Die volle Wahrheit - Terry Pratchett - E-Book

Die volle Wahrheit E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Wie funktioniert Enthüllungsjournalismus auf der Scheibenwelt? Seit kurzem hat auch die Presse in Ankh-Morpork Fuß gefasst - und ihr rechtschaffener Herausgeber William de Worde kommt einem unfassbaren Skandal auf die Spur ...

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Terry Pratchett, geboren 1948, ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen Romanen wurden weltweit rund 65 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke in 37 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau Lyn in der englischen Grafschaft Wiltshire.

Informationen zu Terry Pratchett auch unter www.pratchett-buecher.de und www.pratchett-fanclub.de.

Terry Pratchett bei Goldmann und Manhattan:

Die Romane von der bizarren Scheibenwelt:

Voll im Bilde • Alles Sense! • Total verhext • Einfach göttlich • Lords und Ladies Helle Barden • Rollende Steine • Echt zauberhaft • Mummenschanz • Hohle Köpfe Schweinsgalopp • Fliegende Fetzen • Heiße Hüpfer • Ruhig Blut! • Der fünfte Elefant Die volle Wahrheit • Der Zeitdieb • Die Nachtwächter • Weiberregiment • Ab die Post • Klonk! • Schöne Scheine • Der Club der unsichtbaren Gelehrten • Steife Prise

Märchen von der Scheibenwelt:

Maurice, der Kater • Kleine freie Männer • Ein Hut voller Sterne • Der Winterschmied • Das Mitternachtskleid

Zwei Scheibenwelt-Romane in einem Band:

Total verhext/Einfach göttlich • Lords und Ladies/Helle Barden · Rollende Steine/ Echt zauberhaft • Mummenschanz/Hohle Köpfe • Schweinsgalopp/Fliegende Fetzen

Von der Scheibenwelt außerdem erschienen:

Wahre Helden. Ein illustrierter Scheibenwelt-Roman · Die Kunst der Scheibenwelt Das Scheibenwelt-Album. Illustriert von Paul Kidby · Mort. Der Scheibenwelt-Comic. Illustriert von Graham Higgins • Wachen! Wachen! Der Scheibenwelt-Comic. Illustriert von Graham Higgins • Nanny Oggs Kochbuch. Mit Rezepten von Tina Hannan. Illustriert von Paul Kidby • Die Straßen von Ankh-Morpork. Eine Scheibenwelt-Karte • Die Scheibenwelt von A - Z • Mythen und Legenden der Scheibenwelt • Witz und Weisheit der Scheibenwelt • Narren, Diebe und Vampire. Die besten Geschichten aus zehn Jahren Scheibenwelt-Kalender

Dazu ist erschienen:

Die gemeine Hauskatze. Illustriert von Gray Jolliffe • Eine Insel. Roman

Außerdem sind Johnny-Maxwell-Romane von Terry Pratchett erschienen:Nur du kannst die Menschheit retten/Nur du kannst sie verstehen/Nur du hast den Schlüssel. Drei Romane in einem Band

Weitere Bücher von Terry Pratchett sind in Vorbereitung.

Inhaltsverzeichnis

HINWEIS DES AUTORSCopyright

HINWEIS DES AUTORS

Manchmal muss ein Autor betonen, wie seltsam die Realität sein kann. Die Methode, mit der Ankh-Morpork seine Überflutungsprobleme bewältigte (siehe ab Seite 297), hat auch die Stadt Seattle im US-Staat Washington angewandt. Im Ernst. Sehen Sie es sich selbst an. Und probieren Sie die Muschelsuppe, während Sie dort sind.

Das Gerücht breitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt aus (und Lauffeuer hatten sich oft in Ankh-Morpork ausgebreitet, seit die Bewohner die Bedeutung des Begriffs »Versicherung« kannten).

Die Zwerge können Blei in Gold verwandeln …

Es summte durch die übel riechende Luft des Alchimistenviertels, wo man dieses seit Jahrhunderten zu bewerkstelligen versuchte und sicher war, es bis morgen schaffen zu können, oder zumindest bis zum nächsten Dienstag, aber ganz sicher bis zum Ende des Monats.

Es ließ die Zauberer der Unsichtbaren Universität spekulieren. Sie wussten, dass man ein Element in ein anderes verwandeln konnte, vorausgesetzt man hatte nichts dagegen, dass es sich am nächsten Tag wieder zurückverwandelte, und so etwas konnte wohl kaum sinnvoll sein.

Es brannte sich in die vernarbten, angeschwollenen und manchmal ganz fehlenden Ohren der Diebesgilde, wo man damit begann, die Brecheisen zu schleifen. Wen kümmerte es, woher das Gold kam?

Die Zwerge können Blei in Gold verwandeln …

Das Gerücht erreichte die kalten, aber sehr aufmerksamen Ohren des Patriziers, und zwar ziemlich schnell – man bleibt nicht lange Herrscher von Ankh-Morpork, wenn man Neuigkeiten nicht sofort hört. Er seufzte, schrieb eine Notiz und legte sie auf den Stapel der anderen.

Die Zwerge können Blei in Gold verwandeln …

Schließlich gelangte es auch an die spitzen Ohren der Zwerge.

»Können wir das wirklich?«

»Will verdammt sein, wenn ich das wüsste. Ich kann’s nicht.«

»Ja, aber wenn du es könntest, würdest du es nicht zugeben. Ich meine, ich würd’s nicht sagen, wenn ich es könnte.«

»Kannst du’s?«

»Nein!«

»Ah-ha!«

Das Gerücht erreichte auch die Ohren der Nachtwache beim Tordienst, um zehn Uhr an einem frostigen Abend. Der Tordienst in Ankh-Morpork war nicht besonders anstrengend. Er bestand hauptsächlich darin, alles durchzuwinken, was das Tor passieren wollte, und im dunklen, eiskalten Nebel herrschte kaum Verkehr.

Mit hoch gezogenen Schultern standen die Wächter im Schutz des Torbogens und rauchten eine feuchte Zigarette.

»Man kann nicht etwas in etwas anderes verwandeln«, sagte Korporal Nobbs. »Die Alchimisten versuchen das schon seit Jahren.«

»Sie sind imstande, ein Haus in ein Loch im Boden zu verwandeln«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Das meine ich ja«, sagte Korporal Nobbs. »Es ist einfach nicht möglich. Es liegt an den … Elementen. Das weiß ich von einem Alchimisten. Alles besteht aus Elementen, klar? Erde, Wasser, Luft, Feuer und … Dingsbums. Ist allgemein bekannt. Alles hat sie in sich vermischt.«

Er stampfte mit den Füßen, um sie ein wenig zu wärmen.

»Wenn man Blei wirklich in Gold verwandeln könnte, wären alle damit beschäftigt«, sagte er.

»Zauberer können es«, meinte Feldwebel Colon.

»Oh, na ja, Magie.« Nobby winkte ab.

Ein großer Karren rumpelte aus den gelbgrauen Schwaden, passierte das Tor und bespritzte Colon, als er durch eine der Pfützen rollte, die zu den typischen Merkmalen der Straßen von Ankh-Morpork gehörten.

»Blöde Zwerge«, sagte er, als der Karren den Weg in die Stadt fortsetzte. Aber Colon sprach dabei nicht zu laut.

»Es waren ziemlich viele, die den Karren schoben«, meinte Korporal Nobbs nachdenklich. Der große Wagen wackelte um eine Ecke und geriet außer Sicht.

»Wahrscheinlich liegt’s an all dem Gold«, sagte Colon.

»Ha! Ja. Das dürfte die Erklärung sein.«

Und das Gerücht erreichte die Ohren von William de Worde. In gewisser Weise blieb es dort, denn er schrieb es pflichtbewusst nieder.

Das war seine Aufgabe. Lady Margolotta von Überwald schickte ihm dafür fünf Ankh-Morpork-Dollar pro Monat. Ebenso die Herzoginwitwe von Quirm. Und auch König Verence von Lancre sowie einige andere prominente Persönlichkeiten in den Spitzhornbergen. Der Serif von Al Khali bezahlte ihn zweimal im Jahr mit einer halben Wagenladung Feigen.

Im Großen und Ganzen glaubte William, dass er auf eine gute Sache gestoßen war. Er brauchte nur einen Brief zu schreiben, ganz sorgfältig, und ihn dann auf ein Stück Buchsbaumholz zu übertragen, das er sich von Herrn Kratzgut besorgte, dem Graveur und Holzschneider in der Straße Schlauer Kunsthandwerker. Anschließend bezahlte er Herrn Kratzgut zwanzig Dollar dafür, vorsichtig all das Holz zu entfernen, das nicht für die Buchstaben gebraucht wurde, und dann fertigte er fünf Drucke auf Papier an.

Natürlich musste er dabei an alles denken, zum Beispiel daran, hinter »An meinen ehrenwerten Kunden« und ähnlichen Bemerkungen freie Stellen zu lassen, um diese später auszufüllen. Aber selbst nach Abzug der Kosten blieben fast dreißig Dollar für kaum mehr als einen Tag Arbeit im Monat übrig.

Ein junger Mann ohne große Verantwortung konnte mit dreißig oder vierzig Dollar im Monat ein bescheidenes Leben in Ankh-Morpork führen. Die Feigen verkaufte William de Worde stets. Zwar war es möglich, allein von Feigen zu leben, aber man wünschte sich doch bald, nicht darauf angewiesen zu sein.

Außerdem bot die Welt der Buchstaben gute Möglichkeiten, hier und dort etwas hinzuzuverdienen. Für viele Bewohner von Ankh-Morpork bestand sie nur aus geheimnisvollen Papierobjekten, aber wenn sie einmal Schriftliches benötigten, gingen sie die knarrende Treppe hoch, vorbei an dem Schild »William de Worde: Geschriebene Dinge«.

Zum Beispiel die Zwerge. Immer wieder kamen Zwerge auf der Suche nach Arbeit in die Stadt, und als Erstes schickten sie einen Brief nach Hause, in dem es hieß, wie gut es ihnen ging; selbst dann, wenn der betreffende Zwerg so sehr in Not geraten war, dass er den eigenen Helm verspeisen musste. William hatte dies zum Anlass genommen, Herrn Kratzgut mit der Herstellung einiger Dutzend allgemeiner Briefe zu beauftragen, bei denen er nur einige wenige leere Stellen ausfüllen musste, um sie zu vervollständigen und individuell wirken zu lassen.

Überall in den Bergen freuten sich stolze Zwergeneltern über Briefe, die etwa so aussahen:

Liebe/r [Mutter und Fater]

Nun, ich binne gut angekommen, und meine Adresse lautet: [Unbesonnenheitsstraße 9, Schatten, Ankh-Morpork]. Alles isset gut. Ich habe einen guten Dschob und arbeite für [Herrn T. M. S. I. D. R. Schnapper, wagemutiger Geschäftsmann], und sicher dauert es nicht mehr lange, bis ich einen Haufen Gelt verdiene. Ich erinnere mich an alle eurige guten Ratschläge und trinke nicht und treibe mich auch nicht in Kneipen herum und pflegige keinen Umgang mit Trollen. Nun das wär’s auch schon, ich musse jetzt Schluss machen, freue mich sehr darauf, dich und [Emilia] baldigst wiederzusehen, euer euch liebender Sohn.

[Thomas Bruchbraue]

… der für gewöhnlich schwankte, wenn er diesen Brief diktierte. Es waren leicht verdiente zwanzig Ankh-Morpork-Cent. Als zusätzliche Dienstleistung passte William die Schreibweise dem Auftraggeber an und ermöglichte es seinen Kunden, selbst über die Interpunktion zu entscheiden.

An diesem besonderen Abend, während draußen Schneeregen in den Abflussrohren gluckerte, saß William in seinem kleinen Büro über der Gilde der Beschwörer und schrieb sorgfältig. Mit halbem Ohr lauschte er dem hoffnungslosen, aber sehr gewissenhaften Katechismus der Gildenschüler, die ein Zimmer weiter unten am Abendunterricht teilnahmen.

»Achtung, aufgepasst. Seid ihr soweit? Na schön. Ei. Glas …«

»Ei. Glas«, wiederholte die Klasse lustlos.

»… Glas. Ei …«

»Glas. Ei …«

»… Magisches Wort …«

»Magisches Wort …«

»Fazamm. Einfach so. Ahahahahaha …«

»Faz-amm. Einfach so. Aha-ha-ha-ha-ha …«

William griff nach einem weiteren Blatt Papier, spitzte einen neuen Federkiel, blickte einige Sekunden lang an die Wand und schrieb dies:

»Und schließlich noch ein amüsanter Hinweis. Es heißt, die Zwerge könnten Blei in Gold verwandeln, doch kennt niemand den Ursprung dieses Gerüchts, und Zwergen, die in der Stadt ihren rechtmäßigen Angelegenheiten nachgehen, ruft man Bemerkungen zu wie: ›Holla, Knirps, zeig uns mal, wie du etwas in Gold verwandelst!‹ Allerdings lassen sich nur Neuankömmlinge dazu hinreißen, denn in dieser Stadt wissen alle, was passiert, wenn man einen Zwerg ›Knirps‹ nennt.

Dein ergebener Diener, William de Worde«

Er legte immer Wert darauf, seine Briefe mit einem vergnüglichen Hinweis zu beenden.

William griff nach einem Stück Buchsbaumholz, zündete eine weitere Kerze an und legte den Brief mit der Vorderseite nach unten auf das Holz. Rasches Reiben mit der Rückseite eines Löffels übertrug die Tinte – dreißig Dollar und genug Feigen, um es einem richtig schlecht werden zu lassen, waren bereits so gut wie auf der Bank.

Noch an diesem Abend wollte er das Buchsbaumholz zu Herrn Kratzgut bringen und die Drucke morgen nach einem großzügigen Mittagessen abholen. Mit ein wenig Glück hatte er bis zur Mitte der Woche alle Briefe abgeschickt.

William streifte den Mantel über, wickelte das Holzstück vorsichtig in Wachspapier und trat in die kalte Nacht hinaus.

Die Welt besteht aus vier Elementen: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Das ist allgemein bekannt, und selbst Korporal Nobbs weiß darüber Bescheid. Aber es stimmt nicht. Es gibt auch noch ein fünftes Element – meistens nennt man es Überraschung.

Zum Beispiel konnten die Zwerge tatsächlich Blei in Gold verwandeln, allerdings auf die schwierige Weise. Der Unterschied zwischen der leichten und schwierigen Mehode besteht darin, dass die schwierige funktioniert.

Die Zwerge schoben ihren überladenen, knarrenden Karren über die Straße und spähten durch den Nebel. Eis formte sich am Wagen und an Bärten.

Jetzt fehlte nur noch eine zugefrorene Pfütze.

Der gute alte Zufall. Auf ihn kann man sich verlassen.

Der Nebel wurde dichter, verwandelte jedes Licht in ein mattes Glühen und dämpfte alle Geräusche. Feldwebel Colon und Korporal Nobbs zweifelten kaum daran, dass es keine barbarischen Horden gab, deren Reisepläne in dieser Nacht die Eroberung von Ankh-Morpork vorsahen. Die Wächter konnten es ihnen nicht verdenken.

Sie schlossen das Tor. Das war keineswegs eine bedrohliche oder gar verhängnisvolle Aktivität, denn der Schlüssel war schon vor langer Zeit verloren gegangen. Wer zu spät kam, warf einfach kleine Steine an die Fenster der Häuser auf dem Wall, bis er einen Freund fand, der den Riegel hob. Man ging davon aus, dass feindliche Eroberer nicht wussten, an welche Fenster sie kleine Steine werfen mussten.

Anschließend stapften Colon und Nobbs durch den Schneematsch zum Wassertor, das dem Fluss Ankh Gelegenheit gab, die Stadt zu erreichen. Das Wasser blieb im Dunkeln verborgen, aber dann und wann zeichneten sich unter der Brüstung die geisterhaften Konturen einer Eisscholle ab.

»Warte mal«, sagte Nobby, als sie nach der Winde des Fallgatters griffen. »Da unten ist jemand.«

»Im Fluss?«, fragte Colon.

Er lauschte. Tief unten knarrte ein Ruder.

Feldwebel Colon wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund und hob die Stimme zum traditionellen Polizistenruf:

»He! Du!«

Einige Sekunden lang hörte man nur das Seufzen des Winds und plätscherndes Wasser. Schließlich erwiderte eine Stimme: »Ja?«

»Willst du die Stadt erobern, oder was?«

Wieder folgte kurze Stille. Dann:

»Was?«

»Was was?«, erhöhte Colon den Einsatz.

»Wie lauten die anderen Möglichkeiten?«

»Versuch nicht, mich an der Nase herumzuführen. Willst du, dort unten im Boot, diese Stadt erobern?«

»Nein.«

»Gut«, sagte Colon. In einer solchen Nacht war er durchaus bereit, sich auf das Wort eines Unbekannten zu verlassen. »Dann beeil dich, wir wollen nämlich das Gatter herablassen.«

Kurze Zeit später ertönte wieder das Platschen der Ruder und verschwand flussabwärts.

»Glaubst du wirklich, es genügt, einfach zu fragen?«, ließ sich Nobby vernehmen.

»Die Fremden sollten doch wissen, was sie wollen, oder?«, erwiderte Colon.

»Ja, aber …«

»Es war nur ein kleines Ruderboot, Nobby. Wenn du all die eisverkrusteten Stufen an der Landungsbrücke hinuntergehen willst …«

»Nein, Feldwebel.«

»Dann lass uns zum Wachhaus zurückkehren.«

William klappte den Kragen hoch, als er zum Graveur Kratzgut eilte. Die normalerweise verkehrsreichen Straßen waren leer; wer sich jetzt draußen aufhielt, musste irgendwelche dringenden Dinge erledigen. Alles deutete darauf hin, dass ein ziemlich scheußlicher Winter bevorstand, ein Gazpacho aus kaltem Nebel, Schnee und dem für Ankh-Morpork typischen, überall präsenten Smog.

Bei der Uhrmachergilde bemerkte William einen matten Lichtschein. Eine kleine Gestalt mit hochgezogenen Schultern zeichnete sich in dem Glühen ab.

Er trat näher.

»Heißes Würstchen?«, erklang eine hoffnungslose Stimme. »Mit Brötchen?«

»Herr Schnapper?«, fragte William.

Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, Ankh-Morporks unternehmungslustigster und erfolglosester Geschäftsmann, blickte über seinen Bauchladen hinweg. Schneeflocken fielen zischend in gerinnendes Öl.

William seufzte. »Du bist noch spät auf den Beinen, Herr Schnapper«, sagte er.

»Ach, Herr Worde, die Zeiten sind schlecht im Würstchengeschäft«, klagte Schnapper.

»Du läufst Gefahr, vom Fleisch zu fallen, wie?«, fragte William. Selbst für hundert Dollar und eine Schiffsladung Feigen hätte er nicht auf diese Bemerkung verzichtet.

»Der Lebensmittelmarkt ist in eine Krise geraten«, sagte Schnapper und nahm die Anspielung nicht zur Kenntnis. »Heutzutage scheint niemand mehr Interesse an einem heißen Würstchen zu haben.«

William sah auf den Bauchladen hinab. Wenn Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper heiße Würstchen verkaufte, so war das ein sicheres Zeichen dafür, dass eins seiner ehrgeizigeren Unternehmen zu einem Fiasko geführt hatte. Der Verkauf von heißen Würstchen stellte gewissermaßen Schnappers ökonomische Basis dar, die er immer wieder zu verlassen versuchte – und zu der er zurückkehrte, sobald er mit seinem neuesten geschäftlichen Wagnis scheiterte. Eins musste man Schnapper lassen: Er verstand es ausgezeichnet, heiße Würstchen zu verkaufen. Bei der Art seiner Würstchen brauchte er großes Verkaufstalent.

»Wenn ich doch nur eine richtige Bildung hätte, so wie du«, sagte Schnapper niedergeschlagen. »Eine angenehme Arbeit daheim, ohne schwere Dinge heben zu müssen. Mit einer guten Bildung hätte ich bestimmt eine Nitsche für mich gefunden.«

»Nitsche?«

»Ein Zauberer hat mir davon erzählt«, erklärte Schnapper. »Jeder hat eine Nische. Du weißt schon, einen eigenen Platz. Eine Bestimmung.«

William nickte. Mit Worten kannte er sich aus. »Nische?«, fragte er.

»Was in der Art, ja.« Schnapper seufzte. »Das mit den Semaphoren habe ich verpasst. Hab’s einfach nicht kommen sehen. Plötzlich hatte jeder eine eigene Nachrichtengesellschaft. Alle wollten ordentlich Geld scheffeln, und da blieb für unsereins nicht mehr viel übrig. Mit dem Fäng Schui hätte ich erfolgreich sein können. War reines Pech, dass es nicht geklappt hat.«

»Ich habe mich mit dem Stuhl an einer anderen Stelle wirklich besser gefühlt«, sagte William. Dieser Rat hatte ihn zwei Dollar gekostet, zusammen mit der Anweisung, den Deckel auf dem Abort zu lassen, damit der Drache der Traurigkeit ihm nicht in den Hintern flog.

»Du warst mein erster Kunde, und dafür danke ich dir«, sagte Schnapper. »Es war alles vorbereitet, die Schnapper-Windspiele, die Schnapper-Spiegel und so weiter. Es hätte überhaupt keine Probleme geben dürfen, denn alle Dinge waren so positioniert, dass sie maximale Harmonie zum Ausdruck brachten. Und dann … paff! Schon wieder fällt ein übles Karma auf mich herab.«

»Es dauerte eine Woche, bis Herr Nochmehrdavon wieder gehen konnte«, sagte William. Der Fall von Schnappers zweitem Kunden war für die Nachrichtenbriefe sehr nützlich gewesen und damit die zwei Dollar durchaus wert.

»Ich wusste gar nicht, dass es tatsächlich einen Drachen der Traurigkeit gibt«, meinte Schnapper.

»Vielleicht gab es auch gar keinen – bis du ihn davon überzeugt hast, dass einer existiert«, entgegnete William.

Schnappers Miene erhellte sich ein wenig. »Ah, ja, du kannst sagen, was du willst: Ich habe es immer gut verstanden, Ideen und Vorstellungen zu verkaufen. Kann ich dich vielleicht davon überzeugen, dass du ein heißes Würstchen essen möchtest?«

»Oh, ich muss weiter, um dies hier …« William unterbrach sich. »Hat da gerade jemand geschrien?«

»Irgendwo habe ich auch noch ein Stück Schweinefleischpastete«, sagte Schnapper und suchte in seinem Bauchladen. »Ich biete es dir zum Sonderpreis an …«

»Ich bin ganz sicher, dass ich etwas gehört habe«, sagte William.

Schnapper spitzte die Ohren. »Eine Art Rumpeln?«, fragte er.

»Ja.«

Sie starrten in die träge wogenden Nebelschwaden des Breiten Weges.

Die sich plötzlich in einen großen, von einer Plane bedeckten Karren verwandelten, der sich unaufhaltsam und schnell näherte …

Bevor etwas aus der Nacht herangeflogen kam, ihn zwischen den Augen traf und alles schwarz werden ließ, hörte William noch, wie jemand rief: »Haltet die Presse fest!«

Das Gerücht – Williams Federkiel hatte es so ans Papier geheftet wie einen Schmetterling an Kork – kam einigen Leuten nicht zu Ohren, weil sie mit anderen, dunkleren Dingen beschäftigt waren.

Ihr Ruderboot glitt durch das zischende Wasser des Ankh. Dahinter schlossen sich die Fluten langsam wieder.

Zwei Männer hielten Ruder in den Händen. Ein dritter Mann saß am spitzen Ende des Bootes, gelegentlich sprach er.

Er sagte Dinge wie: »Mir juckt die Nase.«

»Du wirst dich gedulden müssen, bis wir unser Ziel erreicht haben«, erwiderte einer der beiden Ruderer.

»Ihr könntet mich noch einmal losbinden. Das Jucken ist ziemlich unangenehm.«

»Wir banden dich los, als wir eine Pause zum Abendessen einlegten.«

»Da juckte mir die Nase nicht.«

Der zweite Ruderer fragte: »Soll ich ihm noch einmal mit dem …ten Ruder auf den …ten Kopf schlagen, Herr Nadel?«

»Gute Idee, Herr Tulpe.«

Es pochte dumpf in der Dunkelheit.

»Au.«

»Mach kein Theater mehr, Freund, sonst verliert Herr Tulpe die Geduld.«

»Da hast du …t Recht.« Das folgende Geräusch klang nach einer Hochleistungspumpe.

»He, sei vorsichtig mit dem Zeug!«

»Hat mich …t noch nicht umgebracht, Her Nadel.«

Das Boot wurde langsamer und blieb neben einem kleinen, nur selten benutzten Landesteg im Wasser stecken. Die hoch gewachsene Gestalt, die zuvor Herrn Nadels Aufmerksamkeit beansprucht hatte, wurde an Land gehoben und dann durch eine Gasse gezerrt.

Kurze Zeit später rollte eine Kutsche durch die Nacht davon.

Man sollte meinen, in einer so dunklen, kalten und nebligen Nacht gebe es keine Zeugen für diese Szene.

Doch, das Universum verlangt einen Beobachter für alle Ereignisse, denn anderenfalls würden sie gar nicht stattfinden.

Eine Gestalt löste sich aus den Schatten einer nahen Gasse. Eine kleinere Gestalt wackelte unsicher an ihrer Seite.

Beide sahen der Kutsche nach, als sie hinter einem Vorhang aus Schnee verschwand.

Die kleinere Gestalt sagte: »Na so was. Ein gefesselter Mann. Den Kopf unter einer Kapuze verborgen. Interessant, nicht wahr?«

Die größere Gestalt nickte. Sie trug einen alten, mehrere Nummern zu großen Paletot und einen Filzhut, dem Alter und Wetter ein kegelförmiges Erscheinungsbild gegeben hatten. Der Mantel reichte ein ganzes Stück über die Ohren hinweg.

»Mistundverflucht«, sagte sie. »Hafer und Hose, gar der grauslich Mann. Ich hab’s ihm gesagt. Ich hab’s ihm gesagt. Jahrtausendhand und Krevetten. Verdammich.«

Die größere Gestalt zögerte kurz, griff dann in die Hosentasche, holte eine Wurst hervor und zerbrach sie in zwei Hälften. Eine Hälfte verschwand unterm Hut, die andere wurde der kleineren Gestalt zugeworfen, die den größten Teil des Sprechens erledigte. Besser gesagt: Die meisten Worte, die einen Sinn ergaben, kamen von ihr.

»Sieht mir ganz nach einem Verbrechen aus«, sagte die kleinere Gestalt, die vier Beine hatte.

Die Wurst wurde in aller Stille verspeist. Dann wanderte das Paar weiter durch die Nacht.

So wie eine Taube nicht gehen kann, ohne mit dem Kopf zu wippen, schien die größere Gestalt unfähig zu sein, ohne beständiges Murmeln einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Ich hab’s ihnen gesagt. Ich hab’s ihnen gesagt. Jahrtausendhand und Krevetten. Ich hab’s gesagt, ich hab’s gesagt, ich hab’s gesagt. O nein. Aber sie liefen nur hinaus. Ich hab’s ihnen gesagt. Mistkerle. Türstufen. Gesagt hab ich’s ihnen, gesagt, gesagt. Zähne. Dingsbums und Alter. Gesagt hab ich’s ihnen, es ist nicht meine Schuld, Tatsache, Tatsache, ist doch ganz klar …«

Das Gerücht erreichte die Ohren dieser Gestalt erst später, und zu dem Zeitpunkt war sie bereits Teil davon.

Was Herrn Nadel und Herrn Tulpe betrifft … Derzeit genügt es, Folgendes über sie zu wissen: Sie gehören zu den Leuten, die einen »Freund« nennen, aber alles andere als freundlich sind.

William öffnete die Augen. Ich bin erblindet, dachte er.

Dann strich er die Decke beiseite.

Eine halbe Sekunde später schlug der Schmerz zu.

Es war ein stechender und sehr beharrlicher Schmerz, der seinen Ursprung direkt über den Augen hatte. Vorsichtig tastete er nach der entsprechenden Stelle und fühlte etwas, das eine Mulde im Fleisch oder gar im Knochen zu sein schien.

William setzte sich auf. Er befand sich in einem Raum mit niedriger Decke. Schmutziger Schnee hatte sich an einem kleinen Fenster angesammelt. Abgesehen von dem Bett, das nur aus Matratze und Decke bestand, gab es in dem Raum keine Einrichtungsgegenstände.

Dumpfes Donnern ließ das Gebäude erzittern. Staub rieselte von der Decke herab. William stand auf, presste sich die Hand an den Kopf und wankte zur Tür. Dahinter erstreckte sich ein größerer Raum, besser gesagt: eine Werkstatt.

Das dumpfe Donnern ließ Williams Zähne klappern.

Er versuchte, Einzelheiten zu erkennen.

Der Raum war voller Zwerge, die an zwei langen Tischen arbeiteten. Auf der gegenüberliegenden Seite standen einige an einem Apparat, der nach einem komplexen Webstuhl aussah.

Es donnerte erneut.

William rieb sich den Kopf. »Was ist passiert?«, fragte er.

Der am nächsten stehende Zwerg sah zu ihm auf und stieß einen Kollegen an. Der Stups wurde am Tisch entlang weitergegeben, und es dauerte nicht lange, bis im Raum vorsichtige Stille herrschte. Mehr als zehn Zwerge richteten intensive Blicke auf William.

Niemand kann intensiver blicken als ein Zwerg; vielleicht weil es nur wenig Gesicht zwischen dem obligatorischen Eisenhelm und dem Bart gibt. Bei einem Zwerg ist der Gesichtsausdruck konzentrierter.

»Äh«, sagte William. »Hallo?«

Einer der Zwerge vor der großen Maschine bewegte sich als Erster.

»Setzt die Arbeit fort, Jungs«, sagte er, trat näher und richtete einen strengen Blick auf Williams Unterleib.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Euer Lordschaft?«

William schnitt eine Grimasse. »Äh … was ist passiert?«, fragte er. »Ich erinnere mich, dass ich einen Karren gesehen habe und dann traf mich etwas …«

»Das Ding ist fortgerollt«, sagte der Zwerg. »Und die Ladung geriet ins Rutschen. Tut mir Leid.«

»Was ist mit Herrn Schnapper?«

Der Zwerg neigte den Kopf zur Seite. »Meinst du den dürren Mann mit den Würstchen?«

»Ja. Wurde er verletzt?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte der Zwerg nach kurzem Zögern. »Eins steht fest: Er hat dem jungen Donneraxt ein heißes Würstchen verkauft.«

William dachte darüber nach. In Ankh-Morpork gab es viele Fallen für einen unachtsamen Neuankömmling.

»Nun, ist mit Herrn Donneraxt alles in Ordnung?«, fragte er.

»Wahrscheinlich. Eben gerade rief er unter der Tür durch, dass er sich viel besser fühlt, aber noch einige Zeit auf dem Abort bleiben möchte.« Der Zwerg griff unter den Tisch und reichte William ein rechteckiges, in fleckiges Wachspapier gehülltes Objekt.

»Das gehört dir, glaube ich.«

William wickelte das Stück Buchsbaumholz aus. Ein Wagenrad war darüber hinweggerollt und hatte es splittern lassen. Darüber hinaus konnte man die Buchstaben kaum mehr als solche erkennen. William seufzte.

»Entschuldige bitte«, sagte der Zwerg. »Was hat es mit diesem Gegenstand auf sich?«

»Er war für einen Holzschnitt vorbereitet«, antwortete William und fragte sich, wie er dieses Konzept einem Zwerg erklären sollte, der sich erst seit kurzer Zeit in der Stadt aufhielt. »Du weißt schon. Gravuren und so. Eine … fast magische Methode, um viele Kopien eines Schriftstücks herzustellen. Ich fürchte, jetzt muss ich eine neue Vorlage anfertigen.«

Der Zwerg bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, nahm dann das Stück Buchsbaumholz und drehte es hin und her.

»Weißt du«, sagte William, »der Graveur schneidet einen Teil des Holzes weg und …«

»Hast du noch das Original?«, fragte der Zwerg.

»Wie bitte?«

»Das Original«, wiederholte der Zwerg geduldig.

»Oh, ja.« William griff in die Innentasche seiner Jacke und holte es hervor.

»Kann ich es mir kurz ausleihen?«

»Nun, meinetwegen, aber ich brauche es, um …«

Der Zwerg überflog den Brief, drehte sich dann um und schlug auf den Helm des nächsten Zwergs. Es machte laut Boing.

»Zehn Punkt, Durchschuss drei«, sagte er. Der andere Zwerg nickte. Seine rechte Hand huschte über ein Gestell mit kleinen Schachteln und wählte Dinge aus.

»Ich sollte besser heimkehren, um …«, begann William.

»Es wird nicht lange dauern«, sagte der oberste Zwerg. »Komm mit. Dies dürfte einen Literaten wie dich interessieren.«

William folgte ihm an fleißigen Zwergen vorbei zu der Maschine, die immer wieder dumpf donnerte.

»Oh«, sagte er fast enttäuscht. »Eine Gravurpresse.«

»Diese Presse ist ein wenig anders«, erwiderte der Zwerg. »Wir haben sie … modifiziert.« Er nahm einen großen Bogen Papier von einem Stapel neben der Presse und reichte ihn William, der las: .

»Was hältst du davon?«, fragte der Zwerg schüchtern.

»Bist du Gunilla Gutenhügel?«

»Ja. Wie findest du es?«

»Nun … ich muss sagen, die Buchstaben sind alle recht hübsch und regelmäßig«, meinte William. »Aber ich weiß nicht, was daran neu sein soll. Und ›bisher‹ ist falsch geschrieben. Es fehlt ein ›h‹ nach dem ›s‹. Wenn die Leute nicht lachen sollen, müsst ihr alles noch einmal aus dem Holz schneiden.«

»Glaubst du?«, fragte Gutenhügel. Er stieß einen seiner Mitarbeiter an.

»Gib mir ein kleines h, sechsundneunzig Punkt. Herzlichen Dank, Caslong.«

Gutenhügel beugte sich über die Presse, griff nach einem Schraubenschlüssel und hantierte irgendwo in mechanischer Düsternis.

»Für so saubere Buchstaben braucht man eine ruhige Hand«, sagte William. Er bedauerte ein wenig, auf den Fehler hingewiesen zu haben. Vermutlich hätte ihn niemand bemerkt. Die Bewohner von Ankh-Morpork hielten die Rechtschreibung für ein optionales Extra. Sie glaubten auf die gleiche Weise daran wie an die Zeichensetzung: Es spielte keine Rolle, wo man sie unterbrachte, solange sie nur da war.

Der Zwerg beendete seine geheimnisvolle Aktivität, betupfte im Innern des Apparates etwas mit einem Stempelkissen und richtete sich dann auf.

»Das mit der Rechtschreibung …« Bumm »… ist bestimmt nicht so wichtig«, sagte William.

Gutenhügel öffnete die Presse und reichte William einen feuchten Bogen Papier.

Er las.

Das zusätzliche ›h‹ befand sich genau an der richtigen Stelle.

»Wie …?«, begann er.

»Dies ist eine fast magische Methode, um schnell viele Kopien eines Schriftstücks herzustellen«, sagte Gutenhügel. Ein anderer Zwerg erschien an seiner Seite und hielt ein großes Rechteck. Es enthielt viele verkehrt herum aufgereihte Buchstaben aus Metall. Gutenhügel nahm es entgegen, sah William an und lächelte.

»Möchtest du noch irgendetwas verändern, bevor wir in Druck gehen?«, fragte er. »Es wäre kein Problem. Genügen dir zwei Dutzend Exemplare?«

»Meine Güte«, sagte William. »Dies ist Drucken, nicht wahr?«

Der Eimer war eine Art Taverne. Dort war es nicht besonders voll. Seit dem Niedergang des Viertels verirrte sich kaum mehr jemand hierher. Nur wenige Geschäfte säumten die Straße, dafür um so mehr Hinterhöfe und Lagerhäuser. Niemand erinnerte sich daran, warum die Straße »Schimmerstraße« hieß – sie hatte nichts Glänzendes.

Die Idee, eine Taverne ausgerechnet »Eimer« zu nennen, stand wohl kaum auf der Liste besonders guter Marketing-Entscheidungen. Eigentümer und Wirt war Herr Käse, ein hagerer, ausgetrocknet wirkender Bursche, der nur dann lächelte, wenn er von besonders scheußlichen Mordfällen hörte. Früher hatte er immer zu knapp ausgeschenkt und als Ausgleich dafür zu wenig Wechselgeld gegeben. Doch inzwischen war der Eimer zur inoffiziellen Stammkneipe der Stadtwache geworden. Polizisten trinken am liebsten dort, wo sie ungestört sind und nicht daran erinnert werden, dass sie Polizisten sind.

Daraus ergaben sich gewisse Vorteile. Selbst lizensierte Diebe verzichteten darauf, den Eimer auszurauben. Polizisten wollten ihre Ruhe haben, wenn sie tranken. Andererseits kannte Herr Käse keinen größeren Haufen von Kriminellen als jene Leute, die sich ihm in den Uniformen von Wächtern präsentierten. Schon während des ersten Monats sah er mehr falsche Dollar und sonderbare fremde Währungen als in den zehn Jahren zuvor. So etwas konnte sehr deprimierend sein. Aber einige Mordbeschreibungen waren sehr lustig.

Einen Teil seines Lebensunterhalts verdiente er mit der Vermietung einiger alter Schuppen und Keller, die an seine Taverne grenzten. Für recht kurze Zeit konnte man dort die Art von begeisterten Produzenten antreffen, die glaubte, mit der Herstellung aufblasbarer Dartscheiben viel Geld verdienen zu können.

Jetzt hatten sich erstaunlich viele Leute vor dem Eimer eingefunden und lasen ein Plakat, das Gutenhügel an die Tür geheftet hatte – noch mit dem Schreibfehler. Der Zwerg folgte William nach draußen und ersetzte das Plakat durch die korrigierte Version.

»Das mit deinem Kopf tut mir Leid«, sagte er. »Offenbar haben wir einen ziemlichen Eindruck bei dir hinterlassen. Dafür bekommst du das hier gratis.«

William schlich nach Hause und hielt sich dabei in den Schatten, um eine Begegnung mit Herrn Kratzgut zu vermeiden. Er schob die gedruckten Briefe in ihre Umschläge, brachte sie zum Mittwärtigen Tor und gab sie dort den Boten, einige Tage früher als sonst.

Die bedachten ihn mit sehr sonderbaren Blicken.

Er kehrte zu seiner Unterkunft zurück und betrachtete sich dort im Spiegel über dem Waschbecken. Ein R, gedruckt in den Farben eines Blutergusses, beanspruchte einen großen Teil seiner Stirn.

Er versteckte es hinter einem Verband.

Ihm blieben noch achtzehn Exemplare seines Nachrichtenbriefes. Er überlegte und kam sich recht wagemutig vor, als er in seinen Unterlagen nach den Adressen von achtzehn prominenten Bürgern suchte, die es sich leisten konnten, für Nachrichten zu bezahlen. In einem kurzen Begleitbrief bot er seine Dienste an, und zwar für … Er dachte gründlich darüber nach und schrieb dann sorgfältig »5 $«. Anschließend faltete er die achtzehn Blätter und steckte sie in achtzehn Umschläge. Natürlich konnte er Herrn Kratzgut bitten, weitere Kopien anzufertigen, aber so etwas hatte er nie für richtig gehalten. Der alte Knabe verbrachte den ganzen Tag damit, die Worte aus dem Holz zu schnitzen, und es gehörte sich einfach nicht, seine Kunst mit der Bitte zu beflecken, Dutzende von Duplikaten anzufertigen. Das hielt William für respektlos. Aber Metallklumpen und Maschinen brauchte man nicht zu respektieren. Maschinen lebten nicht.

Genau an dieser Stelle begannen die Probleme. Und es würde Probleme geben. Erstaunlicherweise waren die Zwerge völlig unbekümmert geblieben, als William sie darauf hingewiesen hatte, wie viel Ärger folgen konnte.

Die Kutsche errreichte ein großes Haus in der Stadt. Eine Tür wurde geöffnet. Eine Tür wurde geschlossen. Es klopfte an einer anderen Tür, die ebenfalls geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die Kutsche rollte fort.

In einem Zimmer im Erdgeschoss waren die Vorhänge zugezogen, sodass kaum mehr Licht durch die Fenster nach draußen drang. Es ertönten auch kaum Geräusche, doch ein aufmerksamer Lauscher hätte jetzt gehört, wie das Murmeln einer leisen Konversation verklang. Wenige Sekunden später wurde ein Stuhl umgestoßen, und dann riefen mehrere Stimmen gleichzeitig.

»Das ist er!«

»Es ist ein Trick … nicht wahr?«

»Mich trifft der Schlag!«

»Uns alle wird der Schlag treffen, wenn er es wirklich ist!«

Es kehrte wieder Ruhe ein, und kurze Zeit später begann jemand zu sprechen.

»Gut. Gut. Bringt ihn fort, meine Herren. Sorgt dafür, dass er es im Keller gemütlich hat.«

Schritte. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen.

Eine nörgelnde Stimme sagte: »Wir könnten ihn einfach ersetzen …«

»Nein, das können wir nicht. Unser Gast ist glücklicherweise nicht mit viel Intelligenz gesegnet.« Die Stimme des ersten Sprechers zeichnete sich durch eine besondere Qualität aus. Sie klang so, als sei es nicht nur undenkbar, sondern geradezu unmöglich, eine andere Auffassung zu vertreten. Sie war an die Gesellschaft von Zuhörern gewöhnt.

»Aber er ist ihm zum Verwechseln ähnlich …«

»Ja. Bemerkenswert, nicht wahr? Nun, wir sollten vermeiden, dass alles noch komplizierter wird. Wir sind eine Leibwache der Lügen, meine Herren. Nur wir stehen zwischen der Stadt und der Vergessenheit, deshalb müssen wir diese Chance nutzen. Vetinari mag bereit sein, die Menschen in dieser Stadt zu einer Minderheit werden zu lassen, aber um ganz ehrlich zu sein: Es wäre … bedauerlich, wenn er einem Mordanschlag zum Opfer fiele. Chaos würde seinem Tod folgen, und Chaos lässt sich nur schwer steuern. Außerdem wissen wir, dass es Leute gibt, die sich für gewisse Dinge interessieren. Nein. Es gibt einen dritten Weg. Ein langsames Dahingleiten vom einen Zustand in den anderen.«

»Und was wird mit unserem neuen Freund geschehen?«

»Oh, unsere Angestellten sind sehr einfallsreich. Sie wissen sicher, wie man mit jemandem verfährt, dessen Gesicht nicht mehr gebraucht wird.«

Gelächter folgte diesen Worten.

Die Atmosphäre in der Unsichtbaren Universität war ein wenig gespannt. Die Zauberer eilten von Gebäude zu Gebäude, blickten dabei immer wieder zum Himmel empor.

Das Problem waren die Frösche. Nicht etwa die Froschregen, die Ankh-Morpork nicht mehr so häufig heimsuchten, sondern ganz spezielle Baumfrösche aus den Regenwäldern von Klatsch. Die kleinen, bunten, fröhlichen Geschöpfe sonderten eins der scheußlichsten Gifte auf der ganzen Scheibenwelt ab. Deshalb kümmerten sich Studenten im ersten Semester um das Vivarium, in dem die Frösche glücklich ihre Tage verbrachten – so wurde nicht zu viel Bildung vergeudet, wenn etwas schief ging.

Hin und wieder nahm man einen Frosch aus dem Vivarium und setzte ihn in ein kleines Glas, wo er für kurze Zeit zu einem sehr glücklichen Frosch wurde, um dann einzuschlafen und im großen Himmelsdschungel zu erwachen.

Auf diese Weise gewann man eine Substanz, die man zu Tabletten verarbeitete. Und diese Tabletten bekam der Quästor, um seine geistige Gesundheit zu erhalten. Besser gesagt: Sie sorgten dafür, dass er scheinbar zurechnungsfähig blieb, denn nichts war so einfach in der guten alten Unsichtbaren Universität. Der Quästor hatte den Verstand unwiederbringlich verloren und halluzinierte praktisch die ganze Zeit über, doch in einem erstaunlichen Anflug von lateralem Denken hatten sich die anderen Zauberer Folgendes überlegt: Das Problem konnte aus der Welt geschafft werden, wenn sie ihn irgendwie dazu brachten, dass er sich einbildete, geistig völlig gesund zu sein.1

Im Großen und Ganzen funktionierte es gut, von einigen Anfangsschwierigkeiten abgesehen – so hatte sich der Quästor einmal stundenlang eingebildet, ein Bücherschrank zu sein. Inzwischen hielt er sich permanent für einen Quästor, und es gab nur eine unangenehme Nebenwirkung: Er war auch davon überzeugt, fliegen zu können.

Viele Leute im Universum haben törichterweise geglaubt, die Gravitation einfach ignorieren zu können, vor allem nach der Einnahme des lokalen Äquivalents von getrockneten Froschpillen. Dies führte dazu, dass die elementare Physik zusätzliche Arbeit leisten musste und es unten auf der Straße zu einem Verkehrsstau kam. Wenn sich ein Zauberer einbildet, fliegen zu können, sieht die Sache ein wenig anders aus.

»Quäästor! Komm sofort runter!«, rief Erzkanzler Mustrum Ridcully durch ein Megaphon. »Du weißt doch, dass du nicht bis über die Mauern aufsteigen sollst!«

Der Quästor schwebte dem Rasen entgegen. »Du wolltest mich sprechen, Erzkanzler?«

Ridcully winkte mit einem Blatt Papier. »Neulich hast du mich darauf hingewiesen, dass wir einen Haufen Geld für die Graveure ausgeben«, donnerte er.

Der Quästor brachte seinen Verstand auf annähernd die richtige Geschwindigkeit. »Habe ich das?«, erwiderte er.

»Du hast in diesem Zusammenhang von einer starken Belastung unseres Budgets gesprochen. Ich erinnere mich genau daran.«

Im mentalen Getriebe des Quästors griffen einige Zahnräder ineinander. »Oh. Ja. Ja. Stimmt«, sagte er. Ein weiteres Zahnrad drehte sich. »Es kostet uns jedes Jahr ein Vermögen. Die Graveursgilde …«

»Der Bursche hier behauptet …« Der Erzkanzler sah auf das Papier. »Angeblich ist er imstande, zehn Kopien von jeweils tausend Worten für einen Dollar zu liefern. Ist das billig?«

»Ich glaube, äh, da muss jemand falsch geschnitzt haben, Erzkanzler«, sagte der Quästor und fand schließlich zu dem ruhigen, beschwichtigenden Tonfall, der sich besonders gut für Gespräche mit Ridcully eignete. »Das Geld würde nicht einmal für das nötige Buchsbaumholz ausreichen.«

»Hier steht …« Papier knisterte. »Bis zu einer Größe von zehn Punkt«, sagte Ridcully.

Der Quästor verlor die Kontrolle über sich.

»Lächerlich!«

»Was?«

»Entschuldige bitte, Erzkanzler. Ich meine, das kann unmöglich stimmen. Selbst wenn jemand so gute Schnitzarbeit leisten könnte … Das Holz würde nach einigen wenigen Abdrucken zerbröckeln.«

»Du kennst dich mit solchen Dingen aus, wie?«

»Nun, mein Großonkel war Graveur, Erzkanzler. Und die Druckrechnung gehört zu unseren wichtigsten Kostenpunkten. Nicht ohne gewissen Stolz möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es mir mit großem Verhandlungsgeschick gelungen ist, bei der Gilde einen Sonderrabatt durchzusetzen …«

»Sie lädt dich zu ihrer jährlichen Schlemmerei ein.«

»Nun, als ein wichtiger Kunde wird die Universität zum offiziellen Essen der Gilde eingeladen, und da ich für diese Sache zuständig bin, nehme ich meine Verantwortung wahr und …«

»Fünfzehn Gänge, wie ich hörte.«

»… und außerdem besteht unsere Politik darin, freundschaftliche Beziehungen zu den Gilden zu unterhalten …«

»Nüsse und Kaffee nicht eingeschlossen.«

Der Quästor zögerte. Der Erzkanzler neigte dazu, sture Dummheit mit Besorgnis erregendem Scharfsinn zu vereinen.

»Das Problem, Erzkanzler«, sagte er langsam, »besteht darin, dass wir immer sehr gegen die Verwendung von Drucktypen für magische Zwecke waren, weil …«

»Ja, ja, darüber weiß ich Bescheid«, brummte Ridcully. »Aber es gibt da noch den anderen Kram, der jeden Tag mehr wird. Formulare und Diagramme und was weiß ich. Nun, ich habe mir immer ein papierloses Büro gewünscht …«

»Ja, Erzkanzler, deshalb versteckst du den ganzen Kram in Schränken und wirfst ihn nachts aus dem Fenster.«

»Sauberer Schreibtisch, klarer Verstand«, sagte der Erzkanzler. Er drückte das Werbeblatt dem Quästor in die Hand.

»Geh einfach mal hin und stell fest, ob wirklich etwas daran ist. Und ich meine gehen, nicht fliegen.«

Am nächsten Tag gab William seiner Neugier nach und kehrte zu den Schuppen hinterm Eimer zurück. Er hatte nichts zu tun, abgesehen von allem anderen, und es gefiel ihm nicht, untätig zu sein.

Es heißt, es gebe zwei Kategorien von Leuten auf der Welt. Wenn man den einen ein Glas zeigt, das genau halb voll ist, so sagen sie: Dieses Glas ist halb voll. Die anderen hingegen meinen, das Glas sei halb leer.

Allerdings gehört die Welt jenen, die das Glas ansehen und sagen: »Was ist mit diesem Glas? Entschuldigung! Dies ist mein Glas? Nein, das glaube ich nicht. Mein Glas war voll! Und es war größer!«

Und am anderen Ende der Bar ist die Welt voller Leute, die ein zerbrochenes Glas haben, oder deren Glas achtlos umgestoßen wurde (meistens von Personen, die ein größeres Glas verlangen), oder die überhaupt kein Glas haben, weil sie ganz hinten stehen und noch nicht die Aufmerksamkeit des Wirts erringen konnten.

William war einer der Glaslosen. Obwohl er zu einer Familie zählte, die nicht nur über ein großes Glas verfügte, sondern sich auch noch Personen leisten konnte, die diskret mit Flaschen in der Nähe standen und das Glas immer wieder auffüllten.

Es war eine selbst auferlegte Glaslosigkeit, die schon recht früh begonnen hatte, damals, als man ihn zur Schule fortschickte.

Williams älterer Bruder war zur Assassinenschule in Ankh-Morpork gegangen – sie galt als die beste auf der ganzen Welt für die Volles-Glas-Klasse. Als weniger wichtiger Sohn wurde William nach Huggelstein geschickt, einem so trostlosen und spartanischen Internat, dass nur die Obergläser auf den Gedanken kamen, ihre Söhne dorthin zu schicken.

Huggelstein war ein Granitgebäude in einem regennassen Moor, und sein ausdrücklicher Zweck bestand darin, Jungen zu Männern zu machen. Bei der Methode, nach Williams Erinnerungen bestand sie vor allem aus sehr einfachen und gewaltsamen Spielen im gesunden Schneeregen, gab es eine gewisse Verlustquote. Die Kleinen, Langsamen, Dicken und einfach nur Unbeliebten wurden niedergemäht, wie von der Natur geplant. Doch die natürliche Auslese geschah auf unterschiedliche Weise, und William stellte fest, dass er über ein bemerkenswertes Überlebenspotential verfügte. Auf den Sportplätzen von Huggelstein konnte man gut überleben, indem man sehr schnell lief, laut rief und auf unerklärliche Weise immer weit vom Ball entfernt war. Seltsamerweise kam er dadurch bald in den Ruf, eifrig zu sein, und Eifer wusste man in Huggelstein sehr zu schätzen, wenn auch nur deshalb, weil tatsächliche Leistung so selten war. Die Lehrer von Huggelstein glaubten, eine ausreichende Menge von Eifer könnte weniger wichtige Attribute wie Intelligenz, Weitblick und Ausbildung ersetzen.

Echten Eifer hatte William bei allen Dingen gezeigt, die Worte betrafen. In Huggelstein bedeutete das nicht viel, denn von den meisten Schulabgängern wurde in dieser Hinsicht kaum mehr erwartet, als dass sie mit ihrem Namen unterschreiben konnten (eine Fertigkeit, die fast alle Schüler innerhalb von drei oder vier Jahren erlernten). William verbrachte lange, friedliche Vormittage, indem er alles las, was ihm interessant erschien, während um ihn herum die massigen Stürmer der ersten Reihe (die eines Tages maßgeblich über die Geschicke des Landes entscheiden würden) lernten, Stifte oder Federkiele in den Händen zu halten, ohne sie zu zerbrechen.

William verließ Huggelstein mit einem guten Zeugnis, was oft der Fall ist bei Schülern, an die sich die Lehrer kaum erinnern. Anschließend fragte sich sein Vater, was er mit ihm anstellen sollte.

Er war der jüngere Sohn, und nach der Familientradition wurden jüngere Söhne in irgendeine Kirche geschickt, wo sie keinen physischen Schaden anrichten konnten. Aber das viele Lesen hatte Spuren hinterlassen. William hielt Gebete inzwischen für eine verfeinerte Methode, mit Gewittern zu reden.

Eine Arbeit bei der Landverwaltung schien durchaus akzeptabel zu sein, doch Williams Ansicht nach kam das Land auch gut allein zurecht. Er mochte die freie Natur, solange sie sich auf der anderen Seite eines Fensters erstreckte.

Eine militärische Laufbahn kam kaum in Frage. Alles in William sträubte sich dagegen, fremde Leute zu töten.

Es bereitete ihm Freude, zu lesen und zu schreiben. Worte gefielen ihm. Worte schrien nicht und verursachten auch keine anderen lauten Geräusche, wie der Rest der Familie. Sie verlangten nicht, dass man sich draußen in der Kälte schmutzig machte. Sie jagten auch keine harmlosen Tiere. Sie fügten sich seinem Willen, gehorchten ihm. Er wollte schreiben, hatte er damals gesagt.

Sein Vater war regelrecht explodiert. In seiner persönlichen Welt bekleidete ein Schriftgelehrter nur einen geringfügig höheren Platz als ein Lehrer. Bei allen Göttern, sie ritten nicht einmal auf einem Pferd! Es gab eine Auseinandersetzung.

Mit dem Ergebnis, dass William nach Ankh-Morpork reiste, dem üblichen Bestimmungsort für alle Ziellosen. Dort bestritt er mit Worten seinen Lebensunterhalt, auf eine ruhige Art und Weise. Er glaubte, es besser zu haben als sein Bruder Rupert, der groß und gutmütig war und sich ohne das Hindernis seiner Geburt bestens für Huggelstein geeignet hätte.

Und dann kam es zum Krieg gegen Klatsch.

Es war ein unwichtiger Krieg, der zu Ende ging, bevor er richtig angefangen hatte. Doch zu den Ereignissen während der wenigen verflixten Tage des Durcheinanders gehörte der Tod von Rupert de Worde. Er war für seine Überzeugungen gestorben, unter anderem für den sehr huggelsteinianischen Glauben, dass Mut eine Rüstung ersetzen konnte, und dass Klatschianer wegliefen, wenn man laut genug schrie.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte Williams Vater von den stolzen und ehrenwerten Traditionen der de Wordes gesprochen. Sie betrafen vor allem einen unangenehmen Tod, meistens den von Fremden; doch William gewann den Eindruck, dass es die de Wordes immer für einen guten zweiten Preis gehalten hatten, selbst zu sterben. Ein de Worde stand immer in vorderster Front, wenn es darum ging, die Stadt zu verteidigen. Dafür existiertensie. Lautete das Familienmotto nicht Le Mot Juste? Das richtige Wort am richtigen Platz, meinte Lord de Worde. Er konnte einfach nicht verstehen, warum William diese wundervolle Tradition ablehnte. Schließlich fand er die für Leute wie ihn typische Lösung des Problems: Er ignorierte es einfach.

Frostige Stille hatte sich inzwischen auf die de Wordes herabgesenkt. Im Vergleich dazu wirkte Winterkälte wie eine Sauna.

In einer solchen Stimmung konnte es sehr aufmunternd wirken, den Druckraum zu betreten und dort den Quästor anzutreffen, der die Theorie der Worte mit Gutenhügel diskutierte.

»Einen Augenblick, einen Augenblick«, sagte der Quästor. »Ja, in der Tat, im übertragenen Sinne bestehen Worte aus einzelnen Buchstaben, aber sie haben nur eine …« Er winkte würdevoll mit seinen langen Fingern. »… theoretische Existenz, wenn ich es so ausdrücken darf. Sie sind Worte partis in potentia, und ich fürchte, es ist außerordentlich naiv anzunehmen, sie hätten eine echte Existenz unis et separato. In der Tat, allein die Vorstellung von Buchstaben mit einer eigenen physischen Existenz ist in philosophischer Hinsicht sehr beunruhigend. Es wäre in der Tat so, als würden Nasen und Finger ganz allein in der Welt umherlaufen …«

Dreimal »in der Tat«, dachte William, der solche Dinge bemerkte. Wenn jemand in wenigen Sätzen dreimal den Ausdruck »in der Tat« verwendete, so war das ein sicheres Zeichen dafür, dass eine innere Feder zu brechen drohte.

»Wir haben ganze Kästen voller Buchstaben«, erwiderte Gutenhügel kategorisch. »Wir können jedes beliebige Wort formen.«

»Genau da liegt das Problem«, sagte der Quästor. »Angenommen, das Metall erinnert sich an die Worte, die es gedruckt hat? Graveure schmelzen wenigstens ihre Platten ein, und der reinigende Effekt des Feuers …«

»Entschuldige bitte, Hochwürden«, sagte Gutenhügel. Einer der Zwerge hatte auf seine Schulter geklopft und reichte ihm ein Blatt Papier. Er nahm es entgegen und gab es dem Quästor.

»Der junge Caslong meint, du möchtest das hier vielleicht als Souvenir«, sagte er. »Er hat alles auf den Stein gesetzt, während du gesprochen hast. Er ist ziemlich flink.«

Der Quästor versuchte, den jungen Zwerg streng von Kopf bis Fuß zu mustern. Doch diese Einschüchterungstaktik funktionierte nicht besonders gut, da zwischen Kopf und Fuß nur wenig war, das man streng mustern konnte.

»Im Ernst?«, fragte er. »Wie interessant …« Er warf einen Blick auf das Papier.

Und riss die Augen auf.

»Aber das sind …«, brachte der Quästor hervor. »Als ich sagte … Ich habe doch nur gesagt … Woher wusstest du, was ich sagen würde … Ich meine, es sind genau die richtigen Worte!«

»Natürlich sind sie nicht richtig justiert«, sagte Gutenhügel.

»He, was soll das denn heißen?«, empörte sich der Quästor.

William wandte sich von ihnen ab. Das mit dem Stein erschien ihm nicht weiter seltsam – selbst die Graveure benutzten einen großen flachen Stein als Werkbank. Und er hatte gesehen, wie die Zwerge Papierbögen von den metallenen Buchstaben zogen, also ergab auch das einen Sinn. Im Gegensatz zu den Worten des Quästors. Metall hatte gewiss keine Seele.

Er blickte über den Kopf eines Zwergs, der Drucktypen in einer metallenen Tragmulde sammelte. Die kleinen, dicken Finger huschten zwischen der Mulde und dem großen Kasten vor dem Zwerg hin und her. Oben enthielt das Gestell Großbuchstaben, die kleinen befanden sich darunter. Man konnte eine Vorstellung davon bekommen, wie der Text lauten sollte, wenn man die Bewegungen der Hände beobachtete.

»V-e-r-d-i-e-n-e-v-i-e-l-G-e-l-d-i-n-d-e-i-n-e-r-f-r-e-i-i-g-e-n-Z-e-i-t …«, murmelte er.

Eine Gewissheit formte sich. William betrachtete die schmutzigen Zettel neben dem Kasten.

Sie zeigten eine gedrängt wirkende, steile Handschrift, die auf eine anal-retentive Person hinwies, mit der Tendenz, den Stift verkrampft in der Hand zu halten.

Offenbar witterte Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper wieder ein großes Geschäft.

William dachte gar nicht bewusst darüber nach, als er sein Notizbuch hervorholte, die Spitze des Stifts befeuchtete und in seiner ganz persönlichen Kurzschrift notierte:

»Es kam zu erst. Sz. im Zsh. M. d. Einr. einer Druckmaschine b. d. Tav. Eimer, Inh. G. Gutenhügel, Zwg., überall ist gr. Int. gew. Auch b. d. Wirtsch.«

Er zögerte. Das Gespräch am anderen Ende des Raums klang jetzt versöhnlicher.

»Wie viel tausend?«, fragte der Quästor.

»Bei größeren Aufträgen wäre ein Mengenrabatt möglich«, sagte Gutenhügel. »Auch wenige Drucksachen sind kein Problem.«

Im Gesicht des Quästors lag jener warme Glanz, den man bei Leuten beobachten kann, die mit Zahlen zu tun haben und sich vorstellen, wie eine unangenehm große Zahl in naher Zukunft schrumpft. Unter solchen Umständen hat Philosophie kaum eine Chance. Der sichtbare Teil von Gutenhügels Gesicht offenbarte die Zufriedenheit eines Zwergs, der herausgefunden hat, wie man Blei in noch mehr Gold verwandelt.

»Nun, ein so wichtiger Vertrag muss natürlich vom Erzkanzler unterzeichnet werden«, sagte der Quästor. »Aber ich versichere dir, dass er immer sehr aufmerksam auf das hört, was ich ihm sage.«

»Zweifellos, Euer Lordschaft«, erwiderte Gutenhügel fröhlich.

»Äh, da fällt mir ein …«, sagte der Quästor. »Gibt es bei euch auch ein Jahresessen?«

»Oh, ja, natürlich«, meinte der Zwerg.

»Wann findet es statt?«

»Wann soll es stattfinden?«

William schrieb: Offenb. stehen gr. Gesch. mit einem gew. Bildungsinstitut unm. bev.« Und weil er sehr ehrlich war, fügte er hinzu: »So h. ich geh.«

Nun, es lief alles bestens. Einen wichtigen Brief hatte er bereits verschickt, und es gab bereits Notizen für einen zweiten – den seine Kunden allerdings erst im nächsten Monat erwarteten. William ahnte, dass bis dahin niemand mehr echtes Interesse an dieser Sache hatte. Andererseits … Wenn er diese Angelegenheit unerwähnt ließ, würde sich bestimmt jemand beschweren. Ganz deutlich erinnerte er sich an die Scherereien wegen des Hunderegens in der Sirupminenstraße im vergangenen Jahr, und der hatte nicht einmal stattgefunden.

Aber selbst wenn er die Zwerge bat, besonders große Buchstaben zu wählen: Eine Nachricht allein genügte nicht.

Mist.

Er musste ein bisschen herumstöbern und weitere interessante Dinge finden.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging er zum Quästor.

»Entschuldige bitte«, sagte er.

Der vergnügte Quästor wölbte gut gelaunt eine Braue.

»Hmm?«, erwiderte er. »Mr. de Worde, nicht wahr?«

»Ja, Herr. Ich …«

»Ich fürchte, das Schreiben in der Universität erledigen wir selbst«, sagte der Quästor.

»Äh, ich wollte dich nur fragen, was du von Herrn Gutenhügels neuer Druckmaschine hältst, Herr«, erklärte William.

»Warum willst du mich das fragen?«

»Äh … weil ich es wissen möchte. Und ich möchte es für die Leser meiner Nachrichtenbriefe aufschreiben. Du weißt schon. Die Meinung eines wichtigen Repräsentanten von Ankh-Morporks thaumaturgischer Institution.«

»Oh?« Der Quästor zögerte. »Meinst du die Briefe, die du der Herzogin von Quirm, dem Herzog von Sto Helit und ähnlichen Leuten schickst?«

»Ja, Herr«, sagte William. Zauberer waren unglaubliche Snobs.

»Äh. Nun, wenn das so ist … Du kannst mich mit folgenden Worten zitieren. Es … ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hier beginnt eine Entwicklung, die von allen fortschrittlich denkenden Leuten begrüßt wird und die Stadt schreiend und heulend ins Jahrhundert des Flughunds zerren wird.« Mit großer Aufmerksamkeit beobachtete der Quästor, wie William alles aufschrieb. »Und mein Name lautet A. A. Dinwiddie, Dr. M. (7.), Dr. Thau., B. Okk., M. Koll., B. E. Dinwiddie mit einem o.«

»Ja, Dr. Dinwiddie. Äh … das Jahrhundert des Flughunds ist fast vorüber, Herr. Soll es heißen, dass die Stadt schreiend und heulend aus dem Jahrhundert des Flughunds gezerrt wird?«

»In der Tat.«

William schrieb es auf und fragte sich dabei, warum die Dinge immer schrien und heulten, wenn man sie irgendwohin zerrte. Niemand schien bereit zu sein, sie sanft fortzuführen.

»Natürlich wirst du mir eine Kopie schicken, wenn der Nachrichtenbrief fertig ist«, sagte der Quästor.

»Ja, Dr. Dinwiddie.«

»Und wenn du noch etwas wissen möchtest, wann auch immer … zögere nicht zu fragen.«

»Danke, Herr. Nun, ich dachte immer, die Universität sei gegen die Verwendung von Drucktypen.«

»Oh, ich finde, wir sollten uns den aufregenden Herausforderungen stellen, die uns das Jahrhundert des Flughunds beschert«, sagte der Quästor.

»Äh … du sprichst von dem Jahrhundert, das bald zu Ende geht.«

»Dann wird es höchste Zeit, dass wir uns seinen Herausforderungen stellen.«

»Guter Hinweis, Herr.«

»Und jetzt muss ich flugs zur Universität zurück«, sagte der Quästor. »Allerdings darf ich nicht fliegen.«

Lord Vetinari, der Patrizier von Ankh-Morpork, stocherte im Tintenfass. Es enthielt auch ein wenig Eis.

»Hast du hier nicht einmal ein anständiges Feuer?«, fragte Hughnon Ridcully, Hohepriester des Blinden Io und inoffizieller Sprecher des religiösen Establishments der Stadt. »Ich meine, ich halte nichts von stickigen Zimmern, aber hier drin ist es lausig kalt!«

»Es dürfte ein wenig frisch sein, ja«, erwiderte Lord Vetinari. »Wie seltsam: Das Eis ist nicht so dunkel wie die flüssige Tinte. Woran liegt das?«

»Vermutlich an der Wissenschaft«, sagte Hughnon gleichgültig. Wie sein Zaubererbruder Mustrum hielt er sich nicht gern mit Fragen auf, die ihm dumm erschienen. Sowohl Götter als auch Magie erforderten solide, vernünftige Männer, und was ihre Solidität betraf, konnte man die Gebrüder Ridcully mit Felsen vergleichen. In mancher Hinsicht waren sie auch ebenso vernünftig.

»Nun, wie dem auch sei … Was hast du eben gesagt?«

»Du musst dieser Sache ein Ende bereiten, Havelock. Du kennst ja die … Übereinkunft.«

Vetinari schien von dem Tintenfass fasziniert zu sein. »Ich ›muss‹, Hochwürden?«, fragte er ruhig, ohne aufzusehen.

»Du weißt doch, warum wir gegen Drucktypen sind!«

»Erinnere mich noch einmal daran … Sieh nur, es wippt auf und ab …«

Hughnon seufzte. »Worte sind zu wichtig, um sie Maschinen zu überlassen. Gegen das Gravieren haben wir nichts, das weißt du ja. Wir erheben keine Einwände gegen Worte, die richtig festgenagelt werden. Aber Worte, die man auseinander nehmen kann, um aus ihren Einzelteilen neue Worte zu formen … So etwas ist gefährlich. Ich dachte, du wärst ebenfalls dagegen.«

»Im Großen und Ganzen, ja«, sagte der Patrizier. »Aber ich regiere diese Stadt jetzt seit vielen Jahren, Hochwürden, und daher weiß ich, dass man einen Vulkan nicht bremsen kann. Manchmal ist es besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Für gewöhnlich kehrt nach einer Weile wieder Ruhe ein.«

»Du hast nicht immer eine so lockere Einstellung vertreten, Havelock«, meinte Hughnon.

Der Patrizier bedachte ihn mit einem langen kühlen Blick.

»Flexibilität und Verständnis sind immer mein Motto gewesen«, sagte er.

»Mein Gott, tatsächlich?«

»Ja. Jetzt möchte ich, dass du, Hochwürden, und dein Bruder Folgendes auf eine flexible Weise versteht: Zwerge haben das neue Unternehmen gegründet. Und weißt du, wo die größte Zwergenstadt liegt, Hochwürden?«

»Was? Oh … mal sehen … Es gibt da einen Ort in …«

»Ja, das sagen die meisten Leute. Aber die richtige Antwort lautet: Ankh-Morpork. Inzwischen leben hier mehr als fünfzigtausend Zwerge.«

»Das muss ein Irrtum sein.«

»Nein, es ist die Wahrheit. Derzeit unterhalten wir sehr gute Beziehungen zu den Zwergengemeinschaften in Kupferkopf und Überwald. Gegenüber den Zwergen ist Ankh-Morporks Hand der Freundschaft ständig ausgestreckt, und zwar ein wenig nach unten. Und angesichts des jüngsten Kälteeinbruchs sind bestimmt alle froh darüber, dass jeden Tag Frachtkähne mit Kohle und Lampenöl von den Zwergenminen kommen. Dir dürfte klar sein, worauf ich hinauswill, oder?«

Hughnon sah zum Kamin. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit glühte dort ein einzelnes Kohlestück.

»Außerdem lässt sich diese neue Art des Druckens kaum mehr ignorieren«, fuhr der Patrizier fort. »Immerhin gibt es im Achatenen Reich große Druckereien, ebenso in Omnien, wie du sicher weißt. Und zweifellos bist du auch darüber informiert, dass die Omnianer ihr heiliges Buch Om in großer Zahl exportieren, von ihren vielen Broschüren ganz zu schweigen.«

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Truth« 2000 by Transworld Publishers, London

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Terry und Lyn Pratchett Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by

Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Josh Kirby Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin

Redaktion: Michael Ballauff V. B. · Herstellung: Heidrun Nawrot

eISBN 978-3-641-09738-7

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Leseprobe

1

Das ist eine weit verbreitete Halluzination bei vielen Personen.