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Nach dem Dritten Weltkrieg gleicht die Erde einem Trümmerfeld. Die letzten überlebenden Menschen haben sich in Sicherheitszonen verbarrikadiert, um sich vor der radioaktiven Strahlung zu schützen. Ein Überleben ist nur nach strengen Regeln und Gesetzen möglich. Es gibt weder Eigentum noch einen eigenen Willen. Die Legionsführer nehmen den Menschen jede Entscheidung ab. In dieser Welt ist kein Platz für Gefühle. Die Menschen leben nur noch um zu funktionieren, deshalb tragen sie Nummern statt Namen. D518 ist eine von ihnen. Geboren in dieser zerstörten Welt, hat sie nie ein anderes als dieses von Kontrolle bestimmte Leben kennengelernt. Dies ändert sich schlagartig, als sie von Gegnern der Regierung entführt wird. Alles, woran sie bisher geglaubt hat, stellt sich als eine Lüge heraus.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2017
Inhaltsverzeichnis
RADIOACTIVE
VORWORT
01. UNWISSENHEIT BEWAHRT FRIEDEN
02. WIR SIND ALLE GLEICH
03. DIE ENTFÜHRUNG
04. DIE VERSTOßENEN
05. ISOLATION
06. CLEO, DIE MIT DER SONNE AUFGEHT
07. GESCHWISTER
08. ZOE
09. WAFFENSTILLSTAND
10. IRIS’ GEBURTSTAG
11. WER NICHT STREITET,
12. DER SCHWARZMARKT
13. VERSPRECHEN
14. VERGISS MICH NICHT
Maya Shepherd
Die Verstoßenen
Roman
E-Book
3. Auflage
Copyright © 2012 Maya Shepherd
Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing
Neuauflage: 2017
Korrektorat: Martina König
Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
www.mayashepherd.de
Für Robert,
der immer an mich geglaubt hat
I’m waking up to ash and dust I wipe my brow and I sweat my rust I’m breathing in the chemicals I’m breaking in, shaping up, then checking out on the prison bus This is it, the apocalypse
[…]
Welcome to the new age […]
I’m radioactive
(Imagine Dragons – Radioactive)
Die ersten Atomwaffen fanden im August 1945 ihren Einsatz. Sie setzten so viel Energie frei, dass die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki fast vollständig zerstört und hunderttausende Menschen getötet wurden. Bereits die ersten Kernwaffen hatten eine Explosionsenergie, die mehr als zehntausend Tonnen gewöhnlichen Sprengstoffs entsprach.
Doch die Entwicklung schreitet täglich voran. Die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT, hingegen hatte 1961 die sowjetische Zar-Bombe, die bei einem atmosphärischen Kernwaffentest gezündet wurde, bereits eine Sprengkraft von 57.000 Kilotonnen TNT. Die Welle der Verwüstung, die so eine Bombe anrichten könnte, ist kaum vorstellbar. Trotzdem entwickelt sich die Technik stetig.
Viele Länder treiben die nukleare Rüstungsindustrie immer weiter voran. Die USA sind hierbei Spitzenreiter. Sie befinden sich im Besitz von über 11.000 Atombomben, dicht gefolgt von Russland mit 10.000 Kernwaffen. Aber auch China, Frankreich, Großbritannien, Nord-Korea, Indien, Pakistan und Israel sind offiziell im Besitz atomarer Waffen. Der Iran bestätigte bisher nicht den Besitz solcher Bomben, doch gibt es Messungen, die anderes belegen. Während das Regierungsgebiet des Iran immer kleiner wird, steigert sich die militärische Stärke der Atommacht Israel immer mehr. Dieser Zustand könnte dazu führen, dass der Iran seine einzige Chance, sich zu verteidigen, in einem nuklearen Angriff sieht. Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad beginnt jede seiner Reden mit dem Ruf »Tod Israel!«. Selbst Friedensnobelpreisträger Barack Obama zeigt sich auf die Äußerungen des Irans immer kriegerischer: »Amerika ist fest entschlossen, zu verhindern, dass der Iran an atomare Waffen gelangt. Ich werde keine Möglichkeit ausschließen, um dieses Ziel zu erreichen.« Die Botschaft ist deutlich.
Was die USA dabei jedoch nicht bedenken: Die Auswirkungen des Einsatzes einer Atombombe begrenzen sich nicht nur auf ein einzelnes Land, sondern reichen viel weiter. Die Rakete würde zwar den Erzfeind Israel treffen, aber auch Länder wie Ägypten, Indien, die Türkei und Russland wären betroffen. Denn: Ein Krieg zwischen zwei Atommächten geht die ganze Welt etwas an, keiner ist von den Schäden ausgeschlossen. Es ist ein Krieg gegen die Menschheit.
Die Auswirkungen einer Atombombe sind in vier Zonen zu gliedern:
Zone 1 – Vernichtung allen Lebens
Zone 2 – 50 % der Menschen sind sofort tot, nur wenige Gebäude sind unzerstört. In den ersten Stunden leiden die Überlebenden an Übelkeit. Nach einer Woche kommt es zu Entzündungen und Blutungen, die schließlich zum Tod führen können.
Zone 3 – 25 % der Menschen sind sofort tot. Nach drei Wochen kommt es durch die Qualen von Blutungen, Übelkeit, Haarausfall und hohem Fieber schließlich zum Tod, dem nur 50 % der Überlebenden entgehen.
Zone 4 – 35 % Schwerverletzte. Zahlreiche Gebäude sind beschädigt. Wenn es in den ersten drei Monaten zu keiner Infektion kommt, ist ein Überleben wahrscheinlich.
Spätfolgen: verseuchter Boden, Krebserkrankungen, Missgeburten …
Die Reichweite dieser Zonen ist abhängig von der atomaren Sprengenergie der Nuklearwaffen, die von Jahr zu Jahr stärker werden.
Bereits die Energie aller heutigen Atombomben weltweit würde nicht nur ausreichen, um die ganze Menschheit oder sogar die komplette Erde auszulöschen, sondern um noch vier bis fünf weitere Planeten zu zerstören …
(Stand : Dezember 2012)
Meine korrekte Bezeichnung lautet E518. Ich bin eine Überlebende der fünften Generation.
Exakt um 07:00 Uhr öffne ich die Augen und blicke zu den grauen Leuchtplatten an der Decke. Noch sind sie gedämmt, während sie im Verlauf des Tages immer heller werden, bis sie sich abends automatisch abdunkeln und schließlich um 22:00 Uhr gänzlich erlöschen. Genau neun Stunden sind die als optimal berechnete Schlafdauer für den Körper einer Heranwachsenden.
Ich setze mich auf und schlage die weiße Bettdecke zurück, schwinge meine Beine über den Bettrand, sodass meine Füße in der Luft baumeln, und beginne, meine Arme und meinen Rücken zu strecken. Während des Schlafs wird die Muskulatur nicht beansprucht und ist deshalb morgens verkürzt und schlecht durchblutet. Sie verträgt in diesem Zustand keine Belastung. Durch das Dehnen und Strecken wird sie wieder mobilisiert. Gerade heute ist es wichtig, dass ich in Topform bin. Ich kann mir nicht ausgerechnet heute einen Leistungseinbruch in meiner Statistik leisten. Dieser Tag ist der wichtigste meines Lebens, denn er wird meine Zukunft bestimmen.
Meine Füße berühren den grauen Fliesenboden. Die Kälte lässt mich für einen Moment zurückzucken, wie jeden Morgen. Die Fliesen verhalten sich genauso wie die Deckenplatten. Am Morgen sind sie kalt, wärmen sich durch Strom über den Tag auf, sodass sie am Abend eine angenehme Wärme erreichen und ab 22:00 Uhr wieder abkühlen. So ist der Kreislauf.
Leise tapse ich barfuß zu der gegenüberliegenden Seite meines Zimmers. Die morgendliche Dusche ist genauso unerlässlich wie das Dehnen der Muskulatur. Ich streife mir das rote, knielange Nachthemd über den Kopf und stecke es in den Wäscheschacht neben der Dusche. Ein Plopp, und es ist verschwunden. Durch Luftzug und -druck wird es nun in die Wäscherei weitergeleitet, wo es zusammen mit der Kleidung der restlichen Bewohner gereinigt und am Abend neu zugeteilt wird.
Manchmal frage ich mich, wie oft ich wohl schon dasselbe Nachthemd getragen habe, ohne es gewusst zu haben. Es macht im Grunde keinen Unterschied, da alle Nachthemden in Größe, Farbe und Material identisch sind. Trotzdem würde es mich interessieren. Die Überlegung beherrschte mein Denken schon, als ich noch zu den Gelben gehörte. Es war kurz vor Erreichen des Heranwachsendenalters, als ich bei einem der Nachthemden leicht den Saum an einer Ecke auflöste. Ich hatte gehofft, es so wiedererkennen zu können.
Doch die Aufsicht der Wäscherei bemerkte es und meldete es meiner Erzieherin. Sie schimpfte mit mir und sagte, dass ich kein Recht hätte, Dinge zu zerstören. Es wäre wichtig, dass alles gleich ist, denn nur in der Einheit wären wir stark. Sie informierte sogar eine Legionsführerin und zwang mich, zu wiederholen, warum ich das Hemd kaputt gemacht hatte. Doch anders als die Erzieherin tadelte mich diese nicht. Sie reagierte auf eine Weise, wie ich es nur selten in der Sicherheitszone erlebt habe: Sie lächelte.
Ihr Lächeln brachte mein Herz zum Klopfen und löste ein Zucken in meinen eigenen Mundwinkeln aus. Der Blick meiner Erzieherin war eine Genugtuung für mich. Ihre Augen wurden so groß, dass sie ihr beinahe aus dem Kopf gefallen wären. Aus meinem Mund kamen ungewohnte Laute, wie das Klingeln der Pausenglocke, aber irgendwie schöner. Ich glaube, man nennt es Lachen.
Die Legionsführerin in ihrem weißen Anzug sagte mir eine große Zukunft voraus, denn meine Gedanken würden Intelligenz beweisen. Auch wenn ich mich nicht an ihre Bezeichnung erinnern kann, so werde ich nie ihr hübsches Gesicht vergessen. Wie alle anderen hatte auch sie blaue Augen, doch bei ihrem Lachen bildeten sich kleine Grübchen in ihren Wangen. Es war das erste Mal, dass ich mit einer Legionsführerin sprach. Heute will ich ihr beweisen, dass sie Recht hatte.
Warmer Wasserdampf hüllt meinen Körper ein und mit den Händen fahre ich über meinen kahlen Kopf. Aus dem Bildungsunterricht weiß ich, dass die Menschen früher fließendes Wasser zum Duschen benutzten. Sie verschwendeten es, ohne auch nur einmal an diejenigen zu denken, die nach ihnen kommen würden. Die Wasserressourcen der Erde sind zu knapp, um es für die Dusche zu vergeuden. Wasserdampf weitet die Poren, sodass alle Geruchsstoffe aus dem Körper treten. Fließendes Wasser ist dafür nicht nötig.
Nach dem Dampf folgt Trockenluft, die mit einem neutralisierenden Stoff durchsetzt ist. Es ist nicht angebracht, Menschen an ihrem Geruch unterscheiden zu können. Unterschiede führen zu Diskriminierung.
Nackt trete ich aus der Dusche und gehe an der glatten Metallwand entlang zum Versorgungsschacht. Er besteht aus zwei Klappen. Eine enthält einen frischen roten Anzug, den ich mir schnell überstreife. Schwarze, glänzende Stiefel runden mein Äußeres ab. Es ist mein letzter Tag als Rote.
Die andere Klappe ist leer, wird jedoch von einem blauen Lichtstrahl erleuchtet. Als ich meinen Arm hineinhalte, schaltet das Licht auf Rot um. Meine Hand wird in diesem Augenblick gescannt, sodass meine Blutwerte analysiert werden können. Es ist wichtig, dass die Nahrung eines jeden Bewohners der Sicherheitszone speziell auf die eigenen Bedürfnisse angepasst wird. Der Körperhaushalt eines Menschen variiert je nach Tagesform und körperlicher Belastung.
Nach etwa einer Minute schaltet das Licht bereits auf Grün um und ich ziehe meine Hand zurück. Die Klappe schließt sich für wenige Sekunden und als sie sich wieder öffnet, befindet sich ein Tablett mit Cerealienwürfeln, Vitamintabletten, Eiweißkapseln und einem Glas Wasser darin. Ich hebe es heraus und setze mich in der Mitte meines Zimmers auf einen Plastikstuhl an den dazu passenden Tisch. Beides ist fest mit dem Boden verankert. Alles hat seinen vorgesehenen Platz.
Die Cerealienwürfel dienen dem Sättigungsgefühl und liefern Energie. Bei normaler Belastung reichen für eine Frau fünf und für einen Mann acht Stück aus. Heute habe ich jedoch sechs Würfel zugeteilt bekommen.
Sieben Minuten.
Die Vitamintabletten bieten Schutz vor Krankheiten und verbessern die Gesundheit. Allein ihnen verdanken wir es, dass unsere Körper jeden Tag volle Leistung bringen können und nicht durch Bakterien oder Viren geschwächt werden.
Zwei Minuten.
Die Eiweißkapseln gibt es nicht täglich, sondern nur vor und nach körperlicher Höchstbelastung. Eiweiß stärkt die Knochen und Sehnen.
Eine Minute.
Ich spüle die Tabletten mit Wasser runter. Es hat Zimmertemperatur und fließt weich durch meinen von der Nacht trockenen Hals.
Nach genau zehn Minuten stelle ich alles zurück in die Klappe, die sich automatisch schließt und das Tablett zurück in die Essensausgabe leitet. Ich brauche keine Uhr, um die Zeit berechnen zu können. Unsere Körper lernen, permanent im Hintergrund die Sekunden zu zählen und zu Minuten zu verbinden. Es ist wichtig, sich an optimale Zeiten zu halten, um einen optimalen Ablauf garantieren zu können. Organisation und Planung sind das ganze Leben. Wir haben Glück, dass die Legionsführer beides für uns übernehmen.
Meine Hand legt sich auf den Scanner an der Tür. Das rote Licht misst erneut den Handabdruck sowie meine DNA, bevor die Tür mit einem leisen Ruck aufgleitet und eine freundliche Computerstimme verkündet: »Ausgang gewährt.«
Meine Schritte gehen in denen der anderen unter. Punkt 07:30 Uhr gleiten alle Türen auf und der rote Flur füllt sich mit der fünften Generation der Heranwachsenden. Wir sind eine Einheit, jeder gleicht dem anderen bis ins kleinste Detail. Die roten Anzüge und die schwarzen Stiefel sind dabei nur zwei von vielen weiteren Merkmalen. Das Licht der Deckenplatten spiegelt sich auf unseren glatten, haarlosen Köpfen. Unsere Augen erstrahlen alle in der Farbe RAL 5012, Lichtblau, während unsere Haut eher den Farbton RAL 3012 aufweist, Beigerot. Selbst unsere Schrittgeschwindigkeit ist identisch. Im gleichen Takt bewegen wir unsere Füße über den grauen Boden, bestehend aus Stahlplatten. Die Wände sind weiß und mit einem einzelnen roten Streifen gekennzeichnet.
Von der roten Zone gelangen wir in das Atrium. Es ist das Zentrum der Sicherheitszone, alle Wege und Flure führen dorthin. Egal ob sie nun rot, gelb, braun, blau, grün oder weiß sind. Weiß ist die Farbe der Legionsführer. Es ist verboten, ihren Flur zu betreten, zumal einem der Zugang ohnehin verwehrt würde. Aber allein der Versuch ist strafbar. Keiner hat es bisher versucht, aber ich bin sicher, derjenige würde sofort verstoßen werden. Der Weg zu ihrem Flur führt über eine Empore, die in der Mitte des Atriums thront und endet vor einer mit einem Tastenfeld gesicherten Tür.
Jede Farbe steht für eine Bewohnergruppe innerhalb der Legion. Gelb für die Kleinkinder. Rot für die Heranwachsenden. Braun für diejenigen, die einer Helfertätigkeit nachgehen. Blau für die Kämpfer der C-Klassifizierung. Grün für Ärzte und Forscher.
Das Atrium ist nicht nur das Zentrum, sondern auch der schönste Ort der Sicherheitszone. Es ist kreisrund und die Wände bestehen aus Bildern längst vergessener Zeiten, die sich über den ganzen Saal ziehen. An manchen Tagen zeigen sie Wälder mit Pflanzen, Bäumen, Tieren und Moos am Boden. Sie bewegen sich, so als ob man nur seine Hand ausstrecken müsste, um die Blätter oder das Fell berühren zu können. An anderen Tagen zeigen sie mächtige Großstädte mit Wolkenkratzern, die einen ganz schwindelig werden lassen. Sie können weichen Sandstrand und türkisblaues Meer zeigen oder Berge mit schneebedeckten Spitzen. In diesen Bildern sind die schönsten Seiten der Erde festgehalten, die es so nie wieder geben wird. Sie erinnern uns täglich daran, was unsere Vorfahren zerstört haben. Die mächtigen Wolkenkratzer wurden beim Dritten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht. Das Meer ist verseucht, die Tiere, die wir auf diesen Bildern sehen, sind schon lange tot und die Bäume und Pflanzen verdorrt.
Neben den farbigen Fluren gibt es auch noch die grauen. Sie führen zu Gemeinschaftsräumen wie den Trainingsräumen, der Wäscherei, der Essensvergabe, dem Archiv, der Arena, der Aula und den Laboren. Einer dieser Räume wird mein zukünftiger Arbeitsplatz sein, entscheidend dafür sind meine heutigen Testergebnisse. Durch Leistungstests erhalten wir eine Zuordnung für unsere Helfertätigkeit. Seit wir im Alter von zehn Jahren die gelben Anzüge gegen die roten austauschten, trainieren wir für nichts anderes mehr. Heute, etwa acht Jahre später, erhalten wir unsere Ergebnisse.
Wir haben uns in zwei Reihen in der Aula aufgestellt. Die Männer rechts und die Frauen links. Wir sind alle gleich groß – Idealmaß. Die Legion sorgt über unsere tägliche Tablettenzufuhr dafür, dass wir alle gleich aussehen.
Auf dem Podium stehen drei Legionsführer. Einer von ihnen ist eine Frau, doch es ist nicht dieselbe, mit der ich als Gelbe gesprochen habe. Ich würde sie wiedererkennen. Ihre weißen Anzüge heben sich deutlich von der schwarzen Steinwand hinter ihnen ab. Der Älteste von ihnen tritt vor und räuspert sich.
»Willkommen! Heute ist der erste Tag eurer Zukunft. Die Ergebnisse eurer Tests sind vorhersehbar anhand eurer Leistungen der letzten Jahre, trotzdem kann ein Punkt mehr oder weniger im Einzelfall entscheidend sein. Egal, welcher Stelle ihr zugewiesen werdet, ihr alle habt eine unerlässliche Aufgabe zu erfüllen, die das Leben der letzten Menschen garantiert. Ihr könnt euch sicher sein, dass wir, die Legionsführer, euch der am besten geeigneten Stelle zuweisen werden. Es gibt keine Fehler oder Schwankungen. Gebt euer Bestes, denn nur das Beste ist gut genug!«
Mit einem kurzen Nicken tritt er zurück und betätigt den roten Knopf hinter sich. Genau 99 Kabinen fahren aus dem Boden herauf. Rechts 50, Links 49. Die Kabinen sind nummeriert und jedem von uns zugeordnet. Meine ist Nummer 18, passend zu meiner Bezeichnung E518.
Kaum dass ich die Kabine betreten habe, schließt sich die Tür hinter mir. Der Raum ist gerade mal so groß, dass ich mich auf einen runden Hocker setzen kann und einer Art Glaswand entgegenblicke. Sie ist nur minimal dunkler als die grauen Wände, die mich umschließen. Trotzdem sehe ich mich nur verschwommen in ihr. An der Decke befindet sich eine einzige Leuchtplatte, deren Licht so grell ist, dass es meine Augen blendet. Ich kann die anderen weder hören noch sehen. Mein Universum ist auf diese winzige Zelle zusammengeschrumpft.
Ich erwarte, dass mich die freundliche Computerstimme begrüßen wird, um mir meine Aufgaben zuzuweisen, doch es bleibt still. Ich merke, wie etwas mit meinem Körper passiert, das ich mir nicht erklären kann. Meine Hände werden ganz feucht und mein Herz schlägt schneller, als es sollte. Ich habe das Gefühl, dass der Herzschlag so laut ist, dass er von den dichten Wänden widerhallt und bis in meine Ohren pocht. Meine Kehle wird plötzlich ganz trocken und ich beginne, tief ein- und auszuatmen. Das Licht scheint zu flackern und der Boden zu beben. Ich strecke meine Hände aus, doch die Kammer ist sogar zu klein, um meine Arme komplett ausbreiten zu können. Das Metall fühlt sich kühl unter meinen Fingerspitzen an.
»Phase 1: eröffnet.«, knattert es plötzlich blechern aus der Glaswand mir gegenüber. Alles ist gut. Es gibt keine Veränderungen, keine Bedrohung. Alles läuft wie geplant. Kein Grund, in Panik zu geraten!
»Wissenstest, kristalline Intelligenz.«
Das ist einfach. Der erste Test dient nur dazu, unser Wissen abzufragen. Vor mir erscheint ein Monitor. Verschiedene Fragen mit unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten tauchen nacheinander vor mir auf. Durch Berührung logge ich die richtigen Antworten ein.
Wie hieß der erste Legionsführer? Was sind die Ursachen für Krieg? Welches Land begann den Dritten Weltkrieg? Wofür ist Eisen da? Wo sitzt das Herz?
Die Antworten sind fest in meinem Kopf verankert, und auch wenn ich nicht erfahre, ob ich die Fragen richtig beantwortet habe, bin ich mir dessen sicher. Es ist nicht wichtig, die Fragen zu verstehen, sondern nur, ihre Antworten zu wissen. Vergangenheit ist vergangen und wird deshalb nicht analysiert. Wissen dient dazu, weitergegeben zu werden. Es ist konstant und unveränderbar.
»Phase 2: eröffnet. Problemlösetest, fluide Intelligenz.«
Dieser Abschnitt ist schon schwieriger, weil die Antworten nicht vorgegeben sind. Es ist nichts, was man auswendig lernen kann, sondern es kommt auf die eigene Intelligenz an. Wer ist in der Lage, Probleme zu lösen? Wer hat die Regeln der Legion verstanden? Wer kann sie anwenden? Wir müssen frei sprechen.
»Ein Bewohner der Sicherheitszone beschließt, seinen Anzug künftig nur noch mit einem anstatt zwei Ärmeln zu tragen, um sich zu individualisieren. Wie reagieren Sie?«
»Andersartigkeit führt zu Neid, und Neid führt zu Krieg. Der Bewohner wird so lange isoliert, bis er zur Vernunft kommt, um den Frieden zu wahren.«
Die Frage scheint auf mich abgestimmt zu sein. Vielleicht wollen sie testen, ob ich etwas aus meinem Fehlverhalten als Gelbe gelernt habe. Nie werde ich die Predigt meiner Erzieherin vergessen. Doch schon bald werden die Fragen kniffliger.
»Sie sind als Helfer im Archiv eingeteilt worden. Bei der Sortierung alter Bücher stoßen Sie auf ein lebendiges Tier: eine Maus aus der Gattung der Altweltmäuse, lateinisch Murinae. Was tun Sie?«
Angestrengt lasse ich den vorgegebenen Sachverhalt vor meinem inneren Auge ablaufen. Noch nie in meinem Leben habe ich eine lebendige Maus gesehen, geschweige denn ein anderes Tier. Wir alle kennen sie nur aus dem Bildungsunterricht oder von Dokumentationen über die alte Erde, vor dem Dritten Weltkrieg, vor uns. Tiere sind Überträger von Krankheiten. Ich kenne die richtige Antwort, doch habe ich Zweifel, sie auszusprechen. Wieder werden meine Hände unangenehm feucht, eine Reaktion meines Körpers, die ich nicht verstehe.
»Ich … ich verstecke sie«, antworte ich wahrheitsgemäß. Es bringt nichts, zu lügen, da die Kammer unseren Schweißausstoß misst und die Legionsführer eine Lüge somit ohnehin bemerken würde. Die richtige Antwort wäre vermutlich gewesen, meinen Fund einem Legionsführer zu melden.
»Warum tun Sie das?« Es ist das erste Mal, dass der Computer auf eine meiner Antworten reagiert. Mein Herz beginnt erneut wild zu schlagen. Ich bin dabei, mir meine hart erarbeitete Leistung mit einem Schlag zu zerstören.
»Sie ist das letzte lebende Exemplar ihrer Art. Deshalb ist sie wertvoll. Aber Einmaligkeit führt zu Unfrieden, und Unfrieden zu Krieg.«
»Möchten Sie Krieg, E518?«
»Nein! Wenn ich die Maus verstecke, erfährt niemand von ihr. Unwissenheit bewahrt Frieden.«
Das Licht erlischt und ich sitze im Dunkeln. Angespannt lausche ich auf irgendein Geräusch, abgesehen von meinem eigenen Atem. War die Antwort so falsch? Brechen sie jetzt meine Prüfung womöglich ab? Warum konnte ich nicht meinen Mund halten?
Doch dann geht das Licht wieder an und der Computer fährt fort, als wäre nichts gewesen.
»Phase 3: eröffnet. Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstest.«
Ich bin überrascht. Auf diesen Teil der Prüfung wurden wir nie vorbereitet.
»E518, welcher der heutigen Legionsführer hat über seiner Augenbraue eine Narbe?«
Die Frage ist ein Widerspruch in sich, weil wir alle gleich sind. Jedenfalls sollten wir es sein, doch ich weiß, dass es nicht so ist. Es sind Kleinigkeiten, aber sie sind da, wenn man danach sucht. Ich schließe meine Augen und rufe mir das Bild der drei Legionsführer auf dem Podium vor Augen. In der Mitte stand der älteste von ihnen. Er hatte tiefere Falten um die Augen als die anderen. Links von ihm stand die Frau. Sie hat nicht gelächelt, aber selbst wenn sie es getan hätte, hätte sie keine Grübchen gehabt. Ich hätte gesehen, wenn sie eine Narbe an der Augenbraue gehabt hätte. Es muss der Mann rechts gewesen sein. Nur ihn habe ich nicht beachtet.
»Aus meiner Sichtweise: der rechte Mann«, antworte ich und die Tür der Kammer gleitet auf. Verwundert drehe ich mich um und sehe, dass die Türen der anderen Heranwachsenden ebenfalls geöffnet sind. Alle Intelligenztests enden zeitgleich.
»Phase 4: eröffnet.«
Schweiß rinnt meinen Rücken hinab. Feine Perlen bilden sich auf meinem Schädel und laufen über mein Gesicht. Sie verfangen sich in meinen Augenbrauen, doch je länger ich laufe, umso feuchter werden sie, bis sich schließlich der erste Tropfen löst und mir in die Augen gleitet. Es brennt, aber ich renne weiter.
Erst fing es langsam an, doch steigert sich das Tempo pro Minute. Die Kontrolluhr des Laufbands zeigt 20 Minuten und 32 Sekunden an. Ich habe kaum noch Kraft, aber trotzdem gebe ich nicht auf. Die körperlichen Leistungstests sind nicht gerade meine Stärke. Wir fingen mit Squash an, aber ich fürchtete mich zu sehr vor dem zurückschießenden Elektroball, sodass ich als eine der Ersten rausflog. Das gibt nur wenige Punkte im Abwehr- und Reaktionsverhalten für mich.
Nach der Ausdauer werden sie die Angriffsfähigkeiten testen, um die Krieger unter uns herauszufiltern. Diese tragen Blau und die Bezeichnung C. Nur wenige Frauen schaffen es in die Abteilung und ich werde sicher keine von ihnen sein. Umso wichtiger ist es, dass ich mich wenigstens in der Ausdauer beweise. Genügend Durchhaltevermögen ist viel wert.
21 Minuten und 01 Sekunde. Das Tempo steigert sich erneut. Ich beiße so fest auf meine Zähne, dass sie knirschen. Das Mädchen neben mir stolpert und stürzt. Ihr Aufprall ist so fest, dass ich die Erschütterung unter mir spüre. Ihr Gesicht ist fast so rot wie ihr Anzug und sie hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm. An ihrer Etikettierung lese ich E523, doch mehr noch als die Zahlen und Buchstaben, die ohnehin nur noch heute gültig sind, prägt sich mir der kleine Pigmentfleck direkt unter ihrem linken Auge ein. Sie ist für mich nicht länger eine Fremde, sondern ich würde sie nun jederzeit wiedererkennen. Sie blickt mir mit fest zusammengekniffenen Lippen entgegen. Ich sehe Wut in ihren Augen. Sie hat versagt und gönnt es mir nicht, dass ich besser bin als sie. Deshalb sollen in unserer Welt alle Menschen gleich sein. Doch die Leistungstests beweisen, dass dies nicht so ist.
Mein Blick gleitet von dem Mädchen zu meiner anderen Seite. 22 Minuten und 13 Sekunden. Es ist ein Junge – ich kenne ihn. An seinem rechten Schneidezahn fehlt eine Ecke. Er hat sie als Gelber bei einem Streit um einen Schraubenzieher verloren. Als dieser gegen seinen Mund knallte, schoss Blut aus seiner Lippe. Das hat die anderen Kinder so sehr geängstigt, dass alle zu weinen begannen – mich selbst eingeschlossen. Wir dachten, alle müssten nun sterben. Blut ist ein Vorbote von Krieg, und Krieg bedeutet Tod.
Seitdem erkenne ich den Jungen. Ich weiß nicht, ob er sich auch an mich erinnert oder ob ich für ihn nur eines der vielen Mädchen bin, jedenfalls lässt er sich von meinem Blick nicht beirren. Stur blickt er auf die graue Wand gegenüber und rennt.
24 Minuten und 06 Sekunden. Meine Kehle brennt und ist so rau. Selbst das Schlucken schmerzt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Piiiiiep … Das ist das Alarmsignal meines Pulsmessers. Er zeigt 140 Schläge pro Minute an, unter 120 wären optimal. Wenn ich es nicht schaffe, meinen Puls zu verringern, scheide ich aus. Ich versuche, ruhig durch die Nase zu atmen.
Piiiiiep … 24 Minuten und 20 Sekunden. Puls 145. Meine Augen wandern über die anderen Läufer. Ich zähle 25, davon nur drei Frauen, mich eingeschlossen.
Piiiiiiep … 24 Minuten und 29 Sekunden. Puls 146. Ich will wenigstens unter die letzten 20 kommen.
Piiiiiiep … 24 Minuten und 32 Sekunden. Puls 144. 24 Läufer. Die Legionsführerin steuert auf mich zu. Ich muss meinen Puls senken.
Piiiiiiep … 24 Minuten und 41 Sekunden. Puls 142. Sie setzt bereits zum Sprechen an, doch das laute Piepen bleibt aus. Mein Pulsmesser zeigt 139 Schläge an. Nur eine Einheit mehr und ich wäre ausgeschieden. Erstaunt hebt sie beide Augenbrauen, sagt aber nichts.
24 Minuten und 59 Sekunden. 22 Läufer. Meine Beine fühlen sich wie aus Blei an, so schwer, dass ich jeden Moment zusammenbrechen könnte. Eine Eiweißtablette wird nicht reichen, um meine Muskeln wieder auf Vordermann zu bringen.
25 Minuten und 12 Sekunden. Das Tempo wird noch schneller.
Piiiiiiiiep … Puls 142. 21 Läufer. Vor meinen Augen wird es schwarz. Ich spüre noch den Aufschlag, bevor alles ganz still wird.
Der unangenehme Geruch von verbranntem Plastik und scharfem Reinigungsmittel steigt mir in die Nase. Er ist so scharf, dass sich meine Nase kräuselt und ich die Augen aufschlage. Über mir sehe ich die Gesichter eines Legionsführers in Weiß und eines Mannes in Grün. Er zieht das Fläschchen zurück, das er gerade noch unter meine Nase gehalten hat. Mit der linken Hand hält er mein Handgelenk umschlossen, das er nun behutsam zu Boden gleiten lässt.
»Sie hätte nie aufgegeben. Ihr Körper hat es deshalb für sie übernommen«, erklärt er dem Legionsführer.
»Was für eine Dummheit! Ein Mensch sollte seine Grenzen kennen«, empört er sich, als wäre ich gar nicht da.
»Sie ist ehrgeizig und willensstark«, verteidigt mich der Grüne, ohne mich jedoch zu beachten.
»Ehrgeiz führt zu Unruhe und ein Wille ist dazu da, gebrochen zu werden.« Die Stimme des Legionsführers ist kälter als die Fliesen meines Zimmerbodens am Morgen. Sein Etikett zeigt A489. Ich werde es mir merken. Er ist gefährlich.
Der Mann in Grün nickt und reicht ihm eine Flasche mit einer hellgrünen Flüssigkeit. »Das wird sie stärken.«
Der Legionsführer nimmt das Getränk entgegen. »Du wirst hier nicht mehr gebraucht.«
Der Grüne geht und die lichtblauen Augen des Legionsführers richten sich wie Speerspitzen auf mich. Mit seiner kalten Hand zieht er mich wieder auf die Beine. Mein Bauch fühlt sich leer und flau an und meine Beine wollen mein Gewicht kaum tragen, so schwach fühle ich mich. Ich spüre deutlich Blicke auf mir und drehe mich um. E523 blickt mir entgegen und ich weiß den Ausdruck in ihren Augen nicht zu deuten. Vielleicht freut sie sich über meinen Misserfolg, aber eigentlich sollte sie sich gar nicht für mich interessieren. Wir hegen keine Gefühle für andere Menschen, weil wir alle gleich sind.
Ich schaue mich weiter um, doch die anderen Laufbänder sind stehen still. Die Ausdauertests sind abgeschlossen.
Der Weiße drückt mir die Flasche in die Hand. »Trink das, du hast den Ablauf lange genug aufgehalten!«, befiehlt er und führt mich mit den anderen in den nächsten Prüfungsraum.
Helles Licht fällt auf den weichen Sand der Arena. Die Deckenleuchten sind so weit entfernt, dass man, wenn man es nicht besser wüsste, glauben könnte, unter freiem Himmel zu stehen. Auch wenn ich noch nie außerhalb der Sicherheitszone war, würde ich mir so den Himmel vorstellen. Hell und frei, ohne Abgrenzungen oder Flackern.
Die Arena ist wie in der Antike der alten Erde kreisrund und verfügt über Zuschauerplätze außerhalb des Kampfplatzes sowie eine Tribüne für die Legionsführer. Außer den dreien in Weiß sind heute keine Zuschauer da. Öffentlich sind nur die Paarungskämpfe, welche die Fortpflanzung in der Legion regeln. Die nächsten werden jedoch erst in einem Jahr stattfinden. Kein Grund also, daran einen Gedanken zu verschwenden.
Der älteste der Legionsführer tritt vor.
»A330 eröffnet im Namen der Legion Phase 6. Es ist eure letzte Prüfung, eure letzte Chance, Punkte zu sammeln. Der Nahkampf dient ausschließlich zur Verteidigung. Wir sind die letzten Überlebenden. Die Ordnung in der Sicherheitszone zu erhalten steht über allem. Jeder Feind der Ordnung ist ein Feind des Lebens und muss vernichtet werden. Kämpft fair, aber hart.«
Wir verneigen uns vor den Führern und treten zurück an die Wand, sodass wir einen Kreis um den runden Kampfplatz bilden. Per Computer wird unser idealer Kampfpartner anhand unserer bisherigen Ergebnisse ermittelt.
»E515 gegen E572.«
Sie sind beide Jungen. E515 ist der, dem ein Stück seines Schneidezahns fehlt, den anderen erkenne ich nicht wieder. Wie wir alle tragen sie Sensorschutzwesten über der Brust und elastische Schienen an den Beinen. An ihren Händen aktivieren sie die Laserwaffen. Das Licht dimmt sich automatisch, sodass die roten und grünen Strahlen besser zu sehen sind. Schneidezahn kämpft mit Rot und sein Gegner mit Grün.
Sie gehen in Stellung und das Startsignal schrillt so laut durch die Arena, dass es in den Ohren schmerzt. Der grüne Laserstrahl zischt direkt los und nur knapp an Schneidezahns Oberarm vorbei, der sich perfekt über den Boden abgerollt hat. Sand rieselt von seiner schwarzen Schutzweste, doch E572 befeuert ihn unablässig weiter. Während seine Angriffe sehr offensiv sind, verhält sich E515 eher defensiv. Seine Ausdauer ist gut und diesen Trumpf versucht er auszuspielen. Wie ein Gummiball hüpft er von einer in die andere Ecke, bückt und streckt sich. E572 hat mehr als genug damit zu tun, ihm hinterher zu hechten.
Die Uhr zeigt 6:05 Minuten an. Wenn beide zehn Minuten lang durchhalten, ohne dass einer von ihnen eine theoretisch tödliche Verletzung davonträgt, erhalten beide zwar die gleiche Punktzahl, dafür jedoch nur die Hälfte der möglichen Punkte. Wird einer jedoch besiegt, erhält dieser keine Punkte und sein Gegner dafür alle. Ziel ist es deshalb, seinen Gegner so schnell wie möglich auszuschalten. Auch wenn Schneidezahn noch so gelenkig ist, wird ihm seine Flucht keinen Sieg einbringen.
7:50 Minuten. Die Angriffe von E572 werden immer langsamer. Während er erst noch im Sekundentakt Schüsse abfeuerte, verfehlt er nun sein Ziel um Meter und braucht länger, um sich neu zu orientieren, während E515 wie ein Schnellläufer um ihn herumzischt.
Nach 8:15 Minuten löst sich der erste rote Schuss und … trifft! E515 hat mit nur einem einzigen gezielten Schuss gewonnen. Er erhält die volle Punktzahl.
Es folgen noch weitere Kämpfe. Die wenigsten enden im Gleichstand, da es nicht unser Ziel ist, Kompromisse einzugehen. Ganz oder gar nicht lautet die Devise. Meine Handflächen werden bereits wieder unerklärlicherweise feucht, als endlich meine Bezeichnung durch die Lautsprecher schallt.
»E523 gegen E518.«
Es ist das Mädchen mit dem Pigmentfleck unter dem linken Auge, das mich bereits bei dem letzten Test so seltsam angesehen hat. Zuletzt hat sie verloren, umso größer wird ihr Ehrgeiz jetzt sein, mich zu schlagen. Ich teste die Laserwaffe und ein grüner Strahl ergießt sich über den Kampfplatz. Es kann losgehen.
Wir nehmen Stellung ein, doch anders als bei dem ersten Kampf schlägt keine von uns zu, als das Startsignal ertönt. Stattdessen umkreisen wir einander und warten beide auf eine Reaktion der anderen, doch nichts geschieht. Ihre lichtblauen Augen fixieren meine. Nicht nur unser Aussehen scheint identisch, sondern auch unsere Bewegungen, wie bei einem Spiegelbild. Sehe ich wirklich genauso aus wie sie? Habe ich vielleicht sogar auch einen Pigmentfleck?
Die Minuten verstreichen, ohne dass auch nur ein Laserstrahl über den Platz zischt. Anders als bei den vorherigen Kämpfen ertönt erneut die Computerstimme und verkündet: »Fünf Minuten ohne Einsatz von Waffen. Ihnen bleiben zwei Minuten bis zur Disqualifikation. Verteidigen Sie sich!«
Das hat es noch nie gegeben. Wenn nicht eine von uns angreift, erhalten wir beide keine Punkte. Verteidigen Sie sich! Wogegen soll ich mich verteidigen, wenn mich niemand angreift? Warum sollte ich sie angreifen, wenn sie mir nichts tut? Sie ist nur ein Mädchen wie ich selbst. Wäre sie eine Unruhestifterin, würde es mir leichter fallen, auf sie zu schießen, doch so gibt es dafür keinen Grund. Ich weiß, es ist nur eine Simulation, trotzdem schaffe ich es nicht, den Laser zu betätigen. Ihr scheint es ähnlich zu gehen, denn obwohl die Sekunden verstreichen, taucht kein rotes Licht auf.
Für einen Moment lasse ich sie aus den Augen und mein Blick schwenkt zu der digitalen Anzeige. 6:04 Minuten.
Sie fixiert mich, muss gesehen haben, wie unachtsam ich für Sekunden war, und trotzdem hat sie nicht geschossen. Die Punkte entscheiden über unsere Zukunft. Greif mich an!, fordere ich sie stumm mit meinem Blick auf, doch sie reagiert nicht darauf.
6:43 Minuten. Nur noch 17 Sekunden und wir werden beide disqualifiziert. Das ist ein Regelverstoß. Ich kann jede Stelle mit einem C, B oder gar dem A für die Legionsführer für immer vergessen.
6:50 Minuten. Meine Hände zucken. Die Sekunden werden nun durch die Lautsprecher angesagt:
»51, 52, 53 …«
Was soll ich nur machen? Warum greift sie mich nicht an?
»54, 55, 56 …«
E523 gibt ihre Abwehrhaltung auf und stellt sich mir gegenüber mit gestrafften Schultern auf. Sie lässt beide Hände sinken. Der Kampf ist für sie vorbei.
»57, 58, 59 …« Auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln und ich schieße. Mein grüner Strahl trifft sie frontal auf der Brust. Ihre Augen weiten sich vor Entsetzen. Für einen Moment befürchte ich, sie tatsächlich verletzt zu haben. Verschwunden ist ihr freundliches Lächeln, dem man so selten in der Sicherheitszone begegnet. Sie schüttelt den Kopf, fast als wäre sie enttäuscht über mein Verhalten.
Ich habe gewonnen. Der Kampf ist beendet und ich erhalte die volle Punktzahl. Warum kann ich mich nicht freuen? Warum fühle ich mich, als hätte ich verloren?
Als wir zurück auf unsere Positionen gehen und sie mich von der anderen Seite der Arena aus beobachtet, senke ich den Blick. Ich schäme mich dafür, wie ich den Kampf gewonnen habe. Es fühlt sich an, als hätte ich sie verraten, obwohl wir nie eine Vereinbarung miteinander getroffen haben.
Starr sind unsere Augen zur Tribüne gerichtet. Schweiß perlt auf meiner Stirn, meine Atmung geht schwer.
Das ist der alles entscheidende Moment.
Das ist das Ergebnis meiner sieben Jahre überdauernden Bildungszeit.
Das ist meine Zukunft.
A330 tritt vor. »Phase 6: abgeschlossen«, verkündet er feierlich. Erwartungsgemäß beginnen wir zu applaudieren. Unsere Hände schlagen gegeneinander und geben ein lautes Klatschen von sich, das von den Wänden zurückhallt und durch die leeren Zuschauerränge noch verstärkt wird. Es erscheint wie ein Erdbeben. Mein Magen beschwert sich lautstark. Es ist Zeit für die nächste Essenseinheit.
»An dieser Stelle möchte ich euch noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass es keine Fehler im System gibt. Ich werde gleich eure Zuordnungen verkünden. Manche werden vielleicht überrascht sein, da sie mit einem anderen Ergebnis gerechnet haben. Das liegt daran, dass das System euch besser kennt als ihr euch selbst. Menschen verändern sich im Lauf ihres Lebens und die Programme nehmen darauf Rücksicht. Es gibt keine Fehldiagnosen und jede Aufgabe der Legion ist gleich wichtig.«
Er verstummt und legt die Hand auf sein rechtes Ohr. Jetzt empfängt er unsere Zuordnungen digital. Jeder der Legionsführer trägt einen Chip in der rechten Ohrmuschel, der sie direkt mit dem System und auch untereinander verbindet. So können sie kommunizieren, ohne direkt neben einem anderen Führer stehen zu müssen.
»E501. Im Namen der Legion ernenne ich dich zu B501. Ab dem morgigen Tag erhältst du einen grünen Anzug und dein Einsatzgebiet wird in den Laboren der Sicherheitszone sein. Finde dich dort pünktlich um 07:30 Uhr ein.«
Beeindruckend! Nicht viele schaffen es in eine so hohe Gruppierung. Mein Herz beginnt heftig zu schlagen. Ich will auch in Gruppe B. Vielleicht nicht unbedingt in die Labore, sondern eher auf die Krankenstation. In unserer Welt gibt es keine Krankheiten im ursprünglichen Sinne mehr. Die Sicherheitszone sorgt ihrem Namen entsprechend für unsere Sicherheit. Es gibt weder Bakterien noch Viren oder andere Erreger. Dafür aber mehr Erkrankungen des Geistes. Sie sind jedoch alle heilbar und somit die Menschen nach ihrer Genesung wieder einsatzfähig.
E502, E503, E504, E505, E506, E507, E508, E509, E510, E511, E512, E513, E514 …
»E515. Im Namen der Legion ernenne ich dich zu C515. Ab dem morgigen Tag erhältst du einen blauen Anzug und dein Einsatzgebiet wird in den Trainingsräumen liegen, um dich auf die Gefahren außerhalb der Sicherheitszone vorzubereiten. Finde dich pünktlich um 07:30 Uhr dort ein.«
Ich schlucke. Schneidezahn ist also ein Kämpfer. Somit gehört er zu den Einzigen, die die Sicherheitszone verlassen dürfen. Doch niemand reißt sich darum, da es sehr gefährlich und auch nur mit speziellen Schutzanzügen möglich ist. Dort draußen herrscht Chaos. Es gibt kein Leben, nur Tod und Verwesung. Alles außerhalb der Zone ist radioaktiv verseucht. Kein Lebewesen hält es dort ohne Schutzanzug länger als fünf Minuten aus. Selbst dann haben die Strahlen bereits irreparable Schäden angerichtet, die innerhalb von vier Wochen zum Tod führen. Ich beneide ihn wirklich nicht um seine Gruppierung.
E516, E517… Mein Puls steigt.
»E518. Im Namen der Legion ernenne ich dich zu D518. Ab dem morgigen Tag erhältst du einen braunen Anzug und dein Einsatzgebiet wird in der Nahrungszuweisung sein. Finde dich dort pünktlich um 06:30 Uhr ein.«
Nein! Das kann nicht sein. Die unterste Gruppierung? Das ist nicht fair! So schlecht können meine Ergebnisse unmöglich gewesen sein. Ich schüttele fassungslos den Kopf. Niemand bemerkt es. Legionsführer A330 fährt unbeirrt in seinem Programm fort.
E519, E520, E521, E522 …
»E523. Im Namen der Legion ernenne ich dich zu D523. Ab dem morgigen Tag erhältst du einen braunen Anzug und dein Einsatzgebiet wird in der Nahrungszuweisung sein. Finde dich pünktlich um 06:30 Uhr dort ein.«
Das darf doch nicht wahr sein! Ich war in mindestens zwei Tests besser als sie. Wir können unmöglich dieselbe Gruppierung bekommen haben. Auch während der Heranwachsendenzeit war ich immer eine der Besten im Bildungsunterricht. Ich hatte die volle Punktzahl bei allen Zwischentests. Die Legionsführerin sagte mir als Kleinkind eine bedeutende Zukunft voraus. Eine Zukunft in der Nahrungszuweisung hat sie damit sicher nicht gemeint. Das System ist unfehlbar, aber das Ergebnis kann einfach nicht richtig sein. Es darf nicht richtig sein. Es ist nicht nachvollziehbar. Vielleicht gab es einen Absturz und Daten wurden vertauscht …
E596, E597, E598, E599 …
Alle Zuordnungen wurden verkündet. Die Legionsführer wenden sich bereits zum Gehen, um wieder ihrer üblichen Arbeit nachzugehen und auch die anderen bewegen sich in Richtung der Ausgänge. Halt! Das ist mein Leben und ich kann nicht untätig dabei zusehen, wie es mir genommen wird!
Ich trete vor und räuspere mich, bevor ich mit lauter Stimme rufe: »Ich habe eine Frage!«
Es wird still. Jede Bewegung erstarrt. Die Legionsführer drehen sich auf dem Absatz um und ihre Blicke bohren sich in meinen Körper wie spitze Nadeln. Mein Hals wird trocken.
»Antrag stattgegeben«, verkündet A489, während er misstrauisch auf mich herabblickt. »Was ist deine Frage, D518?«
Ich huste. Verdammt, was ist denn nur mit meinem Hals los? Es ist, als würde ein Kloß in meiner Kehle sitzen, der mir die Luft abschnürt. Meine Augen fühlen sich ungewöhnlich feucht an.
»Kann es sein, dass meine Nummer falsch zugeordnet wurde? Vielleicht wurden …«, setze ich an, doch da unterbricht mich der Führer bereits energisch.
»D518, vor den Leistungstests und auch gerade eben wurde laut und deutlich gesagt, dass Fehler jeglicher Art vollkommen ausgeschlossen sind. Beantwortet das deine Frage?«
Meine Wangen werden heiß. Alle starren mich an. Jetzt stehe ich da, als wäre ich total beschränkt. Kein Wunder, dass die in der Nahrungszuweisung gelandet ist, die kann ja nicht mal zuhören, werden sie sich denken.
Aber so ist das doch gar nicht! Das Unwohlsein in meinem Inneren verwandelt sich in Wut. Die Legionsführer lassen mich absichtlich wie eine Idiotin dastehen.
»Nein!«, antworte ich ihm klar und deutlich. »Wie kann es sein, dass ich in den Zwischenergebnissen jedes Mal die volle Punktzahl erreicht habe, auch heute besser abgeschnitten habe als viele andere, und trotzdem eine schlechtere Gruppierung bekomme?«
»D518, es gibt keine besseren oder schlechteren Gruppierungen. Jede Aufgabe der Sicherheitszone ist gleich bedeutend. Wir sind alle gleich.«
Unwillig schüttele ich den Kopf. Mein Blick gleitet zu D523. Sie reckt mir herausfordernd das Kinn entgegen, als wolle sie sagen: Na los, mach schon. Sag, dass du besser warst als ich.
Als ich nicht antworte, fährt A489 fort: »D518, hältst du dich für etwas Besseres?«
Meine Augen weiten sich erschrocken und ich beeile mich, zu verneinen. Wir sind alle gleich, rufe ich mir ins Gedächtnis und wiederhole es für mich wie eine Parole. Niemand ist anders. Niemand ist etwas Besseres.
Meine Augen gleiten über die Anwesenden. Wir gleichen einander wie eineiige Zwillinge. Es gibt auf den ersten Blick keine erkennbaren Unterschiede.
A489 verengt seine Augen zu Schlitzen und beugt sich über das Geländer.
»D518, wenn du mit deiner Zuordnung nicht zufrieden bist, solltest du vielleicht besser zu G518 herabgesetzt werden.«
Nein, nein, nein! Ich beginne unkontrolliert zu atmen.
»Bitte nicht! Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich gesprochen habe. Es tut mir leid. Bitte … Ich hatte nur etwas anderes erwartet. Es ist mein Fehler. Bitte stufen Sie mich nicht herab!«, flehe ich panisch. Gruppierung G ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Im Grunde könnten sie einen auch direkt erschießen, denn G steht für die Verstoßenen. Nur Menschen, die sich weigern, sich auf der Krankenstation heilen zu lassen, erhalten diese Gruppierung. Sie sind eine Gefahr für sich selbst und die ganze Legion, deshalb werden sie der Sicherheitszone verwiesen. Sie sterben einen qualvollen Tod.
Die letzte Herabstufung ist jedoch sieben Jahre her. Ich erinnere mich daran so genau, weil es wenige Tage bevor ich zur Heranwachsenden ernannt wurde, passiert ist. Damals war es ein junger Kämpfer, der gerade erst seine Klassifizierung erhalten hatte. Die Außeneinsätze mussten ihn krank gemacht haben. Das ganze Chaos war zu viel für seine Psyche gewesen.
A489 zeigt sich gnädig und richtet sich wieder auf. »Nun gut, du bist einsichtig. Geh!«, befiehlt er und verlässt geschlossen mit den anderen Legionsführern die Tribüne.
Als ich mich umdrehe, bemerke ich den Blick von D523. Nachdenklich blickt sie mich an. Sie muss mich verachten. Wie dumm von mir, die Legionsführer anzusprechen. Warum kann ich mich nicht einfach wie alle anderen benehmen? Vielleicht wäre ein Besuch auf der Krankenstation gar nicht so verkehrt. Ich denke zu viel – mehr, als gesund für mich wäre.
Beim Verlassen der Arena trifft mein Blick den von C515, doch er schaut sofort weg. Er will nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich wäre schlecht für seinen Ruf. Seltsamerweise macht mich das traurig. Irgendwie mochte ich ihn mehr als die anderen. Vielleicht weil er für mich nicht wie alle anderen war.
Exakt um 06.00 Uhr öffne ich meine Augen. Der vergangene Tag und meine Zuordnung erscheinen mir wie eine schlechte Erinnerung, fast unwirklich. Mein Schlaf war genauso gut wie immer, das liegt daran, dass er gesteuert wird. In unserem Bett befinden sich kleine Sensoren, die Unruhe anhand von erhöhtem Herzschlag oder Schweißausstoß erkennen und regulieren. Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit strömt ein Gas aus, das uns beruhigt. Es ist wichtig, dass wir in einen erholsamen Schlaf finden, um die volle Leistungsfähigkeit erreichen zu können.
Während ich auf meine Nahrungsration warte, betrachte ich in der gegenüberliegenden Metallwand mein verschwommenes Spiegelbild. Meine Augen leuchten in einem matten Blau, so schwach, dass sie kaum auffallen. Durch die angeraute Oberfläche der Wand habe ich mein Gesicht noch nie klar gesehen, sondern immer nur als beige-rosafarbenen Fleck. In der ganzen Sicherheitszone gibt es keine klare Fläche. Dies dient zu unserem eigenen Schutz. Trotzdem wüsste ich gern, wie ich aussehe. Ich sehne mich danach, die kleinen Unterschiede meines eigenen Gesichts zu erkunden. Vielleicht ist meine Nase etwas größer oder kleiner als die der anderen. Vielleicht habe ich auch irgendwo einen Pigmentfleck oder einen schiefen Zahn. Vielleicht habe ich abstehende Ohren. Doch nichts ist zu erkennen, ich kann mich lediglich an dem Aussehen der anderen Bewohner der Sicherheitszone orientieren.
Die Unterschiede sind so minimal, dass sie manch einem gar nicht auffallen, doch ich präge mir gerade diese Ungleichheiten ein. Denn durch diese winzigen Details identifiziere ich die Menschen. Für mich sind sie nicht nur Nummern und Buchstaben, sondern Hände, Finger, Ohren, Münder, Augen, Augenbrauen, Falten, Grübchen, Pigmentflecken. Die Legionsführer müssen das wissen. Es muss noch mehr Menschen wie mich geben, sonst hätten sie bei dem gestrigen Leistungstest nicht danach gefragt.
Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass sie vielleicht nicht wollen, dass man die Unterschiede erkennt. Schließlich baut unser Zusammenleben darauf auf, möglichst gleich zu sein. Menschen, die wissen, dass wir nicht alle gleich sind, bergen ein Risiko. Vielleicht sehen die Legionsführer mich als Risiko und ich wurde deshalb in die Nahrungszuteilung degradiert.
»Bitte entnehmen Sie Ihre heutige Nahrungsration!«, tönt es in dem Moment aus dem Lautsprecher. Ich blicke nach unten und sehe fünf Cerealienwürfel, eine Vitamintablette, eine Eiweißtablette und ein Glas Wasser.
Um 06:30 Uhr öffnet sich die Tür und ich starte in meinen ersten Arbeitstag als D518. Der braune Streifen an der Wand wirkt beengend auf mich und ich bezweifle, dass ich mich je mit der Farbe werde anfreunden können. Verstohlen blicke ich zu den anderen Bewohnern in ihren einheitlichen braunen Anzügen.
Fast jede Generation ist vertreten, egal ob nun die fünfte, der ich angehöre, oder die vierte und dritte. Sogar wenige Angehörige der zweiten sind noch zu erkennen. Nur die der ersten Generation fehlen völlig.
Kurz nach meiner Geburt war ihre Verabschiedung.