Die Wahrheit - Annika Claaßen - E-Book

Die Wahrheit E-Book

Annika Claaßen

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Beschreibung

Niemand ist der, der er zu sein scheint. Du kannst nur dir selbst vertrauen. Jeder hat ein Geheimnis, egal, wie gut man es versteckt... In einem kleinen, unscheinbaren Dorf, macht Xenia Müller den größten Fehler, den sie in ihrem ganzen Leben begangen hat. Dabei ist sie nur ein normales Mädchen, das ihr Dorf mit einem Blog interessanter gestalten wollte. Doch zu Beginn ahnt sie nicht, dass eben dieser Blog der Ursprung aller ihrer Probleme und ein Todesurteil für viele ist... Niemand ist vor der Wahrheit sicher. Wirst du sie überleben oder wird dich dein Geheimnis umbringen?

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

TEIL I

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TEIL II

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TEIL III

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TEIL IV

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TEIL V

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TEIL VI

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Danksagung

Impressum

Die

Wahrheit

Annika Claaßen

Copyright © 2019 Annika Claaßen

Alle Rechte vorbehalten.

Für Freunde,

die mir geholfen haben

und Fremde,

die mich inspiriert haben,

für alle,

die an mich geglaubt haben

und es immer noch tun.

TEIL I

-1-

Mein Vater stellte den letzten Umzugskarton im Flur ab und kam zu mir ans Fenster. Nachdem wir eine Weile lang schweigend nach draußen gesehen hatten, fragte er mich: „Ist es hier nicht schön? Wir haben sogar einen Garten.“ Wir, das waren nur mein Vater und ich. An meine Mutter kann ich mich kaum erinnern, denn als ich zwei Jahre alt war, starb sie an Krebs.

Als könnte er meine Gedanken lesen, fügte mein Vater noch hinzu: „Deine Mutter hätte ihn geliebt. Sie wollte immer einen Garten haben.“ Ich habe nur eine einzige, eigene Erinnerung an sie, und das ist ihre Wärme. Es war nicht die Wärme einer Mutter, sondern ihre ganz eigene, persönliche Wärme. Würde sie noch leben und sie würde mir auf der Straße entgegenkommen, ich könnte sie nicht erkennen. Würde sie mich aber in den Arm nehmen, würde ich sofort die Wärme, die sie ausstrahlt, wiedererkennen. Ich hatte nicht einmal mehr ein Bild von meiner Mutter, denn das einzige Foto, auf dem sie zu sehen war – das Hochzeitsbild meiner Eltern – war bei einem unserer vielen Umzüge schon vor langer Zeit verloren gegangen.

Ich war niemals länger als ein Jahr an einem Ort, weil wir wegen der Arbeit meines Vaters oft umziehen mussten. Er hatte mir nie genau erzählt, woraus genau seine Arbeit bestand, aber ansonsten redete er sehr viel

von seiner Arbeit. Wenn ich es mir genau überlege, ist es eigentlich so ziemlich das einzige, über das er redet, wenn er mal zuhause ist. Ich habe schon in so vielen verschiedenen Städten in verschiedenen Ländern gewohnt, dass ich gar nicht mehr weiß, welchen Ort ich Zuhause nennen soll.

Natürlich hat es auch Vorteile, wenn man ständig woanders wohnt. Wenn man auf eine neue Schule kommt, steht man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, man hat so viel zu erzählen und man kann alles machen, was man will, weil man ja sowieso bald wieder weg ist. Man kann ehrlich sein und alles sagen, was einem in den Sinn kommt. Ich kann euch Letzteres allerdings nicht empfehlen, denn das wurde mir zum Verhängnis, wie ihr sicher wisst. Falls ihr meine Geschichte noch nicht gehört habt, seid einfach ein bisschen geduldig. Ihr werdet schon noch erfahren, warum Ehrlichkeit für mich kein gutes Ende hatte.

Bevor ihr jetzt gelangweilt aufhört, diesen Blog zu lesen, weil ihr denkt, es sei nur die traurige Geschichte irgendeines Mädchens, möchte ich mich vorstellen: Mein Name ist Xenia Müller. Die wahre Verfasserin dieses Blogs und nicht der Hacker, der dunkle Geheimnisse der ganzen Schule aufdeckt. Ich bin keine Mörderin, denn ich bin selber tot. Ja, ihr habt richtig gelesen: Ich bin tot, ermordet von demjenigen, der allen Schülern mein Geheimnis erzählt hat. Ich könnte euch sofort sagen, wer es ist, aber dann würde ja die ganze Spannung verloren gehen. Also lehnt euch zurück und genießt meine Geschichte. Vielleicht findet ihr noch den einen oder anderen Hinweis auf den Mörder.

Für manche bin ich vielleicht immer noch „die Neue“, die gerade erst an die Schule gekommen ist. Und vielleicht passt der Spitzname für mich ganz gut, denn tatsächlich bedeutet mein Name „die Fremde“. Ich habe vor einigen Jahren die Bedeutung meines Namens nachgeschlagen und habe dabei herausgefunden, dass er auch „die Gastfreundliche“, „die Gütige“, „die Schönheit“, „die Liebenswürdige“ und „die Blume“ bedeutet. Was davon passt zu mir, was nicht? Ihr werdet es im Laufe dieses Eintrages herausfinden, falls ihr es nicht schon getan habt. Vielleicht werdet ihr denken, dass ich ein bisschen zu weit aushole, aber das ist wichtig, damit ich mir versteht, wer ich wirklich bin. Ich möchte, dass ihr die Wahrheit über Xenia Müller erfahrt.

Zurück zur Handlung, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, mein Vater und ich standen am Fenster und ich habe nichts gesagt. Nach einer Weile haben wir einen Dialog geführt, an den ich mich Wort für Wort erinnern kann, weil wir bei jedem Umzug den gleichen Dialog führen. Es ist ein sinnloses Gespräch und das wissen wir beide, aber irgendwie ist es mittlerweile das Ritual von meinem Vater und mir geworden. Wenn ich eine Weile lang schweige und nur aus dem Fenster sehe (wie ich es auch dieses Mal gemacht habe), sagt er irgendwann den Satz: „Dieses Mal bleiben wir hier für immer.“ Ich starre weiterhin aus dem Fenster und kämpfe meine Wuttränen nieder. Dann erwidere ich: „Das hast du in der letzten Stadt auch schon gesagt.“ Und es ist wahr, er sagt es wirklich jedes Mal. Und danach jedes Mal die gleiche Lüge: „Dieses Mal bin ich mir sicher.“ Vielleicht könnt ihr euch denken, welche Frage ich ihm dann jedes Mal stelle, aber der Vollständigkeit halber schreibe ich sie noch auf. Ich habe sowieso Zeit, denn tot werde ich noch lange genug sein. Also, nachdem mein Vater sagt, er sei sich sicher, frage ich ihn: „Wie kannst du das sein? Es ist jedes Mal das Gleiche: Wir ziehen irgendwo hin, du sagst, wir bleiben hier für immer, und gerade wenn ich neue Freunde habe und mich wohl fühle, ziehen wir schon wieder um. Fragst du dich denn nie, wie es mir dabei geht?“ Ratet mal, was er dann sagt. Es ist die Ausrede aller geschiedenen Väter, die nie zu Hause sind (was die Ausrede der Männer ist, die vielleicht bald geschieden sein werden, könnt ihr euch dann wahrscheinlich auch denken): „Ja ich weiß, aber die Arbeit...“ Es ist immer dieses „Ja, aber...“, das mich aufregt. Es ist eine Ausrede für alles. Ja, ich weiß, dass das vielleicht subjektiv gesehen ist und dass ich von meiner Vergangenheit beeinflusst werde, aber es ist immerhin mein Blog. Seht ihr? Eine Ausrede für alles. Nachdem mein Vater seine Standardausrede gemurmelt hat, rege ich mich traditionell richtig auf: „Die Arbeit, das ist alles, was ich höre. Nie redest du von etwas anderem, immer nur von deiner Arbeit. Du hast es leicht, du arbeitest immer in der gleichen Firma. Aber weißt du eigentlich wie schwer es ist, in der Schule die Neue zu sein?“ Mein Vater sieht mich dann immer mit dem gleichen Blick an, von dem ich nach all den Jahren immer noch nicht weiß, was er bedeuten soll. Ist es väterliche Fürsorge? Eine Entschuldigung? Sein unerschütterlicher Glaube in mich? Ist ja auch egal, jedenfalls antwortet er mir dann mit dem Blick: „Natürlich weiß ich das, aber ich weiß auch, dass du das ganz toll machen wirst, wie jedes Mal.“ Schach matt. Darauf kann ich noch immer nichts erwidern, obwohl ich schon seit Jahren über eine Antwort auf diesen Satz nachdenke. Solange ich keine Ideen habe, wird mein Vater wohl das letzte Wort behalten. Ich würde ja sagen, dass ihr mir Vorschläge in die Kommentare schreiben sollt, aber das bringt nichts, weil ich die Diskussion ja sowieso nie wieder führen werde.

Zurück in die Vergangenheit. Bei jedem Umzug war es nach unserer Diskussion die gleiche Routine: Umzugskartons nehmen, auspacken und sich im neuen Haus einrichten. Doch egal, wie viele Häuser und Wohnungen ich schon in meinem Leben betreten habe, ich öffne jedes Mal ganz bewusst die Tür zu meinem neuen Zimmer und nehme den Anblick in mich auf. Es sieht jedes Mal anders aus. Nachdem ich mein Zimmer in Ruhe angesehen habe (wir ziehen immer am Wochenende oder in den Ferien um, damit ich genug Zeit für meine Routine habe), öffne ich die Vorhänge oder Rollos und sehe mir den Ausblick an.

In diesem Haus hat sich mein Vater selbst übertroffen: Es ist riesig und hat einen begehbaren Kleiderschrank, ein eigenes Badezimmer, und eine Fensterbank, auf der man sitzen kann. Das Bett ist doppelt so groß wie mein altes und zusätzlich zu einem Schreibtisch mit Stuhl passt noch ein großes, weiches Sofa mit einem Couchtisch in mein Zimmer. Trotzdem habe ich noch genug Platz, um normal zu laufen, ohne mich an etwas zu stoßen. Ich zog meine Socken aus und lief barfuß über den weißen, flauschigen Teppich zum Fenster. Als ich die Rollos hochzog, raubte mir der Ausblick den Atem: Wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich in unseren Garten mit einem wunderschönen, alten Baum sehen. Ich habe keine Ahnung, was es für einer ist, denn ich kenne mich mit Bäumen kein bisschen aus. Ich weiß nur, dass er im leichten Nebel, der draußen herrscht, mysteriös und geheimnisvoll aussieht. Der Baum hat eine dichte Krone, doch er lässt ein paar Sonnenstrahlen durch, die sich in den kleinen Wassertröpfchen brechen und das grüne, ordentlich gepflegte Gras beleuchten.

Mein Vater wusste mittlerweile, wie lange ich für diese fast schon alljährliche Routine brauche, deshalb kam er in mein Zimmer, als ich auf der Fensterbank saß und den Baum in unserem Garten bewunderte. Er kam auf mich zu, legte einen Arm um mich und fragte: „Gefällt dir dein Zimmer?“ Auch das war ein Teil unserer gemeinsamen Umzugsroutine. Normalerweise habe ich immer mehr oder weniger begeistert geantwortet, dass das Zimmer schön sei. Doch dieses Mal war ich so verzaubert, dass ich mit einem Strahlen in den Augen zu meinem Vater sagte: „Ich liebe es.“ Mein Vater lächelte mich an und gemeinsam genossen wir die Aussicht.

-2-

Ein paar Tage später (wir sind dieses Mal in den Sommerferien umgezogen, am Anfang des Schuljahres) war mein erster Schultag an diesem neuen Ort. Eigentlich sollte es ja nichts besonderes sein, aber da habe ich nicht mit Juliana und Damon gerechnet. Ich bin mir sicher, dass ihr die beiden kennt, aber welche Rolle spielen sie in meiner Geschichte? Lest weiter, dann findet ihr es heraus.

Am ersten Morgen dachte ich jedenfalls noch, dass es so werden würde wie immer, was natürlich nicht sein kann, da jede Stadt und jede Schule unterschiedlich ist. Aber trotzdem gibt es Dinge, die immer gleich sind, der erste Tag zum Beispiel.

Wann immer ich auf eine neue Schule komme, stehe ich am ersten Morgen besonders lange vor meinem Kleiderschrank, oder in diesem Fall in ihm. Es war ein riesiger begehbarer Schrank, in dem ich alle meine Klamotten nach Stil sortiert hatte. Ein neuer Stil bedeutete automatisch eine neue Schule, denn an jeder Schule suchte ich mir einen neuen Look. In diesem Schrank hingen die Klamotten, die ich in den letzten Jahren an den letzten Schulen getragen hatte, und sobald ich die Outfits sah, konnte ich mich an die Schule erinnern, in der ich sie getragen hatte.

Der erste Look, an dem ich vorbei ging, war genau genommen gar kein Look, sondern ein einziges Outfit in mehreren, genau identisch aussehenden Ausführungen. Es war eine Schuluniform, die ich vor fünf Jahren an einer englischen Schule tragen musste. Am Anfang war es ein merkwürdiges Gefühl, dass alle gleich aussahen, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt und fand es toll, dass die Schuluniform das Gemeinschaftsgefühl gestärkt hat. Es war bis jetzt die beste Schule auf der ich war (nicht einmal Juliana konnte diese Schule interessant machen). Die Lehrer waren zwar streng, aber man hat wenigstens etwas gelernt. Vor fünf Jahren war mein Englisch für mein Alter auch schon recht gut, weil ich mich in den meisten anderen Ländern auf Englisch verständigt habe. Am Anfang habe ich mir oft Mühe gegeben, die Landessprache zu lernen, doch irgendwann, als ich gemerkt hatte, dass wir nach einem Jahr sowieso wieder umziehen, beließ ich es bei Englisch. Ich habe nur die Sprachen gelernt, die mich wirklich interessiert haben. Manchmal habe ich auch unfreiwillig eine Sprache gelernt, wenn mich die Menschen an meiner Schule ignoriert haben, wenn ich nicht die Landessprache gesprochen habe (das ist öfter vorgekommen als ihr wahrscheinlich denkt).

Die nächsten Outfits, die in meinem Schrank hängen, erinnern mich an eine der Schulen, in denen ich ignoriert wurde. Das lag aber nicht unbedingt daran, dass ich die Sprache nicht beherrscht habe, sondern vielleicht war auch mein Stil Schuld daran. Es war eine Schule in Tschechien und ich hatte mir für die Schule einen Grunge-Look ausgesucht. Alle haben mich gemieden, weil ich dort die Rolle des einsamen Mädchens, das auch einsam bleiben wollte, gespielt habe. Ich passe meine Rolle immer den Outfits an, was mich zu einer guten Schauspielerin gemacht hat. Es hat aber auch dazu geführt, dass ich gar nicht mehr weiß, wer ich wirklich bin und wann ich mich verstelle. Vielleicht verstelle ich mich jetzt gerade, in diesem Moment, wenn ich das hier schreibe. Wir werden es nie wissen.

Jedenfalls hat mir der Grunge-Look und die „Ich möchte einsam bleiben“-Einstellung nicht besonders gefallen, weshalb ich in der nächsten Schule in Kalifornien mal den Streber-Look ausprobiert habe. Das ist der nächste Stil, der in meinem Kleiderschrank hängt. Das war aber auch nicht unbedingt die beste Idee, denn die Schule in Kalifornien war die einzige Schule, auf der ich gemobbt wurde. Aber es war mir egal, denn ich wusste ja, dass ich nach einem Jahr schon wieder über alle Berge sein würde.

Und das war ich auch. Nach Kalifornien hatte ich genug von langweiligen, streberhaften Looks, weshalb ich in Frankreich zum Bad Girl wurde. Es war etwas anderes als mein Grunge-Look aus Tschechien, denn als Bad Girl versuchte ich, alle auf die dunkle Seite zu ziehen. Einige, die sich mir angeschlossen hatten, wurden von der Schule verwiesen oder sind schon vorher an einer Überdosis gestorben. Versteht das jetzt nicht falsch, ich habe nie Drogen genommen und die anderen auch nicht dazu verleitet, es kam einfach so von alleine. Es war nicht meine Schuld, im Gegensatz zu dem, was an dieser Schule passiert ist, aber dazu später mehr.

Der letzte Stil, der in meinem Schrank hängt, ist der „Mädchen von nebenan“-Look. Ich habe ihn in Japan getragen, da ich nicht noch mehr Menschen in den Tod treiben wollte. Diese Outfits waren von allen am besten und ich wurde von allen akzeptiert. Sie nahmen mich sofort freundlich auf und behandelten mich so, als sei ich schon seit Jahren an ihrer Schule gewesen.

Ganz hinten in meinem Schrank ist ein freier Kleiderständer. Normalerweise wäre er schon von Kleidern überlagert worden, aber in diesem Ort wollte ich nicht noch einen neuen Look erfinden. Ich sah zu meinen japanischen Outfits und überlegte für einen Moment, sie einfach wieder anzuziehen, doch auch das wollte ich nicht. Nach ein paar Schritten stand ich in der Mitte meines begehbaren Kleiderschranks und sah einmal in die Runde. Schließlich nahm ich von allen Looks die unauffälligsten Outfits und hing sie über den leeren Kleiderständer. An dieser Schule wollte ich keine besondere Rolle spielen, sondern einfach nur morgens hingehen und mittags zurück nach Hause gehen. Nichts auffälliges, nichts besonderes. Niemand sollte sich an mich erinnern, wenn ich nächstes Jahr auf eine neue Schule gehe. Dachte ich zumindest.

Ich zog das unauffälligste der unauffälligen Outfits an und ging nach unten, wo mein Vater schon mit dem Frühstück auf mich wartete. Normalerweise sah ich ihn morgens höchstens eine Viertelstunde, aber am ersten Schultag in einer neuen Schule ging er erst zur Arbeit, wenn ich mich auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Auch das Frühstück an sich war besonders, denn an diesem einen Tag, den es jedes Jahr gab, stand mein Vater fast eine Stunde in der Küche, um ein ganz besonderes Frühstück für mich zu machen. Diese Tradition ist noch nicht so alt wie die anderen, denn damit haben wir erst angefangen, nachdem wir in Kalifornien gelebt haben. Ich hatte dort bei einer meiner wenigen Freunde übernachtet (eine Streberin, wer möchte auch sonst etwas mit einem Mädchen im Streberoutfit zu tun haben?) und zum Frühstück am nächsten Morgen gab es Pancakes mit Schokostückchen und Sahne und dazu gebratenen Bacon. Als ich wieder bei meinem Vater war, habe ich mich beschwert, warum ich so etwas nie von ihm zum Frühstück bekomme. Daraufhin hat er mir versprochen, dass er mir so ein Frühstück macht, falls wir wieder umziehen. Ich glaube, er ist wirklich davon ausgegangen, dass wir nie wieder umziehen müssen. Beim ersten Mal, als er mir das Frühstück versprochen hat (vorletztes Jahr, als wir nach Frankreich gezogen sind) war ich so aufgeregt (wegen des Frühstücks, nicht wegen der Schule), dass ich eher aufgewacht war und meinen Vater heimlich in der Küche beobachtet habe. Er hat sich so unbeholfen angestellt, dass ich irgendwann aus meinem Versteck gekommen bin und ihm geholfen habe. Als er mich sah, blickte er mir in die Augen und sagte ernst: „In solchen Momenten vermisse ich deine Mutter am meisten.“ Für einen Moment blieb die Zeit stehen und ich spürte die Wärme meiner Mutter, die ich schon so lange nicht mehr gefühlt hatte. Doch gerade, als ich realisiert hatte, dass es meine Mutter war, lief die Zeit normal weiter und der Moment war vorbei. Mein Vater und ich mussten uns wieder um das Frühstück kümmern. Wir konnten es uns nicht leisten, dass er das ganze Haus in Brand steckt, denn wir hätten die Feuerwehr nicht rufen können. Keiner von uns beiden konnte zu der Zeit Französisch und Franzosen sprechen keine Fremdsprachen, was ich schon bald gemerkt habe. Den ganzen ersten Monat lang habe ich in der Schule kein einziges Wort von dem verstanden, was die Menschen um mich herum gesagt haben. Meinem Vater schien es genauso zu gehen. Doch wir haben das Jahr überlebt und irgendwann sogar Französisch gelernt. Jeden Tag, in der kurzen Zeit, in der wir uns sahen, haben wir, so gut es eben ging, Französisch miteinander gesprochen. Irgendwann verstanden wir das Französisch des anderen jedoch nicht mehr, da ich andere Menschen um mich hatte als er. Ich lernte nur die Sprache der Drogensüchtigen und Schulschwänzer, während mein Vater eher gehobenes und geschäftliches Französisch kannte.

Doch nicht nur unsere Französischkenntnisse wurden besser, mein Vater wurde auch fast schon ein Meister darin, mir mein Erster Schultag-Frühstück zuzubereiten. Es war trotzdem ein Teil meiner Tradition, dass ich früher aufstand als ich sowieso schon musste (viel früher, weil ich ja ewig im Kleiderschrank stehe), um ihm beim Frühstück machen zuzusehen. Ich könnte mich auch direkt zu ihm stellen, aber ich mochte es, in der Tür zu stehen und ihn aus der Ferne zu beobachten. Irgendwann ging ich jedoch trotzdem zu ihm und stand solange neben meinem Vater am Herd, bis das Frühstück fertig war. Dann setzte ich mich an den Tisch und aß meine Pancakes und den Bacon, während mein Vater seinen Kaffee trank und Radio hörte (auch wenn man nicht unbedingt viel von den Lokalnachrichten nachvollziehen kann, wenn man noch nicht einmal 24 Stunden in einem Ort wohnt). Alles wirkte so, als wäre es ein ganz normaler Morgen in einem ganz normalen Leben. Doch mein Vater und ich wussten, dass es das nicht war. Egal, wie oft man umzieht, es ist immer ein bisschen komisch, auf eine neue Schule zu gehen.

Nachdem ich meinen letzten Streifen Bacon gegessen hatte, sah ich auf die Uhr und sagte zu meinem Vater „Ich muss los.“ Wir wohnten zu Fuß nur fünf Minuten von der Schule entfernt, das hatte ich gestern schon nachgeschaut und eigentlich sollte der Weg nicht so schwierig zu finden sein. Mein Vater fragte „Soll ich dich zur Schule bringen?“, doch er kannte meine Antwort bereits. „Der Weg ist nicht weit und ich werde mich schon nicht verlaufen.“ Er wusste, dass er mich nicht umstimmen konnte, also sagte er, wie jedes Jahr: „Viel Spaß und versuche, ein paar Freunde zu finden.“ Ich antwortete, auch wie jedes Jahr: „Mach ich.“ Doch wir beide wussten, dass ich es nicht ernst meinte, denn nach einem Jahr waren wir sowieso wieder weg. Aber es gehörte zu unserem Ritual, also machten wir es immer so, seit ich mich erinnern konnte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich dieses Mal wirklich echte Freunde finden würde, die mir so wichtig sind wie ich selbst. Und ich konnte auch nicht ahnen, dass ich hier eine wichtige Lektion lernen würde.

Also, lasst die Schule beginnen. Macht euch bereit für Xenia Müller.

-3-

Die Erste, die in meiner neuen Klasse auf mich zukam, war Juliana. Wisst ihr, wenn man jedes Jahr an einer neuen Schule ist, kennt man irgendwann die verschiedenen Schülertypen. Und diejenigen, die als erstes mit einem reden, wenn man neu an der Schule ist, sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Klassensprecher oder wollen ein gutes Sozialverhalten, indem sie sich der Neuen annehmen. Das ist normalerweise der erste Schülertyp, den man an einer neuen Schule kennen lernt, aber hier war das nicht so. Juliana war anders, ich würde sagen, sie sehnte sich nach echten sozialen Beziehungen. Ihr Vater ist noch weniger zu Hause als meiner, was eigentlich schon fast unmöglich ist, verdient aber das fünffache von dem, was mein Vater verdient. Sie bekommt Papis Kreditkarte und er denkt, alles sei gut. Ist es aber nicht, denn Juliana ist einsam. Ihre Mutter wurde durch die Abwesenheit ihres Ehemannes zur Alkoholikerin, Julianas Vater hat die Scheidung eingereicht und mit seinem unbezahlbaren Anwalt erwirkt, dass ihre Mutter nicht einmal mehr Besuchsrecht hat. Durch ihr Geld hatte sie zwar viele Freunde, die aber alle nur mit ihr befreundet waren, weil sie reich ist.

Sie tat mir ehrlich leid, aber das war nicht der Grund, weshalb ich mich mit ihr angefreundet habe. Nein, der Grund war, dass sie mir sofort sympathisch war, was nur die Wenigsten schaffen. Wie sie es geschafft hat? Sie hat unsere Gemeinsamkeiten sofort erkannt, denn ihr erster Satz, den sie zu mir gesagt hat, war: „Ich sehe ein weiteres Mädchen, das ohne Mutter aufgewachsen ist.“ Ich war erst mal erstaunt, weil ich gerade erst vor meinem neuen Klassenraum stand. An diesem Satz habe ich gemerkt, dass sie nicht der erste Schülertyp ist, sondern mich aus purer Empathie heraus ansprach. Man kann natürlich nie wissen, ob sie es wirklich ernst meinte oder ob sie nur eine neue Chance auf eine echte Freundin witterte, aber es fühlte sich echt an. Ich spürte von Anfang an, dass sie Schülertyp Nummer 2 war: Das reiche, beliebte Mädchen, das insgeheim total einsam, aber auch total nett ist. Das einzige Problem dieser Mädchen ist, dass niemand über das Geld hinweg schaut, um ihren Charakter erkennen zu können.

Nachdem ich erst mal einen Moment lang vor Erstaunen nichts sagen konnte, fragte ich sie: „Wie hast du das erkannt?“ Ich wage zu behaupten, dass ich selber ein Profi darin bin, andere zu durchschauen, aber ich hatte keine Ahnung, woran sie das gesehen hat. Sie lachte leicht (ein fröhliches, kein auslachendes Lachen) und antwortete: „Du trägst braun und das ist in dieser Saison total out.“ Ich sah sie fragend an: „Und was hat das mit meiner Mutter zu tun?“ Ihre Antwort kam, als sei es eine Selbstverständlichkeit: „Du hast keine Frau im Haus, die dich beraten kann. Du musst dich wahrscheinlich von deinem Vater beraten lassen und Männer haben absolut keinen Sinn für Mode.“ Jetzt musste ich auch lachen und ich traute mich sogar, ihr etwas persönliches zu erzählen: „Mein Vater kann mich nicht beraten, denn ich sehe ihm am Tag höchstens eine Stunde lang.“ Ich hatte einen mitleidigen Blick erwartet, wie man ihn von allen bekommt, die nicht in der gleichen Situation sind. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen und schweigen verlegen oder stammeln etwas wie „Das tut mir sehr leid“. Ich habe schon viele dieser Szenarien erlebt, deswegen erwartete ich eine ähnliche Reaktion von Juliana. Aber sie nahm es mit Humor und erwiderte: „Da hast du ja noch Glück. Ich sehe meinen Vater vielleicht mal fünf Minuten. In der Woche.“ Ich nickte anerkennend und sagte: „Dafür musstest du wahrscheinlich noch nie umziehen.“ Es war eine Art Spiel zwischen uns geworden, wer die traurigere Geschichte hat. Juliana lachte und sagte: „Okay, du hast eindeutig gewonnen. Deine wievielte Schule ist das schon?“ Noch eine Sache, die sie sympathisch machte: Sie zählt eins und eins zusammen. Wenn mein Vater selten zu Hause ist und ich umgezogen bin, war es sicher nicht das erste Mal, dass ich umgezogen bin. Und sie hatte Recht: „So genau weiß ich das gar nicht mehr, aber ich glaube, es ist meine neunte.“ Juliana war nicht schockiert, sondern nickte nur und murmelte: „Das ist heftig.“ Es entstand eine kurze Pause, in der keine von uns beiden wusste, was sie sagen sollte. Irgendwann brach meine neue Freundin das Schweigen, indem sie fragte: „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, oder?“ Ich überlegte. Ich hatte in meinem Leben schon so viele Namen gehört, dass ich dachte, ich hätte ihn einfach nur vergessen. Schließlich nickte ich: „Stimmt. Ich bin Xenia.“ Juliana strahlte mich an: „Ich bin Juliana. Schön, dich kennen zu lernen, Xenia, du bist echt nett.“ Ich lächelte zurück: „Es ist auch schön, dich kennen zu lernen, Juliana.

---ENDE DER LESEPROBE---