Die vierte Gewalt - - Richard David Precht - E-Book

Die vierte Gewalt - E-Book

Richard David Precht

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Beschreibung

Das erste gemeinsame Buch der beiden Bestsellerautoren Richard David Precht und Harald Welzer: wie Massenmedien die Demokratie gefährden

Was Massenmedien berichten, weicht oft von den Ansichten und Eindrücken großer Teile der Bevölkerung ab – gerade, wenn es um brisante Geschehnisse geht. So entsteht häufig der Eindruck, die Massenmedien in Deutschland seien von der Regierung oder »dem Staat« manipuliert. Aber die heutige Selbstangleichung der Medien hat mit einer gelenkten Manipulation nichts zu tun. Die Massenmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache: mit immer stärkerem Hang zum Einseitigen, Simplifizierenden, Moralisierenden, Empörenden und Diffamierenden. Und sie bilden die ganz eigenen Echokammern einer Szene ab, die stets darauf blickt, was der jeweils andere gerade sagt oder schreibt, ängstlich darauf bedacht, bloß davon nicht abzuweichen. Diese Angst ist der bestmögliche Dünger für den Zerfall der Gesellschaft. Denn Maßlosigkeit und Einseitigkeit des Urteils zerstört den wohlmeinenden Streit, das demokratische Ringen um gute Lösungen. In ihrem ersten gemeinsamen Buch analysieren die Bestseller-Autoren Richard David Precht und Harald Welzer die Mechanismen, die in diese Sackgasse führen: Wie kann eine liberale Demokratie mit pluraler Medienlandschaft sich selbst so gefährden? Wie ist es in Deutschland, dem Land einer lange vorbildlichen Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich ebenso vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks dazu gekommen? Wie konnte und kann die Medienlandschaft durch die »vierte Gewalt« selbst unfreier werden? Und was bildet das veröffentlichte Meinungsbild ab, wenn es mit dem öffentlichen so wenig übereinstimmt? Wir müssen verstehen, wie unsere Demokratie nicht durch Willkür und Macht »von oben«, sondern aus der Sphäre der Öffentlichkeit selbst unterspült wird –erst dann kann die »vierte Gewalt« ihrer Rolle wieder gerecht werden.

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Buch

Was Massenmedien berichten, weicht oft von den Ansichten und Eindrücken großer Teile der Bevölkerung ab – gerade, wenn es um brisante Geschehnisse geht. So entsteht häufig der Eindruck, die Massenmedien in Deutschland seien von der Regierung oder »dem Staat« manipuliert. Aber die heutige Selbstangleichung der Medien hat mit einer gelenkten Manipulation nichts zu tun. Die Massenmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache: mit immer stärkerem Hang zum Einseitigen, Simplifizierenden, Moralisierenden, Empörenden und Diffamierenden. Und sie bilden die ganz eigenen Echokammern einer Szene ab, die stets darauf blickt, was der jeweils andere gerade sagt oder schreibt, ängstlich darauf bedacht, bloß davon nicht abzuweichen. Diese Angst ist der bestmögliche Dünger für den Zerfall der Gesellschaft. Denn Maßlosigkeit und Einseitigkeit des Urteils zerstört den wohlmeinenden Streit, das demokratische Ringen um gute Lösungen. In ihrem ersten gemeinsamen Buch analysieren die Bestseller-Autoren Richard David Precht und Harald Welzer die Mechanismen, die in diese Sackgasse führen: Wie kann eine liberale Demokratie mit pluraler Medienlandschaft sich selbst so gefährden? Wie ist es in Deutschland, dem Land einer lange vorbildlichen Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich ebenso vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks dazu gekommen? Wie konnte und kann die Medienlandschaft durch die »vierte Gewalt« selbst unfreier werden? Und was bildet das veröffentlichte Meinungsbild ab, wenn es mit dem öffentlichen so wenig übereinstimmt? Wir müssen verstehen, wie unsere Demokratie nicht durch Willkür und Macht »von oben«, sondern aus der Sphäre der Öffentlichkeit selbst unterspült wird – erst dann kann die »vierte Gewalt« ihrer Rolle wieder gerecht werden.

Autoren

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Von 2011 bis 2023 war er zudem Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.

Harald Welzer ist einer der streitbarsten Intellektuellen in Deutschland. Mit Witz und scharfsinnigen Argumenten engagiert er sich für eine bessere und offene Gesellschaft, für Nachhaltigkeit und Demokratie. Er ist Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. Daneben lehrt er an der Universität St. Gallen und an der ETH Zürich. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.

Richard David Precht

Harald Welzer

Die vierte Gewalt

Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.

Die Printausgabe im Hardcover-Format dieses Buches erscheint im S.Fischer Verlag.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe September 2022

Copyright © 2022 der E-Book-Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Cover: Werner Marschall | LINIENLAND

JT · cf

E-Book-Erstellung: PRHV

ISBN978-3-641-30363-1V005

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Einleitung 7

Der Brief 16

Ungleiche Meinungen über das Gleiche 30

Eine Frage des Systemvertrauens 50

The Unmarked Space 70

Gala-Publizistik 85

Auf den Cursor kommt es an! 101

Kapieren kommt von Kopieren 116

Die große Ansteckung 132

Verzweiseitigung 147

Erregungsökonomie 161

Vertrauen herstellen 184

Anmerkungen 199

Einleitung

Deutschland, eines der freiesten Länder der Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit. In einer Allensbach-Umfrage im Juni 2021 meinten 44 Prozent der Befragten, man könne seine Meinung nicht frei äußern – der höchste Wert, der seit Beginn der Umfrageserie 1953 je gemessen wurde.[1] Zehn Jahre zuvor waren nur 26 Prozent dieser Auffassung.

Selbstverständlich ist die Zahl von 44 Prozent Zweiflern kein Beleg dafür, dass man in Deutschland tatsächlich nicht frei seine Meinung sagen darf. Doch 44 Prozent der Deutschen, die an der Meinungsfreiheit zweifeln, sind dennoch kein Pappenstiel. Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei nicht um eine kleine Minderheit und um die vernachlässigbare Sicht radikalisierter Außenseiter. Vielmehr ist es ein hochdramatischer Befund im Hinblick auf das Demokratievertrauen in unserem Land.

Deutschland, das Land der Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hat auch ein Problem mit dem Vertrauen in seine Leitmedien.[2] Von über 4000 im Jahr 2022 von RTL / ntv repräsentativ befragten Bürgerinnen und Bürgern gaben nur noch 46 Prozent an, sie hätten »Vertrauen in die Presse«. 55 Prozent vertrauen dem Radio und gerade einmal 32 Prozent dem Fernsehen. Alle Werte sind gegenüber dem Vorjahr gesunken.[3] Dieses Meinungsbild ist kein Einzelfall. Nach einer FORSA-Umfrage von 2022 sagen 43 Prozent der Befragten, der Journalismus sei in den letzten Jahren schlechter geworden.[4] Schon 2015 verzeichnete eine Umfrage von Infratest / Dimap im Auftrag des WDR 42 Prozent Befragte, die deutsche Medien für »nicht glaubwürdig« halten. Ein Drittel sprach von einem in den letzten Jahren gesunkenen Medienvertrauen. 42 Prozent der Befragten meinen, dass es aus der Politik Vorgaben für die Berichterstattung gebe. Und ein Fünftel der Befragten hält sogar den berüchtigten »Lügenpresse«-Vorwurf für berechtigt.[5]

Solche Zahlen sind alarmierend. Was ist in Deutschland geschehen, dass das Medienvertrauen nur noch so schwach ausgeprägt ist? Wir wagen in dieser Frage eine Hypothese: Die Migrationskrise, die Corona-Pandemie und zuletzt der Ukraine-Krieg haben die Rolle, die Funktionsweise und das Selbstverständnis der Leitmedien deutlich verändert. Die »Vierte Gewalt« begnügt sich spätestens seit diesen Geschehnissen nicht mehr mit einer umsichtigen Kontrollfunktion des politischen Journalismus. Die Politik, so scheint es, soll von den Leitmedien nicht schlichtweg kontrolliert, nein, sie soll oft genug mit Macht zu Entscheidungen getrieben werden! Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen. Und das Erstaunliche daran ist, es gelingt ihnen ziemlich gut! Wie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gut dokumentiert, ist der Einfluss der Medien auf die Politik in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich,[6] zuletzt sogar enorm gestiegen, bezahlt allerdings mit dem genannten Preis: dem dramatischen Vertrauensverlust der Bürger in die veröffentlichte Meinung. Denn je einflussreicher die Leitmedien wurden und werden, umso misstrauischer werden ihre Konsumentinnen und Konsumenten.

Doch das Problem ist noch größer. Politik- und Medienwissenschaftler diagnostizieren schon lange die unheilvolle Tendenz, dass die Demokratie, wie wir sie kannten, sich in eine »Mediokratie« transformiert.[7] Das Mediensystem kolonialisiert in dieser Sicht das politische System und lässt es zunehmend nach den gleichen Spielregeln des Aufmerksamkeitskampfes funktionieren. Massenmedial gehetzte und getriebene Politiker, die zudem jede Äußerung, ja, jeden Gesichtsausdruck durch vorauseilende Selbstzensur überprüfen müssen, um nicht skandalisiert zu werden, dürften kaum die notwendige Gelassenheit haben, um eine weitsichtige und vernunftgeleitete Politik zu verfolgen. Und der öffentliche Raum als Ort unausgesetzter Sensationierung und Skandalisierung lässt wenig Platz für Glaubwürdigkeit, Sachverstand, Bürgernähe und Tatkraft – ebenjene Eigenschaften, die Bürger an Politikern gemeinhin am meisten schätzen.[8] Der wachsende Einfluss der Medien verändert also nicht nur ihre Macht, sondern er verändert zugleich auch die Politik.

Über die letzten fünfzehn Jahre wurde die Gefährdung der demokratischen Öffentlichkeit fast ausnahmslos den neu entstandenen Direktmedien[9] angelastet. Twitter, TikTok und Telegram, dazu die ungezählten Kanäle demokratiefeindlicher Influencer galten als der Quell der Desinformation und gesellschaftlicher Manipulation. Natürlich sind einseitige Berichterstattung, Manipulation und Diffamierung aber keineswegs ein originäres Produkt der Direktmedien – auch Blätter wie die Bild-Zeitung haben da Traditionen, und die algorithmische Bevorzugung von Skandal- und Klamaukfähigem hat ihre Vorläufer im Boulevard. Aber durch die Direktmedien ist die Zahl von Skandalthemen größer und die Hemmschwellen sind niedriger geworden. So wird die Kultur der Assholery nicht mehr nur in den digitalen Kanälen der Dauererregten gepflegt – ihr Ungeist ist längst aus den Direktmedien entwichen und zuhauf in jene Leitmedien eingewandert, die bislang für sich in Anspruch nehmen, für Qualität zu stehen.

Das aktuelle Beispiel des Ukraine-Krieges liefert hier erschreckende Belege. Die nahezu geschlossen einseitige Positionierung der Kommentare, Leitartikel und Kolumnen meinungsführender Publizisten in den deutschen Leitmedien, die Lieferung schwerer Waffen an die von Russland überfallene Ukraine nicht nur gutzuheißen, sondern vom Bundeskanzler nachdrücklich zu fordern, ist ein demokratisch höchst bedenkliches Phänomen. Denn die Geschlossenheit geschieht auf Kosten des Pluralismus und der Rückbindung an eine Leser- und Zuschauerschaft, die diese Geschlossenheit nicht zeigt. Erschreckender noch sind das moralistische Hyperventilieren und der Hang zur Diffamierung Andersdenkender – gefährliche Übernahmen aus der Unkultur der Kommunikationsformen in den Direktmedien, für die Deutschlands Qualitätspresse zuvor gerade nicht bekannt war.

Das frappierend einheitliche Meinungsbild in einer so schwierigen, komplexen und hochkontroversen Frage wie jener der Waffenlieferungen an die Ukraine zeitigt eine gefährliche Folge. So leicht und zu oft drängt sich vielen Beobachtern der völlig falsche Eindruck auf, die Leitmedien in Deutschland seien von der Regierung oder »dem Staat« manipuliert. Man denkt an Länder wie Russland, China, die Türkei oder die arabische Welt, wo eine solche krasse Abweichung der veröffentlichten Meinung von der öffentlichen tatsächlich von Staatswegen verursacht ist. Wie leicht lässt sich die Inkongruenz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung, wie Deutschland sie derzeit erlebt, deshalb missverstehen – eben als Machenschaft und Manipulation?

Tatsächlich hat sie mit einer gelenkten Manipulation überhaupt nichts zu tun. Bei uns geht sie, anders als in der Türkei, in Russland, in China und in der arabischen Welt nicht unmittelbar vom Staat aus, sondern – und das ist erstaunlich – von den Leitmedien selbst! Die Leitmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Aber sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache, mit – zumindest in Krisenzeiten und solchen, die als diese empfunden werden – sich verstärkendem Hang zum Polarisierenden, Simplifizierenden, Moralisierenden, Autoritären und Diffamierenden. Und sie bilden ihre ganz eigenen Echokammern einer Szene, die stets darauf blickt, was die oder der jeweils andere gerade sagt oder schreibt, ängstlich darauf bedacht, davon nicht abzuweichen. Genau damit aber nähren die – nennen wir sie: amtierenden – Medien bedauerlicherweise viele unbegründete Verdächtigungen, die das Ihre dafür tun, die Sphäre der Öffentlichkeit zu zerstören, indem sie kollektive Zweifel daran befördern, dass unsere Leitmedien »frei« sind und die Meinungsfreiheit garantiert.

Dass unsere Demokratie nicht durch Willkür und Macht »von oben«, sondern aus der Sphäre der Öffentlichkeit selbst unterspült wird, ist ein vermutlich beispielloser Vorgang. Demokratietheoretisch ist er bislang nicht vorgesehen. Wie kann eine liberale Demokratie mit pluraler Medienlandschaft sich selbst gefährden? Aus dieser Frage entspringen viele weitere: Wie ist es in Deutschland, dem Land einer lange vorbildlichen Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich ebenso vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dazu gekommen, dass sich die leitmediale Kommunikation so stark verändert hat? Wie konnte und kann, wo die politische Freiheit fast kontinuierlich gestiegen ist, die Medienlandschaft durch eine verstörende Eigengesetzlichkeit unfreier werden? Und was bildet das veröffentlichte Meinungsbild ab, wenn es mit dem öffentlichen so wenig übereinstimmt?

Ohne Zweifel ist es nicht die Aufgabe von Journalisten und Redakteurinnen, stets minutiös und adäquat widerzuspiegeln, was die Bevölkerung gerade denkt. Im Gegenteil: Sie soll ihren professionellen Vorsprung an recherchiertem Wissen und gesicherter Information an die Bürgerinnen und Bürger weitergeben, damit diese angemessen an den öffentlichen Angelegenheiten teilhaben können. Gleichwohl setzt ihr öffentlich-rechtlicher und auch selbstgestellter Anspruch auf Wahrheitstreue und Pluralität der ungehemmt einseitigen Meinungsfreude Grenzen. So unabhängig von den Voraussetzungen, die der freiheitliche Staat ihnen garantiert, dürfen sie nicht sein. Und eine etablierte Medienlandschaft, die in wichtigen gesellschaftlichen Fragen in Kauf nimmt, sich weit von einem erheblichen Teil ihrer Zuschauer, Zuhörerinnen und Leser zu entfernen, ist ein Problem für eine Demokratie. Denn eine durch wechselseitige Bestätigung suggerierte Mehrheitsmeinung, die de facto gar keine sein muss, trennt die Sphäre der veröffentlichten Meinung zu stark von der öffentlichen. Genau das ist es, was wir im Untertitel dieses Buches herausstellen.

Die demokratiefremde »Entschlossenheit« und »Geschlossenheit« der amtierenden Medien zum Ukraine-Krieg ist nur das jüngste Beispiel für einen falsch verstandenen professionellen Auftrag – schon zuvor zeigten sich viele Leitmedien im Stresstest von Kosovo- und Irak-Krieg, von Finanz- über »Migrations-« bis »Corona-Krise« nicht eben vorbildlich differenziert.

Das gilt für ihre Informationsfunktion, die oft genug nicht von implizit transportierten Meinungen zu trennen ist, was schon in der Auswahl von Themen liegt, über die und über die nicht berichtet wird. Es gilt aber auch für die für unsere Leitmedien elementare Integrationsfunktion. Zeitungen und Rundfunk haben die Aufgabe, die in »vielfältige Interessen differenzierte Gesellschaft« abzubilden.[10] Doch kann hiervon mehrheitlich die Rede sein? Obsiegte nicht der Anspruch, die Politik zu bestimmten Entscheidungen zu treiben – Entscheidungen, die oft Wochen später gleich wieder attackiert oder skandalisiert wurden? Die Öffentlichkeit, unverzichtbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, verkam und verkommt so in weiten Teilen zur Bühne permanenter Empörung.

Solche Asymmetrien, Macht- und Bedeutungsverschiebungen im großen gesellschaftlichen Debattenraum sind für die Frage nach der Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft entscheidend. Sie sind kein ästhetisches oder rein ökonomisches Phänomen, sondern sie gehen an die Substanz der offenen Gesellschaft, sind existenziell. Denn ohne eine gut funktionierende, lebendige und prinzipiell anschlussfähige Öffentlichkeit sind liberale Demokratien weder liberal noch demokratisch. Und der hohe Anspruch an die freiheitliche Demokratie geht historisch wie systematisch mit einem hohen Anspruch an die Qualität ihrer Öffentlichkeit einher. Doch genau diese Qualität ist heute in der Breite in Frage gestellt.

Wohin die Entwicklung führen kann, zeigt verstörend ein Blick in die USA. Die mediale Landschaft ist dort mit der hiesigen aufgrund der fast vollständigen Privatisierung der Medien und der schon lange erfolgten Zerstörung einer auch in den ländlichen Räumen vitalen Presselandschaft nicht direkt vergleichbar.[11] Aber das Beispiel USA zeigt, wie eine einstmals stabile Demokratie von innen heraus erodieren kann, wenn nicht strikt darauf geachtet wird, dass explizite Regeln und implizite Normen des demokratischen Rechtsstaats geschützt und bewahrt werden. Der Wahlkampf, der schließlich zum Sieg Donald Trumps führte, war schon stark von Kampagnen auf Facebook, Instagram und Twitter geprägt, die zu einer bis dato unbekannten Polarisierung führten. Seine dann von Wirrnissen und Unruhen, aber auch von unablässigem Twittern gekennzeichnete Präsidentschaft war kein Unfall, sondern zeigt die Symptomatik einer zersplitternden Gesellschaft. Der Kitt, der westliche Gesellschaften zusammenhält, bröckelt. Und der gesellschaftliche Zerfall, der in den USA offensichtlich und in Frankreich wie in England bereits im Gange ist, mag in Deutschland noch immer in weiter Ferne liegen; am Horizont aber gewinnt er auch hier an Kontur.

Vorbereitet und verstärkt wurde der Ausblick auf die gesellschaftliche Erosion in den USA nicht nur durch soziale Konflikte um Arbeitsplätze, Güterverteilung und Identitäten. Er geht ebenso einher mit einer massiven Veränderung der Leitmedien. Die Landschaft der Qualitätszeitungen in den Vereinigten Staaten zählt mehr Krater als unversehrtes Terrain, Fox News und andere vulgärpopulistische Fernsehsender heizen die Stimmung an, die sozialen Medien mit ihren Echokammern fragmentieren die Öffentlichkeit in voneinander isolierte Atolle. Bekanntermaßen bildet die Empörungskultur der Medien jene in der Bevölkerung nicht schlichtweg ab, sondern erzeugt sie mit. Diese Entwicklung ist keine Kleinigkeit. Wenn der Kampf um Aufmerksamkeit, Marktanteile und Deutungshoheiten mit immer aggressiveren Mitteln geführt wird, kann von einer funktionierenden Öffentlichkeit nicht mehr die Rede sein.

Inszenierte Empörung, millionenfach multipliziert, ist der wohl wirksamste Treiber für den Zerfall der Gesellschaft. Die Sensationierung der Öffentlichkeit geht der Sensationierung der Gemüter voraus. Die zur Regel gewordene Maßlosigkeit des Urteils zerstört das gesellschaftliche Maß. Und das permanent überdimensionierte Urteil untergräbt das Urteilsvermögen. »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert«, sagt die Gräfin Orsina in Lessings Emilia Galotti, »der hat keinen zu verlieren.« Wer über alles den Verstand verliert, allerdings auch nicht!

Aus solcher Sorge um die Qualität der Öffentlichkeit haben wir dieses Buch geschrieben. Und als wollte man unsere Thesen vorauseilend bestätigen, ohne sie überhaupt kennen zu können, ging die hyperventilierende Kritik an diesem Buch und an unseren Personen sofort los, als nur die Verlagsankündigung erschien – da wusste nicht nur die Twitter-Community sofort, dass das alles Mist ist, sondern auch Armin Wolf vom ORF oder die Chefreporterin des Hauptstadtbüros von t-online oder Joachim Huber vom Berliner Tagesspiegel. Früher hat man wenigstens noch so getan, als habe man gelesen, was man kritisiert, heute scheint selbst das So-Tun nicht mehr nötig. Aus nostalgischer Erinnerung sei dazu nur erwähnt: Doof sein galt früher nicht als Tugend.

Dabei werden viele unserer Analysen unter Politik-, Kommunikations- und Medienwissenschaftlern kaum als Neuigkeit gelten – hier wird der oft frappierende »Hang zur Homogenisierung des journalistischen Informierens, Urteilens und Meinens«[12] schon lange herausgearbeitet und geteilt. Wirkungsvoll jenseits von Fachdiskussionen aber wird diese Erkenntnis vielleicht dann werden, wenn die Kritik von Autoren kommt, die selbst vielfach in den Leitmedien präsent sind – sogar gelegentlich, worüber wir sprechen werden, Teil des Problems gewesen sind.

Dabei versteht sich von selbst, dass, wenn wir von den Leitmedien oder den amtierenden Medien sprechen, nicht alle daran Beteiligten meinen. Angesprochen bei den von uns aufgezeigten Tendenzen ist nur, wer sich bei realistischer Selbstbetrachtung angesprochen fühlen muss, nicht aber all die guten Journalistinnen, Redakteure und Blattmacher, die, wie wir aus lebhaften Debatten, ungezählten Gesprächen und persönlichen Freundschaften wissen, unsere Sorge nicht nur verstehen, sondern auch teilen. Und selbstverständlich sehen wir, dass das Wegbrechen der Anzeigeneinnahmen und die gravierenden wirtschaftlichen Veränderungen in der Medienlandschaft dazu geführt haben, dass sich die Kräfteverhältnisse weg von den Redaktionen hin zu den kaufmännischen Abteilungen verlagert haben, was die Arbeit der einzelnen Journalistinnen und Journalisten nicht einfacher gemacht hat.

So wie die freihändige Kritik an unserem Buch nur aufgrund der Verlagsankündigung schon ein quod erat demonstrandum ist, sind wir darauf gefasst, für unsere Überlegungen heftig angegriffen zu werden: Jede Kritik an den Medien muss ja durch diese hindurch. Eine reflektierte Diskussion über das Selbstverständnis und die Funktionsweise der amtierenden Medien scheint uns gleichwohl überfällig. Und wir hoffen sehr darauf, dass die Reaktionen – neben gewiss berechtigter Kritik an unserer Argumentation – nicht einmal mehr die Mechanismen bestätigen, die wir beschreiben: dass man das Buch entweder ignoriert oder, sehr viel wahrscheinlicher, die Kritik durch Personalisierung abwehrt – was erlauben Precht, was erlauben Welzer, haben keinen Mut an Worten, aber ich weiß, was denken über diese Spieler!

Der Brief

»Vor einigen Wochen lancierten Alice Schwarzer und die Zeitschrift ›Emma‹ einen von achtundzwanzig aus Funk und Fernsehen bekannten Westdeutschen unterschriebenen ›Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz‹. Tags darauf wurde er, zur Sammlung weiterer Unterschriften, als Petition auf der Plattform change.org freigeschaltet. Zum Inhalt des ›Offenen Briefes‹ gibt es nicht viel zu sagen. In einer ruhigen Stunde wird der Präsident der Russischen Föderation dieses Schriftstück in sein Poesiealbum einkleben, mit dem Blut jener verschleppten Ukrainer vielleicht, denen die russische Armee bis an den Rand der Bewusstlosigkeit Blut abnimmt, um ihre eigenen Verwundeten damit zu versorgen.«

So formulierte es der Schriftsteller Marcel Beyer am 27. Mai 2022 auf der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Dresden,[13] und man fragt sich, was wohl in diesem Brief gestanden haben mochte, das Beyer zu dieser splattermäßigen Einlassung führte. Nun, die »aus Funk und Fernsehen bekannten Westdeutschen« waren etwa der ostdeutsche Filmemacher Andreas Dresen oder der aus Halberstadt stammende Autor und Filmer Alexander Kluge, der aus dem Fernsehen eher weniger bekannte Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der österreichische Medientheoretiker Peter Weibel, die in Brandenburg lebende Autorin und Verfassungsrichterin Juli Zeh und noch einige andere, zum Beispiel Martin Walser oder Svenja Flaßpöhler.

Ob der kriegführende russische Diktator Interesse an Briefen hat, die an den deutschen Bundeskanzler gerichtet sind, scheint eher zweifelhaft; zumal der Inhalt dieses Briefes lediglich ein Hinweis darauf war, dass es erstens Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gibt, die zögerliche Politiker in gefährlichen Situationen wünschenswert finden, und dass es zweitens Schutzpflichten von Staaten gegenüber ihren Bevölkerungen gibt. So wie die Regierenden in der Ukraine verantwortlich für ihr Volk sind, so auch der Bundeskanzler in Deutschland für die deutsche Bevölkerung. Der Brief war also nicht mehr als ein begründetes Votum dafür, nicht nur einer beständigen Steigerung von Waffenlieferungen, sondern vor allem der Diplomatie Aufmerksamkeit zu widmen und auf einen Waffenstillstand zu drängen. Er hatte das Ziel, die Gewalteskalation zu brechen und im günstigen Erfolgsfall einigen 10 000 Menschen das Leben zu bewahren.

Obwohl der Brief kurz und ziemlich harmlos war, zog er eine Welle der Empörung und des Hasses nach sich, inklusive ziemlich widerwärtiger Gewaltphantasien vom Typ Marcel Beyer. Denn während binnen kurzer Zeit weitere 300 000 Bürgerinnen und Bürger den Brief unterzeichneten, überzog die Qualitätspresse von taz bis Welt die Urheberinnen und Urheber mit Angriffen und Häme von bestürzender Aggressivität. Und die Talkshow-Redaktionen bereiteten Sendungen vor, in denen jeweils eine Unterzeichnerin oder ein Unterzeichner des Offenen Briefes gegen drei oder vier andere Gäste anzutreten hatte, zumeist dezidierte Verfechter von gesteigerten Waffenlieferungen.

Parallel dazu, zwischen dem 29. April und dem 2. Mai, dokumentierte das RTL / ntv-Trendbarometer ein Meinungsbild in der Gesamtbevölkerung, in der sich Befürwortung und Ablehnung der Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät mit 46 Prozent (Befürwortung) und 44 Prozent (Ablehnung) fast die Waage hielten, während zehn Prozent der Befragten keine Meinung dazu hatten.[14] Der ARD-Deutschlandtrend kam auf genau 45 Prozent Zustimmung und 45 Prozent Ablehnung.[15] Die Initiatoren des Briefes standen mithin keineswegs für eine randständige oder gar abseitige Position. Stattdessen konnten sie mit Recht argumentieren, sie machten eine Perspektive öffentlich geltend, die weder im Parlament noch in Parteien noch in den Medien angemessen repräsentiert war – obwohl etwa die Hälfte der Bevölkerung sie teilte.

Warum also der überbordende Affekt? Exakt deswegen! Nicht nur die politische Klasse hatte sich parteiübergreifend (außer Linke und AfD) auf eine einheitliche Erzählung über den Ukraine-Krieg und die Strategie zu seiner politischen Bearbeitung verständigt. Auch die mediale Deutungselite teilte so gut wie geschlossen die gleiche Interpretation und befürwortete fast unisono dieselben Mittel. Wo sich die Mehrheitspolitik und die Leitmedien einig sind – in Übereinstimmung, wie es immer hieß, »mit den Verbündeten« –, die von Russland überfallene Ukraine militärisch weiter zu stärken, wirkte der Offene Brief wie ein öffentlicher Angriff auf diese Einigkeit. Und nur sehr wenige betrachteten ihn als das, was er war und ist: ein in einer Demokratie selbstverständliches und wünschenswertes Einbringen eines weiteren Gesichtspunktes.

Stattdessen aber störte der Offene Brief die soziale Konformität der Realitätswahrnehmung in den Leitmedien und das damit einhergehende »Gruppendenken« (group think), wie es der Sozialpsychologie aus den Studien von Irving Janis bestens vertraut ist:[16] Mitglieder eines Teams oder eines Gremiums passen ihre individuellen Wahrnehmungen und Auffassungen denen der Gruppe an und schließen damit alternative Deutungen der Situation, mithin womöglich angemessenere Lösungsstrategien, systematisch aus. Janis illustrierte dieses Phänomen ebenfalls am Beispiel eines militärischen Konflikts: der US-amerikanischen Invasion in der Schweinebucht, mit der die Kennedy-Administration um ein Haar den Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte – John F. Kennedy übrigens hatte seither immer darauf geachtet, dass an Sitzungen stets »Sachfremde« beteiligt wurden, um die fatale Neigung zum Gruppendenken systematisch zu schwächen. Vergleichbare Beispiele finden sich allerorten, und zwar leider besonders dann, wenn Gefahr und Handlungsdruck vorzuliegen scheinen und Einsprüche und gegenläufige Argumente von der entscheidenden Gruppe als störend, behindernd oder gar als defätistisch empfunden werden.

Blenden wir mit Janis zurück auf die Situation, in die hinein der Offene Brief erschien. Es war der 29. April 2022, gut zwei Monate nach dem völkerrechtswidrigen Angriff der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Nachdem es als ein zuvor ehernes Prinzip deutscher Außenpolitik galt, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern,[17] hielt Bundeskanzler Scholz am 27. Februar auf einer Sondersitzung im Bundestag eine Rede, in der er einen Paradigmenwechsel ankündigte: Nach der Versicherung, dass man in der Verteidigung der Ukraine »auf der richtigen Seite der Geschichte« stehe, teilte er den tags zuvor getroffenen Regierungsbeschluss mit, »dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird«. Und dass der deutschen Bundeswehr mit Hilfe eines »Sondervermögens« von 100 Milliarden Euro auf die Sprünge geholfen und künftig die NATO-Vorgabe von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung erfüllt werden solle (so vom Bundestag beschlossen am 3. Juni 2022.

Diese Rede wurde schon Minuten später von Medienvertretern als »historisch« bezeichnet, obwohl sich derlei in der Regel erst nach Jahren, mitunter nach Jahrzehnten erweist. In der politisch-medialen Hauptstadtszene setzte sich sofort die Auffassung durch, man sei – wie die Außenministerin es formuliert hatte – nach dem 24. Februar in einer »anderen Welt« aufgewacht. Demzufolge konnte man sich eben auch von bis dahin geltenden Überzeugungen umgehend verabschieden. Eine wichtige Rolle bei allen dann folgenden eiligen Verabschiedungen spielte die ukrainische Regierung mit zahlreichen Online-Auftritten ihres Präsidenten Selenskyj, ebenso zahlreichen Talkshow-Besuchen ihres Botschafters Melnyk und hoher medialer Präsenz der in Deutschland prominenten Klitschko-Brüder. Das machte großen Eindruck nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU und in der US-Administration. Der deutsche Bundeskanzler und seine Verteidigungsministerin sahen sich so einem immensen und immer stärker anwachsenden medialen Druck ausgesetzt, schneller mehr Waffen und schließlich insbesondere »schwere Waffen« zu liefern – worunter gemeinhin Kampfpanzer, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und U-Boote verstanden werden.

Der Kanzler zögerte trotz dieses Drucks gelegentlich. Ihm war, wie er ausdrücklich betonte, bewusst, dass der unterstützende Westen gegen eine Atommacht aufrüstete, gegen die man – wie Jürgen Habermas am 29. April in der Süddeutschen Zeitung formulierte – einen Krieg nicht gewinnen könne, jedenfalls nicht durch ein unbegrenztes Mehr, eine Eskalation. Sicher ging Scholz die unangenehme Möglichkeit im Kopf herum, als derjenige Kanzler in die Geschichte einzugehen, der Deutschland in den Dritten Weltkrieg geführt habe. Und ebenso sicher wollte er jede Eskalation vermeiden, die den Beistandsfall der NATO und damit ihren unmittelbaren Kriegseintritt ausgelöst hätte. So entstand eine Situation, in der das Drängen der ukrainischen Regierung auf ein Zögern des deutschen Regierungschefs traf. Zugleich aber hatte die allgemeine Empörung über den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg zu einer großen Welle vielfach bekundeter Solidarität mit der Ukraine geführt, in der den Forderungen der Ukraine moralisch nur schwer zu entkommen war. Zu dramatisch schienen die Bilder von flüchtenden Frauen und Kindern und von an die Front ziehenden Männern, zu zwingend die Rhetorik des bald schon im militärischen Outfit auftretenden und in alle europäischen Parlamente geschalteten ukrainischen Präsidenten.

Die Menschen in der Bundesrepublik entwickelten eine mitfühlende Anteilnahme am Geschehen in der Ukraine, und ihre Hilfsbereitschaft gegenüber den geflüchteten Menschen übertraf jene gegenüber den Opfern des Syrienkrieges, sieben Jahre zuvor, noch bei weitem. Zugleich trat ein verblüffender Schuldstolz der politischen Klasse zutage, der in der Geschichte der Bundesrepublik seinesgleichen sucht. Das jahrzehntelang gepflegte und lange erfolgreiche Konzept des Wandels durch Annäherung und Handel galt plötzlich als der Irrtum unserer Zeit. Mitbeerdigt wurde zugleich die Kultur der Verhandlungen und der Diplomatie sowie die dauerhafte Perspektive einer Friedensordnung unter Einschluss Russlands. All dies stand blitzartig und über Nacht als fürchterlicher Irrtum im Raum.

Souffliert wurde das Schuldstolz-Thema von politischen Journalisten wie dem stellvertretenden Welt-Chefredakteur Robin Alexander, der als Talkshow-Gast fortan jeden Sozialdemokraten mit scharfen Fragen zur blauäugigen ostpolitischen Vergangenheit konfrontierte, und von inquisitorisch fragenden Talkmastern, immer auf der dringenden Suche nach der scheinbar geheimen Antwort auf die Frage, wie man sich in Putin nur so hatte täuschen können. Die Leitmedien zogen aus, suchten und erkannten überall Schuldige und entlarvten dabei vorwiegend Sozialdemokraten als lebensgefährliche Illusionisten. Sogar der Bundespräsident, der formal höchste Amtsträger im Staat, wurde zum Schuldeingeständnis genötigt, die ehemaligen BundeskanzlerInnen Gerhard Schröder und Angela Merkel sollten ebenfalls bekennen, verweigerten das aber.

Dies alles vor dem Hintergrund, dass im Detail nicht immer wirklich klar war, welche ganz konkreten Handlungen der Vorgängerregierungen nun diese Exkommunikation verdienten und ein öffentliches Schuldgelöbnis erforderten. Bestürzend aber auch, dass die Mehrheit der politischen Journalistinnen und Journalisten nicht mit sich selbst ins Gericht ging: Hatten sie nicht selbst jahrzehntelang die gleichen Lieder gesungen, die sie jetzt als Teufelslitanei verdammten? Waren sie nicht genauso dabei gewesen und hätten den Hahn dreimal krähen hören müssen? Und waren die mutmaßlichen Illusionen der verurteilten Politiker nicht auch ihre eigenen gewesen? Wieder einmal jedenfalls erwies sich das klassische Diktum der Neuen Frankfurter Schule als zutreffend: »Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.«

Tatsächlich wurde der Begriff der Scham schnell zu einem journalistischen Thema. Verleger wie Mathias Döpfner, Chefredakteure und politische Kommentatoren schämten sich öffentlich zuhauf und machten somit das privateste ihrer Gefühle öffentlich. Aber sie schämten sich nicht für sich selbst und ihre früheren (wirtschafts-)politischen Überzeugungen, sondern inszenierten die Kunst des öffentlichen Fremdschämens hinsichtlich des Bundeskanzlers, der Schreiber des Offenen Briefes oder gar für das ganze Land. Intimes Schämen für andere als öffentliches Gelöbnis – schöner ließ sich der Bekenntnisdrang zum Guten nicht äußern und die eigene Mittäterschaft kaschieren.

Das Massenfremdschämen der Besserwisser im Nachhinein wurde so zum Teil einer hegemonialen Erzählung. Die komplexe geopolitische Lage wird darin auf ein vergleichsweise niedrigkomplexes Niveau tiefer gelegt und in eine Geschichte gegossen, die durch folgende Eckpunkte festgelegt ist: Demokratie steht gegen Diktatur; der Diktator ist zu allem fähig; sein Expansionsdrang wird nach der Okkupation der Ukraine ungebremst weitergehen; eine militärische Aggression kann nur mit Stärke bekämpft werden; Verhandlungen haben zu nichts geführt und werden auch in Zukunft zu nichts führen; Kriegsverbrechen gehen ausschließlich auf die barbarische Natur des Aggressors zurück, nicht auch auf die Natur des Krieges. Angegriffene sind unabhängig von ihren Überzeugungen und Motiven »Helden«, Angreifer sind unabhängig von ihren Überzeugungen und Motiven Verbrecher, Mörder, »Horden«, »Soldateska«, »Schergen«, folgen ganz einfach »dem Barbarismus der russischen Zerbombungsmoral«.[18]

Der Vorteil einer solchen ziemlich einfachen Geschichte ist: Sie lässt ein äußerst komplexes und vor allem überraschendes und bedrohliches Geschehen als einfach und beherrschbar erscheinen. Für Gesellschaften – gerade für jene, die über mehrere Generationen hinweg nicht von Krieg betroffen waren – gibt es für die Einschätzung des künftigen Verlaufs eines Krieges ebenso wenig ein Script wie für das angemessene Reagieren der Politik. So entsteht mit der Situation des Kriegsausbruchs ein großes Orientierungsdefizit. Da Menschen Lagen mit ungewissen Parametern und vor allem ungewissem Ausgang aber schwer aushalten, gibt es sofort das Bedürfnis, das Orientierungsdefizit loszuwerden, also Orientierung zurückzugewinnen. So wird jeder Krieg immer auch zu einer Geschichte, in deren Rahmen die Ereignisse verstehbar werden. Doch eine Geschichte, die Orientierungsdefizite ausgleichen soll, ist notwendigerweise eine vereinfachende Geschichte. Je mehr sie ausblendet, umso stimmiger wird sie. Kriegsgewalt macht Weltsichten manichäisch; es dampft sie zu einem scharfen, simplen und maßlosen Gut-Böse-Schema ein. Und der gewaltige Schritt vom brutalen Angriff der russischen Armee auf die Ukraine zum Angriff auf Moldau, das Baltikum, Polen, Deutschland und den ganzen Westen erscheint nicht als absurd, sondern als zwingende Folge der Entfesselung eines unbegrenzten Bösen. So definiert das Narrativ die Gestalt der Geschichte des Krieges, und umgekehrt rahmt diese Geschichte die Wahrnehmung des Geschehens.

Ausgekleidet wird eine solche Geschichte mit ihr entsprechenden Begriffen von Heldentum und Feigheit, Ehrbarkeit und Niedertracht, Zivilisiertheit und Barbarei. Das binäre Schema verstärkt die Selbsteinschätzung, auf der ungetrübt guten Seite des Geschehens zu stehen und zugleich im Alleinbesitz von Klarheit und Moral zu sein. Alle Guten sind immer durch und durch gut und alle Bösen immer und durch und durch schlecht. Selbstverständlich ist der Diktator Putin beim Überfall auf die Ukraine der Täter. Aber lässt sich daraus auch folgern: Wenn Fluchtkorridore scheitern, kann das nur an den Russen liegen? Waisenkinder werden nicht in Sicherheit gebracht, sondern deportiert? Kriegsverbrechen werden nur von russischen Soldaten begangen? Und menschliche Schutzschilde sucht man sich nur auf russischer Seite? Und kämpfen umgekehrt tatsächlich alle Ukrainer freiwillig heldenhaft für ihr Vaterland? Wünschen sie sich allesamt, die Russen zurückzuschlagen, koste es an Blutzoll, was es wolle? Und zerstört nicht der Krieg auch ihre Seelen und macht sie zu Grausamkeiten bereit, die Zivilisten sich nicht vorstellen können?

Das leitmedial breit erzählte Narrativ hat mit solchen Fragen Probleme. Wann immer Kriege ausbrechen, erfolgt regelmäßig eine entsprechende Komplexitätsreduktion. Der früh verstorbene amerikanische Pragmatist Randolph Bourne analysierte dies bereits 1914 angesichts des Ersten Weltkriegs in einem Essay mit dem Titel »The Disillusionment«. »Bourne beobachtete«, schreibt der Romanist und Kulturtheoretiker Jan Söffner, »wie nationalistische Ideologie und hierarchische Loyalitätsansprüche den politischen und wirtschaftlichen Pluralismus ausschalteten, wie politische Meinungsäußerung zu Landesverrat wurde, wie Wohlstand und Freiheit zugunsten militärischer Zwecke untergraben wurden, wie Befehlsketten die komplexe Architektur der Verwaltung ablösten, die Bürokratie erstarkte und sich in eine effiziente hierarchische Ordnung verwandelte, wie staatliche Symbole mit der Aura des Heiligen belegt wurden und das gesellschaftliche sowie private Leben der Funktionalität des Militärs untergeordnet wurde (und so weiter und so fort). Er fasste diese Beobachtungen in einer Theorie zusammen, der zufolge auch in friedlichen staatlichen Zusammenhängen immer die Möglichkeit der Regression auf militärische Organisationsformen gegeben ist.«[19]

Bourne schrieb vor mehr als hundert Jahren. Aber dasselbe geschieht auch in der Gegenwart. Krieg ist nicht, wie im zu Tode zitierten Clausewitz-Diktum, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern etwas anderes als Politik. Er erzählt eine andere Geschichte. Die Gewalt macht den Unterschied. Und Krieg findet nicht ausschließlich auf Schlachtfeldern statt, sondern er spielt sich zugleich ab in Begriffen, Narrativen, Bildern, heute auch auf YouTube, Twitter, TikTok und Instagram. Jeder Krieg ist eine Geschichte, und obwohl im Fall des Ukraine-Krieges die NATO-Staaten stets darauf bestanden, nicht Kriegspartei zu sein, wurden sie es psychologisch doch schon in dem Moment, in dem sie ihre Geschichte manichäisch verengten und simplifizierten.

Dass Leitmedien sich im Angesicht von Kriegen eng an die Regierungspolitik anschließen, ist auch in der Bundesrepublik kein Ausnahmefall, sondern die Regel. Inhaltsanalytische Studien aus den vergangenen Jahren sprechen hier eine deutliche Sprache. Eine Auswertung der Leitartikel in Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und taz zwischen dem 25. März und dem 20. Juni 1999 – dem Zeitraum zwischen dem Beginn und dem Ende der NATO-Bombardierungen im Kosovo-Krieg – kam zu dem Schluss, dass der Mediendiskurs die politische Linie »fast identisch« reproduzierte, und dies, obwohl die Entscheidung über den Kriegseintritt eine deutliche Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte darstellt.[20] Eine Analyse der medialen Begleitung des Afghanistan-Krieges, der 519 Kommentare in Welt, FAZ, SZ, FR und taz zugrunde lagen, fand zwei Drittel kriegsunterstützende Aussagen.[21]