Die wahre Geschichte der Geisha - Mineko Iwasaki - E-Book

Die wahre Geschichte der Geisha E-Book

Mineko Iwasaki

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mineko Iwasaki war mehr als ein Jahrzehnt Japans berühmteste Geisha. In ihrer Autobiographie enthüllt sie nun als erste Geisha diewahren Geheimnisse ihres Standes. Der ergreifende Bericht einer Frau, die nie eine Kindheit hatte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 418

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Mineko Iwasaki ist erst drei Jahre alt, als sie von Oima, der Eigentümerin eines der berühmtesten Geishahäuser der alten Kaiserstadt Kioto, zur Nachfolgerin bestimmt wird. Ihre Eltern wissen wohl, dass sie ihrer Tochter niemals eine so hoffnungsvolle Zukunft bieten können, wie Mineko sie als Geisha haben wird. Daher lassen sie zu, dass das Mädchen mit fünf Jahren für immer von ihrer Familie Abschied nimmt, um in der dreihundert Jahre alten Tradition der Geishakunst unterwiesen zu werden. Es ist eine harte, qualvolle Ausbildung und ihre Lehrerin ist streng. Doch Mineko ist fest entschlossen, die berühmteste Geisha ihres Landes zu werden.

Die Autorin

Mineko Iwasaki wurde 1949 in Kioto als elftes Kind einer Künstlerfamilie geboren. Nach einer fast fünfzehnjährigen Ausbildung wird sie mit zwanzig Jahren Leiterin und oberste Geisha des »Gion Kobu« in Kioto. In Japan war sie mehr als zehn Jahre ein Star, zu ihren Kunden gehörten die mächtigsten Wirtschaftsbosse, Politiker, Kaiser und Könige der Welt. Heute lebt Mineko Iwasaki mit ihrem Mann und ihrer Tochter zurückgezogen am Stadtrand von Kioto.

Mineko Iwasaki

mit Rande Brown

Die wahre Geschichteder Geisha

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Elke vom Scheidt

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage November 2004

5. Auflage 2018

© für die deutsche Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2002 für die deutsche Ausgabe by Marion von Schröder Verlag

© 2002 by Mineko Iwasaki und Rande Brown

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Geisha: A Life

(Atria Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York)

Umschlaggestaltung: Büro Hamburg (nach einer Vorlage vonHauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich)

Umschlagillustration: mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-843-72200-1

In Japan, der Inselnation im Osten Asiens, gibt es besondere Einrichtungen, karyukai genannt, die dem Genuss ästhetischer Freuden gewidmet sind. Es handelt sich um Gemeinschaften, in denen als geishas bekannte, professionell ausgebildete Künstlerinnen leben und arbeiten.

Karyukai bedeutet »Welt der Blumen und Weiden«. Jede Geisha ist wie eine Blume, schön auf ihre eigene Art, und wie ein Weidenbaum, anmutig, biegsam und stark.

Keine Frau in der dreihundertjährigen Geschichte der Karyukais ist jemals an die Öffentlichkeit getreten, um ihre Geschichte zu erzählen. Ungeschriebene Regeln, die Tradition und die Unantastbarkeit unserer exklusiven Berufung verboten uns das.

Aber ich habe das Gefühl, dass es an der Zeit ist, mich zu äußern. Ich möchte, dass Sie erfahren, wie das Leben einer Geisha wirklich ist, ein Leben voll höchster beruflicher Anforderungen und reicher, glanzvoller Belohnungen. Viele sagen, ich sei die beste Geisha meiner Generation gewesen; gewiss war ich die erfolgreichste. Und dennoch empfand ich dieses Leben als zu einengend, um es fortzusetzen. Am Ende musste ich mich davon verabschieden.

Dies ist eine Geschichte, die ich schon lange erzählen wollte.

Ich heiße Mineko.

Das ist nicht der Name, den mein Vater mir gab, als ich geboren wurde. Es ist mein Berufsname. Ich erhielt ihn, als ich fünf Jahre alt war. Ich bekam ihn vom Oberhaupt der Frauenfamilie, die mich in der Geishatradition erzog. Der Nachname dieser Familie lautet Iwasaki. Im Alter von zehn Jahren wurde ich adoptiert. Nun war ich die legale Erbin des Namens und des Unternehmens mit all seinem Besitz.

Ich begann meine Laufbahn sehr früh. Gewisse Dinge, die passierten, als ich erst drei Jahre alt war, überzeugten mich davon, dass dies meine Bestimmung sei.

Ich zog in das Geishahaus Iwasaki, als ich fünf war, und begann meine künstlerische Ausbildung mit sechs. Ich liebte den Tanz über alles. Er wurde meine Leidenschaft und Gegenstand meiner größten Hingabe. Ich war entschlossen, die Beste zu werden, und ich schaffte es.

Das Tanzen war das, was mich aufrechterhielt, als die anderen Anforderungen des Berufs so schwer wurden, dass ich sie kaum noch tragen zu können glaubte. Und das meine ich wörtlich. Ich wiege knapp über vierzig Kilo. Ein kompletter Kimono mit Haarschmuck kann leicht um die achtzehn Kilo wiegen. Daran hat man schwer zu tragen. Ich wäre glücklich gewesen, ausschließlich zu tanzen, doch die Regeln des Systems zwangen mich, mit fünfzehn Jahren als maiko, als heranwachsende Geisha, zu beginnen.

Das Geishahaus Iwasaki lag im Bezirk Gion Kobu in Kioto, der berühmtesten und traditionellsten Karyukai von allen. In dieser Gemeinschaft lebte ich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn.

In Gion Kobu bezeichnen wir uns selbst nicht als Geisha (was Künstlerin heißt), sondern benutzen den spezifischeren Begriff geiko, »Frau der Kunst«. Eine Art von Geiko, in der ganzen Welt als Symbol Kiotos bekannt, ist die junge Tänzerin, die Maiko oder »Frau des Tanzes« genannt wird. Entsprechend werde ich im weiteren Verlauf dieses Buches die Begriffe Geiko und Maiko verwenden.

Im Alter von zwanzig Jahren »wendete ich meinen Kragen«. Das ist das Ritual, das den Übergang von der Maiko zur erwachsenen Geiko bezeichnet. Je mehr Berufserfahrung ich sammelte, desto mehr Illusionen verlor ich angesichts der Unerbittlichkeit des archaischen Systems. Ich versuchte Reformen einzuführen, ich wollte den Frauen im Geishahaus eine bessere Ausbildung ermöglichen, ihre finanzielle Unabhängigkeit und ihre beruflichen Rechte stärken. Doch es gelang mir nicht, Veränderungen zu bewirken. Das entmutigte mich dermaßen, dass ich mich schließlich entschloss, meine Stellung aufzugeben und mich zurückzuziehen. Zum Entsetzen des Establishments tat ich das dann auch, und zwar auf der Höhe meines Erfolgs, als ich neunundzwanzig Jahre alt war. Ich schloss das Geishahaus Iwasaki, das mir damals unterstand, packte die unbezahlbaren Kimonos und Schmuckstücke zusammen, die dem Hause gehörten, und verließ Gion Kobu. Ich heiratete und gründete eine Familie.

Während der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte ich in der Karyukai gelebt. In dieser Zeit des radikalen Wandels entwickelte sich Japan von einer postfeudalen zu einer modernen Gesellschaft. Ich dagegen lebte in einer anderen Welt, einem besonderen Reich, dessen Aufgabe und Identität von der Bewahrung der altehrwürdigen Traditionen bestimmt waren. Und ich widmete mich ganz dieser Verpflichtung.

Maikos und Geikos beginnen ihre Laufbahn, indem sie in einer okiya (eine Art Logierhaus) genannten Einrichtung, die gewöhnlich als Geishahaus verstanden wird, leben und lernen. Sie unterwerfen sich einem extrem strengen Unterricht mit ständigen Lehrveranstaltungen und Proben, der ähnlich intensiv ist wie der einer Primaballerina, Konzertpianistin oder Opernsängerin im Westen. Die Besitzerin der Okiya gewährt der Geiko volle Unterstützung bei ihrer Ausbildung und hilft ihr, nachdem sie ihr Debüt gegeben hat, ihre Karriere zu managen. Die junge Geiko lebt während eines festgesetzten Zeitraums in der Okiya, gewöhnlich fünf oder sieben Jahre, und in dieser Zeit zahlt sie der Okiya deren Investition zurück. Danach wird sie unabhängig und stellt sich auf eigene Füße. Sie unterhält allerdings zu der Okiya, die sie gefördert hat, eine Beziehung wie zu einem Agenten.

Anders ist das bei einer Geiko, die zur atotori bestimmt ist, zur Nachfolgerin und Erbin des Hauses. Sie trägt den Nachnamen der Okiya, entweder durch Geburt oder durch Adoption, und lebt während ihrer ganzen Laufbahn in der Okiya.

Maikos und Geikos treten bei sehr exklusiven Banketten auf, die in so genannten ochaya stattfinden – oft wörtlich übersetzt als »Teehaus«. Dort unterhalten wir regelmäßig bei privaten Gesellschaften ausgewählte Gruppen geladener Gäste. Außerdem zeigen wir uns bei einer Reihe jährlich wiederkehrender Veranstaltungen in der Öffentlichkeit. Die berühmteste dieser Veranstaltungen ist das Miyako Odori (Kirschtanz). Die Tanzprogramme sind ziemlich eindrucksvoll und ziehen begeisterte Zuschauer aus der ganzen Welt an. Das Miyako Odori findet jeweils im April in unserem eigenen Theater, dem Kaburenjo, statt.

Der Begriff »Geisha« oder, wie in meinem Fall, »Geiko«, ist von vielen Geheimnissen umgeben und mit Missverständnissen behaftet. Ich hoffe, dass meine Geschichte zur Aufklärung beiträgt und dieses einzigartige Stück japanischer Kulturgeschichte lebendig werden lässt.

Bitte, reisen Sie jetzt mit mir in die außergewöhnliche Welt von Gion Kobu.

1. KAPITEL

Ich fand immer, dass in meiner Berufswahl eine gewisse Ironie lag.

Eine erstklassige Geiko steht ständig im Scheinwerferlicht, während ich mich als Kind am liebsten in einem dunklen Wandschrank versteckte. Eine erstklassige Geiko setzt all ihre Talente ein, um ihrem Publikum zu gefallen und jedem Menschen, mit dem sie in Berührung kommt, ein Gefühl des Wohlbefindens zu geben, während ich mich am liebsten allein beschäftige. Eine erstklassige Geiko ist wie ein exquisiter Weidenbaum, der sich im Dienste anderer beugt, während ich von Natur aus immer dickköpfig und widerborstig und sehr, sehr stolz war.

Eine erstklassige Geiko ist Meisterin darin, eine entspannte und unterhaltsame Atmosphäre zu schaffen; mir dagegen gefällt es nicht sonderlich, mit anderen Menschen zusammen zu sein.

Eine Star-Geiko ist nie, niemals allein, aber ich wollte immer für mich sein.

Eigenartig, nicht wahr? Es scheint fast so, als hätte ich bewusst den für mich schwierigsten Weg gewählt, den Weg, der mich zwang, mich meinen persönlichen Hindernissen zu stellen und sie zu überwinden.

Ich glaube, wenn ich nicht in die Karyukai eingetreten wäre, wäre ich buddhistische Nonne geworden. Oder Polizistin.

Es ist schwer zu erklären, warum ich als kleines Mädchen den Entschluss fasste, in die Karyukai zu gehen.

Warum entscheidet sich ein Kind, das seine Eltern anbetet, sie aus eigenem Antrieb zu verlassen? Denn ich war diejenige, die sich für diesen Beruf und diesen Arbeitsplatz entschied und damit ihre Eltern im Stich ließ.

Ich möchte berichten, wie es dazu kam. Vielleicht werden die Gründe beim Erzählen klarer.

Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, sehe ich, dass ich nur zu einer einzigen Zeit wirklich glücklich war: als ich mit meinen Eltern zusammenlebte. Ich war sicher und frei, und obwohl ich noch sehr jung war, wurde ich in Ruhe gelassen und durfte meistens tun, was ich wollte. Nachdem ich mit fünf Jahren mein Zuhause verlassen hatte, war ich nie wieder wirklich allein und verbrachte all meine Zeit damit, anderen Menschen zu gefallen. Alle meine späteren Freuden und Triumphe hatten eine dunkle, fast tragische Kehrseite, die ein Teil von mir wurde.

Meine Eltern liebten einander sehr. Sie waren ein interessantes Paar. Mein Vater stammte aus einer Familie alter Aristokraten und Feudalherren, die verarmt waren. Meine Mutter kam aus einer Familie von Piraten, die sehr reich geworden war; viele von ihnen wurden später Ärzte. Mein Vater war groß und schlank. Er hatte einen scharfen Verstand, war aktiv und extrovertiert. Und er war sehr streng. Meine Mutter war das genaue Gegenteil. Sie war klein und mollig, hatte ein reizendes, rundes Gesicht und einen üppigen Busen. Wo mein Vater streng war, war meine Mutter nachgiebig. Dennoch waren beide Erklärer, Tröster, Friedensstifter. Mein Vater hieß Shigezo Tanakaminamoto (in klassischem Japanisch Tanakaminamoto no Shigezo), meine Mutter Chie Akamatsu.*

Begründet wurde unsere Linie von Fujiwara no Kamatari, einem Mann, der im Laufe seines Lebens geadelt wurde.

Die Tanakaminamotos gibt es seit zweiundfünfzig Generationen. Die Adelsfamilie Fujiwara stellte jahrhundertelang den Kaiserlichen Regenten. Während der Herrschaft von Kaiser Saga wurde Fujiwara no Motomi der Rang eines daitoku verliehen (der höchste Rang des Hofministers, wie er von Shotoku Taishi etabliert wurde). Er starb 782. Seine Tochter, Prinzessin Tanaka, heiratete Kaiser Saga und gebar einen Prinzen namens Sumeru, der Achter in der Kaiserlichen Erbfolge war. Als Abkömmling des Kaisers erhielt er den Namen Tanakaminamoto.

Minamoto ist ein Name, den bis auf den heutigen Tag nur Aristokraten benutzen dürfen. Die Familie bekleidete auch weiterhin verschiedene wichtige Ämter, darunter das des Hofgeomanten und des offiziellen Verwalters von Schreinen und Tempeln. Die Tanakaminamoto dienten dem Kaiserlichen Hause über tausend Jahre.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden in Japan große Umwälzungen statt. Die Militärdiktatur, die das Land mehr als sechshundertundfünfzig Jahre lang regiert hatte, wurde gestürzt und Kaiser Meiji als Regierungsoberhaupt eingesetzt. Nach Auflösung des Feudalsystems begann sich Japan zu einem modernen Nationalstaat zu entwickeln. Unter Führung des Kaisers kam es zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Adels und unter den Intellektuellen über die politische Zukunft des Landes.

Auch mein Urgroßvater Tanakaminamoto no Sukeyoshi war bereit für eine Veränderung. Er war der endlosen Kämpfe innerhalb der Aristokratie müde und wollte sich von den ehrenvollen Pflichten befreien, die seine Stellung mit sich brachte. Außerdem hatte der Kaiser beschlossen, die Reichshauptstadt von Kioto, wo sie über tausend Jahre lang gewesen war, nach Tokio zu verlegen. Meine Familie war in ihrer Heimat sehr stark verwurzelt. Mein Urgroßvater wollte nicht fortgehen. Als Oberhaupt der Familie traf er die folgenschwere Entscheidung, seinen Titel zurückzugeben und ein Bürgerlicher zu werden.

Der Kaiser wollte ihn davon abhalten, doch mein Urgroßvater erklärte stolz, er sei ein Mann des Volkes. Der Kaiser bestand darauf, dass er wenigstens seinen Namen behielt. Dem stimmte er zu. Im alltäglichen Leben benutzt die Familie nun die abgekürzte Form Tanaka.

Die Entscheidung meines Urgroßvaters entstand zwar aus einem noblen Gefühl heraus, doch für die Finanzen der Familie war sie verheerend. Die Aufgabe des Titels bedeutete natürlich auch den Verzicht auf den Besitz, der damit einherging. Die Ländereien der Familie umfassten ein weites Gebiet im Nordosten von Kioto, vom Tanaka-Schrein im Süden bis zu Ichijoji-Tempel in Norden, also tausende von Morgen.

Mein Urgroßvater und seine Nachkommen erholten sich nie von diesem Verlust. Sie schafften es einfach nicht, in den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen Fuß zu fassen und lebten in vornehmer Armut von ihren Rücklagen und ihrem überholten Gefühl angeborener Überlegenheit. Einige von ihnen brachten es bei der Herstellung kostbarer Keramiken zu einer gewissen Meisterschaft.

Meine Mutter gehört zur Familie Akamatsu. In alter Zeit waren die Akamatsus legendäre Piraten, die auf den Handelsrouten rund um das Japanische Meer und in Richtung Korea und China ihr Unwesen trieben. Sie rafften ein ziemliches Vermögen zusammen und schafften es, dieses Vermögen bis zur Zeit der Geburt meiner Mutter in legalen Reichtum zu verwandeln. Die Familie Akamatsu diente niemals irgendeinem daimyo (direkter Vasall des shogun), sondern hatte selbst genug Macht und Besitz, um Westjapan zu kontrollieren. Der Name Akamatsu wurde ihr von Kaiser Gotoba (1180-1239) verliehen.

Auf ihren abenteuerlichen Streifzügen durch »fremde Gehege« sammelten die Vorfahren meiner Mutter Wissen über Heilkräuter und deren Zubereitung. Sie wurden Heiler und stiegen schließlich zu Hausärzten des Ikeda-Clans auf, der Feudalherren von Okayama. Meine Mutter erbte die Fähigkeit zu heilen von ihren Ahnen und gab ihr Wissen und ihre Fertigkeiten an meinen Vater weiter.

Meine Mutter und mein Vater waren beide Künstler. Mein Vater absolvierte eine Ausbildung an der Kunstakademie und wurde professioneller Designer von Stoffen für hochwertige Kimonos und Schätzer für feines Porzellan.

Meine Mutter liebte Kimonos. Als sie eines Tages ein Kimonogeschäft aufsuchte, lernte sie zufällig meinen Vater kennen, der sich auf der Stelle in sie verliebte. Er machte ihr unermüdlich den Hof. Der Klassenunterschied zwischen den beiden war aber so groß, dass meine Mutter eine Beziehung für unmöglich hielt. Mein Vater bat sie dreimal um ihre Hand. Dreimal weigerte sie sich. Schließlich wurde sie schwanger – mit meiner ältesten Schwester. Damit erzwang er ihr Einverständnis, und sie mussten heiraten.

Zu dieser Zeit war mein Vater sehr erfolgreich und verdiente eine Menge Geld. Seine Kreationen erzielten die höchsten Preise und er brachte jeden Monat ein gutes Einkommen nach Hause. Das meiste davon gab er allerdings seinen Eltern, die sonst kaum Einkünfte hatten. Meine Großeltern lebten mit ihrer großen Familie und viel Personal in einem riesigen Haus im Stadtviertel Tanaka. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte die Familie den größten Teil ihrer Ersparnisse aufgebraucht. Einige der Männer hatten sich bei der Polizei und im Staatsdienst versucht, aber keiner war in der Lage, einen Job lange zu behalten. Sie waren es einfach nicht gewohnt, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Mein Vater unterhielt den gesamten Haushalt.

So bestanden meine Großeltern, obwohl er nicht der älteste Sohn war, darauf, dass er und meine Mutter in ihr Haus zogen, als sie heirateten. Im Grunde brauchten sie das Geld.

Das war keine glückliche Situation. Meine Großmutter, die Tamiko hieß, hatte ein überaus aufbrausendes Wesen. Autoritär und reizbar, war sie das genaue Gegenteil meiner sanften, gehorsamen Mutter. Meine Mutter war wie eine Prinzessin erzogen worden, doch meine Großmutter behandelte sie wie eine Dienstbotin. Von Anfang an nützte sie sie aus und machte sie ständig wegen ihrer bescheidenen Herkunft schlecht. In der Ahnenreihe der Akamatsus hatte es einige notorische Kriminelle gegeben, und meine Großmutter benahm sich, als sei meine Mutter auch eine von ihnen. Sie meinte, sie sei nicht gut genug für ihren Sohn.

Großmutter Tamikos Hobby war das Fechten, und sie war eine Meisterin im Schwingen der naginata, der japanischen Hellebarde. Dass meine Mutter so still war, machte meine Großmutter verrückt, und sie fing an, sie mit der geschwungenen Klinge ihrer Waffe unverhohlen zu bedrohen. Sie jagte sie durch das ganze Haus. Das war bizarr und sehr angsterregend. Einmal ging meine Großmutter zu weit. Mehrmals zielte sie auf den obi (Kimonogürtel) meiner Mutter und schnitt ihn ihr vom Leib. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Eltern hatten zu dieser Zeit schon drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Die Mädchen hießen Yaeko und Kikuko. Yaeko war zehn, Kikuko acht. Mein Vater steckte in einer Zwickmühle, weil er nicht genug Geld hatte, um seine Eltern zu unterstützen und zugleich einen eigenen Haushalt zu führen. Er erzählte einem seiner Geschäftspartner, der mit Kimonostoffen handelte, von seinen Sorgen. Dieser brachte die Rede auf die Karyukais und schlug meinem Vater vor, er solle zumindest einmal versuchen, mit der Besitzerin eines dieser Häuser zu reden.

Mein Vater traf sich mit der Besitzerin der Okiya Iwasaki aus Gion Kobu, einem der besten Geikohäuser Japans, und mit einer Frau aus Pontocho, einem anderen Geikobezirk in Kioto. Er fand Stellungen für beide Töchter, Yaeko und Kikuko, und erhielt das Vertragsgeld für ihre Lehrzeit. Sie würden eine Ausbildung in den traditionellen Künsten, Etikette und Schicklichkeit erhalten und volle Unterstützung für ihre Karriere bekommen. Nach dem Ende ihrer Lehrzeit als Geikos würden ihnen alle Schulden erlassen werden, und sie dürften selbst behalten, was sie verdienten. Die Okiyas würden allerdings einen gewissen Prozentsatz von ihrem Einkommen beanspruchen, da sie ihre Karrieren als Agenten managten.

Die Entscheidung meines Vaters zog die Familie in einen Pakt mit den Karyukais hinein, der unser aller Leben für viele Jahre beeinflussen sollte. Meine Schwestern waren zutiefst bestürzt, den sicheren Hafen des großelterlichen Hauses verlassen zu müssen. Yaeko hatte zeitlebens das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Bis zum heutigen Tag ist sie wütend und verbittert.

Meine Eltern zogen mit meinem ältesten Bruder in ein Haus in Yamashima, einem Vorort von Kioto. In den folgenden Jahren bekam meine Mutter acht weitere Kinder. 1939, finanziell in der Klemme wie immer, schickten sie noch eine Tochter, meine Schwester Kuniko, als Assistentin der Eigentümerin in die Okiya Iwasaki.

Ich wurde 1949 geboren. Mein Vater war damals dreiundfünfzig, meine Mutter vierundvierzig. Ich war das letzte Kind meiner Eltern, geboren am 2. November, ein Skorpion im Jahr des Ochsen. Meine Eltern nannten mich Masako. Lange Zeit glaubte ich, unsere Familie bestünde aus nur zehn Mitgliedern. Ich hatte vier ältere Brüder (Seiichiro, Ryozo, Kozo und Fumio) und drei ältere Schwestern (Yoshiko, Tomiko und Yukiko). Von den drei anderen Mädchen wusste ich nichts.

Unser Haus war geräumig und verschachtelt. Es lag am Rande eines Kanals auf einem großen Grundstück, umgeben von Wäldern und Bambushainen und mit einem Berg im Rücken. Ringsum gab es keine weiteren Häuser. Man erreichte das Haus über eine Betonbrücke, die den Kanal überspannte. Vor dem Haus gab es einen großen, runden Teich, umrandet von Kosmos-Pflanzen. Dahinter lag der Vorgarten mit Feigen und Pfefferbäumen. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten mit einem umzäunten Platz für viele Hühner, einem Teich voller Karpfen, einer Hütte für unseren Hund Koro und dem Gemüsegarten meiner Mutter.

Das Erdgeschoss des Hauses umfasste einen Salon, einen Altarraum, einen Wohnraum, ein Esszimmer mit Kamin, eine Küche, zwei Hinterzimmer, das Arbeitszimmer meines Vaters und das Bad. Oben über der Küche gab es zwei weitere Zimmer. Dort schliefen alle anderen Kinder. Ich schlief unten bei meinen Eltern.

An einen Vorfall erinnere ich mich gern. Es war während der Regenzeit. Der Hydrangea-Busch neben dem Teich blühte, und das helle Blau harmonierte gut mit dem Grün der Bäume.

Es war ein vollkommen stiller Tag. Auf einmal begannen dicke Regentropfen zu fallen. Rasch sammelte ich meine Spielsachen ein, die unter dem Pfefferbaum lagen, und rannte ins Haus. Ich legte meine Sachen in ein Regal neben der Mahagonitruhe.

Kaum waren alle nach Hause gekommen, begann es zu gießen. Es schüttete wie aus Eimern. Binnen Minuten fing der Teich an, über die Ufer zu treten, und das Wasser lief ins Haus. Wir alle rannten hektisch herum und sammelten die Tatami-Matten ein. Ich fand das Ganze sehr unterhaltsam.

Nachdem wir so viele Tatamis wie möglich gerettet hatten, bekamen wir jeder zwei Erdbeerbonbons, auf deren Einwickelpapier eine Erdbeere abgebildet war. Wir liefen im ganzen Haus herum und lutschten sie. Ein paar von den Tatamis schwammen auf dem Wasser. Meine Eltern setzten sich darauf wie auf Flöße und schipperten von Zimmer zu Zimmer. Sie amüsierten sich mehr als alle anderen.

Am nächsten Tag rief mein Vater uns zusammen und sagte: »Hört mal alle zu. Wir müssen das Haus sauber machen, drinnen und draußen. Seiichiro, du gehst mit ein paar anderen in den Hintergarten, Ryozo geht mit seiner Mannschaft in den Bambushain, Kozo, du machst mit deinen Helfern die Tatamis sauber, und du, Fumio, nimmst deine kleine Schwester Masako und holst dir Anweisungen bei eurer Mutter. Verstanden? So, und nun raus mit euch, und macht eure Sache gut!«

»Und du, Papa, was machst du?«, wollten wir alle wissen.

»Einer muss ja hier bleiben und die Burg bewachen«, sagte er.

Sein Schlachtruf feuerte uns an, aber es gab ein Problem: Wir hatten nichts zu essen. Alle Vorräte waren durch die Überschwemmung verloren gegangen. Schon am Abend zuvor hatten wir nur die Erdbeerbonbons gegessen und vor Hunger kaum schlafen können.

Als wir uns bei unserem Vater beklagten, sagte er: »Mit leerem Magen kann eine Armee nicht kämpfen. Also geht ihr am besten los und besorgt Proviant. Bringt die Sachen in die Burg und richtet euch auf eine Belagerung ein.«

Nachdem sie ihre Befehle erhalten hatten, zogen meine älteren Brüder und Schwestern los und kamen mit Reis und Feuerholz zurück. In diesem Moment war ich sehr froh, Brüder und Schwestern zu haben, und dankbar für den Reisball, den ich zu essen bekam.

Keiner ging an diesem Tag zur Schule, und wir schliefen, als gäbe es kein Morgen.

Ein andermal ging ich wie üblich die Hühner füttern und die Eier einsammeln. Die Mutterhenne hieß Nikki. Sie wurde wütend und jagte mich ins Haus zurück, wo sie mich einholte und ins Bein pickte. Mein Vater wurde zornig und fing die Henne ein.

Er hob sie hoch und sagte: »Dafür werde ich dich umbringen.« Auf der Stelle drehte er ihr den Hals um und hängte sie dann am Hals an einem Dachbalken auf. (Normalerweise pflegte er die Hühner an den Beinen aufzuhängen.) Er ließ sie dort, bis alle aus der Schule nach Hause gekommen waren.

Als die anderen Kinder die Henne sahen, dachten sie: »Hmmm, lecker! Heute Abend gibt es Huhn im Topf!« Aber er sagte streng zu ihnen: »Seht euch das gut an und lernt daraus. Das dumme Vieh hat einen Bissen von unserer kostbaren Masako genommen und deshalb ist es jetzt tot. Merkt euch das. Es ist niemals in Ordnung, andere Menschen zu verletzen oder ihnen Schmerz zuzufügen. Das lasse ich nicht zu. Verstanden?« Wir alle taten so, als hätten wir verstanden.

An diesem Abend bekamen wir Huhn im Topf, gekocht aus der unseligen Nikki. Ich konnte nichts davon essen.

Mein Vater sagte: »Masako, du musst Nikki verzeihen. Die meiste Zeit war sie ein gutes Huhn. Du solltest essen, damit Nikki Buddhaschaft erlangen kann.«

»Aber ich habe Bauchweh. Warum helft nicht du und Mama Nikki, Buddha zu werden?« Dann sprach ich ein kurzes Gebet.

»Das ist eine gute Idee. Tun wir, was Masako sagt, und essen alle zusammen das Huhn, damit es Buddhaschaft erlangen kann.«

Jeder sprach ein Gebet für den Vogel, langte zu und genoss es, Nikki bei der Buddhawerdung zu helfen.

Wieder ein andermal, in einem seltenen Anfall von Geselligkeit, spielte ich zusammen mit allen anderen. Wir gingen den Berg auf der rechten Seite des Hauses hinauf und gruben ein tiefes Loch. Dann holten wir alle Sachen aus der Küche, alle Töpfe und Pfannen und Teller, und warfen sie in das Loch.

Wir spielten in der Nähe der geheimen Festung meines Bruders. Wir amüsierten uns bestens, und mein älterer Bruder forderte mich heraus, auf eine Pinie zu klettern, die genau dort stand.

Der Ast brach ab und ich fiel in den Teich vor unserem Haus. Das Arbeitszimmer meines Vaters ging auf diesen Teich hinaus. Er hörte das laute Platschen. Er muss überrascht gewesen sein, aber er ließ sich nichts anmerken und fragte ruhig: »Was machst du da?«

»Ich bade im Teich«, sagte ich.

»Es ist zu kalt, um im Teich zu baden. Was ist, wenn du dich erkältest? Ich glaube, du solltest besser herauskommen.«

»Ich komme in ein paar Minuten raus.«

In diesem Moment erschien meine Mutter und übernahm die Sache. »Hör auf, sie zu necken«, sagte sie. »Komm sofort nach draußen!«

Widerstrebend kam mein Vater, hob mich aus dem Teich und verfrachtete mich in die Badewanne.

Damit hätte das erledigt sein sollen, doch dann ging meine Mutter in die Küche, um das Abendessen zu machen. Sie rief nach meinem Vater, der mit mir zusammen badete.

»Lieber, ich fürchte, wir haben ein Problem. Ich kann leider kein Abendessen machen. Was soll ich tun?«

»Wovon in aller Welt redest du? Warum kannst du kein Abendessen machen?«

»Weil nichts da ist. Alle unsere Sachen sind weg.«

Als ich das hörte, wollte ich die anderen warnen, und so ging ich auf die Tür zu. Aber mein Vater packte mich beim Kragen und hielt mich fest.

Ziemlich bald kamen alle nach Hause. (Das hätten sie besser nicht getan.) Mein Vater schickte sich an, seine übliche Bestrafung auszuteilen, bei der er alle Kinder vor sich aufreihte und jedem mit einem Bambusschwert auf den Kopf schlug. Normalerweise stand ich dabei neben ihm (und dachte mir, das müsse wehtun). Diesmal war es anders. An diesem Tag schrie er mir zu: »Du auch, Masako. Du hast dabei mitgemacht.« Ich begann zu wimmern, als ich mich neben den anderen in die Reihe stellen musste. Ich weiß noch, dass ich »Papa« sagte, aber er ignorierte mich. »Du warst auch dabei.« Er schlug mich nicht so hart wie die anderen, aber es war trotzdem ein großer Schock. Er hatte mich nie zuvor geschlagen.

Wir bekamen kein Abendessen. Meine Brüder und Schwestern weinten, als sie ihr Bad nahmen. Dann wurden wir ins Bett geschickt. Mein Bruder beklagte sich und sagte, vor lauter Hunger schwimme er in der Badewanne wie ein Ballon.

Meine Eltern liebten schöne und geschmackvolle Dinge, und unser Haus füllte sich damit: Quarzkristalle, die im Sonnenschein funkelten, duftende Dekorationsstücke aus Pinienholz und Bambus, die wir zu Neujahr aufhängten, exotisch aussehende Werkzeuge und Gerätschaften, die meine Mutter zur Bereitung ihrer Kräutermedizin benutzte, schimmernde Musikinstrumente wie die shakuhachi-Bambusflöte meines Vaters und die koto (japanische Laute) meiner Mutter, eine Sammlung edler, handgearbeiteter Keramiken. Außerdem besaß das Haus eine eigene, ein wenig altmodische Badewanne, die aussah wie ein riesiger, eiserner Suppenkessel.

Mein Vater war der Herrscher dieses kleinen Reiches. Er hatte sein Studio im Hause und arbeitete dort mit einigen seiner vielen Lehrlinge. Meine Mutter lernte von meinem Vater die als roketsuzome bekannte traditionelle japanische Färbetechnik und wurde ein Profi auf diesem Gebiet. Meine Eltern waren auch für ihre Kräuterheilmittel bekannt. Ständig kamen Leute vorbei, um sie zu bitten, ihnen irgendeine Medizin zu brauen.

Meine Mutter hatte keine robuste Konstitution. Sie litt an Malaria, und das hatte ihr Herz geschwächt. Trotzdem besaß sie die Kraft, elf Kinder zur Welt zu bringen.

Wenn ich nicht mit Vater oder Mutter zusammen sein konnte, war ich am liebsten allein. Ich spielte nicht einmal gern mit meinen Schwestern. Ich liebte die Stille und konnte den Lärm, den die anderen Kinder machten, nicht ertragen. Wenn sie aus der Schule nach Hause kamen, versteckte ich mich oder ignorierte sie.

Ich versteckte mich überhaupt sehr viel. Japanische Häuser sind nach westlichen Maßstäben klein und sparsam möbliert, aber sie besitzen riesige Wandschränke. Darin verstauen wir viele Haushaltsgegenstände, wenn sie gerade nicht gebraucht werden, etwa das Bettzeug. Immer, wenn ich unglücklich war, mich nicht wohl fühlte, mich konzentrieren oder einfach entspannen wollte, versteckte ich mich im Schrank.

Meine Eltern hatten Verständnis für mein Bedürfnis, allein zu sein, und zwangen mich nie, mit den anderen Kindern zu spielen. Natürlich hatten sie ein Auge auf mich, aber sie ließen mir immer meinen Freiraum.

Doch ich erinnere mich auch an wunderbare Zeiten, wenn die ganze Familie beieinander war. Am liebsten waren mir die schönen Mondscheinnächte, wenn meine Eltern Duette spielten, mein Vater auf der Shakuhachi, meine Mutter auf der Koto. Wir scharten uns um sie, um sie spielen zu hören. Ich ahnte nicht, wie schnell diese idyllischen Momente enden sollten.

Doch bald war es so weit.

2. KAPITEL

Ich kann mich noch genau an den Augenblick erinnern, in dem sich die Dinge zu verändern begannen.

Ich war gerade drei Jahre alt geworden. Es war ein kalter Winternachmittag. Meine Eltern hatten Besuch. Eine Frau. Eine sehr alte Frau. Fremde schüchterten mich ein, und sobald die Frau durch die Tür trat, versteckte ich mich im Schrank. Ich saß im Dunkeln und belauschte ihre Unterhaltung. Die Frau hatte etwas merkwürdig Bezwingendes. Ich war fasziniert von ihrer Art zu sprechen.

Der Name der Besucherin war Madame Oima. Sie war die Eigentümerin der Okiya Iwasaki in Gion Kobu und gekommen, um zu fragen, ob meine Schwester Tomiko vielleicht daran interessiert sei, Geiko zu werden. Tomiko hatte die Okiya Iwasaki mehrfach besucht, und Madame Oima erkannte, was in ihr steckte.

Tomiko war die zarteste und kultivierteste meiner Schwestern. Sie liebte Kimonos, traditionelle Musik und edle Keramiken und wollte von meinen Eltern alles darüber wissen. Sie war vierzehn. Ich verstand nicht alles, worüber gesprochen wurde, aber ich begriff, dass diese Dame Tomiko eine Stellung anbot.

Ich verstand nicht, dass die Okiya Iwasaki in ernster finanzieller Bedrängnis war. Ich merkte nur, dass meine Eltern die Besucherin mit größtem Respekt behandelten und dass sie mehr Autorität ausstrahlte als irgendjemand, den ich je getroffen hatte. Ich konnte die Hochachtung spüren, die meine Eltern ihr entgegenbrachten.

Angezogen von ihrer Stimme, schob ich die Tür des Schranks etwa drei Zentimeter auf und spähte hinaus, um mir anzusehen, wem die Stimme gehörte.

Die Dame merkte, dass ich die Tür geöffnet hatte, und fragte: »Chie-san, wer ist in dem Schrank?«

Meine Mutter lachte und sagte: »Das ist meine Jüngste, Masako.«

Als ich meinen Namen hörte, trat ich ins Zimmer.

Die Dame sah mich einen Moment lang an. Sie machte nicht die kleinste Bewegung, aber ihre Augen weiteten sich. »Ach du meine Güte«, sagte sie. »Was für schwarzes Haar und schwarze Augen! Und so winzige rote Lippen! Was für ein exquisites Kind!«

Mein Vater machte uns bekannt.

Die Dame sah mich weiter an, sprach aber zu meinem Vater. »Wissen Sie, Herr Tanaka, ich suche schon sehr lange nach einer atotori (Nachfolgerin), und ich habe das merkwürdige Gefühl, dass ich sie gerade gefunden habe.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Ich wusste nicht, was eine Atotori war oder warum sie eine brauchte. Aber ich spürte, dass sich die Energie in ihrem Körper veränderte.

Es heißt ja, dass eine Person, die Augen hat zu sehen, den Wesenskern eines anderen Menschen erkennen kann, ganz gleich, wie alt dieser Mensch ist.

»Ich meine das ernst«, sagte sie. »Masako ist ein prachtvolles kleines Mädchen. Ich bin schon lange im Geschäft und kann sehen, dass sie ein Schatz ist. Bitte, ziehen Sie die Möglichkeit in Betracht, sie ebenfalls in die Okiya Iwasaki zu geben. Ich glaube, sie könnte dort eine wundervolle Zukunft haben. Ich weiß, sie ist noch ein kleines Kind, aber bitte, überlegen Sie sich, ob Sie ihr nicht erlauben wollen, sich für eine Karriere als Geiko ausbilden zu lassen.«

Die Ausbildung zur Geiko in Gion Kobu findet in einem geschlossenen System statt. Sie ist so geregelt, dass nur Mädchen, die in einer Okiya in Gion Kobu leben, Zugang zum Studium aller nötigen Fächer bei anerkannten Schulen und Lehrern haben und den strapaziösen Lehrplan einhalten können. Wer außerhalb lebt, hat keine Möglichkeit, Geiko zu werden.

Mein Vater war offensichtlich verblüfft über diese unerwartete Wendung der Ereignisse und antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Wir werden Ihr Angebot an Tomiko eingehend mit ihr besprechen und sie ermutigen, Ihren Vorschlag anzunehmen, obwohl die endgültige Entscheidung bei ihr liegt. Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald sie einen Entschluss gefasst hat. Aber was Masako betrifft, tut es mir schrecklich Leid. Das kommt gar nicht in Frage. Ich will einfach nicht noch eine meiner Töchter aufgeben.« Falls Tomiko einwilligte, in die Okiya Iwasaki zu gehen, hätte er bereits vier von seinen sieben Töchtern hergegeben.

Lassen Sie mich erklären, was ich mit hergeben meine. Wenn ein junges Mädchen sich einer Okiya anschließt, ist das etwa so, als ginge sie in ein Internat. In den meisten Fällen kommt sie noch gelegentlich bei ihren Eltern vorbei, wenn die Schule ihr dazu Zeit lässt, und die Eltern dürfen sie besuchen, so oft sie wollen. Das ist der normale Ablauf. Wird ein Mädchen jedoch als Nachfolgerin für ein Haus und dessen Namen ausgewählt, adoptiert sie die Eigentümerin als gesetzliche Erbin. In diesem Fall nimmt das Mädchen den Namen der Okiya-Familie an und verlässt ihre Geburtsfamilie für immer.

Madame Oima war achtzig Jahre alt und tief besorgt, weil sie noch immer keine geeignete Nachfolgerin hatte. Keine der Frauen, die sie zu der Zeit betreute, war hierfür qualifiziert, und sie durfte nicht sterben, ehe sie jemanden gefunden hatte. Die Okiya Iwasaki besaß Güter im Wert von Millionen Dollar (Grundstücke, Kimonos, unbezahlbare Kunstwerke und Schmuckstücke) und umfasste eine Belegschaft von mehr als zwanzig Personen. Madame Oima war dafür verantwortlich, den Fortbestand des Geschäfts zu sichern, und dafür brauchte sie eine Erbin.

Madame Oima besuchte uns in diesem Jahr viele Male, um über Tomikos Vertrag zu diskutieren. Aber sie warb auch um mich.

Meine Eltern besprachen das nie in meiner Gegenwart, aber ich denke, dass sie Tomiko alles erklärten. Madame Oima war die Frau, der sie vor vielen Jahren meine älteste Schwester Yaeko anvertraut hatten. Madame Oima bestimmte Yaeko zu ihrer Atotori und erzog sie zur Geiko. Aber Yaeko verließ Gion Kobu, ohne ihre Verpflichtungen gegenüber Madame Oima zu erfüllen. Das war meinen Eltern überaus peinlich. Sie hofften, dass Tomikos Anstellung dazu beitragen würde, Yaekos Versagen wieder gutzumachen.

Doch die nächste Atotori konnte Tomiko in keinem Fall werden. Mit vierzehn galt sie dafür als zu alt. Im Idealfall werden Atotoris von früher Kindheit an für ihre Aufgabe erzogen.

Keiner sagte mir, dass Tomiko fortging. Ich schätze, meine Eltern hielten mich für zu klein, um zu verstehen, was da vorging, und so versuchten sie gar nicht erst, es mir zu erklären. Ich wusste nur, dass Tomiko eines Tages ihre Mittelschule abschloss, am nächsten Tag zu einem Frühjahrsurlaub aufbrach und nie wieder nach Hause kam. (Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Mädchen die Mittelschule absolviert haben muss, bevor sie in eine Geikoschule eintreten darf.)

Mir tat es Leid, dass Tomiko nicht mehr da war. Sie war meine Lieblingsschwester. Sie war klüger als die anderen und schien irgendwie besonnener.

Doch Madame Oimas Besuche hörten nach Tomikos Weggang nicht auf. Sie wollte mich noch immer. Trotz der Proteste meines Vaters verfolgte sie die Angelegenheit weiter. Immer wieder kam sie zu Besuch, und jedes Mal fragte sie nach mir, Monat für Monat. Und jedes Mal, Monat für Monat, wies mein Vater sie, wenn auch höflich, ab.

Madame Oima führte alle nur erdenklichen Argumente an, um ihn davon zu überzeugen, dass mir bei ihr eine brillante Karriere offen stünde und dass sie mir nicht den Weg verbauen sollten. Sie flehte meinen Vater an, es sich noch einmal zu überlegen. Ich erinnere mich, dass sie zu ihm sagte: »Das Haus Iwasaki ist bei weitem die beste Okiya in Gion, und wir können Masako bessere Chancen bieten, als sie irgendwo sonst finden würde.«

Schließlich brachte Madame Oimas Hartnäckigkeit die Entschlossenheit meines Vaters ins Wanken. Ich spürte, wie sich seine Einstellung änderte.

Eines Tages saß ich auf dem Schoß meines Vaters, während die beiden sich unterhielten. Wieder sprach sie das Thema an. Mein Vater lachte. »Gut, gut, Madame Iwasaki, es ist noch zu früh, aber ich verspreche Ihnen, eines Tages bringe ich Masako zu Besuch zu Ihnen. Man weiß ja nie, es liegt bei ihr, vielleicht gefällt es ihr.« Ich glaube, er sagte das nur, um ihrem Drängen ein Ende zu machen.

Ich beschloss, dass es für Madame Oima nun an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. Ich wusste, dass die Leute gewöhnlich ins Bad gingen, bevor sie aufbrachen, und so wandte ich mich an sie und sagte: »Pipi machen.« Sie meinte, das bezöge sich auf mich und nicht auf sie, und fragte mich freundlich, ob sie mich ins Badezimmer begleiten solle. Ich nickte, stand vom Schoß meines Vaters auf und nahm ihre Hand. Als wir im Bad waren, sagte ich: »Dort!«, und marschierte zurück in den Salon.

Ein paar Augenblicke später kam Madame Oima zurück.

»Danke, dass du dich so nett um mich gekümmert hast«, sagte sie zu mir.

»Geh nach Hause«, antwortete ich.

»Ja, ich sollte gehen. Herr Tanaka, ich möchte mich verabschieden. Ich glaube, heute haben wir wirklich Fortschritte gemacht.« Und damit ging sie.

Ich verbrachte nicht viele Jahre unter dem Dach meiner Eltern, aber in der kurzen Zeit, die ich bei ihnen war, lehrten sie mich viele Dinge, die mir für den Rest meines Lebens gute Dienste leisten sollten. Vor allem mein Vater. Er tat, was er konnte, um mir den Wert von Unabhängigkeit und Verantwortung beizubringen. Und vor allem vermittelte er mir ein tiefes Gefühl von Stolz.

Mein Vater hatte zwei Lieblingssprüche. Einer handelt von einem Samurai. Er ist eine Art Sprichwort, das besagt, ein Samurai müsse höheren Maßstäben genügen als ein gewöhnlicher Mensch. Selbst wenn er nichts zu essen hat, tut er so, als habe er reichlich. Das soll heißen, dass ein Samurai seinen Stolz nie aufgibt. Aber es bedeutet auch, dass ein Krieger im Angesicht des Gegners niemals Schwäche zeigt. Sein zweiter Ausspruch lautete: »Hokori o motsu.« – »Halte an deinem Stolz fest.« Lebe in Würde, ganz gleich unter welchen Umständen.

Er wiederholte diese Aphorismen so oft und mit solcher Überzeugung, dass wir sie akzeptierten wie Christen das Evangelium.

Alle sagen, ich sei ein eigenartiges kleines Mädchen gewesen. Meine Eltern erzählten mir, ich hätte kaum je geweint, nicht einmal als Säugling. Sie sorgten sich, ich sei vielleicht schwerhörig, mit meiner Stimme sei etwas nicht in Ordnung oder ich sei möglicherweise sogar ein bisschen zurückgeblieben. Manchmal sprach mein Vater mir laut direkt ins Ohr oder weckte mich absichtlich, wenn ich fest schlief. Ich wirkte erschreckt, aber ich weinte nicht.

Als ich älter wurde, erkannten meine Eltern, dass mit mir alles in Ordnung war. Ich war bloß ungewöhnlich still. Ich liebte Tagträume. Ich weiß noch, dass ich die Namen aller Blumen und Vögel und Berge und Flüsse wissen wollte. Wenn ich sie danach fragte, so glaubte ich, würden sie mir sagen, wie sie hießen. Die Namen von anderen Menschen zu hören hätte alles verdorben. Ich dachte, wenn ich etwas lange genug betrachtete, würde es zu mir sprechen. Das denke ich übrigens noch immer.

Einmal schauten meine Mutter und ich uns die vielen weißen und pfirsichfarbenen Kosmos-Pflanzen an, die am Teich vor unserem Haus blühten. Ich fragte meine Mutter: »Wie heißen diese Blumen?«

»Kosmos«, antwortete sie.

»Aha, Kosmos. Und diese kleinen Blumen da?«

»Das sind auch Kosmos-Pflanzen«, sagte sie.

»Wie meinst du das? Wie können zwei verschiedene Blumen denselben Namen haben?«

Meine Mutter wirkte verwundert. »Nun, die ganze Pflanzenfamilie heißt Kosmos. All diese Blumen gehören dazu.«

»Aber wir in unserem Haus sind auch eine Familie, und jeder hat seinen eigenen Namen. Deswegen sollten alle diese Blumen auch eigene Namen haben. Ich möchte, dass du jeder einen gibst, so wie du uns Namen gegeben hast. Dann muss sich keine zurückgesetzt fühlen.«

Meine Mutter ging zu meinem Vater, der arbeitete. »Masako hat gerade etwas Seltsames gesagt. Sie möchte, dass ich jeder einzelnen Kosmos-Blume einen eigenen Namen gebe.«

Mein Vater sagte zu mir: »Wir brauchen nicht noch mehr Kinder, also brauchen wir ihnen keine Namen zu geben.«

Ich fühlte mich einsam bei dem Gedanken, dass wir nicht noch mehr Kinder brauchten.

Besonders deutlich erinnere ich mich an einen schönen Nachmittag im Mai. Von den Bergen im Osten wehte eine sanfte, grüne Brise. Die Iris stand in voller Blüte und es war vollkommen still. Meine Mutter und ich hatten es uns auf der vorderen Veranda bequem gemacht. Ich saß auf ihrem Schoß, und wir genossen den Sonnenschein. Sie sagte zur mir: »Was ist das heute für ein schöner Tag!« Ich erinnere mich deutlich, dass ich ihr antwortete: »Ich bin so glücklich.«

Das ist die letzte wirklich selige Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe.

Ich blickte auf. Eine Frau kam über die Fußgängerbrücke auf das Haus zu. Sie war irgendwie undeutlich, verschwommen wie eine Fata Morgana.

Jeder Muskel im Körper meiner Mutter spannte sich. Ihr Herz begann zu rasen, und ihr brach der Schweiß aus. Ihr Geruch veränderte sich. Sie kauerte sich buchstäblich zusammen, als ducke sie sich vor Schreck. Ihre Arme umschlangen mich instinktiv fester, als wolle sie mich beschützen. Ich spürte, dass sie Angst hatte.

Ich beobachtete, wie die Frau auf uns zukam. Plötzlich hatte ich das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Es war, als bewege sie sich in Zeitlupe in unsere Richtung. Ich weiß noch genau, was sie anhatte. Es war ein dunkler Kimono, gegürtet mit einem Obi mit einem geometrischen Muster in Beige, Braun und Schwarz.

Ein plötzlicher Schauder erfasste mich, und ich rannte ins Haus, um mich im Schrank zu verstecken.

Ich konnte kaum glauben, was dann passierte. Mein Vater kam ins Zimmer, und diese Frau begann mit hasserfüllter Stimme auf meine Eltern einzureden. Meine Eltern versuchten etwas zu sagen, aber die Frau unterbrach sie immer wieder und wurde zunehmend schärfer und aggressiver. Ihre Stimme wurde immer lauter. Das meiste von dem, was sie sagte, verstand ich nicht, aber ich merkte, dass sie viele schlimme Wörter benutzte und sich sehr grob ausdrückte. Nie zuvor hatte ich jemanden in diesem Ton reden hören. Sie war wie eine Art Dämon. Ihre Schimpfkanonade schien Stunden zu dauern. Ich wusste nicht, wer sie war, und konnte mir nicht vorstellen, was meine Eltern getan haben mochten, damit sie sich so benahm. Endlich ging sie.

Danach legte sich eine dunkle Wolke auf unser Haus. Ich hatte meine Eltern noch nie so erschüttert erlebt. Beim Abendessen waren alle angespannt. Wir schmeckten nicht, was wir aßen. Ich hatte furchtbare Angst. Schließlich kletterte ich auf den Schoß meiner Mutter und schmiegte mein Gesicht an ihre Seite.

Meine Brüder und Schwestern gingen gleich nach dem Abendessen zu Bett. Ich blieb wie immer noch da, an meine Mutter gekuschelt, während meine Eltern noch am Tisch saßen und sich etwas beruhigten, und wartete darauf, dass mein Vater erklärte, nun müssten auch wir zu Bett gehen. Sie sprachen kaum ein Wort. Es wurde immer später, und mein Vater rührte sich nicht. Endlich schlief ich in den Armen meiner Mutter ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich mit ihnen und unserem Hund auf ihrem Futon.

Die grässliche Frau kam etwas später noch einmal. Diesmal brachte sie zwei Jungen mit. Sie ließ sie bei uns und ging wieder. Ich wusste nur, dass es ihre Söhne waren.

Der Ältere hieß Mamoru. Er war ein Flegel, und ich mochte ihn nicht sonderlich. Er war drei Jahre älter als ich, genauso alt wie einer meiner Brüder, mit dem er sich gut verstand. Der Jüngere hieß Masayuki. Er war nur zehn Monate älter als ich. Er war nett, und wir wurden Freunde.

Die Mutter der Jungen kam ungefähr einmal im Monat, um sie zu besuchen. Sie brachte ihren Söhnen Spielzeug und Süßigkeiten mit, aber nie etwas für uns, obwohl wir doch auch Kinder waren. Das erinnerte mich an den Spruch meines Vaters über den Samurai. Ich konnte den Anblick dieser Frau nicht ertragen. Ihre Augen strahlten Kälte und Habgier aus. Wenn sie kam, versteckte ich mich im Schrank und hielt mir die Ohren zu. Ich kam erst wieder heraus, wenn sie gegangen war.

3. KAPITEL

Mein Vater plante einen Besuch bei Madame Oima und fragte mich, ob ich mitkommen wolle. Ich liebte die Ausflüge mit meinem Vater und so sagte ich Ja. Mein Vater versicherte mir, wir würden sie nur besuchen und könnten jederzeit wieder gehen, wenn ich das wollte.

Ich hatte noch immer Angst, über die Fußgängerbrücke vor unserem Haus zu gehen. Mein Vater musste mich hochheben und tragen. Wir gingen zur Bushaltestelle und stiegen in die Linie ein, die zum Bahnhof Sanjo Keihan fuhr.

Damals war meine Welt noch sehr klein. Es gab keine weiteren Häuser auf unserer Seite der Brücke, und ich hatte keine Spielkameraden. Also machte ich große Augen beim Anblick all der Wunder der großen Stadt, der vielen Häuser in den Straßen von Gion Kobu und all der Passanten. Es war aufregend und machte mir ein bisschen Angst. Als wir ankamen, war ich schon ziemlich nervös.

Die Okiya Iwasaki lag in der Shinbashi-Straße, drei Türen östlich der Hanamikoji-Straße, und war im typischen eleganten Architekturstil der Karyukais von Kioto gebaut. Sie war ein langes, schmales Gebäude mit Sprossenfenstern zur Straße hinaus. Ich fand, dass sie abweisend aussah.

Wir traten durch den genkan (Eingangsflur) ein und stiegen die Treppe hinauf zum Empfangszimmer.

Der Raum war voller Frauen, die alle bequeme Hauskimonos trugen. Ich hatte ein seltsames Gefühl. Doch Madame Oima bat uns mit einem breiten Lächeln herein. Sie begrüßte uns mit überschwänglicher Gastfreundschaft.

Tomiko erschien. Sie trug eine kunstvolle Frisur, mit der sie wie eine Braut aussah, wie ich erstaunt bemerkte.

Dann kam eine westlich gekleidete Frau ins Zimmer.

Mein Vater sagte: »Masako, das ist deine ältere Schwester.«

»Ich heiße Kuniko«, sagte sie.

Ich war sprachlos.

Und wer trat dann in den Raum? Niemand anderer als diese wirklich scheußliche Frau, die ich nicht ausstehen konnte, die Mutter der Jungen, die in unserem Haus lebten.

Ich zupfte am Ärmel von Vaters Kimono und sagte: »Ich will nach Hause.« All das war zu viel für mich.

Als wir nach draußen kamen, begannen die Tränen zu fließen, langsam und stetig. Ich hörte erst wieder zu weinen auf, als wir den Bahnhof Sanjo Keihan erreichten. Ich weiß, dass es dieser Bahnhof war, denn ich erinnere mich, die Grundschule mit ihren Türmchen auf dem Dach gesehen zu haben.

Wir stiegen in den Zug nach Hause, und ich verfiel wieder in mein übliches Schweigen. Mein Vater schien zu verstehen, was ich empfand. Er versuchte gar nicht erst, mit mir über das zu reden, was geschehen war, sondern legte mir nur tröstend den Arm um die Schultern.

In dem Augenblick, in dem wir nach Hause kamen und ich meine Mutter sah, brach ich in Tränen aus und stürzte mich aufgelöst in ihre Arme. Nach einer Weile stand ich von ihrem Schoß auf und zog mich in den Wandschrank zurück.

Meine Eltern ließen mich allein, und ich verbrachte die Nacht dort im Dunkeln.

Am nächsten Morgen kroch ich zwar wieder heraus, war aber noch immer sehr verstört von meinem Ausflug zur Okiya Iwasaki. Was ich von der Karyukai gesehen hatte, war so anders als alles, was ich kannte. Meine kleine Welt begann zu zerbrechen. Ich war verwirrt und verängstigt und verbrachte die meiste Zeit damit, mit um den Körper geschlungenen Armen ins Leere zu starren.

Ungefähr zwei Wochen später nahm ich meine Alltagsroutine wieder auf. Ich ging meinen täglichen Pflichten nach und begann wieder zu »arbeiten«. Als ich zu groß geworden war, um auf dem Schoß meines Vaters zu sitzen, hatte er eine Apfelsinenkiste genommen und daraus einen Schreibtisch für mich gebaut, den er neben den seinen stellte. Glücklich verbrachte ich viele geschäftige Stunden an seiner Seite.

Genau an diesem Tag hatte Madame Oima sich entschlossen, uns zu besuchen. Ihr bloßer Anblick versetzte mich in Panik und ich verschwand auf der Stelle im Schrank. Doch diesmal war es schlimmer. Ich hatte solche Angst, nach draußen zu gehen, dass ich noch nicht einmal unter dem Pfefferbaum auf der anderen Seite des Teichs spielen wollte. Ich klammerte mich ständig an meine Eltern und wich ihnen nicht von der Seite.

Doch Madame Oima kam immer wieder, um nach mir zu fragen.

Das ging ein paar Monate lang so weiter. Mein Vater machte sich meinetwegen Sorgen und versuchte, sich etwas auszudenken, um mich wieder in die normale Welt zu locken.

Er schmiedete einen Plan. Eines Tages sagte er zu mir: »Ich muss in der Stadt einen Kimono liefern. Hast du Lust, mich zu begleiten?« Er wusste, wie sehr ich Ausflüge mit ihm allein liebte. Ich hatte noch immer Angst vor dem, was geschehen könnte, doch trotz meines Argwohns sagte ich, ich käme mit.

Er brachte mich in ein Geschäft für Kimonostoffe in der Muromachi-Straße. Als wir eintraten, begrüßte der Besitzer meinen Vater mit großer Ehrerbietung. Mein Vater sagte zu mir, er habe etwas Geschäftliches zu besprechen, und bat mich, solange im Laden auf ihn zu warten.

Die Verkäufer unterhielten mich, indem sie mir die verschiedenen Dinge zeigten, die zum Verkauf standen. Ich war fasziniert von der Vielfalt und Pracht der Kimonos und Obis. Obwohl ich noch so klein war, konnte ich deutlich erkennen, dass die Kimonos meines Vaters die schönsten im Geschäft waren.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.