Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner - Omer Meir Wellber - E-Book

Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner E-Book

Omer Meir Wellber

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Beschreibung

Chaim Birkner ist 108 Jahre alt und der älteste Mann Israels. Doch er feiert nicht, er beschließt zurück nach Ungarn zu gehen, in das Land, aus dem er floh, in die Wohnung seiner Eltern, die er nie verkaufen konnte. Dorthin »retteten« sein Vater und er 1941 zwei Thora-Rollen aus der Synagoge, dort wuchs er auf mit der Nachbarin Lion, dem gelben Baum, den schmutzigen Geschäften seines Vaters... 1944 kam er nach Israel und seitdem lügt er sich durchs Leben, geht alles und jedem aus dem Weg. Ausgerechnet seine vernachlässigte Tochter Sharon zwingt ihn nun, dem Leben wenigstens einmal kurz in die Augen zu sehen. Dies ist der Roman eines müden und zerstörten Mannes, verzweifelt angesichts einer Geschichte Israels, die sonst nie erzählt wird.

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© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2019

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlam

Titel des hebräischen Originals: Hasipur schel ChaimLektorat des hebräischen Textes: Gai AdCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: Raanana, 1938 (Child on Horse)

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Einleitung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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11

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17

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Letztes Kapitel

Glossar

Einleitung

»Schalom, hier Noga Schlomo von der Plattform Schofar Israels. Ich hatte Sie neulich angesprochen wegen eines Beitrags, den wir über die ältesten Menschen im Land bringen möchten, erinnern Sie sich?«

»Sicher erinnere ich mich. Ich erinnere mich noch an fast alles, wenn Sie deshalb anrufen.«

»Ja, ich bin sicher, dass Sie ein gutes Gedächtnis haben, Gott sei Dank. Ja, das ist wirklich ein Wunder.«

»Ein Wunder? Meinen Sie, das hat was mit Gott zu tun? Ich sage Ihnen, das ist durchaus wegen, aber keineswegs dank Gott.« Wenn die eine der im Lande Gebliebenen ist, soll sie wenigstens was lernen, dachte ich.

»Ist Ihnen klar, dass Sie jetzt der älteste Mann in Israel sind? Schließlich sind Sie 1930 geboren. Gestern ist der älteste Mann gestorben.«

»Bis gestern.«

»Was?«

»Gestern ist der Mann gestorben, der bis gestern der älteste war.«

»Ach ja, das habe ich gemeint. Aber seit heute sind Sie’s.«

»Vielleicht ist es schon morgen jemand anders.« Wir lachten beide.

»Wie fühlt es sich denn so an?«

»Schauen Sie, meine Liebe, ich hatte nicht vor, einhundertacht zu werden. Ich bin nicht mal sicher, ob ich die zwanzig angepeilt hatte.«

»Weil Krieg war?«

»Weiß nicht. Und zu Ihrer vorigen Frage: Ich empfinde nichts Besonderes.«

»Morgen wird unser Team von Schofar Israels Sie besuchen, um über Ihren Geburtstag zu berichten. Der ist schon was Fantastisches.«

»Glauben Sie mir, ich hätte bei meinem Geburtstag viele andere lieber dabeigehabt als eure Leute. Wo wohnen Sie?«

»Was tut das zur Sache? Ich bitte Sie, mein Herr, das ist nicht Thema der Reportage.«

»Bleiben Sie im Land oder wandern Sie aus?«

»Ich bleibe hier, klar.«

»Klar, warum solltet ihr den Preis bezahlen, wenn andere es tun können? Also gut, ich bezahle den Preis für Sie und reise aus.«

»Darum geht es aber nicht in der Reportage. Können Sie mir nicht einfach erzählen, wie man sich mit hundertacht Jahren fühlt?«

»Also, Noga Schlomo, ich bin nicht sicher, dass ich überhaupt mit Ihnen reden möchte. Ich wünsche euch viel Erfolg, Ihnen und allen Dableibenden. Und wenn Sie eine dumme Antwort auf Ihre dummen Fragen wünschen, dann bitte sehr: Ich fühle mich ausgezeichnet, als glücklicher Mensch, bin aber auch traurig über all die Freunde und Bekannten, die nicht mehr sind. Reicht Ihnen das?«

»Ich hoffe, Sie sind morgen wenigstens zu unseren Kameraleuten nett, die haben Ihnen schließlich nichts getan.«

Dreiste Person.

»Hören Sie mal gut zu … hallo …?« Hat aufgelegt.

1

Als ich elf Jahre alt war, ging ich eines Schabbatmorgens mit meinem Vater zu unserer Synagoge. Auf dem Weg wurden wir angepöbelt. Vater ergriff meine Hand und fing an zu laufen, ich rutschte aus und tat mir weh, aber wir rannten trotzdem weiter zur Synagoge, traten ein und fanden sie leer vor. Vater sah mir in die Augen und sagte: »Eine leere Synagoge ist wie ein Theater ohne Schauspieler.«

»Vielleicht haben wir uns im Tag geirrt?«, fragte ich.

Vater lachte.

Anscheinend gehen Lachen und Angst Hand in Hand, denn bei Vater war beides sehr ausgeprägt. Manchmal frage ich mich, was zuerst da war, das Lachen oder die Angst. Schließlich denkt man bei einem so humorvollen Menschen ja nicht, dass er etwas fürchtet, was er jederzeit mit einem guten Witz abtun könnte. Oder anders herum – wie soll ein Angsthase Zeit haben, Sinn für Humor zu entwickeln?

Im Stockwerk unter uns gab es ein Büro, ich meine, eine Anwaltskanzlei. Wir wohnten im Hinterhaus. Aus dem Vorderhaus kannte ich nicht alle Bewohner namentlich. Eine Frau dort fütterte die Straßenkatzen. Einmal war ich gerade auf dem Weg zur Schule, als sie mit Milch und Käse die Treppe runterkam. Sie wartete, bis ich vorbei war, und trat dann erst hinaus. Ich dachte mir, die muss einer sehr vornehmen Familie entstammen, denn solch gute Kinderstube sieht man nicht alle Tage.

»Nicht stehen bleiben, bleib nicht stehen«, sagte Vater.

»Warum?«

»Damit wir keinen Ärger kriegen. Tu so, als wären wir gar nicht da«, flüsterte er.

»Wie macht man das?«

»Schau einfach nicht hin.«

Ich begriff wirklich nicht, warum ich nicht hinschauen sollte. Schließlich heißt etwas nicht anzuschauen noch lange nicht, dass man nicht da ist. Es gibt ja genug Geschichten über Blinde, die ausgeraubt oder überfahren wurden.

»Gehen wir wieder nach Hause? Sollten wir nicht lieber die Synagoge bewachen, bis der Vorsteher kommt?«

»Such dir bloß keine Dinge zum Bewachen aus, wenn du mal groß bist«, sagte Vater entschieden.

Nachmittags klebten nur noch kleine Käsereste an den Schüsselrändern. An schönen Wintertagen lagen die Katzen vollgefressen auf den wenigen Stellen des Bürgersteigs, wo die Gebäude die Sonne hinließen. Morgens konnte man mindestens zehn beleuchtete Katzen vorfinden. Die Sonnenflecken schrumpften gegen Ende des Tages. Als wir aus der Synagoge zurückkamen, waren noch drei besonnte Katzen auf der Straße.

»Kann man sich mehr Glück wünschen?« Vater deutete auf die Katzen.

»Wenn ich mal groß bin, möchte ich Tänzerin werden«, sagte Leon und hüpfte von einem Sonnenfleck zum anderen, bog die Beine zu einer Arabeske.

Ich hatte wenige Freunde, weil ich nicht zu viel mit anderen Kindern zu tun haben wollte. Aber sie war was Besonderes. Sie hieß Lea. Ich nannte sie Leon, weil sie immer Hosen trug.

»Komm, komm, du musst dir was anschauen«, rief sie von der Straßenecke.

Völlig in ihre Sommersprossen vertieft, merkte ich jetzt erst, dass sie nicht mehr neben mir war.

»Wir sind Freunde und wollen heiraten«, erklärte ich Mutter.

»Zum Heiraten seid ihr ein bisschen zu jung, aber ihr könnt schon mal Händchen halten«, meinte sie.

Ich war gelähmt vor Aufregung. Alles Blut im Leib, alle Atemluft, alle Gedanken waren auf Leons sensible, helle Hand gerichtet. Einen Moment spürte ich nichts außer meiner Hand in ihrer, war selbst völlig verschwunden. Ich musste Vater von dieser Methode erzählen – man gibt sich die Hand und verschwindet.

»Meinst du, wenn wir in den Laden gehen, werden wir rausgeschmissen?«, fragte Leon vorsichtig.

»Ich meine, man sollte es lieber nicht ausprobieren.«

»Warum bist du so ein Hasenfuß? Herr Adler ist ein netter Mann. Er wird uns nicht wegjagen.«

Herr Adler sah uns mit zittrigem Blick an, als wir ein Päckchen Kaugummi verlangten.

»Hier, aber seht zu, dass ihr wegkommt, okay?« Anscheinend war nicht ich hier der Hasenfuß, denn Herr Adler vergaß sogar, Geld zu nehmen, wollte uns nur rasch loswerden.

»Herr Adler, Ihr Geld«, bemerkte Leon von oben herab.

»Gut, gut, aber sagt bloß keinem, dass ihr bei mir eingekauft habt«, flüsterte er.

»Siehst du, wir waren nicht nur im Laden, sondern er wollte uns das Kaugummi sogar gratis geben.« Leon kaute eines auf der linken Seite, und ich beging wieder den Fehler mit den Sommersprossen – sie redet, und ich konzentriere mich auf ihre Pünktchen und träume.

»Weiß nicht, vielleicht«, stammelte ich.

Wir warteten fast zwei Stunden an der Synagogentür. Vater meinte, wir sollten bleiben, bis jemand uns ablöste, aber keiner kam. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir zu handeln. Wir gingen hinein, schnappten uns jeder eine Thorarolle und traten den Heimweg an. Der violette Himmel bedeckte die Straße wie ein dicker Teppich, und wir schritten mit zwei großen Thorarollen darüber. Der violette Teppich passte gut zu den Mänteln der Thorarollen, und diese fügten sich in die bunten Herbstfarben ringsum. Plötzlich schienen wir in einem anderen Rhythmus zu atmen als die übrige große Straße. Wir gingen sie ganz entlang, verbargen uns in der Luft, die dickflüssiger wurde. Als wir an unserer Haustür ankamen, lagen die drei Katzen in eine Ecke gekuschelt.

»Kannst du uns bitte die Tür aufmachen?«, fragte ich den Nachbarn von oben.

»Ja«, antwortete er, wollte jedoch neugierig wissen: »Gregor, was macht ihr denn mit den Thorarollen?«

»Was wir machen? In der Synagoge war kein Mensch, alles offen, jeder hätte reingehen und den Raum verwüsten können.« Vaters Mundwinkel gingen nach unten.

»War der Rabbi nicht da?«, fragte der Nachbar und reckte das Kinn.

»Kein Rabbi und keine Beter. Nach zwei Stunden haben wir uns entschieden, die Thorarollen nach Hause zu tragen. Wie sollten wir sie in einer unverschlossenen Synagoge stehen lassen?«

»Wollt ihr eine Thorarolle bei mir unterstellen?«, fragte der Mann zögernd.

»Ich glaube, wir verwahren sie bei uns.« Vater bedeutete mir mit dem Kopf, die Treppe raufzugehen.

Zum ersten Mal im Leben sah ich Vater so entschlossen. Er hatte mir doch gesagt, man solle sich lieber nichts zum Bewachen suchen, wieso brachte er uns dann jetzt alle mit zwei Thorarollen im Haus in Teufels Küche? Und wo wollte er sie wohl lassen? Zwei Thorarollen, die eine riesig, fast so groß wie ich, die andere klein, aber zornig? Ihre Farbe hatte etwas, das einem schlichtweg signalisierte: Mach mich nicht auf.

Als wir die Wohnung betraten, schaute Mutter aus der Küche und sagte: »Übertreibt ihr’s nicht ein bisschen mit dem feierlichen Rumtragen der Thorarollen? Tut man sonst doch nur innerhalb der Synagoge.«

»Du wirst nicht glauben, was uns passiert ist«, rief Vater und stellte seine Thorarolle in die Badewanne. Während er Mutter die letzten beiden Stunden erzählte, ging ich ebenfalls ins Bad und stellte meine Rolle neben seine. Das Badezimmer war klein und weiß, und nun standen da, wahrlich in der Wanne, unsere beiden Thorarollen. Früher hatten wir dort manchmal Karpfen gehabt, sie schwammen zwei Tage drin herum und waren dann plötzlich weg. Während ihres Daseins avancierten sie zum Mittelpunkt des Hauses, wir spielten mit ihnen und fütterten sie mit Brotkrümeln, und dann verschwanden sie.

»Gefilte Fisch macht man aus Karpfen, und der Mensch muss was essen«, erklärte Mutter, wenn ich sie fragte, wo die Fische denn abgeblieben waren.

»Schmeckt lecker«, sagte ich und kaute mit offenem Mund.

»Ja, was man gratis kriegt, schmeckt angeblich immer besser als das, wofür man bezahlen muss.« Leon schob sich noch ein Kaugummi in den Mund. Herr Adler sah uns aus dem Laden nach und hoffte, wir würden endgültig abhauen.

Wir setzten uns beide auf die Bordsteinkante. Leon machte einen kleinen Spagat, und ich bemühte mich, wie immer vergeblich, es ihr nachzutun. So von unten beobachteten wir gern die vielen Passanten, dachten uns zum Spaß allerlei Geschichten über sie aus.

»Na, kommst du endlich?«, rief Mutter mich aus dem Badezimmer zu Tisch.

»Wie soll ich so denn essen?«, maulte ich.

»Ignorier sie, stell dir vor, sie wären unsere Gäste.« Vater und Mutter hatten die Thorarollen zu uns an den Tisch gesetzt.

»Gregor, ich versteh nicht, was du dir dabei gedacht hast, die Thorarollen einfach mit nach Hause zu nehmen, das begreif ich ehrlich nicht«, bemerkte Mutter. »Hier, für dich.« Sie füllte mir Suppe auf. »Wann wollt ihr die Rollen denn zurückbringen?«, fragte sie mit etwas Suppe im Mund.

»Ich bin nicht sicher, dass ich sie zurückbringen werde«, antwortete Vater und berührte den violetten Mantel der Rolle neben sich.

»Was denn? Sollen wir jetzt so leben? Ich meine, es ist doch ohnehin schon eng genug, oder?« Mutter sah mich Zustimmung heischend an.

»Oje, red doch keinen Blödsinn«, schimpfte Vater mit einem Bissen Brot im Mund. »Du musst immer alle verrückt machen.«

»Die Suppe ist heiß«, sagte ich.

Es klopfte an der Tür. Vater ging öffnen. Peter trat ein. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn über den Stuhl. Darunter trug er noch einen Mantel.

»Vielen Dank. Wie kriegen wir die übrigen Mäntel?«, fragte Vater.

»Sie werden mir in ein paar Tagen geliefert«, antwortete Peter.

Vater schien zufrieden zu sein.

»Der hat sicher viel Geld gekostet«, bemerkte Mutter nach Prüfung des Mantels, den er noch anhatte.

»Ich habe ihn geschenkt bekommen«, sagte Peter.

Die Anspannung am Tisch war unerträglich.

»Ihr wisst, wie das ist, einer gibt, einer nimmt, man versucht, sich zu einigen«, fuhr er fort.

»Das hier sind unsere Thorarollen, aus der Synagoge«, erklärte Vater hastig, ehe Peter fragen konnte.

»Thorarollen, das sehe ich. Aber was haben die hier bei euch zu suchen?«, fragte er gedehnt.

Peter war ein alter Freund von Vater. Jetzt nannte Mutter ihn einen »Schieber« und meinte, »der hat seine Verbindungen«.

»Ihr wisst, die Zeiten ändern sich.« Peter setzte sich auf meinen Stuhl. »Ich bin sehr, sehr besorgt.« Er löffelte etwas von meiner Suppe.

»Ist warm.«

»Frisch aus dem Ofen, hab ich für dich geklaut«, erwiderte Leon mit ihrem schiefen Lächeln.

»Du hast es geklaut?«, fragte ich.

»Ich erklär dir doch, die Synagoge war unverschlossen. Da war kein Mensch. Wir haben die Rollen gerettet.« Vater wurde lauter.

»Vor wem habt ihr sie denn gerettet, wenn kein Mensch dort war?«

»Eine Thorarolle braucht Freunde, jemanden, der sie öffnet, daraus vorliest«, sprang Mutter ihrem Mann bei.

»Ich hab einen Freund, der bei Leibowitz in der Bäckerei arbeitet, und der hat mir das Brot geschenkt.« Leon sah mich an, sprach etwas gedehnt, wie Peter.

Ich hätte sterben mögen. Wie konnte sie es wagen, die Liebe des einen auf einen anderen Jungen umzulenken? So was tut man nicht.

Leon sah mich an. »Bist du jetzt beleidigt?«, fragte sie.

»Ich bin nie beleidigt.«

»Lecker, nicht wahr?« Sie zog mich am Ohrläppchen.

»Ja, lecker. Warm.« Das Brot des Verrats.

»Viele Gemeindemitglieder sind schon geflüchtet«, bemerkte Mutter.

»Aber wohin?«, fragte Vater und hoffte, sie möge nicht antworten.

»Ich weiß es nicht.«

»Ist es nicht ganz gleich, wohin?«, meinte Peter.

»Es ist ungut, hierzubleiben«, sagte Mutter und sammelte die Schüsseln ein.

»Ich muss heim«, verkündete Leon.

»Aber es ist doch noch früh«, wandte ich zaghaft ein.

»Nein, spät. Ich muss gehen«, beharrte sie.

Die Zeit bleibt stehen, wenn ich dich anschaue, sagte ich mir im Stillen.

»Sehen wir uns morgen?«, fragte Leon, ehe sie verschwand.

Auf diese Frage wartete ich jeden Abend. Ich bin vielleicht ein bisschen bürokratischer als die meisten Menschen, aber die Gewissheit, Leon auch morgen zu treffen, beruhigte mich etwas. Nicht nur weil ich sie liebte, sondern weil sie mir den Tag strukturierte und ich gern auf ihrer Tagesordnung stehen wollte. Bei jedem abendlichen Treffen hatte ich schreckliche Angst, sie am nächsten Tag vielleicht nicht wiederzusehen, was ja durchaus vorkam. Es gab Schabbat- und Feiertagsabende, vermaledeite Hochzeiten, mehr als genug Gelegenheiten, meine Tagesordnung zu berauben.

»Und was wird morgen?«, fragte Mutter besorgt.

»Sorge dich nicht um morgen«, gab Peter zurück. »Was wird in einer Woche sein? Das ist die Frage. Das Morgen ist zu ertragen, das Übermorgen auch, aber wie soll das alles enden?«

»Treffen wir uns dann am Baum?«, fragte ich lässig, als wäre es mir nicht so wichtig.

»Nein.« Leon wandte sich lachend ab. In Sachen Liebe war sie mir immer um eine Nasenlänge voraus.

2

Als ich klein war, hatten mein Vater und ich ein festes Ritual. Jeden Abend vor dem Schlafengehen rief er mich zu sich und legte mir die gespreizte Hand aufs Gesicht. Ich verschwand darunter. Seine Fingerspitzen fühlten sich sehr rau auf meiner Stirn an.

»Wenn du mal groß bist, mach das auch mit deinem Kind«, flüsterte Vater und lächelte.

»Wenn wir groß sind, heiraten wir«, sagte ich entschieden und versuchte sofort, Leons Gedanken zu lesen.

»Vielleicht, mal sehen«, erwiderte sie, und ich war sicher, sie wusste, dass sie wunderschön war.

Ich pflückte eine gelbe Blume vom Straßenrand, zupfte die Blütenblättchen ab und klebte sie ihr auf die Fingernägel. In Sekundenschnelle schmückten zehn gelbe Blättchen ihre Fingerspitzen. Das Gelb betonte ihre blauen Augen, und sie ging in der gelben Landschaft auf.

»Komm, ich meine, ich habe was Passendes gefunden«, sagte Vater verschmitzt.

»Was?«, fragte ich neugierig.

»Wirst schon sehen, jede Antwort hat ihre Zeit.«

Wir suchten ein Geschenk für Mutter. Jedes Jahr gab Vater sich große Mühe, das perfekte Geschenk für sie zu finden – nicht zum Geburtstag, sondern zu Jom Kippur. Am Versöhnungstag, wenn das ganze Volk Israel Trauer trug, war nur mein Vater glücklich, im Herzen. Ich denke, er liebte diesen Feiertag mehr als alle anderen, weil er und Mutter sich an Jom Kippur kennengelernt hatten. Das war ihr gemeinsamer Festtag. »Gott sei Dank, dass sie den Tempel zerstört haben«, sagte Mutter immer im Scherz.

»Siehst du diese Tür hier?«, fragte Vater.

»Nein.« Ich sah tatsächlich nichts, hätte schwören können, dass da keine Tür war, als ich verneinte.

»Und jetzt?« Er hatte gewartet, bis die Sonne ein Stückchen hinter dem Haus hervorgekommen war.

»Ja. Ich versteh nicht …? Wieso jetzt plötzlich?«

»Komm, aber du musst ganz leise sein.« Es war das erste Mal, dass ich mich als Mitwisser eines Geheimnisses fühlte.

»Versprich, es keinem zu erzählen, Leon?«, bat ich sanft.

»Ehrenwort.«

»Guten Morgen«, sagte Vater durch den schmalen Türspalt.

»Guten Morgen, mein Herr, wir haben auf Sie gewartet«, erwiderte der Mann auf Jiddisch.

Auf einmal wollte ich nicht mehr so gern Mitverschwörer sein, aber es blieb mir wohl nichts anderes übrig. Hinter dem Eingang führten mindestens vierzig Stufen hinab in den Keller. Wir stiegen gemeinsam runter, Hand in Hand, die ganze Treppe war mit Abertausend Büchern gesäumt, die die gesamten Wände bedeckten. Das leuchtende Rot der Einbände tauchte die Stufen in grelles Licht, das sich mit dem Modergeruch in der Luft mischte.

»Der Segen ist nur in verborgenen Dingen zu finden«, zitierte Vater unvermittelt den Talmud.

Mir fiel auf, dass jede Stufe aus einem anderen Holz mit ganz unterschiedlichen Maserungen gefertigt war. Von Weitem sah es aus, als wollte jede Stufe vor der nächsten flüchten und in einen anderen Keller führen.

»Pass auf, die letzte ist höher«, sagte Leon, von Stufe zu Stufe hüpfend. »Ich denke, ich werde dich doch heiraten«, fügte sie wie nebenbei hinzu.

»Mal sehen, ich werd’s mir überlegen«, gab ich stolz zurück.

»Na, wann sind wir denn da?«, rief sie mir zu.

»Gleich, das musst du sehen«, japste ich, denn ich konnte die Tür nicht finden.

»Pass auf, die letzte ist höher«, warnte Vater leise. In diesem Moment wurde mir klar, dass er schon hier gewesen war und den Ort gut kannte.

»Ich habe was ganz Besonderes für Sie. Es wird Ihnen sicher gefallen.« Woher dieser Verkäufer wohl wusste, was meinem Vater gefiel. Sie waren offenbar Freunde. »Ich habe sie erst kürzlich reinbekommen«, fuhr er fort und zog eine Schublade in dem Schrank hinter sich auf.

Während er darin kramte, dachte ich, wie schade, dass Leon nicht da ist. Welche Bilder ihr wohl bei diesem Mann einfallen würden. Er sah sehr gut aus mit seinen schwarzen Augen und dem hellen Haar. Sein langer Bart war außergewöhnlich: dick und voll, aber beinahe durchsichtig, so sehr, dass ich die Gesichtszüge sehen konnte, die sich darunter verbargen. Er trug einen langen Kittel in einer Farbe, die wie Dunkelblau aussah, bei dem schwachen Licht im Laden aber kaum zu identifizieren war.

»Ich sehe nichts, wirklich nicht«, sagte Leon, bereits leicht verärgert.

»Ich schwöre dir, hier war eine Tür, durch die mein Vater und ich reingegangen sind.« Ich begriff nicht, wohin die Tür verschwunden sein konnte.

»Wir werden warten müssen, bis die Sonne aufgeht«, fügte ich leicht verunsichert hinzu.

»Vielleicht irrst du dich?«

»Und wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann plötzlich.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Die Bahnfahrt zu dem Schiff, das in Triest wartete, dauerte stundenlang, und ich war gerade erst aufgewacht und hatte mein Buch zu lesen begonnen. Er war ein auffallend gut aussehender, elegant gekleideter Mann, ein seltener Anblick zu Kriegszeiten. Braucht ein König ein Königreich?, überlegte ich.

»Ich-heiße-Ladislaw«, antwortete ich in einem Schwung, fast ohne Zwischenraum zwischen den Wörtern. Vater und Mutter hatten mir eingeschärft, ja mit niemandem zu reden, und ich wollte kein weiteres Gespräch ermutigen.

»Ich hatte mal einen Geschäftspartner, der auch Ladislaw hieß.«

Ich starrte wieder in mein Buch, lächelte aber verbindlich, um ihn nicht zu beleidigen.

»Weißt du, wir hatten das größte Geschäft im VIII. Bezirk. Das allergrößte, jeder wusste, dass man Blumen bei uns kauft.«

Während ich unverwandt auf die Seiten blickte, hörte ich die Dame rechts neben mir sagen: »Sie hatten einen Blumenladen? Wie schön.«

»Einen Blumenladen? Das war kein Laden, es war ein ganzes Feld. Ein Blumenfeld mitten in der Stadt«, schwärmte er mit ausholender Geste.

Nun sah ich doch von meinem Buch auf.

»Eigentlich war unser Geschäft eine Buchhandlung, das heißt, so hat es angefangen. Mein Großvater war ein bekannter Buchbinder in Wien, und als ich das Geschäft von meinem Vater übernahm, wollte ich es verändern, denn mir waren lebende Blumen allemal lieber als tote Bücher.«

»Wie kann ein Buch tot sein?«, fragte ich im Namen des Buches, das ich in Händen hielt.

»Worte, Worte. Weißt du, wie viele Wörter ein Mensch in seinem Leben sagt? Millionen. Was bleibt davon?«

»Eben ein Buch«, bemerkte die Frau.

»Ganz falsch! Was ist schön an Wörtern, wenn wir sie in ein Buch stecken, zwischen zwei Deckel sperren und in der Bibliothek ersticken?«

Die Frau lehnte sich zurück, sah mich Hilfe suchend an und reckte den Hals, was ihr markantes, dreieckiges Kinn betonte.

»Eine Blume hingegen – sie erblüht, ist schön, erfreut und stirbt. Sie hat das Ihre getan. Versteht ihr? Sie versucht nicht, aus dem Grab aufzuerstehen und uns verrückt zu machen.«

»Aber in Büchern steckt doch so viel verborgene Wahrheit, so viel Schönheit, menschliches Erleben, oder?«

»Eine Wahrheit, an die andere Menschen geglaubt haben, eine Schönheit, die andere Leute zu Tränen gerührt hat. Und was haben wir damit für uns selbst getan?«

»Ich kann mich an den Erlebnissen anderer Menschen freuen«, erklärte die Frau und verschob das Kinn, indem sie den Kopf leicht nach rechts neigte.

»Schauen Sie doch lieber aus dem Fenster. Was sehen Sie? Ehrlich, was sehen Sie da?«

»Ich sehe einen grünen Hügel, ein paar Häuser drauf, oje, das fliegt hier so schnell vorbei, da ist auch eine schmale Straße mit einem Auto, das vom Meer rauffährt.«

»Na, Junge, verstehst du jetzt, was ich meinte? Die Leute schauen nicht mehr hin und sehen nichts mehr.« Er zog enttäuscht die Augenbrauen zusammen und sah mich an.

»Na, bist du stumm? Wie heißt du, Junge?«, fragte der bärtige Verkäufer hinter der Theke.

»Er ist etwas verträumt«, sagte Vater entschuldigend.

»Ich heiße Chaim«, antwortete ich nervös.

»Ich glaube, Sie müssen an einem anderen Tag wiederkommen, ich finde es nicht«, sagte der Verkäufer mit Nachdruck.

»Wir können noch ein wenig warten. Chaim, schau mal im Nebenzimmer, was er dort hat«, sagte Vater und deutete auf den anderen Raum.

»Komm, mein Junge, möchtest du sehen, was das ist?«, fragte mich der bärtige Verkäufer. »Das ist eine Kamera, ein bisschen alt, funktioniert aber noch prima.« Er lächelte.

So einen Fotoapparat hatte ich noch nie gesehen. Er stand auf zwei Beinen, schien groß und stabil. »Vater, können wir noch ein bisschen hierbleiben?«, fragte ich. Der Fotoapparat interessierte mich.

»Ja, amüsiere dich nur, kein Problem.« Vater hatte es plötzlich nicht mehr eilig.

»Sollen wir ihn mal ausprobieren? Komm, setz dich hierhin, und ich fotografiere dich. Sieh mich an, ohne zu lächeln.«

Ich setzte mich und machte ein ernstes Gesicht. Der Mann verschwand hinter dem Apparat und kam nach einiger Zeit wieder zum Vorschein.

»Das war’s, ich habe dich abgelichtet«, sagte er.

»Kann ich das Bild kriegen?«, fragte ich schüchtern.

»Ah …«, der Mann geriet ins Stammeln und sah Vater an.

»Ich hol dir das irgendwann ab. Keine Sorge. Gut, wir können jetzt wohl gehen, ja?«, sagte Vater hastig.

»Dann benachrichtige ich euch, wenn ich das bewusste Ding gefunden habe, und ihr kommt wieder.« Der Bärtige und mein Vater sahen sich einverständig an.

»Warum hat er mich gebeten, nicht zu lächeln?«, fragte ich Vater, als wir draußen waren.

»Nur so. Vergiss es.« Vater gab mir die Hand, und wir stiegen die engen Treppen hinauf zu unserer Tür. Die Straße wimmelte von Menschen und Verkehr. In den Minuten, die wir dort unten gewesen waren, hatte ich den Lärm unserer Straße ganz vergessen, und erst kurz nach dem Hinausgehen stellte ich überrascht fest, dass die Straße noch da war.

»Hast du Angst, höher raufzuklettern?«, fragte Leon und zog einen Mundwinkel runter, wie immer, wenn sie was Nervendes sagte.

»Ich habe keine Angst, ich finde einfach, das ist hoch genug, wir müssen ja einen Haufen Dinge hochschleppen«, antwortete ich männlich bestimmt. Wir hatten vor, uns ein Haus zu bauen, einen Palast, genauer gesagt, auf dem gelben Baum im großen Garten. Alle Bäume dort waren grün, nur unserer schimmerte gelb. Ich bin mal mit Mutter hier spazieren gegangen, und sie hat gesagt, er sei gelb, weil er sich erinnere.

»Du versprichst doch, Mutter nichts zu sagen, ja?« Vater tat sehr geheimnisvoll.

»Was haben wir denn dort gewollt?«, fragte ich neugierig.