Die vier Tagebücher - Richard Mecke-Schrod - E-Book

Die vier Tagebücher E-Book

Richard Mecke-Schrod

0,0
9,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Krimi mit Tiefgang Den Therapeuten und alleinerziehenden Vater Robert Grohe wirft ein Telefonat aus Rumänien völlig unerwartet aus dem Alltag. Entpuppt sich eine im rumänischen Donaudelta gefundene, unansehnlich zerschundene Wasserleiche als sein Vater Johannes? Was passierte, nachdem dieser sich in seinem kleinen Boot auf den Wasserweg vom Rhein-Main-Gebiet in das Donaudelta aufmachte, einen langen Lebenstraum zu verwirklichen? Musste er sterben? Puzzleteile, nachträglich aus vier Tagebüchern seiner Kinder Marie und Noah, sowie des Vaters Johannes extrahiert, werden allmählich zu einer Gesamtperspektive. Für Leser eröffnen sich nicht nur innere Bilder der Natur- und Kulturlandschaften entlang des Donaulaufes, sondern mit Roberts Suche nach seinem Vater im Grenzgebiet zum russischen Kriegsschauplatz Ukraine parallel ein beängstigendes Abenteuer. Sind uniformierte rumänische Staatsbedienstete, vielleicht die attraktive Polizistin Luana auf seiner Seite? Eine Romanze mit Hindernissen, denn: Wer ist Freund, wer Feind? Ein Kriminalroman, der sich für die Protagonisten und alle Lesenden ganz nebenbei mit seelischem Tiefgang entpuppen könnte, denn die Tagebücher seiner Kinder reflektieren immer wieder die "Sonntagsgespräche" mit dem Vater, in denen Erkenntnisse des Menschseins verborgen liegen...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Kapitel 1 Leben ist Veränderung
1.1 Schreckensnachricht
1.2 Sonntagsgespräche
1.3 Arm an Bedürfnissen
1.4 Duo Leben und Tod
1.5 Bootsträume
1.6 Ungewissheit
1.7 Vatergefühle
1.8 Ichgefühle
1.9 Lebenswende
1.10 Vater und Sohn
1.11 Sohn und Vater
1.12 Sein
1.13 Unklar
1.14 Gefühlserkenntnisse
1.15 Vorbereitung
1.16 Liebe
1.17 ...oder Sünde
1.18 Fabiu
1.19 Loslassen
1.20 Der Zauberbaum
1.21 Zuhause
Kapitel 2 Ungewissheit
2.1 Auf dem Weg
2.2 Bedingungslos
2.3 Muster
2.4 Im Hier und Jetzt
2.5 Tomatensaft
2.6 Denkprobleme
2.7 Securitate
2.8 Ankommen
2.9 Verliebt
2.10 Geheim-Ring
2.11 Tulcea
2.12 Gemischte Gefühle
2.13 Stich im Herz
2.14 Tour des Lebens
2.15 Wende
2.16 Verpasst
2.17 Die „Delta“
2.18 Entzweit
Kapitel 3 Gewissheit
3.1 Leichenschau
3.2 Neues
3.3 Im Fluss
3.4 Das Eine suchen, anderes finden
3.5 Vom Fühlen zum Handeln
3.6 Routine
3.7 Zeugen
3.8 Wahre Welt
3.9 Mensch – Computing – Cloud
Kapitel 4 Verwirrung
4.1 Erkenntnisse
4.2 Geheimnisvoll
4.3 Warnton
4.4 Deltafahrt
4.5 Donauauen
4.6 Entziffert
4.7 Gedankenwende
4.8 Vollhorst
4.9 Wertfrei
4.10 Klarstellung
4.11 Zwischenland
4.12 Begegnung
4.13 Ungeniert
4.14 Jenseits von Raum und Zeit
4.15 Frühstück der Ruderer
4.16 Dämmerung
Kapitel 5 Licht im Dunkel
5.1 Erhellend
5.2 Illegal
5.3 Downstream
5.4 Kontakt
5.5 Eins fühlen
5.6 Gescheitert
5.7 Puzzle
5.8 Geheimtreff
5.9 Höhle des Löwen
5.10 Alles anders
5.11 Unerkannt
5.12 Unruhe
5.13 Wiedersehen
5.14 Austausch
5.15 Rückruf
5.16 Spürsinn
5.17 Waffenbrüder
Kapitel 6 Herzzerissen
6.1 Konzertiert
6.2 Alternativ
6.3 Sorgen
6.4 Bootssturm
6.5 Drama Trauma
6.6 Zuwendung
6.7 Heilsam
Epilog

 

Die vier Tagebücher

 

Von Richard Mecke-Schrod

www.prokreativ.de

 

Für alle, die am liebsten Krimis lesen. Und zugleich gerne einmal über Tellerränder hinausschauen.

 

Buchbeschreibung:

Vier Tagebücher aus drei Generationen.

Im Mittelpunkt der Suche nach dem Vater: Robert Grohe.

Ihn erreicht an seinem therapeutischen Arbeitsplatz völlig unerwartet ein Telefonat der rumänischen Ermittlungsbehörde sowie der deutschen Botschaft in Rumänien.

Entpuppt sich eine unansehnlich zerschundene Wasserleiche als sein Vater Johannes, der sich in seinem kleinen Boot auf den Wasserweg vom Rhein-Main-Gebiet in das Donaudelta aufmachte, um einen langen Lebenstraum endlich zu verwirklichen? Musste er sterben?

 

Für Leser eröffnen sich nicht nur innere Bilder der Natur- und Kulturlandschaften entlang des Donaulaufes*, sondern mit Robert Grohes Suche nach seinem Vater parallel ein beängstigendes Abenteuer, das ihn unversehens aus seinem wohl behüteten Leben als Therapeut und alleinerziehenden Vater herausreißt.

Seine Kinder Marie und Noah reflektieren dabei immer wieder in ihren Tagebucherinnerungen der „Sonntagsgespräche“, situativ passende Lebenserkenntnisse zu unserem Menschsein und Werte ihres Vaters.

Ob diese ihm, bislang eher als philosophischen Verbal- spezialisten auffallend, nun auch praktisch bei seinen bedrohlichen Ereignissen im Donaudelta, dem Grenzland zu umkämpften Gebieten der Ukraine helfen können?

Sind uniformierte rumänische Staatsbedienstete, vielleicht die attraktive Polizistin Luana auf seiner Seite? Eine Romanze mit Hindernissen, denn: Wer ist Freund, wer Feind?

 

Ein Puzzle, einzelne Puzzleteile nachträglich aus vier Tagebüchern seiner Kinder Marie und Noah, sowie des Vaters Johannes und seinem extrahiert, werden allmählich zum Bild.

Ein Kriminalroman mit authentischen Anteilen, der aufzeigt, wie ein ganz normales Leben plötzlich zum Krimi werden kann.

Ungewiss diese Traumreise, die sich für die Protagonisten der Handlung wie die Lesenden ganz nebenbei mit seelischem Tiefgang entpuppen könnte ...

 

Hinweis

Viele der Tour-Orte (im Text kursiv dargestellt) können sie in einer Internetsuche bebildert finden und so die Geschichte noch lebendiger werden lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über den Autor:

Richard Mecke-Schrod - Jahrgang 1962,

Vater von drei Söhnen - hat als Autor sowie Layouter bereits mehrere Bücher verschiedener Genres initiiert, layoutet, geschrieben und veröffentlicht.

Ein vielseitig interessierter und engagierter Autor, der zugleich als Tischler, Diplom-Ingenieur im Fachbereich Architektur mit Fachrichtung Innenarchitektur ausgebildet, sowie als Mediengestalter tätig ist.

Nach einer Nahtoderfahrung erweiterten sich seine Ausbildungen und Tätigkeiten zum Yogalehrer, Meditationslehrer, Gongtherapeuten und Gongausbilder.

Als Heilpraktiker für Psychotherapie und Hypnotherapeut kann er weitere abgeschlossene Ausbildungen und viele Jahre der erfolgreichen Berufspraxis aufweisen.

 

 

In diesem Buch mag das Einfließen dieser zahlreichen Lebenserfahrungen, Werte und Erkenntnisse - eingebettet in ein spannendes Abenteuer an Europas Außengrenze - zugleich Inspiration aller Suchenden zu sich selbst werden..

Die vier Tagebücher

 

Traumreise ins Ungewisse

 

Von Richard Mecke-Schrod

www.prokreativ.de

 

Impressum

Autorenschaft, Umschlaggestaltung und Satz

Richard Mecke-Schrod . www.proKreativ.de

Friedhofstr. 2 . 64823 Groß-Umstadt

 

 

 

 

 

 

 

Bild- und Fontnachweise:

 

Mit freundlicher Genehmigung und freier Lizenz von Unsplash und den Autoren.

Foto Bootsbugmotiv von Erika Radisavljevic (Uyob2GNSP-M) auf Unsplash

Foto Buchmotiv von Syd Wachs (slItfWbhijc) auf Unsplash

Foto Blättermotiv von Sincerely Media (DgQf1dUKUTM) auf Unsplash

Print Fonts Arial sowie Wittgenstein, Arsenal SC unter der SIL Open Font License

 

Als Hardcoverbuch veröffentlicht mit tolino media

ISBN 9783759229977

 

 

 

 

1. Auflage, 2024

© 2024 Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

Kapitel 1 Leben ist Veränderung

 

Prolog Tagelang und übermüdet, dennoch hellwach. Ich, Robert, sitze einmal mehr auf dem Dachboden, kopiere aus vier verschiedenen, halb vergessenen und eingestaubten Tagebüchern einzelne Tage als Handyfoto heraus, mache zu den Dateien Notizen. Einzelperspektiven der jeweiligen Verfasser, meines Vaters Johannes und meiner Kinder Marie und Noah. Schnipsel und deren Randnotizen sind dabei wie Puzzleteile, Erinnerungen vergangener Dialoge, die ich mir wieder ins Leben rufe als verschiedene Blickwinkel des gleichen Geschehens. Intention ist es, die Ereignisse dieses absurden und irreal erscheinenden damaligen Jahres in einem – eben dem vorliegenden – gemeinsamen Werk puzzlegleich und neu abgefasst zusammenzufügen.

 

Der Erkenntnis wegen war und ist alles von Wert, wenngleich manches im Gedächtnis sich wie Kleber an Fingern anfühlt, man die Emotion nicht loszuwerden scheint.

 

 

Wir reifen einander.

Es war wie ein leichtes Kribbeln im Nacken. Nicht gleich, aber seit den letzten Metern meines Weges war da das Gefühl verfolgt zu werden. Umdrehen wäre verräterisch. Ich besäße einen Vorteil, wenn der Verfolger glaubte, ich hätte nichts bemerkt. So lief ich direkt auf eine große unbeleuchtete Fensterscheibe im nächsten Gebäude zu, um zu sehen, was sich meiner rückseitig darin spiegelte. Ich versuchte, mir das Bild der Menschen einzuprägen, es im Erinnern nochmals nach Auffälligem zu scannen. Ich konnte mir nicht sicher sein, es brauchte mehr Bilder zum Vergleich. Eine weiteres, gut platziertes Fenster mit dunklem Hintergrund und somit spiegeltauglich wollte aber einfach nicht kommen. Im Laufen griff ich vorsichtig nach dem Handy, schob es bei eingeschalteter Kamerafunktion im Serienbildmodus mit der Linse ein klein wenig über meine Schulter um dann im Gehen unauffällig die Aufnahmen zu vergleichen. Da war die gleiche Person schon wieder. Auch in der nächsten Straße erneut im Bild. Doch dann wurde der Abstand größer, wenngleich die Richtung gleich blieb.

Entweder hatte ich mich getäuscht und hatte schon Hirngespinste oder der neue Sicherheitsabstand ließ darauf schließen, dass ein Verfolger wusste, wohin mein Weg führte.

Ich wollte lieber nichts riskieren und nutze den großen Abstand, um hinter der nächsten Straßenecke, die zugleich kurz vor der Wohnung war, eben nicht in den Hof zu gehen, sondern blitzschnell in den spinnenverwobenen hölzernen Fahrradschuppen des Nachbarn gegenüber zu schlüpfen.

Ich griff erneut zur Jackentasche, vergewisserte mich wie schon unterwegs immer wieder, des kalten metallischen Gefühls. Kurz abgelenkt, erspähte ich gerade noch den Verfolgerschatten, der soeben im Hoftor des Mehrfamilienhauses der anderen Straßenseite verschwunden war.

Beklemmung stellte sich ein, als mir klar war, dass ich den Atem des Verfolgers fast hätte spüren können. Nur Sekundenbruchteile trennten uns. Das Licht im Treppenhaus sprang durch den Bewegungsmelder an, wie immer, wenn jemand die Haustüre nach oben passiert hatte. Ich nahm den Moment wahr, um mich schnell an der Eingangstür vorbei durch die Hofeinfahrt und den Garten zum hinten angrenzenden Nachbargrundstück zu schleichen. Dort hatte ich eine gute Viertelstunde später alles wie verabredet erledigt, und zurück beim Wohnhaus schien es jetzt mäuschenstill zu sein. Zur Vorsicht ließ ich weitere zähe Minuten verstreichen. Immer wieder lauschend und mich der Stille vergewissernd ab, hieß es abwarten, bevor ich es endlich wagte, zurück in die überbaute Hofeinfahrt und dann in die seitliche Hauseingangstür nach oben zur Wohnung im Mietshaus zu huschen.

 

Im Wendepodest des Treppenhauses trafen sich für den Bruchteil eines Moments unsere Blicke. Ein dumpfer Schmerz, dann war alles schwarz. Nichts.

 

1.1 Schreckensnachricht

Robert Grohe

Unerwartet klingelte das Telefon. Ein östlicher Akzent. Irritierend die Gesprächseröffnung in Englisch. Die Politie Penala, das rumänische Pendant der deutschen Kriminalpolizei, beorderte mich hiermit in das Städtchen Tulcea, wenn ich die näheren Umstände des mutmaßlichen Ablebens meines Vaters nachvollziehen wolle. Man habe neben der Wasserleiche seinen Pass gefunden, eben des Mannes, der nach Recherche der dortigen Polizei mein Vater war. Entpuppte sich eine offenbar „unansehnlich zerschundene Wasserleiche“ als mein Vater Johannes, der sich mit dem Frühjahr in seinem kleinen Boot auf den Wasserweg vom Rhein-Main-Gebiet in das Donaudelta aufgemacht hatte, um einen langen Lebenstraum noch zu verwirklichen?

„You will need a rumanian translator“, ich bräuchte einen Dolmetscher für die rumänische Sprache, verklausulierte mir in gebrochenem englischen Buchstabensalat der einzige Diensthabende, mit dem eine Kommunikation dergestalt überhaupt möglich war. Es sei unklar, ob mein Vater aus dem ukrainischen Izmajil kommend in den rumänischen Canal Mila 36 oder den Canal Trofilca in unwegsames Gelände des Donaudeltas aktiv gefahren sei. Vielleicht wäre er auch schon leblos im Wasser getrieben. Genau so könne er diese Kanäle aber von Tulcea ausgehend, also über rumänisches Gebiet erreicht haben. Aufgrund der seit Jahren unsicheren politischen Lage auf ukrainischer Seite und des tatsächlichen Auffindens im rumänischen Deltabereich, sei es aber der beste Weg, die letzten Vorgänge der Lebenstour meines Vaters von europäischem Boden aus zu ergründen.

Ich überlegte damals, wie ich dorthin käme, entlang des Flusses, wie mein Vater, oder möglichst schnell per Flug vom Frankfurter Rhein-Main-Airport nach Bukarest, mit Kleinflugzeug zum Tulcea-Airport und dann mit einem Leihwagen weiter. Den ganzen Weg von zuhause mit Auto und angehängtem Bootstrailer zu fahren, wäre aufwendig, würde es mir aber ermöglichen, den kleinen „Nachen“ meines Vaters, eine nicht einmal an sechs Meter Länge heranreichende dunkelblaue holländische Sloep mit beiger Verdeckplane – „ideal zum Campieren“, wie er beim Kauf mit seinen fast 70 Jahren argumentierte – wieder heimzuholen. Seine Heimholung, der Sargtransport, müsste parallel mit dem Flugzeug erfolgen. Alles könnte bald geschehen. Vorausgesetzt, es handele sich um einen natürlichen Tod, so die Einschränkung des Rumänen. „Klären sie weiter mit Ihre Botschaft“, endete nun im gebrochenen Deutsch das Gespräch.

Leere. Denken und Verstehen setzen von jetzt auf gleich aus.

 

1.2 Sonntagsgespräche

Aus Noahs Tagebuchnotizen

„Du hast uns die erstaunliche Geschichte der Traumreise von Opa Johannes noch nie wirklich in allen Details erzählt, Papa“, begann ich diesen Sonntag das Frühstücksgespräch. Meine zwei Jahre ältere Schwester Marie pflichtete mir mit anspornender Absicht „erzähl schon“ bei. Es war damals bis heute sonntags immer wieder das gleiche Ritual, wenn endlich einmal alle gemeinsam und ohne Termine und Verpflichtungen beim Frühstück saßen und nach Stillen des ersten Hungers eine Lücke im alltäglichen Zeithorizont aufriss. Die Lücke, der Raum für diese besonderen Sonntagsgespräche, öffnete sich beim Frühstück mit dem Wochengeschehen der Anwesenden. Ihr Verlauf tangierte dann oft den Blick in die Welt und schnell nahm es eine rasante Entwicklung bis hin zum Sinn unseres Lebens. Sie wurden irgendwie zum Weg, uns Kindern die Existenz unseres Menschseins, zumindest wie Papa es momentan erkennen konnte, näher zu bringen.

1.3 Arm an Bedürfnissen

Aus Johannes‘ Tagebuchnotizen

Wie oft hatte ich davon geträumt mir einem kleinen eigenen Boot vom Main, in dessen Nähe Kindheit und große Teile meines Lebens spielten, über den Main-Donau-Kanal in die Donau und dann bis zum Schwarzen Meer zu kommen. Warum dahin, kann ich eigentlich nicht sagen. Nie war ich in Rumänien, nie am Schwarzen Meer, nichts wusste ich vom Donaudelta, rein gar nichts.

Ohne ein geografisches Ziel vor Augen sehe ich mich als vielleicht Drei- oder Vierjähriger wie in einem eingebrannten Bild in einem initialen Moment am heimischen Esstisch: Das Flusstreiben nahm da seinen Beginn, wie mir mein großer Bruder Günter beim Besuch ein kleines Plastikboot mit dunkelblauem Rumpf und vanillefarbenem Kabinenaufbau mitbrachte. Ein unerwartetes Mitbringsel. Um die kindliche Bedeutung in heutigen Zeiten des Überflusses zu begreifen, mag es wichtig sein, zu wissen, dass in meiner Kindheit Geschenke selten waren. Wenn, dann gab es etwas nur zu Weihnachten oder am Geburtstag und inhaltlich meist praktisch: der ohnehin notwendige Winterpullover, das Schulmäppchen, eine neue Brotbox. Es kam vor, dass mir eine Tüte benutzter Legosteine des drei Jahre älteren Paten, dem Sohn meines Onkels väterlicherseits, vermacht wurde. Ein gebrauchter Datumsstempel mit Stempelkissen aus deren kleiner Dorfmetzgerei war einmal ein Highlight zum Geburtstagsgeschenk von meinem Paten. Die Enttäuschung als dessen Mutter nach einer Woche alles mit den Worten „das war ein Versehen, wir brauchen den doch noch“ wieder abholte, umso größer. Dem Glück und dem Leben waren nicht zu trauen. Erfahrung zeigte einmal mehr, erwarte nichts, du hast nichts zu erwarten. Die Armut an Spielzeug wurde mit kreativen Mitteln kompensiert, eine überschüssige gedrechselte Rundholzstrebe der heimischen Holztreppe reichte in der Fantasie zum Gewehr, um am Fastnachtstreiben mangels Spielzeugwaffe mit zu spielen. Möglicherweise war dies die Basis für manche kreative Idee in meinem Leben, gewiss aber dafür, mit wenig zurechtzukommen.

„Wahrer Reichtum ist die Armut an Bedürfnissen“, konnte auf diese Weise von theoretisch schön anmutenden Worten zum gelebten Leitfaden werden. Dieses kleine „Brudergeschenk“-Boot aber, es wanderte mit mir fortan stets in die Badewanne. Es wartete auf der im winzigen Baderaum des Kindergeschosses befindlichen Zanker Wasch- und Schleudereinheit, wenn vor dem samstäglichen Bad der Heizstrahler und elektrische Wasserboiler angeworfen wurden. Erst wenn das Badewasser kaum noch Wärme besaß, das kindhafte Lippenrot einen bläulichen Farbstich bekam, kam die schon mit meiner Geburt bald 50-jährige Mutter die Treppe hinauf geschnauft, um mich auf der Waschmaschine abzutrocknen. Während ich mein zweifarbiges Boot von der einen in die andere Hand nahm, um das Abtrocknen zu ermöglichen, ohne loszulassen.

 

1.4 Duo Leben und Tod

Aus Maries Tagebuchnotizen

An einem grauen, verregneten Ostersonntag eröffnete Papa einmal mehr unser Sonntagsgespräch. Gesprächsfetzen und Gedankengänge, die den tristen Regentag zumindest in dieser Zeit vergessen ließen, kommen mir in den Sinn. Es ging nämlich um Leben und Tod und die Angst dazwischen. Diese Gesprächserinnerungen spielten später in meinem Kopf immer wieder eine Rolle, als Papa auf der Reise zu Opas Leichenidentifizierung war.

„Was passierte eigentlich an Ostern genau? So einen zerschundenen Jesus zu sehen, erschreckt mich. Da bekomme ich Angst vorm Sterben.“

„Ja Marie, das kann ich gut verstehen“, erwiderte an diesem Sonntagsfrühstück einmal mehr mein Vater Robert mit einfühlsamer Stimme. „Ich glaube, alle Menschen haben zunächst Angst zu sterben, und deshalb reden sie am liebsten nicht davon und denken nicht daran. Am Karfreitag vor Ostern tragen die Kirchen das Leiden Jesu vielerorts dann spürbar bis in die Wohnzimmer. Wir sehen Kirchen, deren Wandschmuck oft bis heute mit den Kreuzwegstationen ein blutig grausames Bild inszeniert.“

„Schrecklich.“

„Ja, aber irgendwie ist Leiden und Tod zugleich offenbar schon immer faszinierend für Menschen, oder?“

„Das meinst du nicht wirklich!“

Aber Papa meinte es genau so. Er erinnerte an ein früheres Gespräch über die Römerzeit, den Zirkus Maximus, wo Menschen vor lüstern jubelnden Zuschauern von Löwen zerrissen wurden, Gliedmaßen abgehackt wurden. Kriegshefte, die blutig brutale Szenen des Krieges verherrlichend und fern jeglicher menschlichen Empathie darstellen und nach dem Krieg in Deutschland fast 60 Jahre ihr Publikum fanden. Einmal ging es um James Bond und alle Krimis. Paps führte uns vor Augen, dass viele in den letzten Jahren hautnah immer mehr gewaltbetonte Szenen als publikumswirksam, fesselndes Mittel zeigen. In den Nachkriegsjahren hatten die Menschen genug von Gewalt erlebt, und die Filme hätten diese Szenen ausgespart, so berichtete Paps weiter. „Vergessen wir nicht die Videospiele oder gerade die Spielszenen am Handy deines Bruders Noah, …oder mein lieber Noah?“

Noah schaute wohl kurz auf und versank wieder in seinen Aktionen mit zappelndem Daumen am Smartphone. Heute offenbar ganz im Spielrausch versunken.

„Solche Filme mag und kann ich nicht ansehen.“

„Aber viele andere Menschen offenbar schon. Und je mehr und deutlicher man dies zeigt, umso mehr scheint es vielen ‚alltäglich-erträglich‘ zu werden. Menschen stumpfen ab, wie auch im Krieg. Mein verstorbener Opa Karlo erzählte einmal aus der Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit traurig müder Stimme:

>> Robert glaub mir, es dauert keine zwei Wochen, dass der Mensch alles, was man kulturelle Errungenschaft nennt, verliert. Dreihundert entwaffnete Soldaten, darunter ich und weitere frisch Amputierte aus dem Hospital kauerten in Andernach am Rhein hinter drei Meter hohem Stacheldraht in einem freien Gefangenenlager. Alliierte Soldaten hatten mich und andere aus dem Soldatenhospital herausgeholt und zu den anderen Gefangenen gesteckt. Mein frisch mit handwerklicher Säge amputierter Beinstumpf blutete und nässte immer wieder aufs Neue. Es war zerstörerisch für den Körper, weil Hunger und Durst uns innerlich bereits zerfraßen. Zerstörerisch für die Psyche, weil niemand wusste, was gleich geschehen würde. Todesangst. Ein amerikanischer Wachsoldat schnippte plötzlich seine fast zu Ende gerauchte Kippe durch den Zaun. Diese zehn Millimeter noch rauchbaren Tabaks waren Anlass dafür, das zwei der drei gefangenen Soldaten, die sich darum prügelten, zuletzt erschlagen dalagen. Zu Tode geprügelt. Und der eine zog dreimal an der Zigarettenkippe. Keine zwei Wochen und es gibt nicht einmal mehr einen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Nein, selbst Tiere hätten mehr Menschlichkeit <<So endete mein Opa die Erzählung und mir verschlug es damals die Sprache. Was sollte ich darauf auch sagen. Aber ich merkte es mir.“

Auch ich wusste an unserem Frühstückstisch nicht, was ich darauf sagen sollte. Die authentisch erlebte und weitergegebene Realität ließ nun auch meinen Bruder Noah aufhorchen. Es war wohl spannender, wie die Virtual Reality seines Ballerspiels aus der er jetzt auftauchte.

„Und was ist mit Opa passiert?“, fragte er.

„Er hat Krieg und Gefangenschaft überlebt und seine Familie gegründet. Irgendwann – er hatte ja nur noch ein Bein – holten ihn Phantomschmerzen und sein Gewissen über die schrecklichen Erinnerungen des Krieges ein. Tage- und nächtelang lag er manchmal schreiend im Bett, ging nicht mehr zur Arbeit“

„Was ist denn das, Fantom…?“, wollte Noah nun wissen.

„Stell Dir vor, Dein Fuß tut weh oder juckt, du hast aber gar keinen Fuß mehr, den du kratzen kannst. Der Krieg geht weiter, auch wenn er angeblich vorbei ist, setzt er sich in den Schicksalen der Menschen fort. Bei denen ohne Schicksalserlebnisse setzt er sich aber in unwissenden Köpfen fort, wenn sie beispielsweise spannend angerührt ein Landserheft lesen oder einen verherrlichenden Kriegsfilm sehen.“

Ich weiß noch, wie ich zurückwollte zu meinem unangenehm begleitenden Lebensgefühl und was ich zu Papa sagte: „Hast Du meine Frage ganz vergessen, woher kommt denn nun aber meine Angst vorm Sterben, Papa?“

„Du, einfach jeder Mensch erkennt ob an Bildern, Geschichten oder tatsächlich sterbenden Mitmenschen, unser – nein jedes – Leben endet irgendwann. Ganz gewiss. Da ist die Erkenntnis, die Wahrnehmung unserer Existenz, das Sein als Mensch und gleichzeitig die Gewissheit eines späteren Nicht-Seins als Mensch.“

„Was wird aber dann sein?“, warf Noah damals ein.

„Eine schwere Frage, deren Antwort nicht denkbar, aber sicher allen einmal wahrnehmbar sein wird“, antwortete Paps. „Schaut einmal, es ist ganz schön komisch: Wir werden geboren, empfinden unsere Existenz. Das Einzige, was wir aber vom Leben wissen können, ist der sichere Tod. Wir wissen nicht, was unser Leben dazwischen für uns bereithalten wird an Erlebnissen und Erfahrungen, das Einzige, was sicher ist, ist dieser Tod, ein Übergang zu etwas scheinbar Unbekannten. Was können wir also wissenschaftlich gesichert formulieren? Leben und Tod bleiben immer als untrennbares Paar zusammen.

Diese Stelle erinnerte ich immer wieder, ging es um Opas Lebensreise zum Schwarzen Meer und alle damit verbundenen Geschehnisse. „Ist es nicht irgendwie verrückt, dass uns etwas beängstigt, was absolut ‚normal‘ ist“, fuhr Papa fort. „Und es ist ein noch verrückteres Verhalten, wenn wir die unweigerliche Existenz des Todes als Scheinlösung am liebsten verdrängen. Wie Kinder, die sich die Augen zuhalten und dann annehmen, das Ungewollte sei damit verschwunden. Manche können allein das Älterwerden nicht ertragen. Wegschminken, Schönheitsoperationen gehören zu deren scheinbaren Lösungen gegen Ihre Angst vor dem Älterwerden und dem Ungewissen des Todes. Anti-Aging. Und auch die Verbliebenen lassen Ihre Toten noch einmal sehr lebendig die blutlose Haut wegschminken, sie in die Sonntagsgarderobe einkleiden, so dass selbst der Anblick des toten Verwandten im Sarg wie ein Betrug wirkt, den Tod negierend“, dozierte einmal mehr „Paps Robert“, beruflich ja Therapeut, etwas übers Ziel hinaus.

„Warum habe ich denn nun Angst?“, platzte es aus mir heraus. Trotz vielen Gesagtem, schien mir keine greifbare Antwort, noch weniger eine Befreiung der Angst untergekommen zu sein.

„Alle Menschen haben Angst als ein unangenehmes Gefühl. Wenn etwas, was ich nicht kenne, auf mich zukommt, bekomme ich Angst als ein warnendes Gefühl vorsichtig zu sein. Weißt du noch, als ich dich als kleines Mädchen in den hinteren Keller mit dem alten dunkelbraunen Holzschrank für die Vorräte schickte, ein neues Glas Marmelade hoch zu holen, und das Licht plötzlich ausging? Was war dein Gefühl?“

Beim bloßen Gedanken an die Situation der Kindheit fing ich selbst jetzt noch ein bisschen an zu zittern. Papa bohrte weiter und wollte wissen, was zwischen der Irritation als das Licht ausfiel und dem aufkommenden Zittern genau in mir passierte.

„Wenn ich wieder daran denke, merke ich erst einmal das Erschrecken, dann kam mein Nachdenken, was ist, oder ob so was schon mal war oder sein könnte. Und dann ganz schnell kam meine Vorstellung, dass dunkle Gestalten den Kellerflur entlang um die Ecke kämen, und tatsächlich hörte ich Schritte, ich erzitterte, bis du in den Keller kamst und die Sicherung wieder repariertest“, fiel es mir wieder ein.

„Also warum hast du Angst, war deine Frage? Und du hast dir gerade die Antwort selbst gegeben. Was hat dir eigentlich Angst gemacht?“

„Das Dunkle, das Unbekannte.“

„Diese Angst wollte dich nur vorsichtig werden lassen. Deine eigene Vorstellung, die dein eigenes Denken entworfen hat, die dunklen Gestalten im Flur, das war es, das dich in zitternde Panik versetzte, oder?“, hinterfragte mein Vater.

„Ja, stimmt.“

„Also ist es doch unser eigenes Denken, das Geschichten entwirft, was sein könnte, manchmal ganze Romane manchmal sogar mit vielen Fortsetzungsfolgen, was die Angst macht. Hältst du dich für dein Denken, identifizierst dich mit den Denkinhalten, dann machst du selbst dir die Angst. Erkennst du aber, dass und auch, was du denkst, dann ist doch sicher, dass du nicht dein Denken sein kannst, sondern das, was das Denken wahrnimmt. Somit ist es dein Denken, welches dir – sprich der Instanz in dir, die das Denken wahrnimmt – Angst als Gefühl macht, damit du handelst.“

„Nochmal ...“

Paps fasste gerne mal alles zusammen: „Eins – das unangenehme Gefühl ‚Angst‘ kommt gerne bei uns unbekannten Situationen auf, als Stimulation zur Vorsicht. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, der Tod ist so eine grandiose Unbekannte.“

„Zwei – es ist unser Denken mit seinen ersponnenen Geschichten, die unsere Angst größer werden lassen, als es der Situation entsprechend wäre. Das kann bis zur Panik heranwachsen.“

„Drei – wenn wir das Denken für unser Sein halten, sind wir zwangsläufig die Angst.“

„Vier – wenn wir unser Denken erkennen, sind wir das Sein, das die aufkommende Angst und wie sie vom Denken gemacht wird, erkennen.“

Die Frohe Botschaft des Sonntagsgespräches: „Nur was ich erkenne, kann ich verändern.“ Diese Worte von Papa am Ende begannen fortan mein angstvolles Leben zu verändern. Mein Bruder Noah grübelte vor sich hin, das Handyspiel war unwichtig geworden.

 

Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen – denn wenn es geschehen soll, wird es geschehen, und sich endlos Sorgen zu machen, wird es nicht verhindern. Falls es nicht geschieht, dann hätte man eine Menge Zeit damit verbracht, sich unnötig Sorgen zu machen.

Ramesh Balsekar

 

 

1.5 Bootsträume

Aus Johannes Tagebuchnotizen

Auf einmal war da die Erinnerung: Die kleine Terrasse vor dem offenen Küchenfenster. Meine Mutter, die in der Küche werkelt. Ich, nie im Kindergarten gewesen und noch nicht in der Schule. Also vor dem fünften Lebensjahr, da sie mich später mit fünf Jahren als „Kann-Kind“ mit einem Test in die Grundschule schicken würden. Aber jetzt, in der Morgensonne auf der Terrasse mit Blick unter dem haushohen Kirschbaum hindurch in den großen Garten, dessen Ende durch rote und schwarze Johannisbeersträucher gesäumt ist, beginnt das kreative kindliche Bühnenstück an diesem Morgen wie von selbst. Spielen(d) ohne Denken. Aber wer hat dann eigentlich das Drehbuch entworfen?

Mich führt es in das kleine Nebengebäude, was Garage, ein altes irgendwie unheimliches Plumpsklo mit vielen Spinnweben und die Ernteleiter für den Kirschbaum als Abstellplatz und gleichzeitiger Aufstieg zum geheimnisvollen Holzschober über der Garage birgt. Dort gibt es etliche Holzklötze, Kisten im Krieg gesammelter Tannenzapfen als letzte Garde gegen die Kälte, eine verschlossene Truhe, Stöcke und vieles, was ich bislang nicht ergründet hatte.

Holzscheit nach Holzscheit werfe ich an den Fuß der angelehnten Leiter, die ich dann hinuntersteige, um meinen kleinen Holzberg anschließend Stück für Stück auf die schräg gegenüber befindliche Terrasse am Haus zu tragen.

Sicher beobachtet Mutter das Treiben. Eventuell ist es die Erfahrung ihres Alters und der Erziehung meiner Geschwister, die die aufkommende Unordnung auf der Terrasse jedoch kommentarlos zulässt.

Schon bin ich in der Küche um Mutter nach einem runden Emailletopfdeckel, den braunen mit der kleinen weggeplatzten Scharte zu fragen. Der darf es auch noch sein und ich ziehe zufrieden mit der Errungenschaft wieder aus der Küche ab. Im Esszimmer sticht mir etwas ins Auge, so dass ich nebst dem großen Eckbankkissen, dass immer meinem Vater zusteht, auf die Terrasse zurückkomme.

Ich habe keinen Plan, was ich bauen will, eher spielt es in mir automatisch. Doch dann nimmt das Geschehen Form an. Holzstück für Holzstück bildet sich auf der Terrasse das Aussehen eines großen Schiffsbugs. Für ein ganzes Schiff dieser Größe ist die Veranda zu schmal, den hinteren Rest, achtern baut die Fantasie. Das Kissen ist der Kapitänssitz, der Topfdeckel wird zum Lenker, äh Steuerrad. Einen ganzen sonnigen Vormittag lang ist mein Glück perfekt. Für mich als Kind eine wirklich endlos, ewige Zeit – relativ eben im Verhältnis zur Dauer meiner bisherigen Lebensinhalte. Wer weiß, wo ich damals überall hingefahren bin. Später, viel später einmal werden mir Landschaftsbilder irgendwie bekannt vorkommen. Déjà-vu.

 

1.6 Ungewissheit

Robert Grohe

Als mich drei Tage vor dem Schreckensanruf der rumänischen Polizei das Telefonat der deutschen Botschaft in Bukarest nicht direkt erreicht hatte, aber um schnellstmöglichen Rückruf bat, wusste ich erst gar nichts damit anzufangen. So lange, bis mir klar wurde, dass mein Vater mit seiner Schaluppe ja Richtung Donaudelta unterwegs war und eventuell schon in Rumänien sein könnte. Vater wollte ausdrücklich – wie er früher stets gereist sei – ohne Handyverbindung und „Weltkontakte“ seine Lebenstour entlangschippern und Monate später mit einem Rucksack voller Erzählungen und Erfahrungen wieder zuhause aufwarten, so dass wir und er gleichermaßen uns wie neu vom Leben dazwischen zu erzählen hätten. Reisen mit Effekten auf unser Wesen, wie es heute im Zeitalter ständiger medialer Präsenz niemand mehr kennt. Reisen, bei dem es besser und schneller war, eine Postkarte nach Monaten einfach mitzubringen, statt sie in unwegsamen Gebieten ferner Länder einem verrosteten Kasten anzuvertrauen. Briefkästen, deren letzte Leerung so ungewiss war, wie die verlässliche Bedeutung des Posthornemblems auf der verbeulten Rückseite. Mit rund 70 Jahren verzichtete er für seine Lebensreise auf seine Federkernmatratze, das Foamschaumkopfkissen mit Memoryeffekt – ein wahrhafter Nackenheiler, wie er zumindest bisher stets meinte. Auch sonst waren ihm alle im Laufe des Lebens angesammelten Bequemlichkeiten, wie beispielsweise ein Hotelzimmer, oder wenigstens einen beheizten Schiffsraum mit Duschkabine und Toilette abkömmlich. Stattdessen hatte die holländische Sloep die einer Schaluppe typische Bauart eines Fahrstandes mit Sitzbank hinten und vorne umlaufender Bänke mit herabklappbaren Tisch. Hieraus konnte man mit den Rückenpolstern eine Liegefläche machen. Unter den Bänken hatte ich bei der Besichtigung nach seinem Bootskauf allerlei Stauraum ausgemacht, mittig eine portable kleine Chemietoilette, unter dem Tisch einen Parabol-Grill, der mit seiner Holzkohle sparsam umging, ob zum Grillen oder zum Heizen. Der ganze dunkelblau glänzende Rumpf wurde mit einem dicken beigefarbenen gedrillten Tau umringt statt der üblichen Fender. Schutz gegen Wind, Regen und dem Gefühl, ungeschützt im Freien zu sein, bot nur ein in Teilen klapp-, verschließ- und öffenbares vanillefarbenes Spannverdeck.

Dieses längliche blau-beige, bananenförmige Gebilde sollte die spartanische Wohnstatt meines altersreifen Vaters auf dem Weg von der Zivilisation in ein ungewisses Flussdelta sein; auf dem Weg von Sicherheit zur Unsicherheit. Da war er sich sicher.

Ich sollte die Nummer für die Deutsche Botschaft wählen, ohne zu wissen, worum es ging. Ein Gefühl der Angst vor der Ungewissheit stieg damals in mir auf und gleichzeitig ein widerwilliges Gefühl, lieber nicht anzurufen. Ich erinnerte eines der Sonntagsgespräche mit meinen Kindern, als Marie mir von Ihrer Angst vor dem Tod erzählte und ich ihr über das eigene Beobachten der Angst weiterhelfen konnte. Also beschloss ich, meine Angst und die mittlerweile vom rasanten Denken erzeugten Schreckensvisionen, was alles sein könnte, nicht die Führung übernehmen zu lassen. Nur es nütze wenig. Vielleicht haben Räuber ihn beim Übernachten am Ufer überfallen und ausgeraubt. Er ist mittellos und muss allen Stolz und Selbstständigkeit überwinden, sich an die Botschaft und letztlich an mich, Robert wenden, ihm zu helfen. Was, wenn er dabei verletzt wurde? Ist er vielleicht schwer verletzt worden? Gibt es dort Drogenhandel? Flüchtende und Fluchthelfer, die Nähe, der Grenzfluss zur Ukraine? Ist er über das undurchsichtig braune Flussnetz in einen Hinterhalt oder eine Verwechslung geraten?... Ich sollte endlich anrufen. Die Botschafterin oder war es nur eine Bedienstete der Deutschen Botschaft in Bukarest, den Namen hatte ich in innerer Aufregung gar nicht wahrgenommen, bedankte sich für meinen Rückruf und dass es um meinen Vater ginge. Man habe ein Boot namens Delta treibend entdeckt mit der deutschen Kennung am Bug D | AB - 12993, das sei doch richtig. „Ja, stimmt!“ Der zwölfte September dreiundneunzig war ein wichtiges Geburtsdatum. Das konnte ich mir merken. Ich solle mich nicht aufregen, man wisse noch nicht mehr, aber die rumänischen Politie Penala in Tulcea, die für die Ermittlungen zuständig sei, wolle Kontakt mit mir aufnehmen. Man gab mir aber zugleich deren Durchwahl, für alle Fälle. Ich zögerte jedoch eigenes Handeln noch hinaus, bis es mich als Schreckensnachricht einholte.

Was bleibt: Nur eines ist gewiss, die Ungewissheit.

 

1.7 Vatergefühle

Aus Johannes‘ Tagebuchnotizen

Noch im Studium hatte ich mir ein kleines englisches Kajak bestellt, welches ich alleine, aber auch wir zu zweit und gar wir zu zweit mit kleinem Kind fahren konnten. Robert war – meinerseits ungeplant – mitten im Studium unterwegs. Nichts war sicher, alles ungewiss, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass alles irgendwie gehen müsse. Und trotz aller im Werden befindlichen Lebensentwicklung freute ich mich, jetzt schon Vater zu werden.

Die „Ausführung“ des Neugeborenen gab es gleich zu Geburt für mich in nie empfundener Kombination mit einem tiefen einschießenden Liebesgefühl für den kleinen Wurm, als ich ihn im „Kreischsaal“ kurz nach der Geburt in einem warmen Edelstahlbecken auf meinen Händen liegend badete. Einige Zeit später bereits war das liebliche Wesen – zumindest übergangsweise – nur noch in zunehmend schreiender Version zu haben. Robert. Man kann sich zum Glück nichts aussuchen. Alles ist, wie es ist. Ebenso: Leider gab es die Ausführung des Kajaks nur in grüner Farbe, hielt ich doch, ohne genau zu wissen warum, nach einem dunkelblauen Rumpf, vielleicht mit kleiner, umlaufend beiger Linie Ausschau.

 

1.8 Ichgefühle

Aus Noahs Tagebuchnotizen

Auch wenn es manchmal einen anderen Eindruck machen konnte, ich liebte unsere Sonntagsrunde am Frühstückstisch, wo es sein konnte, dass sich gemeinsames Gespräch, Fragen, Antworten, Nachsinnen durchaus einmal bis in den späten Nachmittag zogen. Heute weiß ich, wie groß doch der Anteil innerer Einsichten sein mag, die sich so bereits früh in mir, dem damals kleinen Noah festigten.

Nach einem Ostersonntagsgespräch, das hauptsächlich Marie, meine größere Schwester um Tod und ihre Angst führte, fing ich – keine zehn Jahre alt – ernsthafte Nachforschungen mit mir an, wer eigentlich dieses Ich-Gefühl in mir ist. Irgendwie war in mir Denken und zugleich auch all die Gefühle wie Freude, Ängste, Faszination, Ekel, Lust auf etwas, Abneigung oder Spannung.

War ich Körper, Denken und Gefühle, oder hatte ich Körper, Denken und Gefühle? Und wenn das Letzte zutraf, wer war dann dieses „Ich“. Ich musste bis zum nächsten Sonntag meine Fragen aufheben. Wenn ich heute darüber nachdenke, worüber ich manchmal bei diesen Sonntagsgesprächen nachdachte, wundere ich mich doch zunehmend, was ich im zarten Alter von rund zehn Jahren schon alles überlegte.

„Papa, was ist dieses ‚Ich‘, das erkennt, was ich denke und welche Gefühle dabei in mir entstehen?“

„Lass es uns erst einmal Bewusstsein nennen, denn du bist dir ja um dein Denken und deine Gefühle bewusst.“

„Dann ist das ich in mir also mein Bewusstsein?“

„Ja. Wenn du das beobachtest, ist es als eine innere Wahrnehmung in uns erkennbar. Du – dieses Ich – kann Körper, Denken und Gefühle wahrnehmen. Stimmts?“

Schweigen, weil ich in mir das Gesagte ausprobierte, während alle Augen auf mich gerichtet waren. Da dies ein wenig dauerte, wurde allerseits erst einmal das Frühstücksei angegangen, bevor es kalt war.

Tatsächlich. Ich konnte in meinen Körper fühlen, das war mir zuvor noch gar nicht richtig bewusst gewesen. Ich beschloss, mein rechtes Knie zu spüren, und hatte kurz später ein inneres Gefühl des Knies, ich entschied mein linkes Knie zu spüren und die innere Wahrnehmung war auf das andere Knie gesprungen. Je mehr ich durch den Körper scannte, je schneller ging es, dies wahrzunehmen. Ich konnte es regelrecht üben. Mir fiel beim Ausprobieren auf, dass mir mein Denken zuweilen aber blitzschnell eine Bildvorstellung des Knies erzeugte und sich das Fühlen damit vermischte und unklarer wurde.

„Wenn Du das innerlich spüren kannst, dann schau doch mal den Unterschied zu äußerlichem Spüren. Marie, kneife Noah einmal in sein Knie!“

„Aber ja, es fühlt sich irgendwie anders an, wieso?“

„Wir haben das gleiche Wort für zwei verschiedene Dinge. Fühlen und fühlen. Besser wäre spüren und fühlen. Das macht es uns schwerer unterscheidbar. Tatsächlich spürst Du das Kneifen mit Nervenrezeptoren, also deinen Sinnen, dein inneres Fühlen ist aber eine Wahrnehmung deines Bewusstseins in dir. Die Wahrnehmung folgt unmittelbar deiner Absicht, wo es hingehen soll unabhängig von Nervenbahnen. Beim Kneifen jedoch folgst du dem ausgelösten Nervenreiz. Probiere jetzt erst mal, ob du das in dir nachvollziehen kannst.“

Marie probierte mittlerweile eifrig mit, was man praktisch an ihren Augen erkannte. Der Fokus ihrer Augen war nicht bei uns, sondern irgendwo im Nirgendwo.

„Jetzt kann ich es auch erkennen“, erstrahlte Marie. „Und es gibt irgendwie ein inneres Gefühl.“

Papa forderte uns beide auf, nur das linke Bein zu fühlen, also innerlich wahrzunehmen und ruhig ein wenig Zeit dafür zu nehmen, ohne an das Bein zu denken oder es als Erinnerungsbild vorzustellen. Es war eine Zeit vergangen, die ich nicht genau einschätzen konnte. Zugleich entstand ein Moment ohne Zeitgefühl, bis Papa plötzlich meinte: „Und jetzt fühlt mal ganz schnell in das andere Bein. Empfindet jemand einen Unterschied zwischen den Beinen?“

Wer es nicht glauben mag, sollte das einfach einmal selbst probieren. Es war in der Tat so, dass das Bein, auf welches ich die ganze Zeit mein Bewusstsein gelenkt hatte, irgendwie größer wahrnehmbar war, sich umfangreicher und energiereicher anfühlte. Am Frühstückstisch gab ich das erstaunt, und nahezu gleichzeitig mit meiner Schwester zu Protokoll.

„Ich fasse mal zusammen, was ihr gerade theoretisch Neues erfahren und an euch selbst bemerkt habt“ sagte Paps: „Eins – inneres Fühlen ist die Art der Wahrnehmung unseres Körpers durch das Bewusstsein. Zwei – dieses Fühlen unterscheidet sich vom Spüren via Nervenreiz. Drei – wir können einfach durch eine Absicht innerer Wahrnehmung an eine bestimmte Stelle fühlen – übrigens auch an verschiedene gleichzeitig, probiert es aus. Vier – dorthin wohin unser Bewusstsein gerichtet ist, verstärkt sich die Wahrnehmung und zugleich folgt eine Art innerer Energie an die Stelle.“

Papa führte weiter aus, dass man im Profisport schon länger darum weiß. Mittels Mentaltraining könne man z.B. den Rehaprozess bei Verletzungen mitunter um die halbe Genesungszeit beschleunigen. Das habe zweifelsfrei etwas mit dieser inneren Energie zu tun, die wir spüren konnten. Doch das besser zu verstehen, dazu brauchte es einfach noch mehr Sonntagsfrühstücke.

„Noah, eines möchte ich dir zum ‚Ich‘ gerne erzählen, weil du es (wie wir alle) nicht mehr erinnern kannst. Wir sind etwa drei Jahre alt, wenn sich in unserer Weltsicht etwas entscheidend verändert. Zum einen ist das der Erinnerungshorizont, d. h., Ereignisse vorher werden fast nie erinnert. Zum anderen aber kann man da eine weitere interessante Feststellung machen: Als Du klein warst, etwa bis kurz vor dem dritten Lebensjahr, sagtest du erst ‚Oha Hunger‘ dann ‚Noah Hunger‘. Etwas später, du warst wohl schon über drei Jahre, war deine Verlautbarung zum gleichen Gefühl ‚ich hab‘ Hunger‘.

Irgendwann in dieser Zeit um das dritte Lebensjahr ist also eine innere Zuordnung und Verknüpfung der Gefühle zu einem ‚Ich‘ erst entstanden. Zuvor war es eine Beobachtung, wie von einem Außenstehenden formuliert in der dritten Person. Das scheint mir sehr bedeutungsvoll und man kann es bei allen Menschen feststellen“, schloss mein Vater mit gesenkter Stimme und es war uns klar, jetzt „war genug“ und es wurde erst einmal leichtere Kost am Tisch verzehrt.

Da brauchte nicht nur ich erst einmal einen großen Schluck Kakao, um das alles herunter zu spülen.

 

Es beginnt damit, dass du „Ich“ sagst. Alles, was danach kommt, ist Illusion. Kodo Sawaki

 

1.9 Lebenswende

Robert Grohe

„Mister Grohe? You are Mister Robert Grohe?“ “We found the boat of your father in the natural restricted area of danubian delta.”

“What has happened, how about my father?”

“First we found only the boat with international number D | AB – 12993. Is this the boatsnumber of your fathers boat?

„Y ..es, in ..indeed.“

„As we inspected the surrounding we found in an directly by the coastline a dead person. May be this person belongs to the boat. But we are not sure. In the boat we found a package with personal papers of Mr. Johannes Grohe and one informed us to call your number in case of accident. We gave this to the german embassy.”

Die rumänische Politie Penala, hatte den kleinen Nachen meines Vaters mitsamt einer, vielleicht gar seiner Leiche, mittlerweile aus irgendwelchen Seitenkanälen der Danube herausgezogen und in den Polizeihafen geschleppt. Der leblos in der Nähe aufgefundene Körper wurde, wie ich später recherchierte, offenbar zunächst einmal mangels anderer Ressourcen in das kleine Zusatz-Kühlhaus eines hiesigen Fischereibetriebes verbracht. Dies war eigentlich der Notkühlraum für die noch vor zehn Jahren immer mal wieder vorkommenden großen Fangquoten im Schwarzen Meer. Die Überfischung hatte aber schon länger nicht mehr zu einer solchen Sonderausbeute geführt, dass man das Zusatz-Kühlhaus für Fisch weiterhin gebraucht hätte. So war es einstweilen einer neuen Bestimmung übergeben.

Mein Vater lag mit Fischkadavern wie Beifang tot in einem rumänischen Kühlhaus! Ich fühlte nichts, ich spürte nichts. Der Klang des Telefonhörers war zeitweise wie Watte, leise dann ganz hallig. Zeit schien sich endlos zu dehnen. Dann drehte etwas in mir die Lautstärke wieder zurück: „Hello, Mister Grohe!“ Man erwartete meine Einlassung, wie und wann ich ggf. in das Donaudelta kommen könne und die Leiche identifizieren könne, die dann mittlerweile in pathologischer Untersuchung sei. Ich solle mich aber erst einmal auf den Erhalt eines durchaus abschreckenden Fotos auf meinen E-Mail-Account einrichten, um ausschließen zu können, das es sich ja vielleicht gar nicht um meinen Vater handele. Man sei sich seitens der Ermittelnden nicht sicher, ob das Passbild im aufgefundenen Ausweis auf dem Boot mit dem Gesicht der Leiche identisch sei. Ob es besondere andere Merkmale, Tätowierungen, Schmuck oder ähnliches am Körper meines Vaters gebe, wolle man gerne wissen. Auch müsse man ggf. mit der deutschen Kripo zusammenarbeiten, damit vor Ort Ermittlungen z.B. beim Zahnarzt meines Vaters Röntgenaufnahmen oder Hilfreiches zu Tage fördern könnten, die hierdurch der Identifizierung dienlich wären.

Sollte ich dies jedoch mindestens als „ziemlich sicher“ anhand des Fotos der Leiche bestätigen können, wäre mein Erscheinen absolut notwendig. Dann wären selbstverständlich die Todesumstände zu klären. Im Falle eines natürlichen Ablebens ginge es dann auch um die Frage, wie die Überstellung der Leiche nach Deutschland nach Freigabe meinerseits organisatorisch vonstattengehen könne.

Zur Ursache des Ablebens dieser Person oder eben meines Vaters könne man wie gesagt derzeit keine Auskunft geben. Sollte die Person nicht mein Vater sein, blieben mindestens aber die Fragen nach seinem Verbleib, was hier vorgefallen sei und ob dann mein Vater etwas mit dem Tod einer bislang unbekannten Person zu tun habe. Man warte auf das Eintreffen eines zur Sachlage einer ungeklärten Todesursache kundigen Mediziners, eines forensischen Pathologen aus Bukarest. Der werde ohnehin hier seinen neuen Dienstort antreten. Womöglich müsse es eine umfassendere Autopsie oder Obduktion geben, aber dies ließe sich momentan nicht mit Sicherheit sagen, eben so wenig wie das Gegenteil.

Es war mehr wie ein Gefühl von Unsicherheit und Angst um meinen Vater, das mich erfasste. Mit und nach diesem Gespräch hatte ich das Empfinden in ein tiefes, dunkles Loch zu fallen, ohne irgendwann am Boden aufzukommen. Der Sturz hatte kein Ende. Ein fünf bis allenfalls zehnminütiges Telefonat beendet die Episode deines Lebens in der du dich gerade wähntest und beamt dich in eine neue Welt. Völlig gleichgültig ist, ob du das willst, oder nicht.

Der Mensch denkt, Gott lenkt.

 

1.10 Vater und Sohn

Aus Johannes‘ Tagebuchnotizen

Ich möchte behaupten, dass ich mich mit dem eigenen Wanderkajak nicht unbeholfen anstellte, sondern schnell ein sicheres Gefühl für Boot und Wasser entwickelte. Am Main machte ich erste Bootswanderungen, einige davon auch mit meinem Sohn Robert. Später war es der Chiemsee und sein glasklarer Abfluss der Alz, während auf der gegenüberliegenden Seite der Tiroler Achen und der kleinere Moosbach und im Westen die wilde Prien, die Hauptzuflüsse des Sees darstellten. All das fuhren wir ab. Und einmal auf halbem Weg zur kleinen Insel Frauenchiemsee setzten wir sogar auf Sand auf, mitten im See. Wir konnten einen kleinen Weg erkennen, mit dem man halb unter Wasser zur Fraueninsel laufen konnte. Noch natürlicher wurde es entlang des Abflusses. Glasklar wie das Wasser der Alz konnte in diesem Freiheitsurlaub zugleich unser Vater-Sohn Verhältnis sein. Endlich einmal. Der jugendliche Robert lernte nicht nur schnell und mühelos das Kajakfahren, sondern übernahm bei dieser gemeinsamen Reise all die Freiheitsgefühle, die diese für mich und schnell auch für ihn bedeuteten. Nicht hinten steuernd der Vater, vorne unterstützend der Sohn, sondern ein abwechselndes Team, welches verbunden mit der Natur im Einklang dahinglitt. Niemand und nichts stand zwischen uns und unserer Bindung.

Ein warmes Gefühl, denke ich heute daran zurück, wo wir uns nur selten sehen. Jeder steckt in seinem eigenen Leben und die schönen Zeiten scheinen unwiederholbar vorbei. Schnell könnten Tränen dieses klare Wasser trüben, diese vergangene Zeit erinnernd und die Gefühle zulassend.

Ihn loslassen können, weil loslassen müssen, gehörte zu den schmerzlichsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens. Als seine Mutter auf eigenen Wegen unterwegs war, mich benutzend statt liebend, Versorger statt Mann, das Kind wie Faustpfand immer wieder instrumentalisierend und beeinflussend. „Was weißt du von Pädagogik, ich habe das studiert“, bekam ich zwar in Differenzen bei Erziehungsfragen um die Ohren gehauen, konnte aber nach der Trennung von pädagogischem Verständnis für Robert nichts, rein gar nichts erkennen. Ein erfahrener Anwalt in Trennungssachen konnte es ebenfalls nicht mehr ertragen: „Es bleibt nur eines, lassen sie los, damit das Kind nicht zerreißt“, war sein Credo und wurde mein neuer Wegpfad zur Orientierung in Sachen „Vater und Sohn“. Damals reichte es, das gleichnamige Bildergeschichtenbuch von E.O. Plauen aufzuschlagen, welches mich schon mit meinem Vater Karlo in Kindheitserinnerungen verband. Eine undefinierte Gefühlsmischung aus Einsamkeit, Verlassenheit, Trauer und nicht näher differenzierten Würzbeigaben auslöste. Allesamt wie bitterer Tränengeschmack auf der Zunge.

Das Leben sollte noch einige Eskalationen in Roberts Kindheit bereithalten, bis es auf dieser Bootstour erstmals wieder zu einem Gefühl an Freiheit und echter Vater und Sohn Bindung kommen konnte. Robert war sicher bereits 13 Jahre zu dieser Zeit. Den Blick in die glasklare Tiefe der Alz gerichtet waren meterhohe in der Strömung wabernde Gräser zu sehen, als würden sie gleich Ähren im Wind wehen. Drei, vier Meter tiefe Einblicke bis zum Flussgrund und bei der abendlichen Zeltrast am Naturufer fand unser Gespräch Einblicke in menschliche Tiefen. Alles was bislang zwischen uns nicht sein durfte und unbekannt war, konnte auf einmal möglich sein. Es war ein gleichzeitiges Gefühl, wie ein großes Geschenk des Lebens für uns beide. Wir schliefen nach kleiner Mahlzeit mit dem Einflammen-Gaskocher bereitet, im Trecking Zelt nahe beieinander ein. Körperlich und seelisch erschöpft, aber tief zufrieden. Zu Frieden.

 

1.11 Sohn und Vater

Robert Grohe

Lange Zeit war mir mein Vater Johannes nicht mehr so präsent gewesen, wie seit dem Telefonat mit der rumänischen Polizei. Auf seine Weise war er ja im Hintergrund „immer da“, auch wenn er in meinem jetzigen Leben gar keinen rechten Platz mehr einnahm, wir uns bis auf Weihnachts- und Osterbesuche oder manchmal seinem Geburtstag – den eigenen feierte ich lieber in meiner Generation – kaum begegneten. Mit der Coronawelle hatte er überraschend einen Online-Videodienst abonniert, womit er unsere Begegnungen zu einem sonntäglichen Jour-Fix Termin ermöglichen wollte. Aber oft waren die Sonntags Frühstücksgespräche mit meinen zwei Kindern noch im Gange und ich konnte das nicht unterbrechen. Zugleich war es nicht fair gegenüber den Kindern, hätte ich alles mit meinem Vater teilen wollen. Oder es stand ein anderer Termin, auch nur das Ausschlafen an. So kam es immer öfter nicht zur Videoschalte am Desktop mit Johannes. Ehrlicherweise muss ich bekennen, dass ich manchmal sogar vergaß, abzusagen und er am anderen Ende locker eine halbe Stunde wartete, ob ich mich nicht zuschalten würde.

Jetzt mit dieser Ungewissheit um ein mögliches jähes „Nie mehr Sein“, fällt es mir gar schwer, dies freimütig zu bekennen, ohne ein eigenes beschämendes Gefühl zu verspüren.

Unsere Beziehung war von Beginn an schweren Bedingungen unterworfen, die, wie ich spät erst erkannte, meist meine Mutter diktiert hatte. Während kein Tag verging, meinen Vater mit „der Typ“, „dein Alter“, „das Arschloch“ und Ähnlichem bezeichnet, mindestens verbal schlecht zu machen, hatte ich allein hiermit ein völlig eigenes Bild geprägt bekommen, was ich von meinem Vater zu halten hätte. Vielleicht wie das spezifisch eingefärbte Bild das man als Bürger der DDR den BRD-lern gegenüber aufgebaut hatte, und sicher gab es dies ebenso umgekehrt. Obwohl ich mich genau genommen an keinen Moment erinnere, an dem mein Vater dergestalt über oder von meiner Mutter redete, gar meine Loyalität auf die Zerreißprobe gestellt hätte.

Und dann erinnere ich mich an unsere Bootstour rund um den Chiemsee und seine Flüsse. Zehn Jahre mussten vergehen, um meinen Vater Johannes so echt und nahe erleben zu dürfen. Die Urteile und Vorurteile, Einfärbungen meiner Sichtweise relativieren zu können, ihm Ruderschlag für Ruderschlag, Tag für Tag näher zu kommen.

Doch jetzt dieses staubtrockene Gefühl im Hals, wo alles zusammenklebt beim Gedanken, das das Wort „Bootstour“ auslöst. Und jetzt zu merken, er ist auf seiner Tour alleine. Allein gelassen. Er nannte sie vor Abfahrt feierlich „Meine Lebenstour“, wohl darauf bezogen, dass er dies schon immer machen wollte. Das mag ich jetzt womöglich zu meinem eigenen Trost so annehmen. Ein Gefühl brennt in meiner Brust und dem Herzen tief traurig.

 

1.12 Sein

Aus Noahs Tagebuchnotizen

Eine Woche lang hatte ich mehrfach täglich mein Denken und die damit erzeugten Gefühle beobachtet. Mir war dabei aufgefallen, dass Erinnerungen nahezu immer mit den damaligen Gefühlen abgespeichert waren und man zudem umgekehrt mittels Erinnerungen alte Emotionen in den jetzigen Moment hochholen konnte. Außerdem bemerkte ich, dass es zwei große Gruppen der Gefühle gab, die angenehmen und die unangenehmen. Die, welche man gerne haben wollte und die, wofür man alles tat, um sie loszuwerden. Meine frisch gewonnenen Erkenntnisse waren eine willkommene Eröffnung unseres neuerlichen Sonntagsgesprächs.

„Das hast du wirklich gut erkannt und nur durch eigene Beobachtung, großes Lob, lieber Noah!“, die Worte Papas gingen runter wie Öl.

„Dafür lesen andere viele Bücher, nehmen an Workshops und Kursen teil, um solch erleuchtete Einsichten zu bekommen, aber du Noah, mal eben in dich reingeschaut und alles klar…“ Maries süffisanter Tonfall und Minenspiel lies eine geringere Anerkennung vermuten als der Inhalt Ihrer Worte aussagte. Diese nicht Übereinstimmung – „Nicht Kongruenz“ – musste jedem auffallen. War das erstmals, dass sie sich mir gegenüber zurückgesetzt fühlte? Woher kam der Hunger nach eigener Anerkennung oder Lob von Paps?

Papa unterbrach meine Gedanken. „Ja. Das ist übrigens für manche kein Neuland der Erkenntnis. Was denkt ihr, wie ein Schauspieler lernt, ein bestimmtes Gefühl oder auch Weinen authentisch auszudrücken oder zu erzeugen?“

„Etwa in dem er sich die passenden Erinnerungen als Kombi mit dem erwünschten Gefühl hochholt?“

„Exakt so. Authentisch sind unsere Gefühle im Hier und Jetzt. Das ist der wahre, ja der einzige Moment unseres Seins, den wir haben:

‚Sein‘ ist immer jetzt! Du denkst zwar gerade, aber der Gedankeninhalt ist nie im Jetzt, sondern beim Erinnern in der Vergangenheit und beim Ausmalen, was sein könnte, in einer möglichen Zukunft … von vielen.

So heißt das, was wirklich unser Leben erfahrbar darstellt: Bewusst-Sein.“

„Wie einfach, so habe ich das noch nie gesehen“, meinte meine Schwester Marie und ihr Anflug von Minderwertigkeitsgefühl war offenbar vergessen.

„Lasst uns weiteressen, was gab es eigentlich diese Woche in der Schule Lernens- und Erwähnenswertes?“, fragte Paps.

„Nichts, was hiermit vergleichbar wäre“, meinte Marie und Papa hatte einen stolzen Gesichtsausdruck beim Biss in das Brötchen.

 

1.13 Unklar

Robert Grohe

Das Horrorfoto im E-Mail ließ mich zusammenzucken. Unwillkürlich klickte ich es weg. Wegdrücken, am besten, bevor man sich das Bild erinnerbar eingeprägt hatte. Ich öffnete es wieder und musste noch einmal hinschauen: War das mein Vater Johannes? War er das? War‘s das? Eine gewaltige Hautöffnung, vielleicht mit einem groben Messer oder einer Hacke herbeigeführt, hatte eine Gesichtshälfte und den Hals zerfurcht und der Schnitt war wie eine längs angeschnittene, heiß gemachte Fleischwurst an den Schnittkanten herausgequollen. Ein Auge war betroffen und nicht zu erkennen. Dunkelbraun und rot gab es Verkrustungen, ganz im Kontrast zu den aufgequollenen blassen Hautpartien, die wohl länger im Wasser gelegen hatten. Die dunkelbraune Haarfarbe konnte stimmen, hatten aber viele andere, bestimmt 40% der europäischen Menschen. Eine Frisur war nicht mehr zu erkennen, man hätte dem nassen Haar jede Menge Frisuren kämmen können. Der Vollbart ähnelte schon. Aber sehen normal gestutzte Vollbärte nicht alle gleich aus? Mal war ich mir sicher, er ist der Tote. Ohne Vorwarnung drückte ein Kloß im Hals und mir wurde schlecht. Tiefe Trauergefühle überrollten mich. Um mir im nächsten Moment klar zu machen, „das ist er nicht“ und mich abrupt damit glücklich zu fühlen. So erleichtert, dass sofort die Schwere an Gefühlen von mir wich. Noahs Worte eines unserer Sonntagsgespräche kamen mir in diesem Hin- und Her meines Gefühlschaos‘ in den Sinn: „Ich bemerkte zwei große Gruppen an Gefühlen, die angenehmen und die unangenehmen. Die, welche man gerne haben wollte und die, wofür man alles tat, um sie loszuwerden.“

 

1.14 Gefühlserkenntnisse

Aus Noahs Tagebuchnotizen

Einmal sonntags machte Papa eine interessante Feststellung, die er wohl gerade selbst erst gemacht hatte.

„Es ist doch so, dass Menschen erst einmal einfach nur dem guten Gefühl folgen. Wir sind von Beginn an auf der Suche nach dem guten Gefühl.“

Nach kurzem Nachdenken eröffnete Marie einen Gedanken, den sie anzunehmender weise schon länger in ihrem Kopf wälzte: „Kann man uns Menschen nicht eigentlich mit meinem Computer vergleichen, dass da alles irgendwie automatisch ist?“

Ein Satz, der wie ein offenes Tor für Papa war: „Ein Neugeborenes ist wie ein neuer Computer ohne Anwendungsprogramm und nur mit dem BIOS – Basic Input Output System – ausgerüstet, das die Grundfunktionen steuert. Beim Booten des Computers erfolgen damit Check und Aktivierung aller Komponenten, beim Neugeborenen z.B. Atmung, Herzschlag und körperliche Selbstheilungssysteme. Erst per CD, Download oder Stick kommt ein Betriebssystem und dann das Anwendungsprogramm in den Computer, und zwar das, was ein Anwender entscheidet. Hier braucht der Computer also das entscheidende Bewusstsein des Menschen, was dieser will. Wie aber ist es beim Menschen? Wir erstellen unser ‚Anwendungsprogramm‘ mit dem Leben. Und dabei folgen wir, wie gerade gesagt, der Spur des guten Gefühls. Wir orientieren uns etwa daran, was gut schmeckt, gut riecht, uns nährt. Auf der wiederholenden Suche danach verknüpft das zur Mutterbrust rudernde Baby den Herzschlag als positiven Klang. Den kennt das Baby ja schon aus seiner Zeit als Fötus im Mutterleib. Später sind wir nach dem gleichen Prinzip positiver wie negativer Verknüpfungsmuster immer weiter auf der Suche nach dem guten Gefühl und dies je nach aktueller Situationsanalyse auch unterschiedlich: etwa Erfrischendem in der Hitze, Wärme in der Kälte, unerwartetes Lob bei zufälligen Aktivitäten und so weiter. Umgekehrt vermeiden wir möglichst negative Gefühle wie Tadel, körperlichen oder seelischen Schmerz, Ekel, und so weiter.

Wir wissen nicht einmal, welches Anwendungsprogramm wir wollen. Was willst Du einmal werden, ist dazu die normale Frage? Und welche Tendenz zeichnet sich dann immer ab? Die Dinge, die unsere Eltern oder uns wichtige Personen gut finden, wo wir einen faszinierenden Lehrer hatten, Sachen, die wir gerne machten, Lob und gute Zensuren oder Geld erwarten, sind unsere Präferenzen.

Auf welcher Entscheidungsgrundlage handelt also unser Bewusstsein von Beginn an? Es folgt dem guten Gefühl; meidet das schlechte Gefühl. Wenn mehr und mehr unser analytisches Denkvermögen hinzukommt, dann kann das oft zitierte Bauchgefühl identisch, oder in Differenz zu dem sein, was das Denken ‚empfiehlt‘. Da aber Denken nur Berater ist und selbst nichts entscheiden kann, muss es irgendwie das, was wir eigentlich sind – das Bewusstsein – in der Entscheidung, der Handlungsabsicht und dem Handeln beeinflussen, oder? Wie es das macht, ist eine spannende Frage für unser nächstes Mal, Kinder.“

 

1.15 Vorbereitung

Robert Grohe

Und genau jetzt halfen mir alle meine Erkenntnisse, die ich so oft mit den Kindern diskutierte und teilte, ziemlich wenig. Ich war selbst mittendrin - mitten im Gefühlschaos sich unendlich steigernd, weil mein Verstand keine klare Entscheidungsgrundlage hatte. War es Papa, oder war er es nicht?

Wenn die gefundene Leiche mein Papa, der geliebte „Opi Johannes“ meiner Kinder war, dann hatte ich auf jeden Fall einiges zu tun und musste dazu nach Rumänien.

Wenn das Bild aber eine wildfremde Person war, warum sollte ich meine ganzen Termine absagen, um nach Rumänien zu kommen? Ging das überhaupt, waren da nicht wichtige, vielleicht für einzelne überlebenswichtige Therapiesitzungen von Klienten und Patienten dabei, die ich nicht mal eben um zwei, drei oder gar mehr Wochen verlegen konnte.

Andererseits, wenn es jemand anders war, wo war dann Papa? Was war da geschehen? Aber konnte ich dann in Rumänien überhaupt etwas tun, um das Herausfinden zu unterstützen. Konnte ich Papa helfen, oder war es offensichtlich nicht ohnehin zu allem zu spät?

Wenn das Denken keine wahre Erkenntnisgrundlage hat, kann es uns nicht helfen. Analysen ohne Datengrundlage sind, wie raten oder losen.

Ich hätte eine negative Empfindung und könnte es mir nie verzeihen, würde ich jetzt nichts unternehmen. Also folgte ich hier nicht dem guten Gefühl, da es keins gab, sondern entschied mich, das zu tun, was das schlechte Gefühl vermied.

Als diese Entscheidung in mir auf Gefühlsebene getroffen war, konnte mein denkender Verstand sich aber wieder nützlich machen: Wer passt auf die Kinder auf, wie lange werde ich weg sein, wer überführt Leichen, fliegen oder fahren, welche Patienten brauchen vorher noch einen Termin, habe ich genug Geld für die Kosten und den Verdienstausfall,…? Denken ist schon alleine dafür klasse, hieraus die richtige weil sinnvolle Reihenfolge der Fragen und dann Antworten bilden zu können. Nochmal: Wie lange werde ich mindestens weg sein müssen, was geht höchstens? Fliegen ist am schnellsten, am besten mit zeitflexiblem Kombi-Ticket für den Rückflug. Ich muss den Auto-Club von Papa anrufen, die haben doch eine Rückholversicherung im Todesfall. Meine erste geschiedene Frau Sylvia muss ich informieren und abklären, ob sie Marie nehmen kann, vielleicht auch Noah? Oder einer, besser beide zu besten Freunden? Mal telefonieren und denen die Situation erklären. Ein Blick auf das Konto und was Flüge kosten, gibt zumindest Sicherheit, dass alles für Papa jetzt Vorrang haben kann und nicht am Baren scheitert. Wenn es länger dauert, wer könnte mir Geld leihen? Und jetzt zur Patientenliste und Prioritäten für Termine setzen…

Das Wichtigste: Meine Entscheidung war auf diese Weise endlich gefallen, das Auf- und Ab des Gefühlsozeans im Sturm flachte ab, weil ich jetzt etwas machen und organisieren konnte und musste. Was in den stillen Momenten dazwischen blieb, war sorgenvoll, ängstlich und immer wieder voller Trauer.

 

1.16 Liebe

Aus Johannes‘ Tagebuchnotizen

Schon manchen gebrauchten Traumwagen, ebenso Neuwagen hatte ich im Verlauf meines Lebens erworben. Das Glücksgefühl des Neuen kannte ich, aber mittlerweile auch die Erkenntnis, dass es immer schneller verblasste, je älter ich wurde. Tatsächlich war im Altern mir Neues zunehmend unwichtiger geworden. Gönnte ich mir eine Wochenend-Städtetour für Singles, wusste ich samstags im Stadtrummel wenig mit mir anzufangen. Satt, ohne Durst gab es scheinbar nichts mehr, was mich beim Blick in die Schaufenster wirklich interessierte. Warum nur so viele Menschen umherhasteten, Tüten voller Unsinnigem in ihren Händen, nach unten ziehend – den Rücken wie das Leben. War ich einst genauso, war es mir nun immer fremder geworden. Das Einzige, das in einer unbekannten Stadt spannend erschien, war es im Straßencafé genau jenen Marotten, dieser Getriebenheit kommerzieller Lebensausrichtung der Mitmenschen zuzusehen. Kauf-Marionetten. Dabei dachte ich mir nur zu gerne Geschichten zu jeder einzelnen Person aus, und entwarf ein fiktives Drehbuch deren Lebens in umrissartigen Vorstellungen. Und dann traf es mich völlig unerwartet, als ich mir den Nachen, diese holländische Sloep für meine Lebenstour kaufte. Nach vielen Jahrzehnten des Träumens von einem solchen Boot war das Glücksgefühl ein anderes, tiefer und schien selbst nach Monaten nicht mehr verblassen zu wollen. Da war etwas Größeres, Bleibendes. Unbegreiflich, wie es möglich war, dass nach so vielen Lebensjahrzehnten anwachsender Bedeutungslosigkeit käuflicher Dinge in mir, eine materielle Bindung spürbar war, gar tiefe Empfindungen inszenierte?

Das Nicht-Verblassen von Gefühlen, und dies über viele Jahre, das gab es bisher nur ein einziges Mal in meinem ganzen Leben: Mit und nach der Trennung von Roberts Mutter hatte ich sie kennen und später lieben gelernt. War es so? Nein. Die Liebe war einfach da, vom ersten Anblick an. Ich hatte sie weder gelernt, noch mir vorgenommen oder beschlossen. Isabelle. Kann Liebe Sünde sein?

Liebe ist. Verliebtsein ist ein Hormoncocktail des Ausgeliefertseins, der verblasst. Bei uns hielt er Jahre an. Liebe blieb. Meinerseits.

 

1.17 ...oder Sünde

Aus Maries Tagebuchnotizen

Ich hatte nach ersten Schwärmereien meinen ersten Freund. Das einzige Problem war, er hatte bereits eine Freundin. Meine. Und, wodurch auch immer, hatte es Paps womöglich mitbekommen. Konnte er Gedanken lesen oder merkte er, was ich an unbehaglichen und zugleich hingerissenen Gefühlen in mir trug? Ich weiß es nicht, was ihn an diesem Sonntagsfrühstück zu der Frage an uns bewegte:

„Kann Liebe Sünde sein?“

Mir stockte der Atem. Spätestens jetzt mussten mich alle an meinen nicht kontrollierbaren Mikro-Gesichtsreflexen, der Röte, dem aufgesetzt harmlosen Anschlussblick oder was auch immer, entlarven.

„Hey Marie“, fragte Noah, „was ist denn plötzlich mit Dir los?“

„Wieso? Ich denke nach“, gab ich damals schnell vor.

„Ich glaube, Liebe kann Sünde sein“, war sich Noah gleich sicher. Mir lief dabei ein kurzer Schauer des Unbehagens über den Rücken, mein Magen krampfte fast ebenso wie mein schlechtes Gewissen.

„Wieso glaubst Du das?“, wollte Papa von ihm wissen.

„Peters Mutter, ihr kennt doch meinen Klassenkameraden, den Rechtsaußen im Fußball, Peter eben. Seine Mutter meint wohl, sie liebt ihn, deshalb macht sie alles Mögliche für ihn. Wisst ihr, die ist zum Beispiel jedes Mal in der Fußballumkleide bis zum Schluss, um Peter die Stollenschuhe zu binden. Das ist ihm echt peinlich und Lästern von uns gibt’s obendrein, wenn sie endlich draußen ist. Ich verrate euch mal ein Geheimnis: Er kann immer noch keine Schuhe binden mit zehn. Wenn das von seiner Mutter Liebe sein soll, ist es eine Sünde“, war Noahs logischer Schluss auf Papas Nachfragen.

„Ja, da erzählst du uns von einer besonderen Form an Liebe, nämlich einer Mutterliebe, die keinen zunehmenden Abstand findet. Die kennt manchmal keine Grenzen und will eigentlich nur alles Gute für den eigenen Nachwuchs. Aber wie du richtig erkennst, kann das Gute auch ganz schlecht sein und beispielsweise zu Unselbständigkeit oder gar Abhängigkeit führen. Ich würde es aber hier noch nicht als Sünde bezeichnen, eher als manchmal unreflektierte Dummheit. Es geht nicht um das Kind, sondern um sie.“

„Wieso, ist Peters Mutter dumm?“

„Oh, gefährliches Eis. Nein. Eher unüberlegt ihrem eigenen ‚Gut-Mensch-Gefühl‘ folgend. Sie meint es vielleicht gut, daraus entsteht aber etwas Schlechtes.“

Ich weiß noch, in mir brach es an dieser Stelle heraus, denn wohin das Gespräch glitt, war ja etwas ganz anderes. Und obwohl es mir durchaus hätte passen können, so um meine Gefühlsprobleme an diesem Morgen herum zu kommen, erkannte ich aber auch die Chance, mir mit Papas Frage den Knoten von richtig oder falsch auflösen zu können. „Das ist doch ganz was anderes, Noah! Was hat denn das mit echter Liebe zu tun? Du weißt doch noch gar nicht, wie sich das anfühlt. Papa meint doch Liebe zwischen Menschen, also Partnern, Freund und Freundin und so.“

„Ja, das könnte auch einen Gedanken wert sein, Marie“.

„Papa, was ist eigentlich Liebe?“, fragte damals Noah, offensichtlich von meiner Abwertung, er wisse gar nicht, wie sich das anfühle, getroffen und zugleich verunsichert.