Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die scheue Alecia Stambrook vermisst ihre verstorbene Mutter, Lady Sophie, und nun auch noch ihren Onkel, den Earl von Langhaven, der vor kurzem verstorben ist. Dessen großzügige Zuschüsse zu ihrem eigenen Lebensunterhalt und dem ihres Vaters fehlen nun und Geld ist immer knapp. Als ihre geliebte Kusine unerwartet eintrifft, macht sie ihr einen merkwürdigen Vorschlag mit dem verlockenden Angebot von 500 Pfund – sie soll an ihrer Stelle nach Frankreich zu ihrem Vormund, dem sie noch nie begegnet ist, fahren und sich als sie ausgeben, während diese ihren heimlichen Verlobten heiratet. Ihr Vormund, General Lord Kiniston, erfolgreich im Umfeld des Duke von Wellington scheint dem wenigen nach, das sie von ihm weiß alt und ungehalten, doch als Alecia in Cambrai ankommt, muss sie feststellen, dass er am besten aussehende Mann ist, der ihr je begegnet ist. Doch sie muss entdecken dass er mit ihr besondere Pläne hat…
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Es ist sinnlos, Miss Alecia. Aus nichts wird auch nichts. Ich kann kein Essen kochen, wenn ich kein Geld habe, um Lebensmittel zu kaufen.«
»Ich weiß, Bessie«, erwiderte Alecia. »Aber Papa hat im Augenblick schon genug Sorgen. Ich möchte ihn nicht auch noch mit unseren Finanzproblemen belasten.«
»Das ist ja alles schön und gut, Miss, aber so kann's nicht weitergehen. Wenn Sie mich fragen, dann braucht Ihr Vater im Moment nichts dringlicher als ein saftiges Stück Rindfleisch oder ein knusprig gebratenes Hähnchen.«
Alecia seufzte.
Es war ihr klar, daß Bessie, die ihnen nun schon seit fünfzehn Jahren den Haushalt führte, die Wahrheit sagte.
Doch das letzte Buch ihres Vaters hatte sich schlecht verkauft, so daß sie inzwischen ohne finanzielle Mittel waren. Und das neue würde erst in drei bis vier Monaten fertig sein.
Was soll ich tun? fragte sie sich und wünschte, wie schon so oft, daß der Earl von Langhaven noch am Leben wäre.
Er war ihr Onkel gewesen, der Bruder ihrer Mutter, und weil er seine Schwester liebte, hatte er rührend für sie gesorgt.
Als Lady Sophie hartnäckig darauf bestanden hatte, Troilus Stambrook zu heiraten, war ihr Bruder der Einzige in der Familie gewesen, der ihr keine Vorhaltungen machte. Und als er später den Titel seines Vaters erbte, unterstützte er sie und ihren gelehrten Ehemann, so gut er es vermochte.
Lady Sophie verliebte sich in den auffallend gutaussehenden Troilus Stambrook, der als Privatlehrer ihres Bruders ins Haus kam, bevor er nach Oxford ging, in der Hoffnung, dort sein Examen zu machen und vielleicht sogar eine Lehrbefugnis zu erwerben.
Troilus Stambrook war seinerseits überwältigt von der Schönheit der Tochter seines Arbeitgebers, deren Charme und Eleganz die gesamte Londoner Gesellschaft schwärmerisch verfallen war.
Obwohl Lady Sophie zahlreiche Verehrer hatte - darunter auch einen, der sich nach Meinung ihres Vaters hervorragend als Schwiegersohn geeignet hätte -, existierte für sie nach der Begegnung mit Troilus Stambrook kein anderer Mann mehr auf der Welt.
Ein wütender Krieg entbrannte, der fortgeführt wurde, bis alle Familienmitglieder völlig entnervt und erschöpft waren, und damit endete, daß Lady Sophie sich durchsetzte und ihren Willen bekam. Sie war so sehr in den jungen Privatlehrer verliebt, daß sie aus ihrer Liebe eine außergewöhnliche moralische Kraft zog. Sie hätte auch bis zum Ende der Welt um Troilus Stambrook gekämpft.
So kam es, daß Lady Sophie, die ungekrönte Königin von St. James, einen unbekannten Schriftsteller heiratete, dessen einziger Vorzug es war, ein Gentleman von Geburt zu sein, und der so begabt war, daß er ein Stipendium sowohl in Eton als auch in Oxford erhielt.
»Du wirst den Tag noch bereuen, an dem du dich zu einer solchen Dummheit hast hinreißen lassen«, sagte der alte Earl zu seiner Tochter, während sie Seite an Seite zur Dorfkirche fuhren, wo die Hochzeit stattfinden sollte.
Aber er irrte sich.
Lady Sophie wurde wunschlos glücklich, und ihr Glück dauerte bis zu dem Tag, an dem sie starb.
Das einzige Problem in ihrer Ehe war ein chronischer Geldmangel, unter dem sie und ihr Mann zu leiden hatten. Und nach der Geburt ihrer Tochter Alecia wuchsen die Schwierigkeiten beinahe ins Unermeßliche. Vor allem deshalb, weil Lady Sophie zu stolz war, ihren Vater um Hilfe zu bitten.
Alles wurde jedoch anders, als ihr Bruder den Titel erbte.
Er liebte seine Schwester über alles, und so stellte er ihr und ihrem Mann als erstes auf dem Gut ein kleines Manor House zur Verfügung, in dem sie mietfrei wohnen konnten. Außerdem sorgte er dafür, daß sie mit allem versehen waren, was Stall und Garten zu bieten hatten.
Aus den Treibhäusern bekamen sie Pfirsiche und Apfelsinen, aus dem Küchengarten Gemüse und Kräuter. Und jede Woche gab es frische Butter, Sahne und Eier vom gutseigenen Bauernhof.
Es herrschte kein Mangel an Hühnern, Enten und Tauben, und im Frühjahr gab es gebratene Lammkeule, eine der Spezialitäten des Earl.
All diese Dinge machten das Leben äußerst angenehm und leicht. Troilus Stambrook konnte sich ausschließlich auf sein Schreiben konzentrieren - zumal er sich nun keine Vorwürfe mehr zu machen brauchte, daß er die geliebte Frau um den Luxus betrog, den sie von Geburt an gewöhnt gewesen war.
Dann - nur kurze Zeit, nachdem Lady Sophie in dem bitteren Winter von 1814 verstorben war - erlitt ihr Bruder einen Reitunfall, dessen Folgen er zwei Monate später erlag.
Als der neue Earl Lang Hill übernahm, änderte sich die Lage für Alecia und ihren Vater ein weiteres Mal auf dramatische Weise.
Der tote Earl hatte keinen Sohn, der die Großzügigkeit und Freigebigkeit seines Vaters hätte fortsetzen können. Wie seine Schwester Sophie hinterließ er nur eine Tochter, die den Namen Charis trug.
Die beiden Mädchen waren fast zur gleichen Zeit geboren worden. Alecia war nur drei Wochen älter als Charis. Von früher Kindheit an waren sie Spielgefährtinnen, und als sie ins Schulalter kamen, erhielten sie dieselbe Gouvernante.
Erwartungsgemäß war Alecia die aufgeschlossenere von beiden, denn sie diskutierte sehr viel mit ihrem Vater, und die Unterrichtsstunden, die er ihr gab, gingen weit über das hinaus, was eine einfache Gouvernante ihr hätte bieten können.
Oft nahm auch Charis an diesen Stunden teil, und obwohl sie an dem Unterrichtsstoff nicht halb so stark interessiert war wie Alecia, hatten die beiden viel Spaß miteinander.
Alecias Leben verlief in dieser Zeit überaus glücklich. Vom Morgen, wenn sie erwachte, bis zum Abend, wenn sie zu Bett ging, waren die Stunden des Tages voll von Freude und Seligkeit.
Sie liebte den Unterricht, den ihr Vater ihr erteilte. Und mit der gleichen Begeisterung genoß sie die Fächer, an denen sie im großen Haus in dem weiten, luftigen Schulraum teilnahm.
Doch den absoluten Höhepunkt des Tages bildete der Ausritt mit Charis auf einem der rassigen, wohltrainierten Pferde, die ihrem Onkel gehörten.
Als er starb, konnte sie kaum begreifen, daß alles, was sie kannte und liebte, nun auf einen Schlag zu Ende sein sollte.
Es war schmerzhaft gewesen, die Mutter zu verlieren. Aber nun verlor sie auch noch Charis, die natürlich nach dem Tod ihres Vaters das Haus verlassen mußte.
Von einem Tag auf den anderen war dieses wundervolle Leben vorüber. Charis war nicht mehr da. Es gab keine Pferde und keine Ausritte mehr.
Alecia kam sich vor wie jemand, den man plötzlich aus dem warmen Zimmer in die klirrende Kälte und Bedrohung einer stürmischen Winternacht gejagt hatte.
Als der neue Earl das Gut übernahm, fand der Luxus, den Alecia bis dahin umsonst genossen hatte, ein jähes Ende.
Der, neue und vierte Earl war ein entfernter Verwandter, ein ziemlich liederlicher junger Mann, unverheiratet und ein Müßiggänger. Er trieb sich ständig in London herum und hatte nicht die geringste Absicht, sich auf dem Land zu vergraben.
Nur ab und zu ließ er sich auf dem neuerworbenen Landsitz sehen. Meist in Begleitung schöner Frauen und vergnügungssüchtiger Dandys, die am Tag wie eine wilde Jagdgesellschaft über die Felder galoppierten und die Nächte durchzechten oder dem Kartenspiel frönten.
Die Geschichten, die Alecia über das Treiben auf Lang Hill zu Ohren kamen, ließen sie fassungslos den Kopf schütteln.
Es war unbegreiflich.
Sie vermochte einfach nicht zu glauben, daß sich an dem Ort, der ihr einmal zur zweiten Heimat geworden war, derart unglaubliche Dinge abspielten.
»Wenn Ihre sel'ge Mutter wüßte, was da vorgeht«, sagte Bessie oft, »sie würde sich im Grab umdrehen.«
»Well, was geht denn da vor?« pflegte Alecia zu fragen.
»Nichts, das für Ihre Ohren geeignet wäre, Miss Alecia«, erwiderte Bessie. »Aber dort treiben sich Ladies herum, die sich die Gesichter pudern und die Lippen schminken. Sie tragen teure Pelzmäntel und sind mit Juwelen behangen wie ein Christbaum mit Lametta und Silberkugeln. Und die Männer trinken von morgens bis abends Rotwein. Sie leben in einem ständigen Rausch und verspielen eine Unmenge von Goldsovereigns - was eine himmelschreiende Sünde ist - jetzt, wo so viele Menschen nach dem Krieg schreckliche Not leiden.«
Alecia stimmte ihr zu, denn sie litt entsetzlich unter der Behandlung, die den Soldaten widerfuhr, die nach der Beendigung des Krieges gegen Napoleon aus dem Heer entlassen worden waren.
Ohne eine Rente oder Entschädigung für die langen Jahre, die sie fern der Heimat an der Front zugebracht hatten, vermochten sie nun nirgendwo Arbeit zu finden und lagen buchstäblich auf der Straße.
Eins stand für Alecia inzwischen fest: Der vierte Earl von Langhaven war an seiner Cousine im Manor House nicht interessiert. Auch alle anderen Menschen, die zu seinem Gut gehörten, waren ihm gleichgültig.
Er ließ sich bei keinem der Pächter blicken, was diese als regelrechte Beleidigung empfanden. Er sprach nur mit den Jagdhütern, weil er von ihnen erfahren wollte, wie die Aussichten für die Herbstjagd waren.
Nach jedem Besuch kehrten er und seine Gäste in ihren Phaetons und Reisekaleschen nach London zurück, ohne ein Wort mit denen gewechselt zu haben, die im Schatten von Lang Hill lebten.
»Wie kann er sich nur so schäbig benehmen, Papa?« fragte Alecia ihren Vater unwillig, als der Earl nach seinem dritten Aufenthalt noch immer keine Anstalten gemacht hatte, mit irgendjemandem auf dem Gut Verbindung aufzunehmen.
»Ich nehme an, das sind moderne Manieren, Liebes«, erwiderte Troilus Stambrook. »Aber da dein Vetter beim Prinzregenten einen Stein im Brett hat, denkt er wohl, daß er seine kostbare Zeit nicht mit Leuten wie uns verschwenden sollte.«
Ich werde zu ihm gehen, entschied Alecia im Stillen. Vielleicht kann ich ihn bewegen, uns gegenüber so freundlich und großzügig zu sein, wie Onkel Lionel es war.
Sie nahm sich vor, ihn bei seinem nächsten Besuch im großen Haus aufzusuchen und mit ihm zu reden.
Aber es war nicht nur ihre Schüchternheit, sondern auch ihr Stolz, die sie daran hinderten, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen.
Der Gedanke, einen Kniefall vor ihm zu machen und ihn um Hilfe zu bitten, war ihr ein Horror.
Gleichzeitig konnte sie nicht langer die Augen davor verschließen, daß die Dinge sich zuspitzten und ihre Lage immer katastrophaler wurde.
Vor allem das Geld wurde knapper und knapper.
Die Rente ihrer Mutter, die immer nur einen kleinen Betrag ausgemacht hatte, war nach Lady Sophies Tod weggefallen, und da war es Alecia erst richtig bewußt geworden, wie bescheiden das war, was ihr Vater durch sein Schreiben verdiente.
Seine Bücher stießen in den Kreisen der Wissenschaft zwar auf große Anerkennung, waren jedoch für den Geschmack des einfachen Publikums zu gelehrt. Und so rissen sich zwar Professoren, Dozenten, Studenten und Universitätsbibliotheken um sie, aber das große Geschäft ließ sich damit wahrhaftig nicht machen. Kein Wunder also, daß die Verleger der Annahme eines neuen Manuskriptes immer nur sehr zögernd zustimmten.
»Ich muß etwas unternehmen. Bessie hat wirklich recht«, murmelte Alecia nun, während sie die Küche verließ.
Zurück blieb Bessie, die etwas dahingehend brummte, daß das Mittagessen nur aus ein paar Kartoffeln und etwas Gemüse bestehen wurde - es sei denn, die Hühner würden noch ein Ei legen, was ziemlich unwahrscheinlich war, da sie sich mit den beiden Frühstückseiern am Morgen bereits völlig verausgabt hatten.
»Ja, ich muß etwas unternehmen«, wiederholte Alecia, die sich denken konnte, was Bessie da vor sich hin brummte, als diese sich in der Küche allein wähnte.
Sie hatte allerdings noch keine konkrete Vorstellung von dem, was sie tun konnte. Vor allem gab es im Haus kaum noch etwas, das sie hätte verkaufen können.
Sie hatte bitterlich geweint, als ihr Vater vor einiger Zeit die wenigen Schmuckstücke verkaufte, die einmal ihrer Mutter gehört hatten.
Genauso schwer war es ihr gefallen, die kostbaren Chinafiguren aus dem Haus zu geben, die ihre Mutter in den Jahren ihrer Ehe gesammelt hatte.
Ein paar Pfund hatten sie erbracht, aber das Geld war viel zu schnell wieder aufgebraucht.
Geblieben waren nur noch einige Möbelstücke, die meisten davon abgenutzt und ausbesserungsbedürftig. Und dann gab es noch ein Porträt ihrer Mutter in Öl, das im Arbeitszimmer ihres Vaters hing.
Es war gemalt worden, als Lady Sophie sich zum ersten Mal in London aufgehalten und über Nacht einen großen gesellschaftlichen Erfolg errungen hatte.
Alecia wußte, wie sehr der Vater an diesem Bild hing. Er bezog daraus seine Inspiration und seine Schaffenskraft, und wenn er allein war, betrachtete er es und sprach mit seiner Frau, ganz so, als lebte sie noch.
»Wir können es nicht verkaufen«, flüsterte Alecia. »Es würde Papa das Herz brechen.«
Ihr Vater litt sehr unter dem Verlust seiner Frau. Vergessen fand er nur in seiner Arbeit und in der Schriftstellerei. Ohne diese Beschäftigung hätte er sich sicher längst das Leben genommen oder wäre dem Wahnsinn verfallen.
»Was kann ich tun?« fragte sich Alecia immer wieder. »Was kann ich nur tun?«
Schließlich beschloß sie, ihren Stolz zu vergessen und sofort zum Großen Haus hinüberzugehen, um mit ihrem Vetter zu sprechen, als sie vor der Tür das Geräusch einer anhaltenden Kutsche zu hören glaubte.
Erstaunt fragte sie sich, wer das wohl sein mochte.
Sie bekam in diesen Tagen nur wenig Menschen zu Gesicht, und sie dachte, daß es in keinem Fall ein Besucher sein konnte, denn es war noch früh am Morgen.
An der Tür ertönte ein lautes Klopfen, und Alecia dachte nicht daran zu warten, bis Bessie öffnete, wie es die Konvention verlangte. Sie lief zur Tür, um den unerwarteten Gast einzulassen.
Fassungslos schaute sie auf die elegante Reisekutsche, die vor dem Haus stand, und auf die junge Dame, die ihr entstieg. Doch dann erwachte sie aus ihrer Erstarrung und stieß einen Entzückensschrei aus, der hell in den sonnigen Frühlingstag hinaus schallte.
»Charis! Bist du es wirklich?«
Lady Charis Langley eilte auf ihre Cousine zu und schlang die Arme um sie.
»Alecia, Liebes, ich bin glücklich, dich zu sehen.«
Die beiden Cousinen küßten einander. Dann betraten sie eng umschlungen das Haus und gingen durch die Halle ins Wohnzimmer.
»Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, daß du hier auftauchen würdest«, sagte Alecia. »O Charis, wie hab' ich dich vermißt. Du hast fast zwei Monate nicht mehr geschrieben.«
»Ich weiß, Liebes, und du mußt mir vergeben«, erwiderte Charis. »Aber ich hab' dir so viel zu erzählen, daß ich kaum weiß, wo ich anfangen soll!«
Lady Charis' Mutter war auf tragische Weise ums Leben gekommen, als Charis noch ein kleines Kind gewesen war. Und nach dem Tod ihres Vaters war sie nach London zu ihrer Tante, der Duchess von Hampden, gezogen, die sie bald nach Ablauf des Trauerjahrs im Buckingham-Palast vorgestellt hatte.
Dem waren zahlreiche kleine Dinner-Partys und Gesellschaften vorausgegangen. Jede dieser Veranstaltungen war ein völlig neues Erlebnis für das junge Mädchen gewesen, dessen Faszination es sich nicht entziehen konnte.
Anfangs, nachdem sie in die Stadt gezogen war, hatte sie Alecia fast jeden Tag geschrieben. In jedem Briefchen hatte sie beteuert, wie sehr sie Alecia vermisse, und sie hatte ihr jede Einzelheit aus der neuen Umgebung, einfach alles, was in London passierte, geschildert.
Als die Briefe seltener wurden, begriff Alecia, daß Charis neue Freunde gefunden hatte. Und obwohl sie sicher war, daß die Cousine sie immer noch mochte, versuchte sie, sich damit abzufinden, daß sie für Charis nicht mehr der wichtigste Mensch im Leben war.
Dann - zu Beginn des Jahres - wurden die Zeitabstände zwischen Charis' Briefen noch länger, und wenn doch einmal ein Lebenszeichen von ihr eintraf, wurde es ganz offenkundig, daß ihr zum Schreiben einfach die Zeit oder die Lust fehlte. Ein paar unverbindliche Floskeln waren offenbar alles, was sie noch zu Papier brachte.
Nun, wie dem auch sei, jetzt saß sie vor Alecia, der es regelrecht den Atem verschlug, als sie den Unterschied zwischen der neuen und der alten Charis bemerkte.
Damals war sie unglücklich und voller Trauer über den Tod ihres Vaters gewesen, bedrückt von dem Gedanken, das Haus verlassen zu müssen, das ihr Zuhause gewesen war, seit sie denken konnte.
Tränenüberströmt und verzweifelt war sie von Lang Hill weggegangen, und in dem schwarzen Kleid mit dem dunklen Filzhut hatte sie ausgesehen wie eine Vogelscheuche. Nichts, aber auch gar nichts hatte Alecia damals noch an das lustige, ausgelassene, stets gutgelaunte junge Mädchen erinnert, das sie achtzehn Jahre lang gekannt hatte.
Und nun stand eine völlig veränderte Charis vor ihr. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, kaum wiederzuerkennen in ihrer Eleganz. Und die neue Schönheit verlieh ihr etwas Hinreißendes und Atemberaubendes.
Charis nahm den mit Pfauenfedern geschmückten Hut ab und warf ihn auf einen Stuhl.
Dann zog sie Alecia zu sich aufs Sofa und sagte: »Du hast dich überhaupt nicht verändert. Habe ich dir gefehlt?«
»Schrecklich«, erwiderte Alecia. »Alles hat sich verändert, seitdem du fort bist. Und alles ist fremd und furchtbar geworden, seit der neue Duke den Platz deines Vaters eingenommen hat.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Charis. »Ich habe Vetter Gerald nie gemocht. Und wenn ich ihn in London sehe, hat er stets eine Tänzerin oder Schauspielerin bei sich, so daß es mir völlig unmöglich ist, einmal mit ihm zu reden.«
Alecias Augen weiteten sich.
»Glaubst du etwa, er würde diese Sorte Frauen auch mit nach Lang Hill bringen?«
»Ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen, obwohl er die meiste Zeit mit dem Prinzregenten verbringt«, antwortete Charis.
Alecia dachte daran, daß der Ruf des Prinzregenten die meisten älteren Leute im Dorf entsetzte.
Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, fuhr Charis bereits fort: »Aber ich bin nicht hergekommen, um mit dir über Vetter Gerald zu reden. Ich bin's, über die ich sprechen muß - und du mußt mir unbedingt helfen, Alecia!«
»Natürlich, Liebes«, sagte Alecia bereitwillig. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Obwohl ich mir schlecht vorstellen kann, wie diese Hilfe aussehen sollte.«
Bei diesen Worten streifte ihr Blick nicht nur Charis' elegantes, modisch betontes Kleid, das äußerst kostspielig wirkte, sondern auch die exquisite Perlenkette, die um den Hals der Cousine lag.
Außer der Kette trug Charis ein goldenes Armband mit kleinen Brillanten und am Mittelfinger einen wertvollen Brillantring, der für ein so junges Mädchen fast ein wenig zu aufwendig und prunkvoll wirkte.
Dann fiel Alecias Blick auf das Gesicht der Cousine, und sie stellte fest, daß diese sehr besorgt aussah.
Es stimmte etwas nicht mit ihr!
Und so fragte Alecia: »Was ist los, Charis? Wie kann ich dir helfen?«
Charis blickte eine Weile auf den Brillantring an ihrer Hand, bevor sie erwiderte: »Ich habe mich verlobt.«
Alecia stieß einen Schrei aus.
»O Charis, warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Wie aufregend, Liebes! Sicher wirst du sehr glücklich sein!«
»Sehr, sehr glücklich«, stimmte Charis zu. »Und auch Harry ist glücklich. Er beteuert mir immer wieder, daß er der glücklichste und beneidenswerteste Mensch auf der ganzen Welt sei. Leider gibt es im Moment nur einige Schwierigkeiten.«
»Zunächst einmal: Wer ist Harry?« fragte Alecia.
»Er ist der Viscount von Turnbury, Sohn des Earl von Scarcliffe«, antwortete Charis stolz.
Alecia sagte nichts, sondern lauschte den Worten der Cousine, als diese fortfuhr: »Er ist ein so gutaussehender Mann, so amüsant. Für mich einfach der wundervollste Mann, dem ich je begegnet bin.«
Sie lächelte und fügte hinzu: »Ich liebe ihn, Alecia. So wie Tante Sophie deinen Vater geliebt hat. Und wenn er völlig mittellos und ohne jede Bedeutung wäre, ich wäre bereit, mit ihm durchzubrennen, um ihn heiraten zu können.«
»Ich habe dir immer gewünscht, daß du einmal einen Mann findest, den du so lieben kannst«, sagte Alecia. »Aber wo liegt das Problem?«
»Darauf komme ich jetzt.«
Charis atmete tief, bevor sie begann: »Gleich, als wir uns das erste Mal begegneten, wußten wir beide, daß wir füreinander bestimmt waren. Es war Liebe auf den ersten Blick, weißt du. Und als Harry mich um meine Hand bat, habe ich auf der Stelle ja gesagt. Aber stell dir vor: Plötzlich starb seine Mutter.«
»Oh, das tut mir leid«, murmelte Alecia.
»Für uns hieß das natürlich, daß wir unsere Vermählung verschieben mußten. Schließlich konnten wir sie ja nicht gleich nach dem Tod von Harrys Mutter bekanntgeben. Nun, Harry machte sich Gedanken darüber, wie wir das Trauerjahr umgehen und schon früher heiraten könnten. Aber dann geschah mit einem Mal etwas Schreckliches.«
»Ja?« fragte Alecia gespannt.
»Ich erhielt einen Brief von meinem Vormund.«
»Von deinem Vormund? Ich wußte gar nicht, daß du einen Vormund hast.«
»Ich ja auch nicht«, erwiderte Charis. »Das heißt, ganz schwach erinnere ich mich jetzt, daß mein Vater irgendwann einmal davon gesprochen hat. Aber es ist so unheimlich lange her, daß ich es vergessen hatte.«
»Das mußt du mir erklären.«
»Als Papa mit Wellingtons Heer nach Portugal übersetzte, damals, zu Beginn des Krieges, war ich zwölf. Eines Tages, kurze Zeit, bevor sie in die Schlacht zogen, machte der Kommandeur Papa und seinen Offizierskameraden den Vorschlag, ein Testament zu verfassen, damit das, was sie besaßen, im Falle ihres Todes auch wirklich an diejenigen kam, die es haben sollten.«
»Ich sehe ein, daß das eine sehr vernünftige Idee war«, antwortete Alecia.
»Ich glaube, Papa erzählte mir, daß viele Offiziere sich lustig darüber machten! Sie vererbten völlig sinnlose Dinge an Leute, die sich darüber nur ärgern würden. Sie machten aus der Angelegenheit einen grausigen Spaß.«
Sie seufzte leise, ehe sie fortfuhr: »Nun, Papa nahm das Ganze ernst. Und aus einem Grund, der mir völlig schleierhaft ist, setzte er einen Freund als meinen Vormund ein - Lord Kiniston, der es inzwischen zum General gebracht hat.«
»Ich nehme an, er hielt ihn für einen zuverlässigen und ebenso verantwortungsbewußten Mann«, sagte Alecia langsam. »Hast du ihn einmal kennengelernt?«
»Natürlich nicht. Wie ich schon sagte, ich wußte nicht einmal richtig, daß es ihn überhaupt gab - bis ich vor zwei Tagen einen Brief aus Frankreich erhielt.«
»Aus Frankreich?«
»Ja, er ist mit dem Besatzungsheer in Cambrai stationiert. Beim Lesen seines Briefes hatte ich den Eindruck, daß er meine Existenz genauso vergessen hatte wie ich seine.«
»Und weshalb belästigt er dich jetzt?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Charis. »Aber er verlangt von mir, daß ich ihn in Frankreich aufsuche - unverzüglich.«
Fassungslos starrte Alecia die Freundin an.
»Ist das wahr? Wie kann er so etwas von dir verlangen?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls schreibt er in seinem Brief, er erwarte, daß ich seinem Befehl auf der Stelle nachkomme.«
»Aber du wirst ihm doch sicher schreiben, daß dir das im Augenblick überhaupt nicht paßt, oder?«
»Harry meint, das könnte ein Fehler sein. Und er glaubt auch, daß hinter Lord Kinistons Einladung ein Hintergedanke steckt, denn umsonst würde er mich niemals nach Cambrai bestellen, wo die englische Garnison untergebracht ist. Außerdem fürchtet Harry, daß Lord Kiniston mich nicht mehr zurückreisen läßt, wenn ich einmal dort bin.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb er dich festhalten sollte«, sagte Alecia. »Schließlich ist er ein ehrenhafter Vormund. Und er wird sicherlich erfreut sein, wenn er hört, daß du eine so angesehene Persönlichkeit wie den Viscount von Turnbury heiraten willst.«
»Er scheint ziemlichen Wert auf Etikette und dergleichen zu legen«, widersprach Charis. »Und ich fürchte, er läßt eine sofortige Heirat unter den gegebenen Umständen nicht zu. Genau dazu sind wir aber beide fest entschlossen.«
Alecia sah die Freundin fragend an. Nach einer kurzen Pause sagte Charis: »Harry hat schon alles geplant, und niemand außer dir wird erfahren, daß wir in wenigen Tagen heiraten werden.«
»Und wie wollt ihr das machen?«
Alecias Augen waren weit geöffnet.
»Kein Problem.« Charis lächelte. »Ich werde Tante Emily erzählen, daß ich für einige Zeit zu Freunden fahre. In Wirklichkeit jedoch werden Harry und ich zu einer kleinen Dorfkirche fahren, wo wir aufgrund einer Sondererlaubnis vom Pfarrer des Ortes getraut werden.«
Ihre Stimme verriet Erregung, als sie fortfuhr: »Anschließend fahren wir zu einem Haus in Suffolk, das Harry gehört und wo uns niemand suchen wird.«
Alecia zog hörbar die Luft ein.
»Ich glaube, ihr ... ihr solltet das nicht tun.«
»Im Gegenteil. Wir sind fest entschlossen dazu«, erwiderte Charis ungerührt. »Ich liebe Harry, und er liebt mich - mehr als alles andere auf der Welt. Doch wenn ich ihn jetzt nicht heirate und stattdessen verreise, werden sich andere Frauen an ihn heranmachen und versuchen, ihn in die Klauen zu kriegen. Die Gefahr, ihn an eine andere zu verlieren, ist mir einfach zu groß.«
»Wenn er dich wirklich liebt, werden alle anderen Frauen Luft für ihn sein.«
Charis ließ ein kleines Lachen hören.
»Liebste Alecia, Männer sind Männer, und es gibt da eine ganz bestimmte Person, die es auf Harry abgesehen hat. Seit Monaten versucht sie ihn mir auszuspannen. Du glaubst nicht, wie ich dieses Weibsstück hasse. Dabei muß ich zugeben, daß sie sündhaft schön und reizvoll ist. Ich fürchte, auf die Dauer würde Harry ihren Verführungskünsten nicht widerstehen können und mich vergessen.«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte Alecia. »Keine Frau ist so schön wie du, Charis.«
»Oder wie du«, entgegnete Charis. »Schließlich haben wir uns immer sehr ähnlich gesehen. Weißt du noch, wie man uns in unserer Kindheit immer für Zwillinge hielt?«
Alecia lachte.
»Das ist lange her. Und jetzt sehe ich gewiß nicht mehr wie deine Zwillingsschwester aus.«
»Aber ganz bestimmt. Natürlich nur, wenn du so gekleidet wärst wie ich und das Haar ein wenig modischer herrichten würdest.«
»Wozu?« fragte Alecia. »Außer Papa sieht mich ja sowieso niemand. Papa aber hat nur Sinn für seine Schreiberei. Und wenn er nicht schreibt, denkt er an Mama und verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihr. Ansonsten ist da nur noch die alte Bessie, die nichts im Kopf hat als Lebensmittel, die wir nicht haben und die wir uns nicht leisten können.«
Als sie geendet hatte, stieß sie einen leisen Schrei aus.
»O Charis, bleibst du zum Lunch? Wenn ja, muß ich dich warnen. Ich wußte nämlich nicht, was ich dir vorsetzen sollte.«
»Was willst du damit sagen?«
Alecia sah verlegen aus.
»Das, was ich sage«, erwiderte sie. »Weißt du, seitdem dein Vater nicht mehr lebt, müssen wir auf die Köstlichkeiten aus Landwirtschaft und Garten verzichten, die es früher gab. Und Papas letztes Buch hat sich nicht so gut verkauft, wie wir es uns gewünscht hatten.«
Charis schaute sie an, dann sagte sie: »Ich schäme mich vor mir selbst. Wie konnte ich nur so egoistisch sein und übersehen, daß Papas Tod solche Konsequenzen für euch mit sich gebracht hat. Es tut mir leid, Alecia, ehrlich. Bitte, vergib mir!«
»Liebes, die Sache hat mit dir nicht das Geringste zu tun. Es ist nur so, daß die Dinge sehr schwierig für uns geworden sind. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, um sie zu ändern.«
»Ich werde dir sagen, was du tun sollst«, sagte Charis. »Du kannst den Dienern, die mich hergebracht haben, eine Liste übergeben, was sie im Dorf kaufen sollen, damit Bessie uns ein gutes Mittagessen kochen kann.«
Sie öffnete die hübsche Handtasche, die sie am Handgelenk trug, holte drei goldene Sovereigns hervor und legte sie Alecia in die Hand.
»Das ... das kann ich nicht annehmen«, sagte Alecia schwach.
»Stell dich nicht so an«, erwiderte Charis. »In der Vergangenheit haben wir alles miteinander geteilt. Und der Gefallen, um den ich dich bitten werde, ist sehr viel mehr wert als das. Und nun geh in die Küche zu Bessie. Sag ihr, sie soll dem Diener eine Liste mit allem geben, was sie benötigt. Aber bitte, beeile dich, sonst kommen wir beide noch um vor Hunger.«
Alecia ließ einen Laut hören, der halb nach Lachen, halb nach Weinen klang. Dann eilte sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.
Sie fand Bessie in der Küche. Wie erwartet, saßen der Kutscher und der Diener, die Charis gebracht hatten, am Tisch und tranken eine Tasse Tee.
Bei ihrem Eintritt erhoben sich beide. Alecia wünschte ihnen einen guten Morgen, bevor sie Bessie aus der Küche in den Gang holte und die Tür hinter sich schloß.
»Hör zu, Bessie«, sagte sie. »Lady Charis gibt uns das Geld für das Luncheon. Du sollst die Diener mit einer Liste, auf der alles steht, was wir brauchen, ins Dorf schicken. Hier ist eine Guinee. Ich habe noch zwei weitere, doch die werden wir aufheben für den Rest der Woche.«
Bessie starrte auf den Sovereign, als sei es das erste Mal, daß sie ein solches Goldstück zu Gesicht bekam. Dann streckte sie ihre abgearbeitete Hand aus und nahm es an sich.
»Gott sei Dank«, sagte sie. »Ich hab' also nicht vergeblich um ein Wunder gebetet.«
»Ja, deine Gebete sind erhört worden«, sagte Alecia. »Aber nun beeile dich und sag den beiden, was sie zu tun haben!«
Alecia kehrte in das Wohnzimmer zurück.
»Ich bin sehr, sehr glücklich, Charis, Liebes«, sagte sie. »Aber ich habe das Gefühl, deine Freundschaft in irgendeiner Weise auszunutzen.«
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: