimliches an sich.

Sie blieb stehen. Ihr Kopf fuhr herum, und sie warf mir einen finsteren Blick zu, so gezielt, dass ich angesichts der Feindseligkeit in die Falten des Vorhangs zurückwich. Mein Herz schlug schneller und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bevor ich wieder den Mut aufbrachte, hinter den Jacquard-Stoffbahnen hervorzuspähen. Sie war fort, der Garten leer.

Nur mein Unbehagen blieb.

Ich hatte das Frühstück zu dieser Zeit schon verpasst, aber ich wusste, dass Mutter im Salon ihren morgendlichen Tee einnahm, und entschloss mich, sie dort aufzusuchen. Eine Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige, um meine seelische Balance wiederherzustellen und mich für den Tag zu rüsten.

Ich machte mich also auf den Weg durch die Eingangshalle und erwischte mich bei einem raschen Blick in den fleckigen Spiegel, der über dem Kamin hing. Ich ging näher heran und stellte mich davor. Meine Finger fuhren über die blassblaue Strickjacke, die ich angezogen hatte. Sie schien zu dem gewichtigen Schwarz meines Kleids nicht zu passen.

Dass ich wieder buntere Farben anzog, war ein Zugeständnis an meine Eltern, zu dem ich mich erst kürzlich durchgerungen hatte. Um offen zu sein, waren sie durch meine Trauerkleidung peinlich berührt. In ihren Augen war sie unangemessen, denn das Verlöbnis zwischen Gerald und mir war nie offiziell geworden. Nur wir beide waren zu einem Einverständnis gekommen. Für sie allerdings wären ein funkelnder Ring und die Verlobungsanzeige in der Times nötig gewesen, erst das hätte meine Trauer gerechtfertigt.

Ich war schon so lange nichts als ein melancholischer Schatten im Haus, dass ich es seltsam fand, etwas so Ungewöhnliches zu tragen. Wie ein hässliches kleines Entlein, das erst lernen musste, mit seinem erwachsenen und hübschen Gefieder umzugehen. Schon bald würde ich mich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.

Ich wandte mich vom Spiegel ab und ging weiter. Gerald war tot. Ein Kleidungsstück änderte nur mein Aussehen, nicht meine Gefühle. Ich würde lernen, meinen Kummer hinter bunter Kleidung zu verstecken, ebenso wie ich lernen würde, mein Leid für mich zu behalten.

Als ich herantrat, öffnete sich die Tür zum Frühstückszimmer und Annie kam heraus. Sie hatte ein großes Holztablett in der Hand, das beim Gehen an ihre Hüfte schlug. Sie schloss die Tür hinter sich und zuckte kurz zusammen, als sie mich sah. Sie knickste kurz und trat beiseite, um mich vorbeizulassen. Nichts an ihr verriet, dass sie sich an unsere Begegnung zuvor erinnerte. Ich beachtete sie nicht weiter und griff nach dem Türknauf des Morgensalons.

»Dr. Mayhew.«

Ich zog meine Finger so rasch vom geriffelten Messingknauf zurück, als hätte er mich verbrannt.

Ihr Blick wanderte zu meinem Gesicht hinauf. »Er ist dadrin, mit Ihrer Mutter, Miss.«

Ich war dankbar, aber auch ein wenig überrascht von der Warnung. Dr. Mayhew betrachtete meine Trauer mittlerweile mit Ungeduld, denn in seinen Augen war sie zu etwas anderem geworden, etwas, das weder Sympathie noch Zartgefühl verdiente. Seiner Ansicht nach zeigte ich Symptome von Hysterie, dieser ganz besonderen weiblichen Krankheit, die er so unerträglich fand und die, wie er glaubte, eine feste Hand erforderte, kalte Bäder und Zurückgezogenheit auf dem Land – und auch das war, wie ich schon bald erfahren sollte, eine sehr euphemistische Zusammenfassung für Sanatorien, in denen man bessergestellte Damen verwahrte. Er hätte mich am liebsten schon entsprechend untergebracht, als ich aus Frankreich zurückkehrte, doch Madeleine hatte sich für mich eingesetzt und meine Eltern davon überzeugt, dass ich nichts anderes als Zeit brauchte. Am Ende gaben meine Eltern nach, doch Dr. Mayhew lauerte nach wie vor auf seine Gelegenheit und war von meiner überaus schwachen Darstellung einer Genesung nicht überzeugt. Er übte ständig Kritik, unterhöhlte damit den Glauben meiner Eltern an mich und hoffte in einem fort darauf, dass sie nachgaben.

Ich überlegte, was ich tun sollte. Wenn ich wieder in mein Zimmer zurückging, würde ich das Unvermeidliche nur hinausschieben. Dann erwartete mich entweder eine ausdrückliche Einladung oder – was noch schlimmer wäre – sie würden mich persönlich aufsuchen und holen. Ich sah Annie an.

»Komm und hol mich in fünf Minuten«, wies ich sie an. »Sag, da ist ein Telefonanruf für mich. Du kannst sagen, es ist meine Schwester.«

Ich hätte nicht entscheiden können, ob sie mich mit Mitgefühl oder mit Verachtung betrachtete, und sehr zu meiner eigenen Verwirrung spürte ich, wie mir Röte in die Wangen stieg. Doch sie nickte kurz, und mit dieser Strategie in der Hinterhand griff ich erneut nach dem Türknauf.

Dr. Mayhew erhob sich in dem Augenblick, in dem ich eintrat. Er hatte die elegant mit ineinander verschlungenen Rosen geschmückte Tasse samt Unterteller noch in der Hand. In seinen fleischigen Fingern sah das feine Porzellan ziemlich absurd aus. Solange ich zurückdenken konnte, war er der Dorfarzt, aber ich hatte mich für ihn als Person nie erwärmen können. Seine Art, in einen Raum zu stolzieren und dort Ehrerbietung zu erwarten … Solch pompöses Auftreten lag mir nicht und das war auch noch nie der Fall gewesen. Er war auch nicht gut gealtert, wie man nicht umhinkam festzustellen. Schlaffe Wangen hingen über dem gestärkten Hemdkragen, die roten Venen auf seinen Wangen und der knubbeligen Nase mit den purpurnen Flecken bestätigten die Gerüchte, dass er dem Alkohol allzu sehr zugetan war. Sein Haar, einst dick und schwarz, war nun grau und dünn, ein paar Strähnen hatte er über seinen eiförmigen Schädel drapiert. Sein mächtiger Backenbart hingegen war immer noch voll und erweckte irgendwie den Eindruck, dass er seine allgemein eher üppige Statur bis zu einem gewissen Grad ausgleichen wollte.

»Hier ist sie ja, die junge Lady selbst. Wie geht es unserer Patientin heute Morgen?«

Ich lächelte, aber nur, weil es so von mir erwartet wurde. Es nagte an mir, dass er es immer noch für passend erachtete, auf diese Weise mit und von mir zu sprechen, so als wäre ich krank und würde es auch immer sein. Aber ich war nicht krank. Ich trauerte.

»Mir geht es gut, Doktor, vielen Dank«, sagte ich und begrüßte meine Mutter, bevor ich mich dem Teegeschirr auf der Anrichte widmete.

»Keine Albträume mehr?«

Ich setzte die Teekanne ab und verdrängte die Bilder, die mich um den Schlaf gebracht hatten. »Nein, gar nicht.«

»Dann wirkt die Medizin also.«

Ich dachte an das unberührte Fläschchen mit Pillen, das ich in der Schublade des Waschtischs versteckt hatte. Ich wandte mich um und sah ihn mit der Teetasse in der Hand an. »Das ist wohl tatsächlich der Fall.« Ich lächelte ihn über den Rand des Porzellans hinweg an und nahm einen tiefen Schluck des nur noch lauwarmen Tees.

Er musterte mich eingehend und ohne Skrupel. Ich wusste, ich durfte keine Schwäche zeigen – ein kaum wahrnehmbares Zittern der Hand, eine leichte Brüchigkeit in der Stimme, ein nervöses Zucken im Blick –, sonst hätte er mich unter Zimmerarrest gestellt, bevor der Tag vorbei wäre. Ich nahm noch einen Schluck Tee und stellte die Tasse mit sicherer Hand wieder auf dem Unterteller ab.

Mutter hatte sich auf ihrem Sessel nicht gerührt. Mit geschürzten Lippen starrte sie ins Feuer. Sie schreckte erst auf, als es leise an der Tür klopfte und Annie ins Zimmer trat.

»Sie werden am Telefon verlangt, Miss. Es ist Mrs. Brightwell.«

Sie sah mir einen Augenblick länger in die Augen als nötig und vermittelte mir so den Verdacht, dass sie ihre Teilnahme an diesem Komplott missbilligte. Aber das focht mich nicht an. Ich hatte mein Ziel erreicht, meine Flucht war gesichert.

»Oh! Madeleine? Dann komme ich besser sofort.« Ich setzte eine höfliche, wenn auch geheuchelte Miene der Enttäuschung auf und nahm noch einen letzten, hastigen Schluck Tee. »Auf Wiedersehen, Dr. Mayhew.«

Ich zog die Tür nicht vollständig hinter mir zu. Ich bezeigte Annie meinen Dank mit einem kurzen Nicken, das sie erwiderte, bevor sie davonging, um sich weiter ihren Pflichten zu widmen. Ich allerdings blieb heimlich hinter der Tür stehen.

»Wie geht es ihr wirklich?«, wollte Dr. Mayhew wissen.

»Erst vor ein paar Abenden war sie wieder am See.«

Mir war nicht aufgefallen, dass meine Mutter davon wusste.

»Hat sie das absichtlich getan?«

»Annie hat gesehen, wie sie dorthin ging, und folgte ihr. Sie hat sie zurück ins Haus geholt, bevor sie die Gelegenheit hatte …« Mutter musste den Satz nicht beenden, wir alle wussten ja, was beim letzten Mal passiert war.

»Nun, ich muss sagen, das zu hören, ist wirklich eine Enttäuschung. Ich dachte, sie würde größere Fortschritte machen. Sie scheint in der letzten Zeit etwas aufmerksamer zu sein.«

Er ließ die Furcht in meine arme Mutter einsinken, bevor er einen halbherzigen Versuch unternahm, sie wieder zu beruhigen. »Nun, nun. Wir sollten nicht jedes Mal die schlimmsten Schlüsse ziehen. Vielleicht war es ja wirklich nichts weiter als ein kleiner Spaziergang, der sie dorthin führte. Immerhin ist es wirklich ein sehr hübsches Fleckchen Erde und es ist ja auch nichts geschehen. Aber wir müssen eben auch …«

Er hielt inne für eine bedeutungsvolle Pause. »Wie Sie sehr wohl wissen, meine liebe Mrs. Marcham, heutzutage trauern sehr viele Damen in diesem Land, doch das zusätzliche Trauma, das Stella durchgemacht hat … Vielleicht erholt sie sich nie wieder davon.«

»Aber was sollen wir denn dann nur tun, Doktor? Gott weiß, dass ich nicht noch eine Tochter verlieren kann!«

»Die Medikamente sollten helfen … wenn sie sie denn nimmt.«

»Sie sagt, dass sie es tut, aber was, wenn nicht?«

»Dann sollten wir doch noch einmal den Gedanken an einen kurzen Erholungsurlaub ins Auge fassen.«

Ich wich von der Tür zurück. Gallebitterer Zorn wallte in mir auf. Damit würde ich mich nie einverstanden erklären! Ich würde mich nicht einsperren lassen, nur weil ich ein sehr natürliches, menschliches Gefühl empfand.

Das System war irre. Aber ich war es ganz sicher nicht.

3

Ich warf die Tür meines Zimmers hinter mir zu und holte meinen geheimen Vorrat an Zigaretten unter dem Schrank hervor. Dann kniete ich mich vor das Kamingitter, schlug eine Kippe aus dem Päckchen und nahm sie mit der Unterlippe auf. Ich zündete ein Streichholz an, hielt die Flamme an die Spitze der Zigarette und nahm einen tiefen, zitternden Zug, bevor ich den Rauch in den Kamin blies. Mutter wusste nicht, dass ich rauchte, und wäre ganz sicher nicht damit einverstanden. Ich hatte mir das Rauchen schon sehr früh in meiner Karriere als Lazarettschwester angewöhnt, als ich noch im Hauptquartier in London gearbeitet hatte. Eine andere Schwester hatte mir nach einer furchtbaren Schicht eine Zigarette angeboten. Sie hatte versprochen, das beruhige meine Nerven.

Ich lehnte mich an die Delfter Kacheln, die den Kamin einrahmten, mit ihren reizenden Bildchen von Windmühlen und Fischern, und spürte, wie meine Anspannung langsam nachließ. Ich schloss die Augen, Mattigkeit dämpfte meine Furcht.

Ich schrak auf, als es sanft an meine Tür klopfte. Doch mir war nach kurzem Nachdenken rasch klar, dass es sich wohl weder um meine Mutter noch um Dr. Mayhew handeln konnte. Annie schob die Tür einen Spalt auf. Sie hatte einen Korb mit Leinenwäsche an die Hüfte gepresst.

»Ich muss ein paar Dinge wegräumen, Miss.«

Ich zog noch einmal an meiner Zigarette und winkte sie herein. Ich behielt den Rauch im Mund und ließ ihn dann wie Seide in meine Lunge gleiten. Dann drückte ich den Stummel auf dem verkohlten Steinsims des Kamins aus, kam auf die Beine und wedelte mit der Hand in der Luft herum, um den darin hängenden Rauchgeruch zu vertreiben. Annie füllte derweil die Fächer der Wäschekommode.

Ich schlenderte ans Fenster und machte Anstalten, es zu öffnen, um etwas frische Luft zu schnappen, aber unten sah ich Dr. Mayhew, der gerade ging und mit meiner Mutter zum Abschied ein paar Höflichkeiten wechselte. Also zog ich das Fenster nicht auf. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

»Ich nehme an, dass du wohl auch nicht zu den Bewunderern Dr. Mayhews zählst«, stellte ich mit einer gewissen Neugier fest.

»Nicht wirklich, Miss.«

»Gibt es irgendeinen besonderen Grund?« Ich drehte dem Fenster den Rücken zu und lehnte mich gegen das Fensterbrett.

»Er behauptet ständig, dass ich Ärger mache.«

»Ach ja?« Ich war nicht wirklich an diesem Thema interessiert und machte dementsprechend keinen Versuch, sie zu drängen, als sie nicht darauf antwortete. Sie sortierte weiterhin die Wäsche in die Schubladen, als hätte ich sie nie angesprochen. Die alte Uhr auf dem Kaminsims schlug.

»Mutter weiß, dass du mich vorgestern am See gefunden hast.«

Ich ließ die Anschuldigung einfach so im Raum hängen. Ein spinnwebdünner Faden, der uns miteinander verband. Ich hatte sie eigentlich nicht unbedingt zur Vertrauten machen wollen, sondern eher vorausgesetzt, dass sie Mum widerstehen würde.

Sie wandte sich nicht um. »Mrs. Scrivens hat mich dabei erwischt, wie ich in mein Zimmer zurückgegangen bin. Sie dachte, ich hätte … ich hätte irgendetwas zu verbergen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste es ihr sagen.«

»Ich wollte nichts Dummes tun.« Ich erinnerte mich daran, wie ich die Zehen um die Kante des Holzstegs gelegt hatte, und an das Vergessen, das mich unter der dunklen Oberfläche lockte.

»Ich wollte nur …« Ich drehte den Kopf und lehnte die Stirn an das kühle Glas, das unter dem Druck ein wenig nachgab. Ich sah, wie Dr. Mayhews Wagen davonfuhr. Was sollte das alles eigentlich? Wie hätte ich jemandem verständlich machen können, dass ich mich auf diesem Bootssteg Gerald immer noch so nahe fühlte? Das war der einzige Ort, an dem mich nicht mit voller Wucht der Schrecken erfasste, dass er mir langsam entglitt. Dort zu stehen und meine Augen zu schließen, mich zu konzentrieren, ließ mich beinahe die Wärme des Augusts auf meinen Wangen und seine solide Anwesenheit neben mir spüren. Ich konnte die magischen Worte »Heirate mich!« beinahe wieder hören und spürte auch wieder diese Explosion der Freude in mir. Wer hätte es mir denn verdenken können, dass ich mich in all meinem Elend nach diesem Krümelchen Glück sehnte?

Annie schob die Kommode wieder zu. »Dr. Mayhew … Es gibt Dinge, von denen er nichts versteht.«

»Zumindest versteht er nichts von Trauer.« Ich gab mir gar nicht erst Mühe, meine Bitterkeit zu verbergen.

»Und das ist etwas, das wir beide nur zu gut kennen, Miss.«

Ich sah sie an. Ich konnte nur spekulieren, welcher Schmerz unter ihrer so sorgfältig aufrechterhaltenen Fassade brodelte. Sie hatte jeden verloren, der ihr etwas bedeutet hatte. Jim Burrows war gestorben, um die Tochter seines Dienstherrn zu retten, und hatte damit sein eigenes Kind dazu verdammt, ein Leben ohne die Liebe und die Sicherheit, die nur ein Vater geben konnte, zu führen. Dann war da ihre arme Mutter, die die Last lange allein hatte tragen müssen. Wahrscheinlich war es nur ihr zu verdanken, dass sie und Annie nicht im Armenhaus gelandet waren. Ich konnte die Entbehrungen, die beide hatten ertragen müssen, nur ahnen. Vielleicht war es kein Wunder, dass Annie so unzugänglich und seltsam wirkte: Noch in ganz jungen Jahren war ihre Welt über ihr zusammengebrochen, und wofür letztendlich? Lydia war trotzdem gestorben. Manchmal fragte ich mich, wie Annie es überhaupt in unserem Haus aushielt.

Vielleicht hielt sie es ja gar nicht aus.

Sie knickste kurz und schickte sich an zu gehen, doch bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, tauchte meine Mutter auf und kam in dem Augenblick herein, in dem Annie hinausging. Ich war immer noch trotzig und wandte mich ab.

»Hast du etwa hier geraucht?«

»Ich rauche nicht, Mutter.«

»Halt mich nicht zum Narren, Stella!«

Sie eilte zu meinem Nachttisch und zog die flache oberste Schublade des Schränkchens auf. Der Messinggriff klapperte, so heftig riss sie daran. Sie begann, im Inhalt der Schublade herumzukramen.

»Was machst du denn da?«

»Wo sind sie? Die Tabletten, die Dr. Mayhew dir verschrieben hat?«

»Warum willst du die denn haben?«

Sie streckte die Hand aus. »Gib sie mir, Stella.«

Mit plötzlich aufwallender Wut riss ich die Schublade in meinem Waschtisch auf, griff nach dem kleinen braunen Fläschchen und warf es ihr förmlich in die Handfläche.

»Da!«

Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger und hob es ins Licht, um es genau zu betrachten. »Unberührt!«, stellte sie fest.

»Ich will seine Pillen nicht, Mutter. Ich brauche sie nicht.«

»Diese Pillen sollen dir helfen.«

»Diese Pillen sollen mich betäuben, Mutter. Ich kann keine Probleme verursachen, wenn ich nicht in der Lage bin, zu funktionieren.«

»Sie sollen dir helfen, mit allem fertigzuwerden.«

»Ich werde sie nicht nehmen. Auf keinen Fall. Ich will nicht taub sein. Ich will fühlen. Ich muss fühlen.«

»Manchmal fühlen wir eben zu viel.«

»Das ist immer noch besser, als gar nichts zu fühlen! Man kann nicht einfach einen Zauberstab schwingen und dafür sorgen, dass ich alles vergesse. Dass es mir besser geht. Du hast Dr. Mayhew doch gehört. Vielleicht werde ich nie wieder gesund.«

»Oh!« Mutter warf angewidert die Hände in die Luft. »Lauschen wir jetzt an Türen, Stella? Bist du schon so weit gesunken?«

»Da ihr beide euch ja verschworen zu haben scheint, mich loszuwerden, lausche ich tatsächlich an Türen. So weiß ich wenigstens, was ihr plant.«

»Ach Stella.« Sie sank auf das Ende meines Betts. Ihre Schultern sackten herab, als ihr Kampfgeist sie verließ. Wieder schüttelte sie das Pillenfläschchen, sodass die Tabletten darin rasselten wie Reiskörner in einer Maraca. »Ich will dich nicht ›loswerden‹, Stella. Aber ich will dich auch nicht verlieren! Ich habe schon Lydia beerdigt. Ich könnte es nicht ertragen, noch ein anderes Kind aufgeben zu müssen.«

Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, und plötzlich sah sie so alt und verhärmt aus, dass ich richtig geschockt war. Es war, als fände man eine alte Puppe wieder, die man liebte und die man als hübsch und ewig jung in Erinnerung hat, die nun aber, wie man feststellen muss, ganz alt und angeschlagen ist, weil man zu viel mit ihr gespielt hat. Schmerz trübte ihren Blick, als sie ihn zu mir hob. »Ich verstehe, was du gerade durchmachst. Ich weiß, du glaubst mir das nicht. Aber ich weiß, was Verlust bedeutet, Stella, und ich kenne den Schmerz, der damit einhergeht.«

Natürlich wusste sie, was es bedeutet, jemanden zu verlieren; ich hätte das nie in Zweifel gezogen, auch wenn ich ihr nicht abnahm, dass Lydias Tod für sie der schlimmste gewesen war. Sie hatte damals unter Tränen versichert, dass sie einen Teil von sich verloren hatte, wohingegen Madeleine und ich – zumindest ihrer Ansicht nach – nur um eine Spielkameradin trauerten. Aber Lydia war uns so viel mehr gewesen. Sie war unser ständiger Schatten, eins unserer Körperglieder, sie war der Clown, wenn wir in Ungnade gefallen waren, und unser williger Sündenbock, wann immer uns Ärger drohte. Sie war immer überzeugt davon, dass sich dank ihrer engelsgleichen Niedlichkeit der Zorn unserer Eltern in Luft auflösen würde. Sie war unsere Schwester, und wenn sie schon kein physischer Teil unserer Körper war, war sie doch ein kostbarer und unersetzlicher Teil unserer Existenz. Selbst jetzt trugen wir sie immer in unseren Herzen.

Ich hatte meiner Mutter nie ganz vergeben, dass sie sich von uns auf diese Weise zurückzog, in ihrer eigenen Trauer förmlich ertrank und unsere dabei so gut wie ignorierte. Aber Geralds Verlust hatte mir geholfen, sie und ihre vermeintliche Selbstsüchtigkeit etwas besser zu verstehen, denn ich war davon überzeugt, dass niemand sonst so voller Kummer sein konnte wie ich. Meine Trauer um Gerald war nicht nachgiebig, sie war rigoros und allumfassend, und ihre Intensität schien der Liebe, die ich immer für ihn empfunden hatte, erst ihren eigentlichen Wert zu verleihen. Er war meine Zukunft gewesen, doch als er starb, hatte sein Tod mir diese Zukunft genommen. Erst jetzt drängte sich mir die Schlussfolgerung auf, dass Lydias Tod in meiner Mutter ähnliche Gefühle geweckt hatte.

»Ich werde nichts Dummes mehr anstellen«, sagte ich schließlich.

»Versprichst du mir das?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln und setzte mich neben sie. Unsere Schultern berührten sich leicht. Ich nahm ihr das Pillenfläschchen aus der Hand und warf es in den Kamin. Es klapperte, als es auf die Fliesen davor prallte. »Ich weigere mich, diese Tabletten zu nehmen, aber ich verspreche, dass ich nichts tun werde, um mir selbst zu schaden. Das könnte ich dir nicht antun.«

Sie nickte. Offenbar kämpfte die ihr angeborene Würde mit den Gefühlen, die sie zu überwältigen drohten. Sie nahm meine Hand.

»Gut«, meinte sie und drückte meine Finger kurz, bevor sich ihr Griff wieder löste und sie aufstand. Sie tätschelte meine Schulter und schickte sich an, zu gehen. Doch im Türrahmen blieb sie noch einmal stehen.

»Sie wird nachlassen, Stella. Deine Traurigkeit. Du wirst lernen, damit zu leben. Wir lernen alle mit der Zeit, dass das Leben weitergeht.«

Als sie gegangen war, saß ich noch eine Weile still da. Natürlich hatte ich meinen Anteil daran, dass ihre Nerven so blank lagen, dass sie so bereitwillig ihre größten Ängste und schlimmsten Albträume für wahr hielt. Ja, ich musste mir eingestehen, dass ich wohl die Schuld daran trug.

Ich war eine Woche lang nicht zu Hause gewesen, nachdem Annie Burrows mich ans Ufer des Sees gezogen hatte. An diesem Tag hatte ich es geschafft, den wachsamen Augen meiner Mutter zu entkommen, und wusste genau, was ich mit den kostbaren Augenblicken anfangen wollte, in denen sie sich hatte ablenken lassen. Ich schritt aus, forsch, aber nicht hastig, direkt zum See hinunter, ein Ziel vor Augen: das Ende des Bootsstegs. Meine Schritte hallten auf den Brettern wider, unter mir schwappte das Wasser träge an die Bohlen. Am Ende angekommen blieb ich einen Augenblick stehen und gestattete mir, um mir Mut zu machen, kurz den Gedanken an meine liebste Erinnerung, bevor ich ins Leere hinausschritt. Das eisige und dunkle Wasser, das über mir zusammenschlug, wirkte wie ein Schock. Doch als ich tiefer sank, Stränge von Laichkraut an meinen nackten Beinen entlangglitten, meine Röcke sich über meine Taille hinweg aufbauschten, traf ich die bewusste Entscheidung, mich nicht zu wehren; dem silbrigen Licht, das sich nun diffus und weit über mir ausbreitete, nicht wieder entgegenzustreben. In diesem Augenblick machte sich ein Friede in mir breit, den ich seit Wochen nicht mehr gespürt hatte. Ich entspannte mich in der Umarmung des Wassers, das nicht mehr eisig und beängstigend war, sondern warm und tröstend. Ich hatte keine Angst. Ich glaube, ich war sogar erleichtert.

So umarmt, so umschlungen von meinem nassen Grab, hörte ich das Platschen nicht, mit dem Annie Burrows neben mir in den See gesprungen war. Erst als feste Finger energisch meine vom Wasser durchtränkte Kleidung packten, begriff ich, dass ich nicht länger allein war. Ich wurde herumgerissen und hatte plötzlich ihr Gesicht vor mir. Es schimmerte wie ein Vollmond am mitternächtlichen Himmel. Ich wehrte mich gegen sie und versuchte, mich aus ihrem eisernen Griff zu lösen, trat um mich, während mir Luftblasen aus dem Mund stiegen, aber sie war überraschend kräftig und ließ mir keine Wahl. Sie schlang die Arme um meine Brust, ignorierte meine Klauen und schwamm mit solcher Kraft aufwärts, dass wir die gläserne Oberfläche förmlich zerschmetterten und darüber instinktiv nach Luft rangen. Ich schrie auf vor Zorn, als sie mich zum Ufer riss. Immer wieder rutschten wir auf dem schlammigen Untergrund aus. Sie stöhnte vor Anstrengung, als sie mich an den Strand zerrte. Ich schluchzte vor Enttäuschung, während wir so dalagen, auf dem Rücken, bis auf die Haut durchnässt, Haarsträhnen über dem Gesicht, und atemlos hinauf in den bleiernen Himmel starrten.

Schließlich spuckte sie Wasser und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Immer noch atmete sie schwer. Jetzt kamen Leute auf uns zugerannt, sie riefen aufgeregt nach uns, meine Mutter, mein Vater, Mrs. Scrivens, Brown, ein Gärtner. Mutter klagte. Beide wurden wir auf die Beine gerissen, dann begann jemand an meiner nassen Kleidung herumzuzupfen, eine Jacke wurde mir über die Schultern gelegt. In all dem Chaos und der Aufregung stolperte Annie auf mich zu und legte ihre tropfnasse Wange kurz an meine, dann wurde sie von mir weggezogen.

Die Worte des jungen Hausmädchens gingen in der Kakofonie der Stimmen unter, während wir ins Haus gebracht wurden. Später, als ich endlich allein war und über den Verlauf des Geschehens nachdachte, konnte ich das Gesagte aus dem Chaos herauslösen. Es schickte mir einen Schauer über den Rücken.

»Er sagte, Ihre Zeit sei noch nicht gekommen.«

4

Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass selbst die Gärten von den schädlichen Auswirkungen des Krieges nicht verschont geblieben waren. Die Hecken waren vor ein paar Jahren noch regelmäßig zurechtgestutzt worden, doch jetzt sprossen allenthalben die Triebe aus dem Gebüsch, überall wucherte Löwenzahn aus dem Kies der Wege.

Ein Stein in meinem Schuh zwang mich, neben dem Springbrunnen stehen zu bleiben. Einst hatte er Fontänen hoch in die Luft geworfen. Ein großartiger Anblick, doch nun war der Brunnen stillgelegt, nur eine trübe Pfütze war in der Mitte des breiten Beckens geblieben. Ich stützte mich an der bröckeligen Kante ab, um meinen Schuh aufzubinden und den Steinsplitter herauszuschütteln.

Als ich zu meinem Zuhause aufblickte, wallte ein vertrauter Stich von Traurigkeit in mir auf. Einst war es ein perfektes Beispiel klassizistischer Architektur gewesen: das Haupthaus mit Erdgeschoss zwei Stockwerke hoch, mit rechts und links je einem angebauten Flügel, ebenfalls zwei Stockwerke hoch, sodass die Symmetrie gewahrt blieb, alles in dem goldenen Sandstein aus Bath errichtet. Aber im Laufe der Jahre war die Symmetrie verloren gegangen, das Gebäude wirkte seltsam aus dem Gleichgewicht geraten, denn vom Ostflügel waren keine Überreste mehr vorhanden. Die verkohlten Ruinen, die das Feuer damals übrig gelassen hatte, geschwärzt und tot, ragten wie verrottete Körperteile eines Leprakranken in die Höhe. Die Fenster waren zu leeren Augenhöhlen geworden, die Wände ohne Putz und Stuck wirkten wie nackter Knochen. Ich hatte den beißenden Geruch des Qualms, der am Morgen danach in der Luft gehangen hatte, noch jetzt, nach all den Jahren, in der Nase und sah die Feuerwehrmänner vor meinem geistigen Auge, die unentwegt versuchten, die hartnäckig schwelende Glut zu löschen. Die Schläuche verliefen wie Venen über den Rasen und endeten im See. Mein Vater und ich hatten später am Tag die Familie Burrows besucht, um unser Mitgefühl und die tief empfundene Dankbarkeit auszudrücken; war sie doch ihres Vaters beraubt worden. Auf unserem Rückweg waren wir stehen geblieben, um den Feuerwehrmännern bei ihren Bemühungen zuzusehen. Auf eine nüchterne Art und Weise waren wir uns dabei bewusst, dass die sterblichen Überreste von Jim Burrows irgendwo in den Trümmern und all dem Schutt lagen.

Das verbrannte Gebäude wurde bald abgerissen, denn niemand wollte länger an die Tragödie erinnert werden, doch die roten Ziegel, die man verwendete, um die Wunde zu versiegeln, hoben sich so stark vom buttergelben Sandstein des restlichen Hauses ab, dass sie wie eine Narbe wirkten, die wohl nie verblassen würde.

Ich zog mir den Schuh wieder an, ging weiter auf das Haus zu und wünschte mir dabei, dass ich meinen Gedanken nicht gestattet hätte, auf solch unglückliche Pfade abzudriften. Ich erinnerte mich nicht gern an die Brandnacht, und wenn ich es doch tat, rief das verstörende Gedankenbilder wach und warf Fragen auf, die ich in den letzten zehn Jahren so gut wie immer verdrängt hatte.

Ich trat durch die Tür ein, die in den hinteren Korridor führte, und zog mir die Handschuhe von den Fingern. Ich konnte gedämpfte Stimmen hören, als ich mich dem Salon näherte, und kam zu dem Schluss, dass Mutter Gäste hatte.

Mir lag nichts daran, mich in einen dieser ermüdenden Besuche hineinziehen zu lassen, also senkte ich den Kopf und ging etwas rascher an der offen stehenden Tür vorbei, doch ich hatte Pech.

»Oh, da ist sie ja. Stella!«

Ich versuchte gar nicht erst, meinen genervten Seufzer zu unterdrücken. Ich kehrte auf dem Absatz um und ging auf die Tür zu, um im Rahmen stehen zu bleiben.

Ein großer Mann in Uniform stand mit dem Rücken zu mir im Salon. Das braune Haar war im Nacken ordentlich geschnitten. Mutter hatte sich mir zugewandt.

»Schau mal, wer gekommen ist, um uns zu besuchen!«

Für den Bruchteil einer Sekunde war ich kurz davor, in Jubel auszubrechen: Gerald … Das war alles nur ein schrecklicher Fehler gewesen! Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, mein Herz machte einen Satz, doch als der Offizier sich umdrehte, um mich zu begrüßen, löste sich das Lächeln auf, meine überschäumende Freude verschwand. Die Realität hatte mich wieder.

»Hector. Wie schön, dich zu sehen.«

Mein Schwager Hector Brightwell lächelte strahlend und kam hinter dem Sofa hervor, um mich zu begrüßen. Er packte mich an beiden Oberarmen und küsste mir die Wangen. »Hallo, Stella.«

»Ich hatte schon Sorge, dass du nicht mehr rechtzeitig zurückkämst, um ihn zu treffen.«

»Tut mir leid, aber ich wusste nicht, dass du herkommen wolltest.« Meine absurde Enttäuschung begann zu verblassen.

»Ach, ich kam auf gut Glück her. Ich hatte zufällig in der Gegend zu tun und dachte, ich schau mal kurz vorbei, um euch alle zu treffen.«

Hector hatte mit ein wenig Glück – das er, wie ich annahm, dem beträchtlichen Vermögen und dem Einfluss seiner Familie zu verdanken hatte – eine sichere Stelle bei der Armeeverwaltung in Whitehall, dem Londoner Regierungsviertel, ergattert, wo er bisher den Krieg verbracht hatte. Ich versuchte, ihn dafür nicht zu hassen, was mir, nachdem Gerald gefallen war, besonders schwerfiel. Es war nicht so, dass ich ihn nicht mochte, er war intelligent und liebenswert, wenn auch manchmal etwas bieder, und immerhin war er meiner Schwester zutiefst zugetan.

»Wirklich schön, dich zu sehen, Hector! Wie geht es Madeleine?«

Vor ein paar Wochen hatte meine Schwester angerufen, um uns etwas Wunderbares mitzuteilen: Sie erwartete ein Kind. Es war das erste Mal seit Geralds Tod, dass ich wirklich Glück empfand. Madeleines Jubel war noch verhalten, denn sie versuchte, ihre Begeisterung zu zügeln; stand sie doch noch ganz am Anfang der Schwangerschaft. Aber sie war auch eine Pragmatikerin: Nach drei Monaten wusste sie, dass man es bald sehen würde, und hatte sich deshalb entschlossen, es uns zu sagen.

»Danke, es geht ihr gut, sehr gut!« Hector setzte sich wieder, ich nahm ebenfalls Platz, während meine Mutter noch Tee nachgoss. »Vielleicht hat sie es dir ja gesagt, sie ist gerade bei meiner Mutter auf unserem Landsitz Greyswick.«

»Ach ja, das hat sie in ihrem letzten Brief erwähnt. Die Zeppelinangriffe auf London müssen wirklich furchtbar sein.«

»Ich bin mir im Klaren darüber, dass sie oft danebengehen, aber um ehrlich zu sein, bin ich ganz froh, dass ich Madeleine nicht in ihrer Nähe weiß, besonders unter diesen Umständen. Und um ehrlich zu sein, kann ich ja auch kaum Zeit mit ihr verbringen, so wie die Dinge derzeit stehen.«

»Natürlich. Nun, es beruhigt mich sehr, zu wissen, dass sie in Sicherheit ist. Das ist alles so fürchterlich.« Meine Mutter machte eine Pause. »Und es geht ihr wirklich gut, Hector?«

»Ja, sehr, sehr gut«, versicherte er ihr mit einem freundlichen Lächeln. »Alles verläuft wirklich einwandfrei.«

Er und meine Mutter sprachen weiter, aber in mir rief Hectors Anwesenheit bittersüße Erinnerungen wach. Das letzte Mal, dass wir uns in Haverton Hall gesehen hatten, war anlässlich der Hochzeit meiner Schwester gewesen. Durch irgendein Wunder war es Gerald und mir gelungen, gleichzeitig Urlaub zu bekommen, sodass wir zusammen daran teilnehmen konnten. Irgendwie wünschte ich mir, das wäre das letzte Mal gewesen, dass Gerald und ich uns gesehen hätten. Vielleicht wäre es für alle einfacher gewesen, wenn ich mich so an ihn hätte erinnern können: so hübsch in seiner Galauniform, lachend, ein Glas Champagner in der Hand, sorglos im Sonnenschein. Aber wir waren uns noch einmal begegnet, unter anderen, dramatischeren Umständen.

Als Hector sich erhob, um sich zu verabschieden, schreckte ich aus meinen Gedanken auf und kehrte in die Gegenwart zurück.

»Ich lasse deinen Wagen vorfahren«, meinte Mutter und zupfte kurz am Klingelzug, der neben dem Kamin hing. Hector ging zu ihr, um sie noch einmal liebevoll zu umarmen, doch als er auf mich zukam, die Mütze etwas verlegen in der Hand, blieb er plötzlich stehen.

»Bringst du mich zur Tür, Stella?«

»Aber natürlich.« Ich setzte meine Teetasse ab, verwirrt über diese unerwartete Bitte.

Wir gingen zusammen durch die Eingangshalle und Hector öffnete die große Flügeltür für mich, sodass ich als Erste hinaustreten konnte. Der Himmel hatte sich zugezogen, die Wolkendecke war weiß und für das Sonnenlicht undurchdringlich. Als ich aufsah, konnte ich nur noch die verschleierte Sonne erkennen, die dahinter gefangen war. Zudem war ein steifer Wind aufgekommen und blies durch meine Kleidung hindurch. Ich hoffte, dass Hector mich nicht zu lange hier draußen aufhalten würde.

»Ich bin heute nicht zufällig vorbeigekommen. Ich wollte dich unbedingt sprechen«, gestand er.

»Ach?«

Er hatte seine Mütze aufgesetzt und zog sich nun den Schirm tiefer über die Brauen. »Ich glaube, mein Fahrer braucht noch eine Weile, wollen wir ein Stück gehen?«

Wir überquerten die mit Kies bestreute Auffahrt und schlenderten über den Rasen dahinter. In der Ferne erstreckte sich der See bis hin zum Horizont, der Wind ließ Wellen über die Wasseroberfläche laufen. Mir fiel auf, dass Hector in einiger Entfernung vom Ufer stehen blieb. Vielleicht fürchtete er, dass das Wasser unwiderstehlich anziehend auf mich wirkte.

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

»Einen Gefallen?« Ich versuchte vergeblich, meine Überraschung zu verbergen. Er war mein Schwager, gewiss, aber Hector war mir doch fremd. Ich war bereits in Frankreich stationiert, als er Madeleine bei einer Benefizveranstaltung in London kennenlernte. Er war jemand, über den ich in Briefen las – also eine eindimensionale Schöpfung, eine Liste von beschreibenden Worten. Ich hatte ihn erst bei der Hochzeit getroffen, bei der ich, vielleicht egoistischerweise, eher darauf aus gewesen war, etwas kostbare Zeit mit Gerald statt mit meinem frischgebackenen Schwager und der aufgeblasenen Entourage zu verbringen, die er mitgebracht hatte. Seit meiner Rückkehr hatte ich ihn erst ein paarmal gesehen, und immer nur kurz. Wir hatten Höflichkeiten ausgetauscht, aber es war wenig geschehen, das familiäre Vertrautheit hätte herstellen können. Und doch war er jetzt extra hergekommen, um von mir einen Gefallen zu erbitten.

»Ich habe mich gefragt, ob du Madeleine vielleicht für eine Weile besuchen möchtest. Auf Greyswick.«