Die Vernichtung von Dersim - Haydar Isik - E-Book

Die Vernichtung von Dersim E-Book

Haydar Isik

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Beschreibung

Im Zentrum der Handlung steht das Schicksal des Dorfes Mergasur in Ost-Dersim, einsetzend im Winter 1937/ 38. Die türkische Militäraktion gegen West-Dersim ist bereits in vollem Gange, nach einem außerordentlich harten Winter werden auch die Dörfer Ost-Dersims geräumt, ein großer Teil der Bevölkerung wird umgebracht, wer überlebt wird in den Westen der Türkei deportiert. Im weiteren Verlauf konzentriert sich die Geschichte auf das Schicksal einer jungen Frau, die als kleines Mädchen die Massaker überlebt hatte.

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Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Haydar IşıkDie Vernichtung von Dersim

Haydar Işık

Die Vernichtungvon Dersim

Roman

aus dem Türkischenvon Sabine Adatepe

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Isik, Haydar:

Die Vernichtung von Dersim: Roman / Haydar Isik. - 1. Aufl.. - Münster : Unrast, 2002

ISBN 3-89771-852-9

© Haydar Isik, Dersim Tertelesi, Istanbul 1996

Haydar Isik: Die Vernichtung von Dersim

ebook UNRAST Verlag, Juni 2012

ISBN 978-3-95405-004-8

© für die deutsche Ausgabe

UNRAST Verlag, Münster 2000

Postfach 8020, 48043 Münster | Tel. (0251) 66 62 93

[email protected] | www.unrast-verlag.de

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Umschlag: Online Design GmbH, Bad Kreuznach

Satz: UNRAST-Verlag, Münster

Es war Winter, der Winter der Zerstörung von Dersim. Tief verschneit die ganze Gegend. Nicht Berg noch Tal waren zu erkennen. Die hohen Bergriesen, weit in die Tiefen des Himmels hinaufragend, lagen unter sieben Lagen blendend weißen Damaszener Linnens. Sturm war über dem weißen Meer, uferlos, soweit der Blick reichte. Unter diesen weißen Wogen mußte das Leben innegehalten haben. Solche Tage gleichen Nächten, monoton und ohne Ende. Das Gebrüll des peitschenden Sturmes tötet jeden Nerv. Beschwerlich atmet der Mensch bei solcher Wetterlage. Glaubt sich erstickt, glaubt, kein Lufthauch zum Atmen sei geblieben in der weiten Welt. Die Furcht lähmt das Atmen noch dazu. Tagelang geht das so. Tage sind von Nächten nicht zu unterscheiden. Der Nordwind rast die Hänge des Berges Hamik herunter, kennt nirgendwo Einhalt. Pule Gewr, Dere Lay, Dilwe und Mergasur hielten kaum Stand diesem brausenden Sturm.

Der Sturm, der an jenem Tag den Hamik herunterfegte, hatte die Gegend schon am Mittag in Finsternis getaucht. Es gab Leute, die zweifelten, ob sie je das Sonnenlicht wieder sehen würden, ja, ob es je wieder Tag werden würde. Tiefe Finsternis mitten am Tag. Die Älteren stellten eigene Vermutungen an: »Ob wohl die Sonne sich verfinstert hat?« Der Sturm hatte sich einer dunklen Kuppel gleich bei Mergasur im Osten Dersims verfangen. Die Schwärze in diesem wirbelnden Weiß ließ alles, was lebte, vor Angst erschauern. Die von Natur aus so menschenscheuen Vögel hatten sich mutig in die Gästezimmer geflüchtet. Die gen Süden gehenden Vordächer waren von Gezwitscher erfüllt.

In Mergasur herrschte trotz allem reges Treiben. An solchen Tagen gedachte man der Heiligen Dersims, betete und flehte zu ihnen, man spielte Saz, erzählte Märchen. Sie priesen ihre mächtigen Heiligen, die in den himmelwärts ragenden Gipfeln der Berge lagen, die Kurden von Dersim. Sie sprachen mit den Bergen, auf die das Licht Alis gefallen war, über die er geschritten war, an die er sich gelehnt hatte, um auszuruhen, die von seinen kräftigen Fußspuren gezeichnet waren, die heiligen Berge Kurdistans: Tujik Bava, Koye Sur, Pule Tacniye, Kırklar, Karsniye, Zêl und Koye Duzgin. Das Mekka der Menschen von Dersim, der Berg Duzgin, wurde um Hilfe gebeten. Den Säulen gleich, die die Tempel der alten Griechen tragen, standen diese Berge elegant und schmuck. Tausende von Metern ragten sie auf. Die Gipfel im Himmelszelt lehnten sie sich aneinander, Bruder, Schwester, einander nah verwandt, eng befreundet. Jeder einzelne von ihnen ein Heiliger, ein Wallfahrtsort. Schönheit, Tapferkeit, Ehrlichkeit, alle guten Eigenschaften und hehren Gefühle strahlten von ihnen auf die kurdischen Dörfler aus, denen sie Licht waren, in deren Herzen sie Liebe, Aufrichtigkeit und Mut anfachten. An eben solch einem Tag sollten sie die Herzen füllen, ihnen Liebe, Zärtlichkeit, Schönheit und Güte eingeben. Die Finsternis sollten sie vertreiben und helle Freude bringen, die geliebten Berge.

Sie traten bei Alibinat ein, und mit ihnen stob der Schnee hinein. Mit Mühe nur schlossen sie die Tür hinter sich, traten ihre groben Lederstiefel ab und klagten: »Der Weltuntergang! Wie sonderbar! Möge Gott uns vor dem Wüten schützen!« So vor sich hin grummelnd kamen sie herein. »Onkel Alibinat, das Ende der Welt ist nahe!« rief der eine. Ein anderer gab zurück: »Ja, Bruder, da hast du wohl Recht, die Welt steckt in der Klemme!« Der Raum füllte sich zusehends. Alibinat begrüßte alle Ankommenden herzlich. Alle Dörfler, groß und klein, gingen auf ihn zu, küßten seine Hände, umarmten ihn ehrerbietig, erst dann ließen sie sich im Schneidersitz auf die Kelims nieder, die auf den Boden gebreitet waren.

Die Hitze der knisternd im Ofen brennenden Scheite stieg durch das Ofenrohr auf und verflog. Stünde nicht der Erzincan-Ofen in der Raummitte, wäre die Luft so kalt hier drinnen, daß kaum die vereisten Schnauzbärte tauen würden. Das Heulen des Sturmes übertönte die Stimmen der Männer, die hier miteinander sprachen. Alle redeten vom Winter, von der weißen Katastrophe. Die Tabaksdose ging von Hand zu Hand. Alibinat schob die gefüllte Dose von Gast zu Gast, er wünschte, daß sich heute jeder von seinem Tabak bediente. Die Kinder reichten den Gästen Tee. Bald füllten Schwaden von Tabakrauch den Raum. Bläulich schlingerten die Schwaden um die gelblich fahlen Laternen, zogen dann in Wellen zum Ofen und lösten sich auf. Die Männer tranken den Tee und schoben sich dazu Zuckerstücke in den Mund, ihr Schlürfen klang durch den Raum.

Plötzlich trat Stille ein, Alibinat, der mit dem Rücken zur Tür saß, wandte sich um. Riza Tschausch war eingetreten. Wie alle stand auch Alibinat auf und ging auf ihn zu. Nachdem man sich ehrerbietig an den Schultern berührt hatte, ließ Riza sich behäbig neben dem Ofen nieder. Herzlich freute er sich darüber, daß einschließlich Alibinat alle Dörfler aufgestanden waren und ihm ihre Achtung erwiesen hatten. Er saß da wie ein von der Mutter verzogenes Kind. Ein stolzes Lächeln hatte sich auf seinem Gesicht breitgemacht.

»Herzlich willkommen, Riza Tschausch, Euer Besuch ist uns eine große Ehre!« begrüßte ihn Alibinat. »Danke, Onkel«, erwiderte er nur. Seine Antwort entbehrte der Unterwürfigkeit, die ansonsten in den Begrüßungszeremonien der Kurden enthalten sind. Alle anderen hatten Alibinats ehrerbietige Begrüßung mit Achtung erwidert: »Oh, Onkel, möge es dir gut ergehen! Ich küsse deine Hände!« Alibinat fragte nun weiter: »Wie geht es Eurem Vater?«

»Er ist bettlägerig.«

»Mögen der Kures, der Kemere Duzgin, alle Heiligen Dersims unserem Herrn ein langes Leben schenken«, gab Alibinat zurück und alle Männer schlossen sich an.

Alibinat war jünger als Heseneli, Riza Tschauschs Vater. Doch er gehörte zu den Ältesten, die gleich nach jenem kamen. Er war der Lehrer und Philosoph des Dorfes. Jeder war darum bemüht, etwas von ihm zu lernen. Wer ein Problem hatte, wurde bei ihm vorstellig. Wer krank war, wer heiraten wollte, wer Eheprobleme hatte oder Schwierigkeiten mit dem Clan, alle kamen sie zu ihm, und er fand auf alle Fragen dieser Welt eine Antwort.

Wenn es hieß: »Apo Alibinat hat das gesagt«, dann wurde das widerspruchslos hingenommen. In jedem Dorf, jeder Stadt gibt es einen, der sich durch seinen Geist auszeichnet. Und in Mergasur war es eben Alibinat, der durch seinen Geist hervortrat. Er war der Mann mit den meisten Erfahrungen nicht nur seines Dorfes, sondern auch der Nachbardörfer und des ganzen Clans. Seine zahlreichen Erfahrungen machten ihn zu einem gesuchten und gefragten Mann in der ganzen Umgebung. Er glich einer wandelnden Bibliothek. Er galt dem Wunderheiler Lokman gleich. Und keiner kannte wie er die Geschichte, die Geschichte der Kurden.

Er war der ununterbrochene Erzähler in diesen langen, nicht enden wollenden Winternächten. Unermüdlich, unerschöpflich erzählte er. Wie oft hatte er schon von den Schlachten erzählt, an denen er teilgenommen hatte: von der ersten Mobilmachung zum osmanischrussischen Krieg 1877/78, dann von der zweiten Mobilmachung zur Vernichtung der Armenier. Er liebte es besonders, den Kindern zu erzählen. »Apo, erzähl uns ein Märchen!« beknieten sie ihn, und er ließ sich nicht lange bitten und hub zu erzählen an. Bis Mitternacht fanden die Kinder nicht in die Betten, nur um ihm lauschen zu können. Wenn der Kopf schwerer und schwerer wurde und ihnen die Augenlider zufallen wollten, saßen sie dennoch mit halbgeschlossenen Lidern da und hörten ihm zu. Später ließen sie sich von den Vätern auf Armen oder Rücken nach Hause tragen und zu Bett bringen.

Alibinats Gästezimmer war nun zum Bersten gefüllt. Außer dem kranken Heseneli war wohl das ganze Dorf versammelt. Begrüßung und Fragen nach dem gegenseitigen Befinden dauerten eine Weile, bis schließlich Alibinat, der wußte, daß die Leute mit einer gewissen Erwartung gekommen waren, seine Stimme erhob: »Bakıl, mein Herz, nimm nun die Saz zur Hand. Alle warten auf dich.« Ohne sich zu zieren, nahm Bakıl die ihm gereichte Saz und stimmte sie zunächst. Mit seinen krummen Fingern spielte er dann Weisen, die die Leute von Dersim bei den Cem-Versammlungen, den religiösen Zusammenkünften der Alewiten, spielten. Es waren Weisen, die den Duzgin, den Kures besangen und rühmten. Ab und an sang er von Kerbela, von Hüseyin, den die Dersimer Uşen nennen, Lieder, die das Leiden Hüseyins in alle Herzen trugen. Sogleich flossen Tränen, aufgestiegen aus den weichen Herzen der Frauen. Das jahrhundertealte Leiden Uşens rührte die Herzen. Nach diesen Weisen trug Bakıl bewegt Dersimer Lieder des Kampfes vor.

Pane pane, bırayene pane

Eskere dewlete amo Dersim ser

Mezal ci mede pane

Maye vana, camerd cira yene dina?

Na roze, roza kırmanciya

Bıra, me winde pane

Schießt, schießt doch, Brüder, schießt,

Die Soldaten des Staates haben Dersim umzingelt

Gebt es nicht her, schießt,

Mutter, fragt sie, warum kommen Männer auf die Welt?

Heut‘ ist der Tag des Kurdentums

Brüder, haltet nicht ein, schießt doch

Bakıl saß wippend über die Saz gebeugt. Als er »Pane pane« sang, schien seine Stimme noch höher, noch lebendiger, noch dramatischer zu klingen. Der kräftige schwarze Schnauzbart, der ihm über die Lippen hing, gab seinem verdrießlich gespannten Gesicht ein wildes Aussehen, als kämpfte er Seite an Seite mit den Helden von Demanan gegen den übermächtigen Feind. Die Augen, unter breiten, finster geballten Brauen, mit einem Blick, als nähme er Kimme und Korn am Mausergewehr, hob er nicht von den züngelnden Flammen des Feuers.

In einem Kreis um die Männer herum saßen die jüngeren Männer, hinter ihnen ihre Mütter. Bakıl sang bewegt episch von allem, was bei den Demanan in West-Dersim geschah. Aus den Augen der Frauen ergossen sich längst Ströme von Tränen. Zunächst waren es Tröpfchen gewesen, die jede still für sich weinte, dann Schniefen und schließlich lautes Schluchzen. Das Elend der Clans in West-Dersim lag in ihren Tränen. Das Leid jeder Frau, jeden Kindes, jeden Mannes war auch ihres. Was blieb ihnen denn anderes als zu weinen?

De wayi wayi wayi

Lemin wayi

Axzoniko wesayiyo

Lemin na çi miz dumano

Sare Kırmancu qırkerdo

Lemin wayi

Ach, wai, wai, wai

Lemin, wai

Hozat brennt

Mein Gott, was für ein Nebel, was für ein Rauch

Man mordet die kurdische Nation

Lemin, wai

Ein Lied nach dem anderen. Manche der jüngeren Männer schlossen sich Bakıls Gesang an. Alibinats Raum hallte von Männerstimmen wider. Es waren Lieder, die Leid zum Ausdruck brachten und Wut.

Zigaretten wurden gedreht, das Leid in den Liedern besprochen, Rosinen, Pestil, Maulbeeren und Walnüsse geknabbert. Wie immer wartete man auf den Höhepunkt der Versammlung. Die Kinder waren kurz vor dem Entschlummern, und die ganz besonders Neugierigen waren ja sie. Aller Augen waren auf Alibinat gerichtet. Die Augen derer, die ihn mochten, und auch derer, die ihn innerlich ablehnten, doch er hatte noch nie jemandem je ein kränkendes Wort gesagt. Die Dörfler liebten ihn, wie sie ihn fürchteten. Sein Fluch konnte Felsen spalten, Ochsen umwerfen, Menschen innerhalb einer Woche in Krankheit stürzen. Da das jeder wußte, war seine Stellung sicher. Im vergangenen Jahr hätte Cafo Derg fast mit dem Leben dafür bezahlen müssen, daß er in das Feld der hinterbliebenen Waisen von Uso Kor eingedrungen war. Alibinat hatte die Grenzverletzung gesehen und gesprochen: »Ero Cafo, ist das nicht ungehörig, was du da getan hast? Glaubst du, dich ungestraft an den Waisen vergehen zu können?« Cafo Derg war bei diesen Worten vor Wut außer sich geraten. Mit dem Anspruch, Recht zu haben, wie der Drache, der sich an den Brunnen setzt und Tribut verlangt, hatte er ganz Mergasur zusammengeschrien. Daraufhin hatte Alibinat die Grenzsteine aufgehoben und den ehemaligen Grenzverlauf wieder hergestellt: »Entweder du akzeptierst das oder du richtest dich darauf ein, daß dein Ofen verlöschen wird und deine Kinder nicht mehr wärmt. So wahr ich den Duzgin, der uns hier zuhört, dafür anflehen werde!« Cafo Dergs lange Beine hatte augenblicklich ein Zittern befallen, Angst kroch ihm in alle Knochen, und er wurde brav wie die Ziege im Maul des Wolfes. Voller Schrecken rief er mit zittriger Stimme: »Apo, Apo, Gott möge dich strafen! Willst du meine Familie des Ernährers berauben?« »Das ist deine Sache«, hatte Alibinat ruhig geantwortet und war davongegangen. Cafo Derg lief ihm hinterher, küßte seine Hände und bat um Vergebung. Seine Frau warf sich Alibinat zu Füßen, er möge doch verzeihen. Fast alle Bewohner Mergasurs glaubten fest daran, Cafo Derg sei von einem großen Fluch befreit worden. Hätte er auf seiner Sache beharrt, hätte er kaum die nächste Woche überlebt, dachten alle, jung und alt, Mann und Frau. Die Frauen erzählten sich, daß es Alibinat sei, der Freitag nachts Kerzen am Brunnen anzündete. Des nachts war Alibinat soviel wert wie vierzig Kerzen in der Dunkelheit, am Tag war er Verstand und leuchtender Geist.

Er betrachtete die Dörfler, die am Ofen saßen, an mit Stroh gestopfte, mit Kelimstoff überzogene Kissen gelehnt. Reglos und nachdenklich saß er da. Sicher dachte er darüber nach, wie er anfangen sollte. Er wollte seine Zuhörer nicht langweilen. Behutsam strich er über seinen weißen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Sein Blick fiel auf Riza Tschausch und, der Reihe ihrer Bedeutung nach, auf die Männer, die ihm gegenüber und neben ihm saßen. Alle warteten auf den Anfang seiner Rede. Der Raum war von schwerem Tabakduft erfüllt. Das fahle gelbliche Licht der Laternen, die über dem Ofen und an einem Pfahl befestigt waren, behauptete sich kaum gegen den blauen Dunst.

»Ero bıra, also Brüder, als die Russen damals kamen …«, hub Alibinat mit vom Rauchen heiserer Stimme schließlich an, und aller Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. Was würde er heute erzählen? Ein kurdisches Märchen, eine Geschichte aus dem Krieg oder eine historische Begebenheit? Vielleicht hatten sie dieselbe Erzählung schon vor Wochen gehört. Denn womit sonst sollte man diese Winternächte zubringen? Ihm zuzuhören war lehrreich. Was man von ihm hörte, konnte man später den Kindern weitererzählen.

»Die russischen Soldaten marschierten in Kurdistan ein. Himmel und Erde waren voller russischer Soldaten. Schon war Berg und Stein in ihrer Hand. Schon war Erzingan gefallen. Von den ruhmreichen Osmanen keine Spur. Die Osmanen, die zum Adler werden, wenn es ums Marodieren und Steuereintreiben geht, rannten davon wie die Hasen, als die Russen kamen. In ganz Dersim stand kein einziger osmanischer Soldat. Der russische General schickte Unterhändler zu den Führern der kurdischen Clans. ›Ihr Kurden und Armenier leidet doch genug unter den Osmanen, kommt zusammen, werdet einig, bildet eine einzige Kraft‹, boten sie an. ›Schlagen wir gemeinsam die Osmanen.‹ Armenier sorgten damals für den Nachrichtenaustausch. Die kurdischen Beys hatten sich in Şeniaağu versammelt und berieten die Lage. Der Clanführer der Çarek war Gastgeber damals. Alle großen Clans von Dersim waren dort vertreten. Manche Beys hielten die Zeit für gekommen, sich vom Druck der Osmanen zu befreien. Sie stimmten für den Zusammenschluß mit den Armeniern. Doch gleichzeitig trauten sie den Armeniern nicht so ganz. ›Wenn wir uns von den Osmanen befreien, dann wollen wir nicht unter die Knute der ungläubigen Armenier geraten!‹ Andere meinten, wenn die Osmanen den Ungläubigen gegenüber so in Bedrängnis seien, dann widerspreche es dem Adel der Kurden, ihnen die Hilfe zu verweigern. Auch Ivrahim Bey war dieser Meinung. Sagt nicht: ›Ach, der!‹ Dreihundertsechzig Dörfer hat er unter sich. Ein Mann edler Herkunft ist er! Wenn er spricht, hängen die anderen an seinen Lippen. So dauerte es denn auch nicht lange und die ganze Gemeinde stimmte ihm zu. Die Clans der Çarek, der Lolan, der Hormek, der Areyan und der Balaban waren von vornherein auf seiner Seite. ›Wir lassen die Russen nicht nach Dersim herein‹, beteuerten sie. Man gab sich das Ehrenwort, man hob die Becher darauf. So war es denn beschlossen. Die Kriegstrommeln wurden gerührt. Das Wort eines Kurden ist Ehrensache, und stirbt er auch, so rückt er doch nicht davon ab!

Botschafter wurden entsandt, damit Hilfe aus dem Süden von Dersim komme. Ich war Botschafter unseres Clans damals. Lau çe vesayene! Möge ihnen das Haus niederbrennen! Wie konnte es zugehen, daß innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Menschen auf den Berg Bağır marschierten? Die Russen hatten eine breite Straße bis auf den Gipfel hinauf gebaut. Den riesigen Berg hatten sie umzingelt. Eine aufreibende Arbeit. Seit Jahrtausenden gehört dieser heilige Berg den Kurden. Und doch haben wir nicht einmal einen befestigten Weg, auf dem unsere Ziegen bergan steigen könnten. Die Gavuren hingegen haben Wissen und Wissenschaft. Hätten sie einmal den Berg Bağır in Händen, so kämen sie leicht nach Dersim hinein, mochten sie gedacht haben. Indes, wie ich schon sagte, alles geht auf seine ganz eigene Weise. Wir hatten ja keine schweren Waffen. Die russischen Gewehre hingegen waren die besten ihrer Zeit. Die Osmanen waren kopflos in alle Winde zerstreut. Der Sultan sandte einen Boten zum Agha der Çarek, ließ ausrichten, er habe das Sultanat gegen die Gavuren zu verteidigen. Er glaubte also, unsere kurdischen Brüder würden die Gegner des Kalifats aus ihrem Land vertreiben. Dann rief er die Kinder der Clanführer nach Istanbul. Sie sollten zu Offizieren ausgebildet werden. Mit zahllosen Komplimenten umschmeichelte er die Herren. Wie kam es, daß der Osmane, der gestern noch erbarmungsloser Unterjocher, gottloser Tyrann war, heute auf einmal milde und nachgiebig auftrat? Nun, er war auf die Hilfe der Kurden angewiesen. Und wer je an unsere Türe klopfte, der wurde auch nicht abgewiesen. So ist es Brauch bei uns seit eh und je.« So sprach Alibinat, den Blick deutlich auf den Fremden im Dorf gerichtet.

Said war im Sommer ins Dorf gekommen. Mit Berivan, die er aus dem Dorf jenseits des Flusses entführt hatte, war er hierher geflohen. Er war sunnitischer Kurde. Die Dörfler waren stolz darauf, ihn und seine junge Frau zu beschützen. Gleich hatte man eine Hütte für die beiden gebaut, ausgerüstet mit Decken und dem nötigsten Hausrat. Dann wurde ihre Hochzeit ausgerichtet, und sie zogen in ihr Häuschen ein. Dieses junge Pärchen war das Liebespaar des Dorfes. Wie Ferhat und Şirin. Alle Dörfler, ob groß oder klein, hatten ein liebevolles Auge auf sie. Niemand mochte sie betrüben, alle mühten sich, sie nach den eigenen Möglichkeiten mit Speise und Trank zu versorgen, und waren traurig, wenn ihnen das nicht ausreichend gelang. Den beiden wurde eine Zuneigung entgegengebracht, die noch über die Liebe zu eigenen Kindern hinausging. Eine reine Liebe war das, die keinerlei Gegenleistung erwartete. Sie waren die Ehre, der Stolz des ganzen Dorfes. So hatte auch jeder ein Auge auf sie. Wäre ihnen ein Leid geschehen, mochte die Welt untergehen. Ging etwa Said ein wenig zu weit aus dem Dorf hinaus, so tauchte gleich jemand neben ihm auf, ihn nicht allein zu lassen. ›Man weiß ja nie‹, dachten die Dörfler. ›Der Junge hat Feinde. Ist es vielleicht einfach, in Kurdistan ein Mädchen zu entführen?‹

Alibinat wandte sich nun an Said, der unter dem Schutz des Clans, des Dorfes, ja, Riza Tschauschs stand:

»Said ist unser Bruder. Einem Bruder aber wird nicht Zuflucht gewährt. Er ist also unser Gast. Wir halten ihn in besonderen Ehren. Said ist Schafiite, wir sind Alewiten. Das tut unserer brüderlichen Verbundenheit jedoch keinen Abbruch. Wir stammen doch aus derselben Familie. Schon Osmanen, schon Armeniern haben wir Asyl gegeben. Wichtig ist nur, daß sie selbst herkommen und anklopfen. Said ist mir ein Sohn, wie mein Sohn Mirzali.« Die Augen der jungen Leute, die diese Worte vernahmen, füllten sich mit Stolz.

»Da nun einmal die Rede darauf gekommen ist, will ich euch eine wahre Begebenheit erzählen. In und um Palu leben Kurden, die Zaza sprechen. Doch Alewiten sind sie nicht. Zwischen ihnen und den Kurden in Dersim hat es große Feindseligkeiten, böse Kämpfe gegeben. Bis heute. Man kommt ins Paradies, wenn man sieben Rotköpfe tötet, sagen sie. Man dürfe nichts essen, was ein Rotkopf angefaßt hat. Das Fleisch von Tieren, die sie geschlachtet haben, sei nicht koscher. Ebenso hören aber auch wir Alewiten nicht auf, uns an ihrem Blut zu laben. Dabei sind wir eigentlich Brüder. Der Feind hat unser beider Augen geblendet. Den Osmanen geht es um unser Land. Entzweien sie uns, so werden wir schwach, sie aber stark. Diese einfache Tatsache wollen weder wir noch die sunnitischen Kurden einsehen.

In grauer Vorzeit da lebten zwei Brüder in einem Dorf in Palu. Diese kamen einfach nicht miteinander aus. Eines Tages wurde es nun dem einen der Brüder, Mıstefa mit Namen, zuviel, er nahm Kind und Kegel, packte seine sieben Sachen, belud ein Paar Carekez-Ochsen, das sind die mit der weißen Blesse, und machte sich auf den Weg.

Wo die Ochsen stehenbleiben würden, da wollte er sich niederlassen. So wanderte die ganze Familie nun tagelang hinter den Ochsen her. Schließlich blieben die Ochsen bei Qeragol vor dem Berg Bağır stehen. Und so stammt also der Clan der Çarek von diesem Bruder ab, den Carekez-Ochsen sei Dank. Und nun bedenkt einmal: die Çarek-Leute sind alewitisch, diejenigen aber, die in Palu blieben, sind sunnitisch. Es sind Söhne ein und desselben Vaters. Doch sie wandten sich unterschiedlichen Konfessionen zu. Wir alle sind Muslime. Der Streit der Araber, ihre Spaltung hat auch uns gespalten. Der Schafiit sagt: so und so geh ich den richtigen Weg. Wir Alewiten hingegen sehen das anders. Es sind also unsere jeweiligen Wege zur Wahrheit unterschiedlich. Das ist doch aber gar nicht wichtig. Scheich Said hat seinen Kopf doch nicht für die Religion, für das Schafiiten- oder Sunnitentum gegeben. Er war ein Held, der sein Volk über alles liebte. Seinen Kopf gab er für das kurdische Volk, für Kurdistan! Und Eli Şer, Seyid Rıza, sind die etwa für das Alewitentum aufgestanden? Es hat ja niemanden interessiert, ob sie Alewiten waren. Auch die türkische Regierung nicht. Doch von Kurdentum haben sie nicht reden dürfen. Ero bırayene, Brüder, wir sind ein Volk. Ein einziges Volk, durch Blutsbande verbunden. Bevor es noch Alewitentum und Sunnitentum gab, da beteten unsere Ahnen Zarathusthra an. Oder, wie manch einfältiger Hodscha sagt, wir sind nicht von Anfang an Muslime. Vor tausendzweihundert Jahren, heißt es, nahmen wir da und dort den Islam an. Ganze hundert Jahre lang haben die Kurden gegen die Araber gekämpft, nur, um nicht Muslime zu werden. Hunderttausende Menschen verloren sie dabei. Kilometerlang standen die Reihen mit Kreuzen, an die sie geschlagen wurden. So wie Jesus, der Prophet. Und dann taten wir es den Arabern nach. Ihren internen Streit fechten nun wir aus. Ob nun Eli Kalif wurde oder Bekir – was haben denn wir davon? Sie verfolgten nurihre eigenenInteressen. Und wir Kurden lassen uns dumm zum Werkzeug machen, bei uns wirft der Bruder dem Bruder den Fehdehandschuh hin. Nun sagt mir mal, kommt nicht jeder Mensch, der geboren wird, zunächst mal als Angehöriger eines Volkes auf die Welt? Von kurdischen Eltern wird ein Kurde, von türkischen Eltern ein Türke geboren. Jeder also wird als Zugehöriger zu einem Volk geboren. Danach erst kommt die Religion. Ein Alewit wird von kurdischen Eltern geboren. Dann paßt ihm das Alewitentum nicht und er wird Sunnit oder Schafiit oder gar Christ. Doch was ist eigentlich von Bedeutung? Ist dieser Mensch nun Kurde oder nicht? Ein Teil der Leute vom Clan der Hizol ist alewitisch, ein Teil aber sunnitisch. Nun, und zu welchem Volk gehören die Leute der Hizol?«

Lolız Memli hatte vor allen anderen die Antwort parat:

»Kam sa wano wazo ma pêro kırmanc me! Mögen sie sagen, was sie wollen, wir sind alle Kurden!«

»Gibt es Widerspruch zu meinen Worten?« fragte Alibinat, und im Raum erhob sich ein Raunen. »Friede der Seele deines Großvaters, du sprichst die Wahrheit«, lautete der allgemeine Kommentar.

Alibinat sprach so ruhig und wohlgewählt, daß man meinte, ihm tropfe Honig von den Lippen. Herzlichkeit und Freundschaft klangen durch seine Erzählung. Sein lichtes Antlitz, vom weißen Bart gerahmt, strahlte Liebe aus. Gab es wohl einen anderen Alten, der ein solch schönes, strahlendes Gesicht hatte wie er? Er war ein Ausbund an Klugheit. Aus seinen Augen leuchtete das Licht der Klugheit, von seinem Gesicht ging Freundschaft und Vertrauen aus. Sein Leben lang hatte er keiner Ameise etwas zu leide getan, doch er scheute sich auch nie, die Wahrheit auszusprechen. Er hatte weder eine ihm ergebene Schergenbande, noch war er Agha des Clans. Und doch endeten vor ihm all die für unlösbar gehaltenen Probleme der Leute aus dem Dorf und aus den Nachbardörfern. Er nahm nie Partei. Es erboste ihn, daß jeder die Interessen seines eigenen Clans denen der anderen voranstellte.

»Egal von welchem Clan wir sind, wir alle sind Brüder. Wir alle sind Kurden«, pflegte er sich zu ereifern. Doch wieviele Menschen vom Format eines Alibinat gab es schon in Dersim?

Alibinat unterbrach seine Rede, um den Rauchern die Gelegenheit zu geben, sich Zigaretten zu drehen. Die Winterabende waren lang genug. Zur Eile gab es keinen Grund. Die Männer rauchten in kräftigen Zügen. Aus Mündern und Nasen quoll ihnen dick der Rauch, man mochte glauben, daß sie innerlich brannten. Der blaue Qualm waberte durch das fahle gelbe Licht, um sich einer Wolke gleich unter der Zimmerdecke zusammenzubrauen. Die Holzpfähle und -bretter an der Decke waren kohlrabenschwarz.

Nach einer Weile richtete Alibinat den Blick auf Riza Tschausch:

»Mit Eurer Erlaubnis, Riza Tschausch, will ich den russischen Krieg zu Ende bringen«, sagte er und setzte seine Rede fort:

»Die Russen rückten unaufhaltsam vor. Der Agha der Çarek hatte die Front unter den Clans aufgeteilt. Die Balaban und Areyan kümmerten sich um den Westabschnitt, die Çarek um die Mitte, und im Osten hatten unsere Kureşan die Hauptlast übernommen. Der Feind geriet zusehends in Schwierigkeiten. Denn er kannte das Gelände nicht. Wir hingegen waren in der Lage, uns selbst in undurchdringlicher Finsternis zu bewegen. Der Feind hatte hohe Verluste. Doch der russische General mochte den Vormarsch nicht abblasen. Er hoffte, die Hals über Kopf flüchtenden Osmanen am Ende doch zu fassen zu kriegen, wenn er sie nur weiterhin verfolgte. Uns Kurden hatte er wohl gar nicht auf der Rechnung. Unsere Frontabschnitte Mitte und Westen hatten große Schwierigkeiten. Beim Rückzug wurde dann den Russen eine Falle gestellt. Einige der toten russischen Soldaten wurden zerstückelt und in die Kessel gefüllt. So wurde den Russen vorgetäuscht, man koche hier noch Fleisch. Tatsächlich führte diese Finte zum moralischen Zusammenbruch der Russen. Sie glaubten, die Menschen von Dersim äßen Menschenfleisch, und erstarrten vor Schreck. Daraufhin gingen die Kurden zum Angriff über. Die Russen mußten bald den Rückzug antreten. Bis nach Erzurum verfolgten wir sie. Nach dem Motto ›Nehmt sie und schämt euch‹ überließen wir sie dann dem osmanischen Heer, das sich wieder gesammelt hatte, und zogen uns zurück. In jenem Krieg verloren wir viele unserer Leute. Manch einer wurde auch gefangengenommen. Unteroffizier Qali aus Qorte, den ihr alle kennt, war lange Jahre in Gefangenschaft …«

Noch lange ging die Rede an jenem Abend. Im Raum hatten sich Gruppen gebildet, hier die Frauen, dort junge Mädchen, hier wieder junge Männer, die, ohne die Großen zu stören, untereinander sprachen. Flüsternd, so daß man sich gerade noch verstehen konnte. Die Erwachsenen besprachen die Strafexpedition aus dem Vorjahr. Was würde der Frühling bringen? Jeder war in Sorge. Als man schließlich aufbrach, klang schon der Hahnenschrei aus den Ställen.

Draußen meterhoher Schnee. Kein Stern stand am Himmel, doch die Menschen stapften im schummrig bleiernen Schneelicht auf den fast zugeschneiten Wegen nach Hause.

Hinter seinen Gästen trat auch Alibinat aus dem Haus. Planlos ging er auf den Stall zu. Schneidende Kälte, Schneeflocken wirbelten. Das müde, schlaftrunkene Heulen der Hunde, die sich gegenseitig wachhielten, blieb im Wind hängen, kam wie aus der Tiefe. Sie bellten, als erzählten sie sich etwas. Nach dem eigenen Laut warteten sie die Antwort des Nachbarhundes ab, nur um dann erneut mit gräßlicher Stimme lang oder kurz ins Konzert einzustimmen.

Kein Dörfler wußte, in welchem Jahr, an welchem Tag, zu welcher Stunde er geboren war, doch Alibinat pflegte zu sagen, er trage die Last von 70 Jahren auf den Schultern. Die Hände hinter dem Rücken schritt er fast jugendlich aus. Er brauchte das, um das Gefühl der Starre loszuwerden, das ihm das lange Sitzen den ganzen Abend hindurch eingetragen hatte. Die Luft, kalt wie Gift, sog er gierig in die Lungen. Die Sichtweite betrug nur wenige Meter. Ihm war, als stünde er vor einem Abgrund, als stürzte er in die Tiefe, wenn er noch einen Schritt täte. Unvermittelt wandte er sich dem Duzgin zu, den er so gut kannte. »Oh, heiliger Duzgin«, rief er. Seine Stimme schwang über vor Liebe, wie immer. Es reichte ihm, an den Berg zu denken. Wo auch immer seine Gedanken sein mochten, kamen sie auf den Berg, so nahmen sie eine andere Wendung. Jetzt erfüllte die Liebe zum Berg sein Herz. Voller Eifersucht konnte der Duzgin sein, wenn man an ihn dachte, durfte nichts die Gedanken stören. So war es Brauch.

»Ya Hezreti Duzgin, deste mıllete Kırmanc bije! Oh, heiliger Duzgin, nimm die Hand des kurdischen Volkes!« rief er und ihm war, als würde ihm die Last vom Herzen genommen. Er atmete auf. Der alte Wolf sah die Wolken der Katastrophe herannahen. 1937, so hatte es geheißen, würden die aufständischen Clans erledigt werden. Tatsächlich war das Jahr damit vergangen, ihren Widerstand zu brechen. 1938 nun sollte die Vernichtung, die Bestrafung, die Niederwerfung Dersims bringen. Das zeigte der Lauf der Dinge sehr deutlich. Während die türkische Regierung reibungslos ihr Vorhaben umsetzte, wiegten sich, nach dem Motto ›es lebe hundert Jahr, wer mir nicht schadet‹, die Clans von Dersim noch immer in Sicherheit. Alibinat sah dunkle Wolken aufziehen.

Er streckte sich auf dem Bett gleich neben dem Ofen aus. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Augen auf die rauchgeschwärzte Decke gerichtet, lag er noch lange wach. Starr wie ein Stein. Bese, die neben ihm lag, kannte diese Erstarrung bei ihm, sie hatte oft genug seine Klage gehört: »Sollen denn Leute wie wir, Leute mit Pîr und Reyver, lachen und tanzen, wenn in Dersim gemordet wird, wenn unsere Brüder umkommen?«

»Lau lau Haq kena, Duzgin kena, tene çe ho de niyade. Laze to este, torne to este! Wenn du Gott und den Duzgin fürchtest, dann schau auch mal auf dein eigenes Heim! Du hast Söhne, du hast Enkel! Die scheinst du gar nicht zu sehen!«

Doch diese Worte brachten keine Veränderung bei Alibinat. Bese hätte ihn gern, und sei es nur für einen Moment, von seinen düsteren Gedanken abgebracht. Nun hob sie die Stimme ein wenig mehr als sonst:

»Saids Frau ist schwanger!« sagte sie und rechnete fest mit einer Reaktion ihres Mannes. Doch der hörte gar nicht zu. Bese meinte, er hätte sie womöglich nicht gehört. Also zupfte sie ihn am Ärmel:

»Hast du gehört, was ich sage? Saids Frau, Berivan, ist schwanger!«

Wütend antwortete Alibinat:

»Ere, was soll ich dabei machen? Soll ich mich vielleicht darüber freuen?«

»Hast du dich nicht immer gefreut, wenn die Schwiegertöchter schwanger wurden? Was ist denn diesmal mit dir los?«

Vom Ofen kam das Geräusch knisternd brennender Holzscheite. Ein schwaches Licht warf Alibinats Schatten schemenhaft an die Wand. Nun drehte er seiner Frau leicht den Kopf zu. Er konnte sie nicht richtig sehen. Flink richtete er sich halb auf.

»Ere Bese, Bese! Weißt du denn nicht um die Sorgen, die Gedanken des Mannes, mit dem du seit so vielen Jahren lebst? Wie sollte man sich freuen, wenn das Baby, das geboren wird, nicht wird leben können? Tausende Babys sind den Bajonetten zum Opfer gefallen im letzten Jahr. Nun kommt die Reihe an deine Enkel, deine Schwiegertöchter!«

»Uy, uyy, da sei der Duzgin vor! Mann, was redest du da! Hat das Alter dir den Kopf verdreht? Mein Gott! Möge so etwas fern von uns sein! Um der Völker der Erde willen, schütze meine Kinder, meine Enkel! Bewahre zuerst all die anderen Völker und dann unseres, um ihretwillen!«

»Ich sehe schwarze Wolken über Dersim aufziehen. Mir ist das ganz klar. Jene Freude ist von gestern. Da konnte ich mich über jedes Menschenkind, ja, über jedes neugeborene Wesen freuen. Jedes neu geborene Zicklein, Lämmchen, Kälbchen hat mich mit Liebe erfüllt. Das Küken, das seine Eischale zerpickt, die aufgehende Saat, die Hyazinthe, die Narzisse, die aus der Erde wächst, ihnen allen gegenüber war meine Zärtlichkeit grenzenlos. Glaub mir, ich mochte sogar den Wolf, der unsere Ziege fraß. Wie aber soll ich jetzt in dieser schamlosen Finsternis Freude empfinden, da alles Leben in Gefahr ist?«

Bese liebte ihren Mann wie den Duzgin. Er war ihr geliebtes Ein und Alles. Sie begriff nicht, wie er so ungeheuer schwarzsehen konnte. Sie wurde zutiefst traurig über seine Betrübnis.

»Sei nicht so traurig. Was glaubst du, wofür die Berge Duzgin und Kures stehen? Wir haben doch unseren Glauben immer in der reinsten Form ausgeübt. Sie haben uns nie allein gelassen und werden das auch künftig nicht.«

Dann begannen sie gemeinsam zu beten. Die Worte der Cem-Versammlungen tröpfelten nun in die Stille des Zimmers. Mit zitternder, tiefer Stimme begleitete Alibinat seine Frau. Er war erschöpft. ›Hätte ich die Möglichkeit dazu, ich würde mich als Schutzschild vor das ganze kurdische Volk stellen‹, dachte er seufzend. Er rief die mächtigen Heiligen Dersims um Hilfe an. Hoffentlich träume ich etwas Gutes, dachte er und schloß endlich die Augen.

Als Alibinat erwachte, stand die Sonne schon hoch. Durch die kleinen Fenster fielen Säulen aus Licht und Staub ins Zimmer. Als ihm bewußt wurde, daß seine Kinder, seine Schwiegertöchter, die Enkel und selbst Bese längst an der Arbeit waren, stand er rasch auf. Er wusch Gesicht und den weißen Bart, den er seit Jahren nicht gestutzt hatte. Pluderhose und Weste zog er an und band die Schärpe dazu. Als er aus der Tür trat, kniff er unwillkürlich die Augen zusammen. Die tiefstehende Sonne spiegelte sich auf dem Schnee, mit all der Weiße ringsumher schlug sie wie Peitschenhiebe in die Augen und schmerzte. Es funkelte wie der Lichtstrahl eines Blitzes. Unerträglich für das Auge. Da quellen dann Tränen und der Mensch erblindet. Die Falten in Alibinats Gesicht hatten sich noch verdoppelt. Das Gesicht ein einziges Knitterfeld, zog er sich gleich wieder ins Haus zurück. Er wußte, daß er bei diesem Wetter mit bloßem Auge nicht würde sehen können. Also setzte er seine Brille auf und trat so erneut ins Freie. »Was für eine Welt!« seufzte er.

An leicht erreichbaren Plätzen vor und hinter den Häusern fütterten die Dörfler, die den Schnee mit Schneeschuhen niedertraten, die Tiere. Von Füttern konnte kaum die Rede sein, doch es ging darum, das Vieh durch den Winter zu bringen. Ringsumher ein Leben und Treiben überall. Die Stimmen waren kräftig, wenn auch vielleicht nicht ganz mit der Freude des Frühlings. Man versuchte den Leidenssturm von gestern zu vergessen. Vergessen mußte man, und sei es nur für einen Tag.

Berg und Stein, Bach und Gipfel, auch die stattlichen Eichen Dersims versanken im Schnee. Meterhoch lag der Schnee in Mergasur, hatte die Dächer selbst der zweigeschossigen Häuser erreicht. Zwei Farben herrschten in der Natur vor: weiß und blau. Das Weiß war so weiß, das Blau so ausgesprochen blau, daß man nicht mit bloßem Auge hinsehen konnte. Glatt waren die Berge geworden. Steile Hänge, unüberwindliche Hügel schwammen in der blauen Ebene. Alibinat fand es erschreckend, daß die jungen Frauen auf dem Weg zum Brunnen in den freigeschaufelten Wegrinnen ganz verschwanden. Ein Rätsel war dieser Schnee. Es würde wohl diesmal lange dauern, bis er taute. Solche Jahre waren ein Alptraum für die Dörfler. Wie in einer vom Feind umzingelten Trutzburg lebten sie. Überall lagerte der Feind. Da war es vordringlichste Aufgabe, die Belagerung zu durchbrechen und in den Frühling zu entkommen. Die Dörfler überlegten in tiefer Sorge, wie sie die Tiere durch den Winter bringen könnten. Es galt, das Futter für Ziege, Schaf, Kuh, Pferd und Esel sehr genau abzuwägen. Sie schienen über feinst abgestimmte Waagen zu verfügen. Diese Qual würde andauern, bis Eichen, Pappeln und Weiden Knospen ansetzten. Für die kurdischen Dörfler war dieses Weiß ein einziger Alptraum. Welch Freude würde es sein, wenn endlich die Erde wieder auftauchte, wenn die ersten dunklen Flecken als Vorboten des Frühlings sich abzeichneten, wenn Schneeglöckchen in ihrer hübschen Farbe sich zeigten. Damit hätte die Belagerung ein Ende, ein Festtag würde das sein, Wiedergeburt und neues Leben. Dann endlich würden sich die ohnehin melancholisch blickenden Augen der Kurden zu einem gewissen Grad mit Freude, Licht und Glanz füllen.

Die Frauen mußten jede Handvoll Mehl, jeden Löffel Fett, den sie aus dem Speicher nahmen, genau berechnen. Verschwendung war ihnen ein fremdes Wort. Selbst wenn sie nicht lesen und schreiben konnten, so halfen ihnen doch ihre ausgedehnten Erfahrungen. Niemand wußte besser als sie, wieviele Tage eine Familie mit einem Sack auskommen konnte. Für Besuchs- und Versammlungstage wurde jede Gabe, jeder Bissen genau vorherberechnet. So war denn auch die Hausfrau die höchste Autorität. Die Schwiegertöchter wurden vom Speicher ferngehalten, zugleich wurden sie über alles Notwendige belehrt, damit ihr Erfahrungsschatz sich mehrte.

Sonnten sich schon die Männer, die ihre Arbeiten hinter sich gebracht hatten, unter den Vordächern, kümmerten sich die Frauen um die Hausarbeit. Vor Alibinats Zimmer hockten wie immer zahlreiche Männer. Er selbst saß, den Rücken an die Wand gelehnt, Aug in Aug dem Duzgin gegenüber. Auch der lag unter sieben Lagen weißen Linnens.

Die Dorfjugend hob, recht weit entfernt von der Hauswand bei Merga Hem, einen Schacht aus, um die Schneehöhe zu messen. Nach der Messung würden sie die Grube zu einer Wolfsfalle ausbauen. Dazu wurde Gestrüpp über die metertiefe Grube gebreitet und Schnee darauf gestäubt. In die Mitte warf man einen toten Hasen. Ein hungriger Wolf würde da nicht lang abwarten, sondern sich unbedacht darauf stürzen, was sogleich seinen Absturz in die Tiefe bedeutete. Einen Hasen zu finden war indes nicht schwierig, da die alewitischen Kurden kein Hasenfleisch verzehrten. Das war ihnen ebenso ein Greuel wie der Verzehr von Schweinefleisch. Sünde war es zudem. Manche verschmähten ihn, weil sein Aussehen an einen Esel oder einen Hund erinnerte, andere weil er nicht wiederkäute. So waren also die Dersimer Kurden vorurteilsbeladen gegen das arme Tier. So wie sie Schweine mieden, mieden sie auch Hasen. Man sagte: »Der hat sein Feld sieben Jahre lang nicht bestellt, weil ein Hase darauf gewesen ist.« Dieser Spruch machte deutlich, wie wenig sie den Hasen mochten.

Während also die jungen Männer derart beschäftigt waren, hockten vor Alibinats Haus die Männer in einer Reihe an die Wand gelehnt und lauschten seinen Worten, die Augen auf den Söhnen. Die Gesichter glühten vor Stolz, die Herzen vor Zuneigung, doch ihre Ohren blieben Alibinat treu.

War jemand ohne Sohn unter ihnen, so bemitleidete man ihn. Ein Haus ohne Sohn war ein Haus mit Makel. Gleich einem Haus ohne Dach: dem Regen, Wind und Sturm schutzlos ausgesetzt. Ein solches Haus erregte Mitleid. Die haben keinen männlichen Nachkommen, deren Ofen erlischt. Möge Gott selbst den Feind davor bewahren! »Uy, der Arme hat keine Kinder!« hieß es, auch wenn ein Dutzend Mädchen im Haus war.

»Die Gefechte zwischen Sultan Selim dem Gestrengen und Schah Ismail waren keine Glaubenskämpfe. Zwar mühte sich der eine, den sunnitischen, der andere hingegen den schiitischen Glauben zu verbreiten. Doch der eigentliche Grund war nicht, wie jeder behauptete, die Religion. Eigentlich ging es ihnen nur darum, sich das Land der Kurden anzueignen. Darum stritten sie. Bei den Kurden gab es sowohl alewitische wie auch sunnitische Clans. Um die sunnitischen Stämme auf seine Seite zu ziehen, unternahm Selim einen Werbefeldzug bei den Kurden. Zwölf kurdische Beys schlossen sich daraufhin jedoch Schah Ismail an. Es sieht nicht so, als würden die Osmanen uns in Ruhe lassen, hieß es dort. Erst werden sie euch ausradieren, dann uns. Wir sind Verwandte nach Sprache und Herkunft. Was haben wir nicht unter den Mongolen gelitten! Befreien wir uns also gemeinsam von diesen Schlitzaugen! Doch was tut der Schah? Erst läßt er ein großes Festmahl ausrichten, dann füllt er die Gefängnisse!«

Alibinat hielt inne und drehte sich eine Zigarette. Xıdeyiv, der ihm voller Ungeduld gelauscht hatte, drängelte:

»Apo, Onkel, warum erzählst du nicht weiter? Wie ist es denn weitergegangen?« Alemem lachte ihn aus: »Ero, Mann, wozu die Eile? Bist doch eben erst aus dem Stall heraus!«

Das Lachen aus rauhen Kehlen war von Husten durchsetzt. Xıdeyiv lief knallrot bis zu den Ohren an. Als das Gelächter sich legte, hielt er dagegen:

»Ich hatte Alemem im Stall angepflockt, da waren wir noch zusammen. Ich hab‘ nicht gesehen, daß er ausgebüchst ist. Hat er sich also unter Menschen gewagt.« Diesmal hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Als die Menge sich beruhigt hatte, setzte Alibinat seine Erzählung fort: »Ero Brüder, an euren Worten ist schon was dran. Allerdings sind keineswegs nur Xıdeyiv und Alemem im Stall, sondern wir alle. Wir alle gehörten im Stall angepflockt. Warum, wollt ihr wissen? Na, öffnet doch mal eure Augen, nur ein kleines bißchen. Dann werdet ihr die Tatsachen schon selbst sehen. Wenn ich sage, wir gehören alle in den Stall, dann will ich damit ausdrücken, wie dumm wir alle sind. So wie wir den Rebhühnern feind sind, sind wir uns ja selbst spinnefeind! Ihr seht es doch: die türkische Armee legt ihre Absichten tagtäglich ein bißchen offener dar. Zwei Möglichkeiten lassen sie uns. Entweder aufgeben. Dann wäre selbst der Esel im Stall besser dran als wir, freier vor allen Dingen. Oder Widerstand leisten und unsere Ehre bewahren, Mensch bleiben. Doch niemand geht diesen Weg. Wie gewohnt pflegen die Clans ihre Feindseligkeiten. Würden sie sagen: ›Laßt Eli Agha ein kurdischer Khan, ein Pascha sein, soll er die Clans regieren!‹ Gleich steckten sie die Köpfe zusammen, um das zu verhindern: ›Wenn Eli Agha Pascha wird, dann ißt er den Weizen allein und uns bleibt nur die Brühe.‹ So bringen sie sich gegenseitig zu Fall. Voller Heimtücke sind sie. Da rief doch einmal der Sultan seine Wesire zu sich und sagte: ›Bringt mir zwei heimtückische Verräter. Den Wunsch des einen will ich dem anderen doppelt antun.‹ Die Wesire brachten zwei Männer aus Çemişgezek. Der Sultan fragte den ersten:

›Wünsch dir, was auch immer du willst!‹

›Mein Sultan, einen Arm sollst du mir abschlagen.‹

Da wurde ihm ein Arm abgeschlagen und dem anderen beide. Nun kam der zweite Mann aus Çemişgezek an die Reihe: ›Mein Herrscher, stich mir ein Auge aus!‹ wünschte sich dieser.

Genauso sieht es bei den Herren von Dersim aus. Heimtückische Verräter wie die beiden aus Çemişgezek sind sie. Denkt nur daran, wie Dutzende ihr Leben ließen wegen eines Streits um eine blinde Ziege zwischen den Clans der Alan und der Demenan. Steht nun der Clan der Demenan mutig gegen den Staat, werden die Leute der Alan mit ihm sein. Vor den Soldaten wie hinter ihnen. Ihre Anführer werden Bruderschaft und Freundschaft schließen mit den Offizieren. Es ist ganz so, als würden Wolf und Schaf unter eine Decke schlüpfen. Warten wir ab, wie’s ausgehen wird!«

»Apo, eine blinde Ziege hast du erwähnt. Wie kann es denn angehen, daß Menschen sich einer blinden Ziege wegen umbringen?« fragte Memo der Lange.

»Die Leute von Demenan nahmen eine Ziege, die sie im Dorf Kortu, das zu den Alan gehört, gefunden hatten, mit nach Demenan. Daraufhin liefen die Leute von Alan, sobald sie davon hörten, nach Demenan und holten die Ziege zurück. Das wiederum wollten die Recken der Demenan nicht auf sich sitzen lassen: wie können die Alan es wagen, in unser Gebiet einzudringen? Und dazu noch unsere Ziege zu entführen? Nun, der Zorn der Kurden, aus Unverstand geboren, ist heftig. Leere Ehre! Bei Korta Sur kam es dann zum Schußwechsel. Auf beiden Seiten fielen stattliche junge Männer. Damit wurde die Sache zur Blutrache. In jenem Gefecht schoß Uso Mozık, Hüseyin der Stier, von den Alan, so wild um sich, daß der Finger am Abzug bös anschwoll. Uso Mozık selbst wurde später von den Demenan getötet.

Nach dieser Ziegengeschichte war einmal Sılo Sur von den Demenan auf dem Weg in sein Dorf. Ein Mann der Alan, der ihn von weitem erkannte, kletterte vor Angst auf einen Walnußbaum, in dessen Schatten er gelagert hatte. Behäbig kam Sılo Sur heran, bis zu den Zähnen bewaffnet. Als er im Schatten des Baumes ein wenig ausruhte, da konnte sich der Mann der Alan oben im Baum nicht mehr halten und fiel wie ein Sack Sılo Sur vor die Füße. Doch Sılo Sur rührte ihn nicht an, sondern verzieh ihm und riet ihm, nie wieder den Fluß Harçik zu überqueren.«

»Apo Alibinat, was muß das für ein Mann sein, vor dem man sich so fürchtet?«

Es fiel Alibinat merkwürdig schwer, Cafo Qız‘ Frage zu beantworten. Die Augen, voll dunkler Gedanken, voll Kummer, bis auf einen Spalt geschlossen, schaute er, als durchlebte er das, was er zu erzählen hatte, noch einmal. Unter kräftigen Brauen hervor sah er zum Berg Duzgin hinüber, der unter dickem weißen Linnen dalag. Kampf auf ihm, Unruhe. Um den Gipfel einen schwarzen Kranz gewunden, in Trauer. Über den Duzgin, der in Trauer war, als wäre sein Vater Kures erst gestern gestorben, und der schwanger ging mit neuem Streit, neuen Stürmen, ließ Alibinat seine Gedanken gen Süden schweifen, zurück zu vergangenen, bitteren Zeiten, zu den schlimmsten Tagen der Kurden. Sollte er von diesem Schandfleck der Kurden erzählen oder ihn versteinern, in sich verschließen? Er überlegte eine Weile und beschloß dann: ›Doch, doch, sie sollen es wissen, und zwar möglichst genau. In diesen Tagen, da Verrat, Heimtücke und Bruderzwist an allen Ecken lauert, da kann es nur von Nutzen sein, wenn sie es wissen. Ganz genau sollen sie dieses Land der Kurden kennen, wo Heldentum ebenso billig ist wie Feigheit.‹

Alibinat schnippte fast ärgerlich den Rest seiner Zigarette auf den schmutzigen Schnee zu seinen Füßen und sprach weiter:

»Es war vor dreizehn Jahren. Die meisten unter euch werden sich daran erinnern. Scheich Said hatte sich im Namen des Kurdentums erhoben. Seine Truppen hatten in kürzester Zeit einen großen Teil Kurdistans befreit. Auch Xarput und Elaziz waren befreit. Der Staat sandte sogleich Botschafter an die Herren von Dersim, die sagten: ›Schaut, jene sind Schafiiten, wenn die einen Staat gründen, dann bringen sie zuerst euch Alewiten um.‹ Dann hoben sie mit Hilfe der Beys der Çarşancak, der Peri und der Sorpiyan Soldaten in Dersim aus. Diese Beys waren türkischer Herkunft. Sie waren der verlängerte Arm des Staates in Dersim, seine Spione, seine Unruhestifter, seine Henker. Und unsere Leute ließen sich zu deren Handlangern machen. Diese hochgelobten Beys! In meinen Augen stehen sie noch unter dem Burschen, der dem Ahmed der Sorpiyans den Steigbügel hält. Aufgestachelt und gedrängt von den türkischen Beys stießen also diese Schergen der Dersimer Beys in Palu ihren Brüdern den Dolch in den Rücken. Ihren Brüdern, die Kurden wie sie selbst waren und dieselbe Sprache wie sie sprachen. Die Xıran, die Suran, Yusufan, Kureşan, Lolan, Xormek … Wen soll ich noch nennen? Fast alle Clans waren dabei. Man hatte sie betrogen. Blind waren sie gewesen. Sie dachten nur an den Köder, den die türkischen Beys mit Hilfe des Staates vor sie hingeworfen hatte. Dem Gewicht dieser Gaben nach maß jeder seine Bedeutung. Und nach jenem Dolchstoß, als Sılo Sur von den Demenan eben im Begriff war, die Waffen beiseite zu schaffen, die er den eigenhändig ermordeten Kurden abgenommen hatte, da traf er jemanden, der ihn um eine Waffe aus der Beute bat. Sılo Sur aber wies ihn zurück: ›Nero haye hazare! Tı ki juy bıkise, cira ceku bije! Mann, da stehen sie ja! Geh hin und bring einen um, dann kannst du seine Waffe nehmen!‹«

Mıste Gule, der selten sprach, ertrug es kaum:

»Der Duzgin möge es ihm heimzahlen!«

»Auch wenn du’s nicht gesagt hättest: das wird sich sicher rächen«, gab Cafır zurück.

Jeder hatte etwas dazu zu sagen, manch einer spuckte nur aus, andere riefen die Heiligen an. Mıste Gule ergriff noch einmal das Wort:

»Und nun hat der Staat wohl die schafiitischen Kurden hinter sich gebracht. Bringt die Rotköpfe um, dann kommt ihr ins Paradies, wird er denen gesagt haben.«

»Deine Ahnen mögen in Frieden ruhen. Und du mögest ein langes Leben haben. Der Duzgin möge dir helfen. Jetzt sind es die Beys der Peri, Çarşancak und Sorpiyan, die an die Clanchefs, denen sie damals Geschenke gemacht hatten, folgende Parole ausgeben: ›Ihr seid keine Kurden. Ihr seid Türken von reinstem Blut. Der Gouverneur Cemal, Avdula Pascha und Kemal Pascha sind alle selbst Alewiten. Schaut, Kemal Pascha schließt die Moscheen, verbietet den Gebetsruf. Wir alle sind alewitische Türken. Die dreieinhalb aufständischen Clans sind Verräter. Das Ganze ist eine Intrige der Briten!‹ Den Beys der schafiitischen Kurden hingegen sagen sie: ›Das Erstarken der Rotköpfe gefährdet unseren Islam. Unser Prophet hat befohlen, daß die Leute der Sunna gegen die Rotköpfe, diese Feinde der Religion, aufstehen.‹ Den Agha der Lolan kennt ihr. Ja, genau, dieser pferdeköpfige Mudır, der tut sich besonders hervor. Jeden, der mit oder ohne Gruß an ihm vorbeigeht, hält er an und erzählt ihm, daß wir keine Kurden seien. Kurden seien nur die Schafiiten.«

Als Seyxıdır der Dünne mit seiner zu seiner Gestalt passenden piepsigen Stimme zu reden anhob, wandten sich ihm alle Augen zu. Er war der Dünnste im Dorf. Die Knochen traten ihm hervor, hager und spitz war er wie die alten Esel, die es kaum bis zum Frühjahr schafften. Sein scharfes, hartes Gesicht wies keinerlei Rundungen auf. Die kleinen schwarzen Augen aber, die voll sprühenden Lebens hinter der Nase hervorschauten, die einem Adlerschnabel gleich in seinem Gesicht saß, zogen sogleich die Aufmerksamkeit jedes Betrachters an.

»Apo, wenn die Kurden einig wären, würde sowas nicht vorkommen. Ohne Einigkeit aber, da tut jeder, was er will. Ist es nicht so?«

Die Blicke der Runde ließen von seinem spitzknöcherigen, adlernasigen Gesicht ab und wanderten zu Alibinats hellem, lichten Antlitz zurück. Alibinats Antwort aber lud den Männern schweres Gewicht auf die Schultern, das sie niederdrückte.

»Dieser Boden, auf dem unsere Mutter, unser Vater, unsere sieben Großväter und Urahnen seit Tausenden von Jahren gelebt haben, ist heilig.« Seine Stimme war hart und zornig geworden. Der ruhige, geduldige Alibinat, der so voller Zartgefühl zu erzählen wußte, war fort, seine Stelle hatte ein anderer, jemand voller Wut und Ärger, eingenommen.

»Dieser Boden, auf dem jeder Baum, jeder Stein, jeder Berg und Brunnen, jeder Wasserlauf uns heilig ist, gehört uns mit all unserem Wesen.« Er hob den rechten Arm und wies auf den Duzgin.

»Hier wurden wir geschaffen, wie unsere Ahnen werden auch wir hierher zurückkehren. Doch unsere Berge, an deren Gipfeln unsere heiligen Stätten liegen, ächzen jetzt unter den Stiefeln des Feindes. Unsere Aghas üben Verrat an unserem heiligen Boden, den sie gegen Geschenke hergegeben haben. Wie wird dieser heilige Boden das aufnehmen? Kurdistan haben sie hergegeben! Dieser um Bezirksleiter zu werden, jener um Aufträge als Bauunternehmer zu ergattern und ein dritter um ein Gehalt vom Staat zu bekommen, so sind sie alle irgendwie gekauft worden. Billig oder teuer, manchem gar hat ein Gruß, ein wohlwollendes Auf-den-Rücken-Klopfen gereicht. Kaum ein Clanführer ist geblieben, der sich nicht verkauft hätte.«

Gift waren diese Worte Alibinats, Gift und Kummer. Die meisten Dörfler kannten den Sachverhalt, doch sie alle hörten zu. Ohne den kleinsten Einwurf hörten sie mit versteinerten, erstarrten Gesichtern zu. Da rief mit seiner hohen Stimme Usıf, der Sohn von Mıste Gule, von unten her. Er rief laut, um die längs der Wand versammelten Männer zu erreichen. Ins Gesicht sagte man es ihm wohl nicht, doch niemand nannte ihn Usıf. Alle Welt nannte ihn ›Krähe‹, weil seine schrille Stimme dem Krähenruf glich. Usıf’o qiza, Usıf die Krähe.

»Çar metroy, çar metroy! Vier Meter, viiiiiier!«

Die jungen Männer stiegen immer wieder in den Schacht hinein. Vier Meter Schnee! In jenem Jahr war der Schnee der zweitwichtigste Feind Dersims. Selbst die Alten hatten einen solchen Schnee noch nicht gesehen.

»Das ist eine Geißel, eine Tyrannei, eine Ungerechtigkeit! So prüft uns Gott! So versucht der Duzgin unsere Geduld, unser Ausharrungsvermögen …«

»Viiiiiier Meter!«

Noch immer stiegen die Jungen der Reihe nach in den Schacht hinunter. Den Vätern aber schwoll die Brust vor Stolz und Glanz kam in die Augen, wenn sie ihre Söhne aus dem Schacht wieder auftauchen sahen. Einen Augenblick lang, solange sie nicht satt wurden, mit glänzend frohen Augen die Söhne anzuschauen, vergaßen sie das Grauen des Schnees. Selbst Alibinats bittere Worte konnten diese Freude nicht mindern. Um den Schacht herum wurde der Schnee schnell schmutzig. Als den Dörflern endlich klar wurde, was vier Meter Schnee bedeuteten, wollte ihnen der Atem stillstehen. Wie sollte man sich von diesem schweren weißen Tuch befreien? Würde die Sonne genug Kraft haben? Die Sehnsucht nach warmer, schwarzer Erde wuchs und wuchs, wie die Sehnsucht nach Wasser eines in der Wüste Verdurstenden. Manchem erschien eine Fata Morgana.

Mergasur war von der Außenwelt abgeschnitten. Es war sehr mühsam, auf mit Schneeschuhen getretenen Wegen Futter für die Tiere herbeizuschaffen. In den tiefen Wegrinnen verschwanden die Menschen fast. Von weitem sah es aus, als wandelten die Lasten von einer Zauberkraft getragen einher. Mergasur glich einem Boot, das auf dem weißen Ozean vom Sturm erfaßt wird. Einem Boot, das jeden Moment in den weißen Fluten des Meeres unterzugehen drohte.

Dann nahm ein Schneesturm, der tagelang wütete, Mergasur den Atem und den letzten Rest Hoffnung. Roh brüllte der Sturm, fegte alle Lebensfreude aus den Augen der Menschen. Die Dörfler hingen schwarzen Gedanken nach. Es war nicht mehr möglich, die Häuser zu verlassen. Man wußte nicht einmal, ob die Nachbarn noch lebten. Seit Wochen schon konnte man nicht zum Brunnen gehen. Wer im Dorf noch lebte, trank geschmolzenen Schnee.

Alibinat saß wie immer auf seiner Schlafstatt am Boden neben dem Ofen, den Rücken an das mit Stroh gestopfte Teppichkissen gelehnt. Sein Blick lag auf dem nach armenischer Art verzierten Pfosten, der das Dach trug. Unter den Kerans der Decke mutete er an wie eine griechische Marmorsäule. Lange betrachtete Alibinat die Schnitzereien am Kapitell. Handwerkliches Geschick gefiel ihm stets. Er freute sich und wünschte dem Baumeister gesegnete Ruhe. Der Pfosten war ihm wie eine heilige Stätte. Er war mit unterschiedlichen Gegenständen behängt. Satteldecken, Ledertaschen mit Teverik, heiligen Steinen, gefüllt, Lampen, eine Brottasche, Pluderhosen und Westen schmückten den Pfosten.

Aus dem Stall im Untergeschoß klangen Tierlaute herauf. Der Raum war voller Kinder. Die Enkel waren glücklich, hier miteinander spielen zu können. Sorglos gaben sie sich ihrem Spiel hin. Wurde ein Kind müde, ruhte es sich einen Moment auf dem Schoß des Großvaters aus. War es genug gestreichelt worden, lief schon das nächste heran, sich seine Streicheleinheiten abzuholen.

»Kalık qeda bijerone! Opa gibt alles für euch!« sagte er immer wieder.

Plötzlich hörte er Klagelaute, die sowohl den Lärm der Kinder als auch die Stallgeräusche übertönten. Als in das nur von den Flammen im Ofen schwach erleuchtete Zimmer ein Mann trat, der einen Kofi um den frierenden Kopf geschlungen hatte, glaubte Alibinat, dies könnte der Bote einer schlechten Nachricht sein.

›Eine schlimme Nachricht! Mal sehen, wer da gestorben ist‹, dachte er, während der junge Mann sich aus dem Kofi wickelte.

»Na, Kalmem, du bringst hoffentlich gute Nachrichten?«

»Apo, der Großvater ist gestorben!«

Alibinat durchlief ein Schauder. Des Todes Kälte, Schock und Denkwürdigkeit hatten Besitz von ihm ergriffen. Er versäumte sogar, sein Beileid auszusprechen. Die Brauen zusammengezogen, die dadurch hochgewölbte Stirn gefurcht. In seinem Unterbewußtsein wuchs das Wissen, daß der Tod sich auch ihm selbst näherte. Dann kam ihm Hesenali vor Augen. Schwerfällig erhob er sich und ging auf Kalmem zu. Er legte dem jungen Mann, der ihn mit feuchten, roten Augen beobachtete, die Hand auf die Schulter: »Möget ihr am Leben bleiben, mein Sohn, mögen die Hinterbliebenen lange leben! Der Tod ist Schicksal. Unser aller Schicksal.« Seiner zitternden Stimme war gleich anzumerken, wie bitterer Kummer sich auf ihn legte.

Hesenali war ein Verwandter. Gab es überhaupt jemanden im Dorf, der nicht mit den anderen verwandt war? Sie waren alle eine Familie. Auch wenn man sich zankte.

Alibinat zog Pluderhose und Weste über und trat mit Kalmem ins Freie. Er sah den Sturm in all seiner Erbarmungslosigkeit wüten. Peitschenhieb auf Peitschenhieb schlug ihm der Sturm mit Schnee durchsetzt ins Gesicht. Nur unter Mühe konnte er Kalmem in dem schmalen Pfad folgen, den dieser hinterließ. Die Eisflocken, die ihm in die Augen drangen, machten es ihm fast unmöglich, sie offenzuhalten. Er hielt schützend seine alten, knitterigen Hände davor. Es schien kaum noch Luft zum Atmen zu geben. Als sie nach ein paar hundert Metern am Ziel waren und ins Haus traten, dachte er über den Schmerz nach, der ihm scharf in die Brust fuhr.

Die Hausgemeinschaft war in Trauer. Die Frauen weinten, schlugen sich und klagten laut. Nachdem Alibinats Augen sich an die Dunkelheit im Raum gewöhnt hatten, sah er sich Riza Tschausch gegenüber. »Mein Beileid, Riza Tschausch«, sagte er, beugte sich vor und hob die über den Toten gebreitete Decke an. Wie furchtbar kalt war das Gesicht! Alibinat dachte an den Kampfesmut, den der nun Tote im russischen Krieg bewiesen hatte. Diese Tapferkeit hatte ihm im Clan der Kuresu eine Sonderstellung eingebracht. Während er die Decke sorgfältig zurücklegte, seufzte Alibinat: »Vergängliche Welt!«

Drei Generationen hatten sich um den Toten versammelt, den man möglichst weit entfernt vom Ofen aufgebahrt hatte. Seine Söhne und Töchter, seine Enkel und deren Kinder weinten, als hätten sie es vorher geprobt. Zusammen, sich gegenseitig ermunternd, klagten sie laut. Man hätte meinen können, nicht der Dorfälteste, sondern ein Mann in bester Jugend sei hier gestorben. Der Rhythmus der Klagen mußte dem Ruf entsprechen, den der Tote zu Lebzeiten erworben hatte. So reich, so angesehen der Verstorbene war, so prächtig mußte auch das Klagegeschrei sein, das man ihm nachsandte. Hesenali war nicht arm gewesen, so daß man ihn in aller Stille hätte begraben können. Nur die außerordentlich schlechten Witterungsumstände ließen einen Schatten auf den ruhmreichen Toten fallen. Ein guter Mensch stirbt bei gutem Wetter. Da das jeder wußte, würde es nun Anlaß zu Gerede bieten, daß der Todesengel Azrail ihn bei solchem Wetter abberufen hatte.

Stirbt ein guter Mensch, fällt ein wenig Gnade vom Himmel. Doch was würde bei diesem unsäglichen Wetter geschehen? Die Hausgemeinschaft machte sich aufrichtig Sorgen darum. Zu anderen Zeiten hätte sich Mergasur zum Begräbnis mit Menschen gefüllt. Nun überlegten sie, ob sie ihren Toten wie den armen Use Fer würden allein begraben müssen.

Riza Tschausch stand wie erstarrt ohne die leiseste Regung da. Er war zutiefst betrübt darüber, daß der Held aus dem russischen Krieg nun ohne Leichenzug begraben werden müßte, daß die Herren der sieben Clans nicht an sein Grab kommen würden. War es bei diesem Wetter schon kaum möglich, die Nachbarn zu benachrichtigen, wie sollte man da den Clanführern Nachricht zukommen lassen? Er war, wie sein Vater, ein Mann von Gewicht bei den Dersimer Clans. Er könnte von heut auf morgen hundertfünzig Bewaffnete auf die Pferde bringen, die Clans überfallen und ausplündern, wenn er es gewollt hätte. Es gab keine Frau und kein Kind, die sich nicht vor Angst in die Hose machten, wenn sie ihn mit seinen bewaffneten Recken sahen. Riza Tschausch war Tschingis Khan. Ist er heute bei den Areyan, so ist er morgen schon bei den Lolan oder Karsan. Kaum hast du dich umgeschaut, hat er schon über den Fluß gesetzt, hat die sunnitischen Kurden geschlagen, ihre Herden in den Fluß getrieben, ihnen Not und Armut gebracht. Auf seiner weißen Stute reitet er auf die Dächer der Häuser, dringt zu Pferde in ihre Gasträume ein. Kam er mit seiner Bande in ein Dorf, war es, als bebte die Erde. Galoppierten seine Reiter ins Dorf, bebten Himmel und Erde. Nicht nur die Menschen, selbst die Tiere wußten vor Schreck nicht, wohin sich flüchten. Laut gackernd flohen die Hühner, Hunde und Katzen preßten sich an den Erdboden und jaulten in flehentlich Mitleid erregenden Tönen.

Als Scheich Said mit seinen Truppen in Elaziz eingezogen war, hatte Riza Tschausch mit seinen hundertfünzig Bewaffneten den Kurden rücklings einen solchen Schlag versetzt, wie es selbst die Türken mit ihren Heeren, ihren Flugzeugen und Kanonen nicht vermocht hatten. Den Kuros durfte nicht die Chance gegebenen werden, einen eigenen Staat zu bilden. Unter dieser Devise hatte sein Kampf gestanden. Die Dörfer der sunnitischen Kurden hatte er plündern lassen. Die Dörfler in Karakoçan, Palu und Kığı hatten keine Ziegen mehr, deren Milch sie ihren Kindern hätten geben können. Riza Tschausch war ein Wolf, der dafür sorgte, daß der Baum innerlich verfaulte.