Die verschollene Farbe - Philipp Baumgärtel - E-Book

Die verschollene Farbe E-Book

Philipp Baumgärtel

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Beschreibung

Als die elfjährige Rosa widerwillig mit ihren Eltern in die alte Villa ihrer verschwundenen Großmutter zieht, ahnt sie noch nicht, was sie erwartet. Sie findet ein merkwürdiges Buch mit Rezepten für magische Farben, das ungeahnte Fähigkeiten verleiht und das Reisen durch Gemälde möglich macht. Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen Tom erfährt sie, dass das Verschwinden ihrer Großmutter mit einer Einbruchsserie zusammenhängen könnte. Sie beschließen, mit den magischen Farben eine Rettungsaktion zu starten. Enthalten die verschollenen Seiten des merkwürdigen Buchs vielleicht das Rezept für eine weitere noch mächtigere magische Farbe? Rosa und Tom müssen ihre ganze Kreativität einsetzen, um den Gefahren zu trotzen und Rosas Oma wiederzufinden.

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Philipp Baumgärtel

Die verschollene Farbe

Philipp Baumgärtel arbeitet tagsüber als IT-Consultant. Abends, wenn seine Kinder friedlich schlafen, verwandelt er sich in einen Autor und schreibt Geschichten. Er wurde 1983 in Franken geboren und wuchs in Bamberg auf. Sein Studium der Informatik führte ihn nach Erlangen, wo er als Teil der Schreibwerkstatt „Wortwerk“ Kurzgeschichten verfasste. Vor einigen Jahren hat es ihn dann an den Alpenrand verschlagen. In seiner Kindheit war es immer sein Wunsch gewesen, entweder Zauberer oder Erfinder zu werden. Mit seinem Beruf und dem Schreiben sind seiner Meinung nach beide Wünsche in Erfüllung gegangen.

Mehr Infos auf: www.philipp-baumgaertel.de

Philipp Baumgärtel

Die verschollene Farbe

Für Ronja und Lars

Die in diesem Buch verwendeten Bilder (siehe Bildverzeichnis am Ende) stammen aus Wikimedia Commons und sind als Public Domain gekennzeichnet. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.

Impressum

Texte und Innenillustrationen (ausgenommen Gemälde):

© Copyright by Philipp Baumgärtel

Umschlagillustration:

© Copyright by Eva Lemmer - [email protected]

Umschlaggestaltung:

© Copyright by Siora Zabries - [email protected]

Verlag:Philipp Baumgärtel

Troppauerstr. 50

83052 Bruckmühl

[email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: 

[email protected]

1. Die erste Nacht

Rosa konnte nicht einschlafen. Sie lag nun schon seit über einer Stunde wach in ihrem Bett. Eigentlich war es gar nicht ihr Bett. Ihre Eltern waren unten noch leise zu hören, wie sie im Wohnzimmer Kisten auspackten und sogar noch Möbel verschoben. Sie setzte sich auf und wollte ihre Nachttischlampe anknipsen, aber sie konnte den Schalter nicht finden. Da fiel ihr wieder ein, dass ihre Sternenlampe noch gar nicht ausgepackt war. Sie tastete sich im Dämmerlicht, das durch die Ritzen des Rollos von einer weit entfernten Straßenlaterne kam, bis zum Lichtschalter neben der Tür vor und schaltete das große Licht an. Die Lampe an der Decke war genauso wenig ihre Lampe, wie das Zimmer ihr Zimmer war. Es standen ein paar halb ausgepackte Umzugskartons herum, aus denen sie ein paar Spielsachen herausgekramt hatte. Ansonsten war das Zimmer noch fast so eingerichtet, wie sie es von früher kannte, als es noch das Gästezimmer im Haus ihrer Großmutter war. Ein altertümlicher Kleiderschrank aus dunklem Holz stand neben einem Regal, das bis gestern noch voller verstaubter Bücher gewesen war. An den Wänden hing eine verblichene Blümchentapete, die langsam abblätterte. Das einzige neue Möbelstück war eine weiße Kommode, die Rosas Eltern gestern schon für sie hier hochgeschleppt hatten.

Bei ihren früheren Besuchen hatte Rosa nie im Gästezimmer schlafen müssen. Oma Violetta hatte sich immer etwas einfallen lassen. Im Sommer hatten sie im Garten unter den Sternen oder in einem Zelt geschlafen. Im Winter hatten sie das Zelt im Wohnzimmer aufgestellt oder eine Kissenburg gebaut, in der sie dann zusammen übernachtet hatten.

Jetzt war sie mit ihren Eltern hier eingezogen. Oma Vio war vor einem Jahr auf einer Urlaubsreise spurlos verschwunden und vor einigen Wochen kam ein Brief von irgendwelchen Leuten, in dem stand, dass ihr Vater jetzt das Haus bekäme. Ihre Eltern hatten noch das Ende des Schuljahres vor dem Umzug abgewartet und dann haben sie ihre alte Wohnung und ihre alte Stadt hinter sich gelassen. Rosa war darüber alles andere als glücklich. Sie hatte ihre alte Wohnung geliebt, ihre alte Stadt geliebt und ihre alte Schule geliebt, naja eher die Freunde, die sie dort gehabt hatte. Hier in diesem Haus zu wohnen, kam ihr komisch vor. So als wären sie Einbrecher, die alles im Haus ihrer Großmutter durcheinanderbrächten. Wenigstens hatte sie noch die Sommerferien, bevor sie sich mit der neuen Schule auseinandersetzen musste. Allerdings, was sollte sie die ganzen Ferien über anfangen, ganz ohne Freunde hier?

Ihre Mutter hatte ihr zwar versprochen, dass sie ab und zu einen Ausflug in ihre alte Stadt machen könnten, aber was waren schon ein paar Besuche? Vorher hatte sie fast jeden Tag ihre besten Freunde gesehen. Angeblich war diese Stadt so viel größer und aufregender und der Stadtteil, in dem ihre Großmutter ihr Haus hatte, so viel schicker, aber Rosa war das herzlich egal.

Wenigstens konnte sie es sich hier ein wenig gemütlicher einrichten, damit sie in Ruhe schlafen konnte. Rosa kniete sich neben eine der Umzugskisten. In Ploppfolie eingepackt waren ihre Bilder sauber nebeneinander in einen Karton einsortiert worden. Sie erkannte schnell das Richtige an dem Rahmen aus grob geschnitzten Birkenästen und zog es heraus. Sie rupfte die Luftpolsterfolie auseinander und schaute sich das Gemälde an, das sie vermisst hatte. In der Mitte war ein weißer Hase in einer Ritterrüstung zu sehen, im Hintergrund war eine Burg. Der Hase hielt kampfeslustig sein Schwert und Schild bereit und grinste tollkühn im Mondlicht. Auf seinem Schild war als Wappen ein weiterer Hase zu erkennen. Die rechte Seite des Bildes wurde von einem finsteren Wald beherrscht, es waren aber keine Ungeheuer zu sehen. Siebe der Monsterjäger, war eine von vielen Figuren, die sich ihre Großmutter ausgedacht hatte und für die Rosalie als Kind einen lustigen Namen erfunden hatte.

Die Bilder ihrer Oma waren beeindruckend. Wenn Rosalie den Wald anschaute, erschauerte sie vor Grusel, aber auf wohlige Art und Weise. Wenn sie Siebe anschaute, verging alle Furcht und sie fühlte sich glücklich, sicher und geborgen und erinnerte sich an die Zeit, als sie zusammen mit ihrer Großmutter gespielt hatte. Gemeinsam hatten sie sich vorgestellt, dass Siebe echt war und dass sie zusammen Abenteuer erlebt hatten. Sie meinte sogar im Dämmerlicht zu sehen, wie Siebe ihr zublinzelte.

Rosa konnte das Bild nicht allein aufhängen, aber sie lehnte es so an die Wand, dass sie es von ihrem Bett aus sehen konnte. Sie zog das Rollo noch etwas weiter auf, sodass mehr Licht von der Straßenlaterne ins Zimmer fiel. Dann schaltete sie die große Lampe wieder aus und tastete sich zu ihrem Bett zurück. Als sie wieder im Bett lag und sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte sie das Bild gut erkennen und sie schlief, mit Siebe dem Monsterjäger im Blick, endlich ein.

Rosa wurde am nächsten Morgen vom Klappern der Teller unten im Esszimmer geweckt und hatte auch sofort den Duft von frischen Pfannkuchen in der Nase. Kurz darauf kam ihre Mutter in ihr Zimmer.

„Guten Morgen Rosalie, aufstehen! Der erste Tag im neuen Zuhause wartet auf dich.“ Der Blick ihrer Mutter fiel auf das Bild des Hasen, das an der Wand lehnte. „Willst du die Bilder wirklich wieder aufhängen in deinem neuen Zimmer? Bist du nicht langsam zu alt dafür? Ich könnte dir ein paar Poster von einer coolen Band besorgen. Du wirst in ein paar Monaten doch schon elf.“

Rosa war ganz empört, versuchte aber den Tag nicht gleich im Streit zu beginnen: „Lass uns das später weiter besprechen.“ Diesen Satz hatte sie von ihrem Vater gelernt, wenn er eine Diskussion beenden wollte. Sie stand auf und ging im Schlafanzug mit ihrer Mutter hinunter an den Esszimmertisch.

Bei dem Anblick des Pfannkuchenstapels konnte Rosa sich die Tränen nur schwer verkneifen. Pfannkuchenfrühstück war die Spezialität ihrer Oma gewesen. Ihre Eltern machten nie Pfannkuchen zum Frühstück. Sie wusste, dass sie es nur gut meinten und sich die größte Mühe gaben, dass sie sich im neuen Zuhause wohl fühlte, aber mussten es unbedingt Pfannkuchen zum Frühstück sein?

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals runter und zwang sich zu einem Lächeln: „Hm lecker, das duftet ja toll.“

Rosa hatte nach dem Frühstück keine Lust ihre Kisten auszupacken, da sie innerlich immer noch gegen den Umzug protestierte. Sie wusste, dass sie bald keine Wahl haben würde. Das hieß aber nicht, dass sie ohne Murren alles brav mit anpacken würde. Sie zog sich schnell ein buntes T-Shirt und eine kurze Hose an, bürstete ihre kinnlangen rot-braunen Haare und machte sich bereit rauszugehen. Im Haus selber wollte sie sich sowieso nicht aufhalten, da sie sich immer noch wie eine Einbrecherin vorkam. Ihre Eltern diskutierten gerade sogar darüber, ob sie die vielen Gemälde im Haus, die Oma selbst gemalt hatte, abhängen sollten. Ihre Großmutter war eine berühmte Künstlerin und die Bilder waren jetzt nach ihrem Verschwinden sogar noch wertvoller geworden. So viel hatte Rosa mitbekommen. Es hatte sogar vor einem halben Jahr einen echten Einbruch in dieses Haus gegeben, während es leer stand. Die Diebe hatten ein paar der Gemälde geklaut und sicherlich auf dem Schwarzmarkt für viel Geld verkauft. Rosa wurde ganz mulmig bei dem Gedanken daran. Aber ihre Eltern hatten eine neue Alarmanlage einbauen lassen und ihr versprochen, dass so etwas nicht nochmal vorkommen kann. Vielleicht wollten auch deswegen ihre Eltern die Gemälde abhängen und verkaufen oder in einem Tresor einlagern. Denn dann hätte niemand mehr einen Grund bei ihnen einzubrechen.

Sie ging mit ihrem Zeichenblock und ein paar Stiften hinaus in den Garten. Es war ein wunderbarer Sommermorgen und der Garten von Oma Vio war ein traumhaftes Chaos aus wilden Rosen, Kletterbäumen und einer Blumenwiese. Omas Haus war eine riesige alte Villa und mit dem großen Garten außen herum bemerkte man kaum, dass man sich inmitten einer Großstadt befand. Der ganze Stadtteil war voller Villen von reichen und teilweise sogar berühmten Leuten. Rosa kannte niemanden davon, war aber überzeugt, dass sie mit denen nichts zu tun haben wollte.

Sie setzte sich im Schneidersitz auf die Blumenwiese und begann, ein Bild zu zeichnen. Sie malte die Blumen wunderbar detailreich und dazu entwarf sie noch ein winziges Dorf voller Feen, die allerlei Unfug trieben. Rosa liebte es, lustige Details in ihre Bilder einzubauen und dachte sich dabei auch immer gleich eine ganze Geschichte dazu aus. Sie hatte wirklich Talent und auch schon einige Maltechniken von ihrer Großmutter gelernt.

Gerade in diesem Augenblick kam eine Drohne vom Nachbargrundstück über die Hecke herübergeflogen und richtete surrend von oben ein Kameraauge auf Rosa herab. Sie war einen Moment lang ganz baff, aber dann stieg eine glühende Wut in ihr auf. Ihre Welt war durch den Umzug aus den Fugen geraten und nun wurde sie auch noch in diesem Moment der Ruhe angegriffen. Sie schnappte sich schnell einen Ast, der im Gebüsch neben ihr lag, und warf ihn nach der Drohne. Das surrende Gerät versuchte noch auszuweichen, schaffte es aber nicht. Es wurde vom Ast getroffen, geriet ins Taumeln und fiel zu Boden. Als das Ding auf dem Gras aufschlug, bekam Rosa dann aber fast ein schlechtes Gewissen und hatte Angst, die zerstörte Drohne von ihrem Taschengeld ersetzen zu müssen. So eine Maschine war bestimmt teuer.

„Hey, was soll der Mist?“, rief eine Jungenstimme vom Nachbargrundstück hinter der Hecke herüber. „Gib mir sofort meine Drohne wieder!“.

„Kannst du haben du Spion“, erwiderte Rosa voller Wut. Sie nahm die kaputte Drohne und schleuderte sie mit all ihrer Kraft über die Hecke zurück.

Als sie kurz darauf von drüben ein Schluchzen hörte, hatte sich ihr Gemüt bereits etwas abgekühlt. Sie seufzte und ihr schlechtes Gewissen flammte wieder auf. Sie ging zur offenen Terrassentür und rief ihren Eltern zu, dass sie kurz zu den Nachbarn schauen würde.

Ihre Eltern waren weiter mit Auspacken und Einräumen beschäftigt und riefen ihr ein „Ja, viel Spaß.“ zurück, ohne richtig zugehört zu haben.

Das Nachbarhaus war genauso eine Villa wie das Haus ihrer Oma. Allerdings nur vom Namen her. Eigentlich war das Haus eher klotzförmig und grau-verglast-modern. Es war auch von einem riesigen Garten umgeben, der allerdings eher nach einem langweiligen englischen Rasen aussah. Es gab keine Bäume zum Verstecken, keine Himbeersträucher zum Naschen und keine Blumen zum Schnuppern. Eine Herde Rasenmähroboter graste in einer Ecke und kümmerte sich um jeden Grashalm, der etwas zu groß geraten war. Rosa stand vor dem großen Metalltor und nahm ihren Mut zusammen, um auf die Klingel zu drücken.

Eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher antwortete: „Anwesen Familie Weilerbach, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich, äh, komme wegen der kaputten Drohne“, antwortete Rosa.

Die blecherne Stimme begann: „Davon ist mir nichts bekannt, bitte warten Sie …“

Da kam die Stimme des Jungen von weiter hinten dazwischen: „Jenkins, öffne die Tür!“

Das Metalltor öffnete sich automatisch und dahinter kam auch schon der Junge in schicker Jeans, mit einem blauen Hemd und etwas wilden, kurzen, schwarzen Haaren zum Vorschein. Er hatte die kaputte Drohne in der Hand und seine Augen waren noch etwas gerötet vom Weinen. Er war etwas kleiner als Rosa und vielleicht ein knappes Jahr jünger.

Beide fielen sich gleichzeitig ins Wort: „Es tut mir leid …“,

„Sorry, dass ich …“

„Äh, du zuerst“, sagte der Junge.

Rosa entschuldigte sich: „Es tut mir leid, dass ich deine Drohne kaputtgemacht habe. Du kannst mich aber auch nicht einfach so ausspionieren. Ich hab mich quasi nur verteidigt.” Sie zeigte mit dem Finger auf ihn, um ihren letzten Punkt noch zu unterstreichen.

„S…S…Sorry“, erwiderte der Junge schniefend, „Ich wollte wirklich nur schauen, wer da neben uns eingezogen ist. Ich dachte, ich hätte eine Kinderstimme gehört. Und naja, Kinder sind in der Gegend echt selten.“ Er schaute dabei zu Boden und scharrte nervös mit einem Fuß im Kies.

Rosa merkte, wie geknickt der Junge war, und das letzte Bröckchen Wut verflog langsam. “Ich war in dem Moment wirklich sauer und es ist nicht nett, Leute so zu beobachten. Aber kaputtmachen war auch nicht ok von mir. Deine Eltern kaufen dir doch sicher eine neue Drohne, oder?“ Rosa zeigte auf das elegante Haus und auf den Lautsprecher am Tor. „Wenn ihr sogar einen Diener habt“.

„Einen Diener?“ Der Junge sah sie fragend an. „Ach du meinst Jenkins. Nein, das ist nur ein Computer, der sich um ein paar einfache Sachen im Haus kümmern kann. Meine Mutter arbeitet in so einer Technikfirma und baut so Zeug. Auf eine neue Drohne muss ich erstmal wieder ganz schön sparen. Die sind wirklich nicht billig und meine Mutter sagt immer, ich soll mit Geld umgehen lernen.“

„Vielleicht kann man sie ja noch reparieren?“ fragte Rosa den Jungen. Der schüttelte nur den Kopf. „Ich wollte damit gerade einen Actionfilm oder so was drehen.“

Rosa schluckte. „Vielleicht kann ich dir ja die Hälfte von meinem Taschengeld bezahlen oder so. Schließlich war es ja fast halb meine Schuld.“

Der Junge schaute auf: „Das würdest du tun? Das wäre echt voll nett von dir. Ich heiße übrigens Tom.“

„Ich bin Rosa, eigentlich Rosalie…“

„Thomas, würdest du bitte ins Haus kommen? Es ist Zeit für deine Musikübungen“, unterbrach sie da die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.

Tom seufzte und rief zurück: „Ja, ich komme sofort.” Zu Rosa gewandt sagte er: “Wenn du mal Lust hast was zu spielen, dann komm einfach rüber und sag zu Jenkins an der Tür, dass du zu mir willst. Du musst mich Thomas nennen, wenn du mit ihm sprichst.“

„Ja geht klar. Ich muss dann auch äh weiter“, antwortete Rosa etwas erstaunt, verabschiedete sich winkend von Tom und ging langsam zu ihrem Haus zurück. Sie hatte sich eigentlich auf einen Streit mit einem verzogenen reichen Kind eingestellt und fast schon gehofft, dabei ihre Wut so richtig rauszulassen. Dass sie jetzt stattdessen fast schon einen Freund oder zumindest einen möglichen Spielkameraden gefunden hatte, brachte sie etwas aus dem Konzept.

2. Der Dachboden

Nach dem Mittagessen überlegte Rosa, ob sie gleich nochmal zu Tom schauen sollte. Sie war jetzt wesentlich versöhnlicher gestimmt, nachdem sie mit ihren Eltern zusammen ihr Zimmer schon etwas schöner eingerichtet hatte. Bis die alte Tapete und die Möbel ausgetauscht wurden, würde es aber wohl noch etwas dauern. Dafür durfte sie erstmal wieder alle Bilder aufhängen, die ihre Großmutter extra für sie gemalt hatte. Außerdem hatten ihre Eltern dann mittags Pizza bestellt.

Gerade als sie in den Garten hinaus gehen wollte, rief jemand vom Eingangstor: „Rosa, bist du da? Hallo? Ich glaube eure Klingel geht nicht.“ Tom war ihr zuvorgekommen.

Rosa hüpfte den Weg hinunter zum Tor, da sie noch nicht wusste, wie man es vom Haus aus öffnen konnte, und ließ ihn in den Garten.

Tom schaute sich um und staunte: „Echt nicht schlecht, ein richtiges Geisterhaus“.

„Pfff, bloß weil alles ein bisschen wilder und älter ausschaut als euer langweiliger Kasten“, erwiderte Rosa ein bisschen eingeschnappt. Sie fühlte sich noch etwas fehl am Platz zwischen all den reichen Leuten in dem Stadtviertel.

Tom schüttelte den Kopf, „Das hab ich nicht böse gemeint. Ich finde es super. Versuch mal in meinem Garten was zu spielen, außer Fußball mit den Rasenmährobotern.“ Rosa nickte nur und sie folgte Toms Blick in ihren Garten. Sie erinnerte sich an all die tollen Abenteuer, die sie mit ihrer Großmutter hier erlebt hatte. Sie meinte sogar, dass sie damals irgendwo Ritter in einer Art Burg gespielt hatten, konnte aber bisher keinen Ort im Garten finden, der so aussah, wie sie es verschwommen in Erinnerung hatte. Vielleicht war es auch nur ein Traum gewesen. Das war schon so lange her.

Sie zeigte Tom den Garten und sie spielten eine Weile „der Boden ist Lava“ und kletterten dabei über Bäume und Schuppendächer. Nach einer Weile fragte Tom, ob sie ihm ihr Zimmer zeigen würde. Rosa führte Tom ins Haus und stellte ihn ihren Eltern vor. Sie war etwas nervös und machte sich Sorgen, dass Tom die Bilder, die ihre Großmutter für sie gemalt hatte, blöd finden würde. Vielleicht hätte sie doch das Angebot ihrer Mutter annehmen sollen und ein paar Poster von coolen Bands aufhängen sollen.

Als Tom ihr Zimmer betrat, stehen blieb und seinen Blick über die Bilder schweifen ließ, hielt Rosa den Atem an. Was, wenn er sie dafür auslachen würde, dass sie ein Bild von einem Hasen im Ritterkostüm und noch einigen anderen Kinderkram an der Wand hängen hatte? Aber ihre Sorge war unbegründet. Genau wie jeder andere – mit Ausnahme vielleicht ihrer Eltern - war Tom von den Bildern ihrer Oma begeistert: „Wahnsinn, der Wald auf dem Bild schaut wirklich gruselig aus. Bekommst du davon keine Albträume?“

„Nein“, erwiderte Rosa, „Der Hase - Siebe der Monsterjäger - der beschützt mich.“

Tom wollte schon lachen, verkniff es sich dann aber und schaute sich den Hasen genauer an. „Hm, ja … ok.“ Er ging von Bild zu Bild und betrachtete alles in Ruhe. „Hast du die gemalt?“ fragte er Rosa.

Sie erzählte ihm von ihrer Großmutter. Der Vater ihrer Oma war bereits Maler gewesen und sein Vater davor oder vielleicht seine Mutter. Das Malen lag der Familie auf jeden Fall schon seit Generationen im Blut. Oma Vio war schon als junge Frau mit ihren Bildern berühmt geworden und hatte damit viel Geld verdient. Rosas Vater dagegen hatte keinerlei Interesse am Malen gezeigt und hatte mit der Familientradition gebrochen. Stattdessen war er ein ziemlich erfolgloser Kinderbuchautor geworden.

Rosa wollte am liebsten gleich wieder raus in den Garten mit Tom, aber der meinte: „Ich könnte dir noch ein bisschen mit dem Auspacken deiner letzten Kisten helfen, wenn du magst.“

Einerseits wollte Rosa nicht, dass er in ihren ganzen Sachen wühlte, andererseits war es ihr eigentlich ganz recht, wenn sie ihre Kartons nicht allein ausräumen musste.

Zusammen räumten sie ihre Bücher ins Regal, die Kuscheltiere in die Kommode und ihre Spielsachen in weitere Schubladen. Tom schaute sich alles an, machte aber zum Glück keine dummen Bemerkungen.

Sie nutzte die Gelegenheit auch gleich, um alles auszusortieren, für das sie ihrer Meinung nach langsam zu alt wurde. Und war dabei vielleicht etwas strenger, als sie es ohne Tom gewesen wäre. Tom schaute sie dabei etwas schief an, so als würde er das bemerken.

Rosa grinste entschuldigend: „Ja, ist schon klar, dass man eigentlich vor Umzügen aussortieren sollte. Ich hab mich vielleicht ein klein wenig geweigert, beim Packen zu helfen.“

Tom zuckte nur mit den Schultern.

Nachdem sie fertig waren, trug Rosa die Kiste raus in den Gang. „Mama, wo soll ich die Kiste mit Sachen, die ich nicht mehr brauche, hin räumen? In den Keller?“

„Nein, der ist noch so voll mit …“, Rosas Mutter Anna unterbrach sich, um nicht Violetta zu erwähnen, da sie wusste, dass das ein wunder Punkt bei Rosa war. „Räum es doch einfach auf den Dachboden. Weißt du wo der ist?“ „Klaro“, erwiderte Rosa, der nicht entgangen war, was ihre Mutter nicht hatte aussprechen wollen.

Gemeinsam mit Tom schleppte sie den Karton voller alter Spielsachen den Gang entlang und dann die etwas versteckte Treppe hinauf, an deren Ende die Tür zum Dachboden war. Die Tür war nicht abgeschlossen. Aus irgendeinem Grund hatte Rosa das fast erwartet.

Als sich ihre Augen an das staubige Dämmerlicht, das durch die einzige Dachluke fiel, gewöhnt hatten, sahen sie, dass der Dachboden vollgestellt war mit alten Truhen, Kisten und Möbeln. In den Ecken hingen Spinnweben, deren Bewohner zum Glück gerade anscheinend nicht zu Hause waren. Tom warf Rosa einen ängstlichen Blick zu. Die ließ sich aber nicht so leicht beeindrucken. An eine Wand gelehnt war ein Stapel mit halbfertigen selbst gebastelten Bilderrahmen und nie fertiggestellten Bildern. Rosa staunte und betrachtete die Bilder und fing an, Truhen und Kisten zu öffnen.

„Rosa, das solltest du dir anschauen“, kam es von Tom nach einer Weile, der auch in den Kisten gestöbert hatte. Sie drehte sich zu ihm um und konnte erst nicht erkennen, was er meinte. Tom ging einen Schritt zur Seite und sie sah es. In der Kiste war ein Geschenk, eingewickelt in das Geschenkpapier, das ihre Großmutter immer benutzte. Auf einem kleinen Zettel, der daran befestigt war, stand: „Für Rosi“. Oma Vio war übrigens die Einzige, die sie so nennen durfte. Bei genauerer Betrachtung erkannte Rosa, dass das Geschenkpapier geöffnet und vorsichtig wieder zugeklebt worden war. Außerdem lagen zwei geöffnete Briefe unter dem Geschenk in der Truhe. Der erste Brief war von ihrer Oma:

„Liebste Rosi,

alles Gute zu deinem zehnten Geburtstag. Ich kann leider nicht wie sonst zu deiner Feier kommen, weil ich gerade jetzt eine wichtige Reise antreten muss. Wir sehen uns aber sicherlich bald wieder. Mit zehn Jahren bist du langsam alt genug, um in meine Fußstapfen zu treten. Ich hoffe, dass dein Vater dir erklärt, was es mit dem Geschenk auf sich hat, auch wenn er sich selbst nie dafür interessiert hat.

In Liebe,

deine Vio“

Rosa stutzte und wollte gleich das Geschenk aufmachen, das offensichtlich nie den Weg zu ihr gefunden hatte. Dann besann sie sich anders und las erst den zweiten Brief, der in der Handschrift ihres Vaters geschrieben war.

„Liebe Violetta,

Anna und ich sind der Meinung, dass Rosa noch lange nicht alt genug ist. Das, was du ihr schicken wolltest, ist gefährlich und wir wollen damit nichts zu tun haben. Wenn Rosa erwachsen ist, kann sie tun, was sie für richtig hält. Aber vorher bitten wir dich Rosa da rauszuhalten.

Wir werden ihr in deinem Namen ein anderes Geschenk besorgen.

In Liebe,

dein Sohn Simon“

Deswegen hatte sie also zum zehnten Geburtstag von ihrer Oma ein langweiliges Brettspiel bekommen. Das kam ihr damals schon komisch vor. Was bildete sich ihr Vater eigentlich ein, sich in die Geschenke ihrer Oma einzumischen?

Jetzt war Rosa wirklich gespannt, was das für ein Geschenk war. Sie öffnete vorsichtig das Geschenkpapier, damit sie es im Notfall wieder zumachen konnte. Zum Vorschein kam ein anscheinend uraltes, in Leder gebundenes Buch mit dem Titel: „Ars color mixtionis“.